Zusammenfassung des Urteils VB.2002.00294: Verwaltungsgericht
Der Text behandelt die Regelungen des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zwischen der Schweiz und der EU in Bezug auf die Residenz und Rechte von EU-Staatsangehörigen in der Schweiz. Es wird darauf hingewiesen, dass EU-Bürger in der Schweiz bestimmte Einschränkungen und Erschwernisse im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung haben, insbesondere im Bereich der Aufenthaltsbewilligung und des Familiennachzugs. Es wird auch über Übergangsbestimmungen und die Gleichstellung von Familienangehörigen diskutiert. Weiterhin wird auf die Bedeutung des Kindeswohls und des ordre public im Rahmen des FZA hingewiesen. Die Beschwerde eines schweizerischen Staatsangehörigen in Bezug auf den Familiennachzug wird abgelehnt, da er nicht zum Personenkreis des FZA gehört und wesentliche Unterschiede zwischen EU-Bürgern und Schweizern bestehen, die eine rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | VB.2002.00294 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | 2. Abteilung/2. Kammer |
Datum: | 29.01.2003 |
Rechtskraft: | Das Bundesgericht hat eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen diesen Entscheid am 31.07.2003 abgewiesen. |
Leitsatz/Stichwort: | Anwendbarkeit des Personenfreizügigkeitsabkommens auf Schweizer beim Nachzug ihrer drittstaatsangehörigen Kinder aus einem Nicht-EU-Staat |
Schlagwörter: | Schweiz; Eltern; Person; Kinder; Familien; Personen; Vertrag; Staatsangehörige; Elternteil; Aufenthalt; AnhangI; Familienangehörige; Kindes; Bevölkerung; EU-Staatsangehörige; Familienangehörigen; Regel; Kindeswohl; Regelung; Vertragsstaat; Recht; Einreise; Drittstaat; Beziehung; Kindeswohls; Landesrecht; EU-Staatsangehörigen; Linie |
Rechtsnorm: | Art. 9 KRK ; |
Referenz BGE: | 126 II 329; |
Kommentar: | - |
anderen Vertragspartei einzuführen, wird aus der Sicht der Schweiz die als Grundsatz zu vermutende Autonomie und Vorherrschaft des Landesrechts im Bereich der residierenden Bevölkerung einerseits und die sachlich enumerativ begrenzte Regelungswirkung des FZA "in den unter das Abkommen fallenden Bereichen" auf der anderen Seite zum Ausdruck gebracht. Mit der "Stillstandsverpflichtung" im Sinne des Verbots einer Verschlechterung der Rechtslage für EU-Staatsangehörige ist gleichzeitig vorbehalten, dass für nicht vom FZA erfasste Personen, nämlich in der Schweiz residierende Nicht-EU-Angehörige, mithin Schweizerinnen und Schweizer und Angehörige von Drittstaaten, das schweizerische Landesrecht weiterhin zur autonomen Regelung befugt ist, was nicht nur Verbesserungen in deren Rechtsstellung im Vergleich zu den EU-Staatsangehörigen (vgl. Erwägung 5d/bb), sondern auch Verschlechterungen mit umfassen muss.
e) Ein weiterer Unterschied liegt in den gegenüber der einheimischen schweizerischen Bevölkerung erschwerten Voraussetzungen für EU-Staatsangehörige, in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung zu erlangen. Hauptsächliches Anwendungsgebiet des FZA bildet der grenzüberschreitende Verkehr zum Zweck der unselbstständigen selbstständigen Erwerbstätigkeit. Das Aufenthaltsrecht ist an die Bedingung geknüpft, dass die einreisende Person eine Erwerbstätigkeit ausübt beziehungsweise eine Stelle sucht. Diese Auflagen und Risiken treffen die einheimische und niedergelassene Bevölkerung, welche in der Schweiz residiert, nicht. Bei nicht erwerbstätigen Personen ist das Aufenthaltsrecht unter anderem vom Nachweis der erforderlichen finanziellen Mittel für den Unterhalt und von einem alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz abhängig (Art.24 Abs.1 Anhang I FZA). Entfallen diese Voraussetzungen droht eine Fürsorgeabhängigkeit, ist die Aufenthaltsberechtigung für die ausländische Person und ihre Angehörigen gefährdet (Art.24 Abs.8 Anhang I FZA). Diese Regelungen zeigen, dass die EU-Staatsangehörigen wesentlichen Einschränkungen und Erschwernissen gegenüber der in der Schweiz sesshaften schweizerischen und niedergelassenen ausländischen Bevölkerung unterworfen sind und damit in wesentlichen Bereichen keine Gleichstellung besteht.
f) Mit den Übergangsbestimmungen des Art.10 FZA wurde eine schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit ausgehandelt, welche es der Schweiz im Wesentlichen ermöglicht, während zwei Jahren ab Inkraftsetzung des Abkommens den Inländervorrang aufrecht zu erhalten und während fünf Jahren an der Kontingentierung der ausländischen erwerbstätigen Bevölkerung festzuhalten. Die volle Freizügigkeit ist erst nach zwölf Jahren vorgesehen, wobei die Schweiz zusätzlich die Möglichkeit hat, nach sieben Jahren die Weiterführung des Abkommens einem Referendum zu unterstellen (BBl 1999 VI 6312 ff.). Ist somit während einer geraumen Zeit der Aufenthalt von EU-Staatsangehörigen von den erschwerten Bedingungen der Kontingentsregelung abhängig, ergibt sich daraus eine zusätzliche Erschwernis gegenüber der in der Schweiz residierenden einheimischen und niedergelassenen Bevölkerung. Diese Erschwernisse treffen den Beschwerdeführer nicht, aus welchem Grund sich eine zwingende Gleichstellung mit EU-Staatsangehörigen nicht aufdrängt.
g) Gemäss dem Wortlaut von Art.3 Abs.1 AnhangI FZA haben die Familienangehörigen einer Person, welche Staatsangehörige einer Vertragspartei ist und ein Aufenthaltsrecht in einem Vertragsstaat hat, das Recht, bei dieser Person zu wohnen. Art.3 Abs.2 AnhangI FZA definiert den Begriff der Familienangehörigen und präzisiert, dass die verbrieften Rechte ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen gelten. Im Rahmen des FZA sind als Familienangehörige in erster Linie jene ins Auge gefasst, welche über die gleiche Staatsangehörigkeit verfügen wie das Familienhaupt, welches das freie Zugsrecht beansprucht. In zweiter Linie dürften in zahlenmässiger Hinsicht jene über eine Drittstaatsangehörigkeit verfügenden Familienangehörigen eines EU-Staatsangehörigen ins Gewicht fallen, welche bereits im Zeitpunkt der Einreise in die Schweiz über die Aufenthaltsberechtigung eines EU-Mitgliedstaats verfügen und die Einreise somit im Rahmen der Familiengemeinschaft erfolgt. In dritter Linie dürfte der Sachverhalt eine Rolle spielen, in welchem die in die Schweiz einreisenden gemeinsamen Eltern den (erstmaligen) Nachzug ihrer Kinder aus einem Drittstaat in die Schweiz beantragen. Dieser Personenkreis erfährt keine Schlechterstellung gegenüber den Eltern mit Niederlassungsbewilligung schweizerischer Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in der Schweiz. Wird doch sowohl in Art.3 Abs.1 und 2 AnhangI FZA als auch in Art.17 Abs.2 ANAG für den Nachzug die Wohnsitznahme der Familienangehörigen bei ihren gemeinsamen Eltern vorausgesetzt und ist im Fall von gemeinsamen Eltern im Landesrecht kein weiterer Nachweis, insbesondere nicht derjenige der vorrangigen familiären Beziehung, zu erbringen (BGE 126 II 329). Erst in vierter Linie ist der vom Beschwerdeführer zum Vergleich angerufene Sachverhalt von Bedeutung: Das Nachzugsgesuch eines einzelnen Elternteils nach dessen Einreise in die Schweiz mit Bezug auf die im Ausland ausserhalb der Vertragsstaaten lebenden Familienangehörigen, welche sog. Drittstaatsangehörige sind. Nur bei dieser Minderheit resultiert nach dem Wortlaut des FZA eine bevorzugte Behandlung gegenüber dem Beschwerdeführer. Ob dieser im Rahmen der übrigen Regelungstatbestände von Art.3 AnhangI FZA als Ausnahme erscheinende Sachverhalt von den Vertragsparteien in diesem Sinn geregelt werden wollte, dass die vorrangige familiäre Beziehung der Kinder gegenüber dem ihren Nachzug beanspruchenden Elternteil keine Rolle spielen soll, lässt sich der Botschaft des Bundesrats nicht entnehmen. Jedenfalls beruft sich der Beschwerdeführer auf einen Vergleichstatbestand, welcher im Rahmen der von der massgeblichen Vorschrift zu regelnden Sachverhalte eine zahlenmässige Ausnahme darstellt, während bezüglich des Hauptteils der geregelten Tatbestände keine Schlechterbehandlung durch das schweizerische Landesrecht ersichtlich ist.
h) Das FZA steht, wie jeder völkerrechtliche Vertrag, unter dem Vorbehalt des ordre public (vgl. Monica Mächler-Erne in: Kommentar zum Internationalen Privatrecht, Basel/Frankfurt a.M. 1996, Art.17 N.1). Nach Ansicht des Bundesrats ist dieser Vorbehalt ausdrücklich in Art.5 Abs.1 AnhangI FZA erwähnt worden (BBl 1999 VI 6312). Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art.17 Abs.2 ANAG gefüllte Gesetzeslücke für nachzugswillige Einzeleltern in der Form des Nachweises der vorrangigen familiären Beziehung hat ihren Ursprung nicht in einer Abwehrhaltung, sondern in einer wohlverstandenen Berücksichtigung des Kindeswohls sowie gewisser rechtsstaatlicher Grundsätze.
aa) Die Zuteilung der elterlichen Sorge an einen während mehreren Jahren mit der Kindererziehung nicht befassten, weil sich im Ausland aufhaltenden, Elternteil widerspricht massgeblichen Grundsätzen des schweizerischen Familien- und Verfassungsrechts. Dies mindestens so lange nicht auf Grund einer Notlage die jahrelangen, von einem beiden Elternteilen frei gewählten Betreuungsverhältnisse dahin gefallen sind. Die von einem während Jahren im Ausland lebenden Elternteil beanspruchten Elternrechte erfolgen in der Regel ohne Abklärung und Berücksichtigung des Kindeswohls, insbesondere des Umstands, dass diese Kinder in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht verankert sind und die Folgen einer Verbringung in ein fremdes Land, oft mit fremder Sprache und Kultur und zu einem betreuungsungewohnten Elternteil, nicht in den Entscheid einbezogen werden. Laut Art.3 KRK ist das Kindeswohl bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen. Sind nicht die Eltern mit der Erziehung betraut, verpflichten sich die Vertragsstaaten gemäss Art.3 Abs. 2 KRK zu gewährleisten, dass die mit der Fürsorge betrauten Institutionen und Personen für die erforderlichen Massnahmen zum Schutz der Gesundheit, Sicherheit und der fachlichen Eignung des Erziehungspersonals besorgt sein müssen. Soll ein Kind gegen den Willen der Eltern von diesen getrennt werden, muss sich diese Massnahme im Interesse des Kindeswohls aufdrängen und ist der entsprechende Entscheid einer gerichtlichen Überprüfung zu unterstellen (Art. 9 Abs. 1 KRK). Gemäss Art.10 Abs.1 KRK sind Verfahren über den Familiennachzug von den Vertragsstaaten beschleunigt, wohlwollend und human zu bearbeiten, wobei ausdrücklich die Zusammenführung mit der Elterngemeinschaft angesprochen ist; leben die Elternteile in verschiedenen Staaten, ist das regelmässige Einreise- und Besuchsrecht sicherzustellen (Art.10 Abs.2 KRK). In allen es betreffenden Angelegenheiten ist die Meinung des Kindes einzuholen und angemessen zu berücksichtigen, sofern dieses dazu in der Lage ist (Art.12 Abs.1 und 2 KRK).
bb) Im Fall des Beschwerdeführers erläutert das Urteil des x-ischen Bezirksgerichts vom 20.Oktober 1994, dass die Zuteilung der Kinder an den Beschwerdeführer allein auf Grund der übereinstimmenden Anträge der Eltern erfolgte und weitere Abklärungen des Gerichts dazu nicht ergingen. Dies führte zur unbefriedigenden Regelung, wonach der Beschwerdeführer seiner Ehefrau zwar eine persönliche Unterhaltsrente schuldete, jedoch keine Unterhaltsbeiträge an die Kinder gesprochen wurden, obwohl die Beteiligten und das Gericht davon ausgehen durften, dass der Beschwerdeführer zumindest im damaligen Zeitpunkt seine Kinder nicht zu sich nehmen würde. Wenn auf Grund dieser unbefriedigenden Verfahrenslage am Erfordernis der vorrangigen familiären Beziehung festgehalten wird, erfolgt dies in Beachtung grundsätzlicher schweizerischer Verfahrensprinzipien, wonach die Zuteilung von Kindern geschiedener Eltern nicht ohne eine unabhängige Abklärung der massgeblichen Kinderinteressen erfolgen darf.
Es ergibt sich daraus, dass ein Kindernachzug bei getrennt lebenden geschiedenen Eltern ohne die Berücksichtigung des Kindeswohls allenfalls dem schweizerischen ordre public (vgl. Monica Mächler-Erne, Art.17 N.22) widersprechen könnte, womit eine diesen Umstand nicht berücksichtigende Massnahme auch auf dem Weg der Gleichbehandlung nicht geschützt werden würde.
i) Ob die Vertragsstaaten aus Art.3 Abs.1 und 2 AnhangI FZA bei einzelnen Elternteilen, die den Kindernachzug verlangen, allein die in dieser Vorschrift genannten Nachweise der Unterstützungs- und Wohnmöglichkeiten verlangen ob eine umfassendere Abklärung der Familiensituation im Sinne des Kindeswohls erfolgt, kann offen bleiben. Eine Berufung auf rechtsungleiche Behandlung durch die Schweizer Behörden wäre jedenfalls auch nur dann möglich, wenn die EU-Mitgliedstaaten Art.3 AnhangI FZA ohne weitere Bedingungen und ohne den Nachweis der vorrangigen familiären Beziehung anwendeten. Die Beantwortung der Frage kann unterbleiben, weil der Antrag des Beschwerdeführers bereits aus den angeführten Gründen abzuweisen ist.
7. Zusammengefasst ergibt sich kein direkter Anspruch auf Familiennachzug aus dem FZA, weil der Beschwerdeführer als in der Schweiz residierender schweizerischer Staatsangehöriger nicht zu dem vom Freizügigkeitsabkommen erfassten Personenkreis gehört. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den dem FZA unterstehenden Personen, die in die Schweiz einreisen, ist nicht gegeben, weil wesentliche Unterschiede zwischen aus EU-Mitgliedstaaten einreisenden und in der Schweiz residierenden Personen bestehen, die eine rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen. Zudem beruft sich der Beschwerdeführer auf die Gleichbehandlung mit einem dem FZA unterstellten Personenkreis (Einzeleltern mit Drittstaatskindern, die nach der Einreise in die Schweiz erstmals einen Kindernachzug beantragen), der eine Minderheit darstellt. Darüber hinaus wäre fraglich, ob dies nicht zu einem Ergebnis führen würde, das in verfahrens- und materiellrechtlicher Hinsicht angesichts des schweizerischen ordre public von den schweizerischen Behörden nicht allenfalls von einer Anwendung zu dispensieren wäre. Aus diesem Grund ist die Beschwerde abzuweisen.
...
Demgemäss entscheidet die Kammer:
1.Die Beschwerde wird abgewiesen.
...
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