E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Verwaltungsgericht (SO - VWBES.2022.472)

Zusammenfassung des Urteils VWBES.2022.472: Verwaltungsgericht

X.___ wurde im Juli 2015 Opfer einer Straftat und stellte im Januar 2022 ein Gesuch um Genugtuung und Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz. Das Verwaltungsgericht entschied, dass die Frist für die Geltendmachung der Ansprüche nicht nach der formellen Rechtskraft des Urteils, sondern nach dem Abschluss des Strafverfahrens berechnet wird. Die Vorinstanz hatte das Gesuch abgewiesen, da sie die Verwirkungsfrist von einem Jahr nach dem endgültigen Entscheid über die Zivilansprüche aufgrund des Rückzugs der Berufung als abgelaufen ansah. Das Verwaltungsgericht hob diesen Entscheid auf und verwies die Angelegenheit zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz zurück.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.472

Kanton:SO
Fallnummer:VWBES.2022.472
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Verwaltungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VWBES.2022.472 vom 10.08.2023 (SO)
Datum:10.08.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Verfahren; Rechtskraft; Opfer; Entscheid; Berufung; Urteil; Zivilansprüche; Frist; Opferhilfe; Zivilforderung; Verwirkung; Verfahrens; Urteils; Täter; Entschädigung; Zivilforderungen; Verwirkungsfrist; Ansprüche; Abschluss; Verwaltungsgericht; Geltendmachung; Berufungsverfahren; Gesuch; Genugtuung; Vorinstanz; Einstellung
Rechtsnorm: Art. 387 StPO ;Art. 402 StPO ;Art. 437 StPO ;Art. 439 StPO ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
Peter Gomm, Hand OHG, Art. 25, 2020

Entscheid des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.472

 
Geschäftsnummer: VWBES.2022.472
Instanz: Verwaltungsgericht
Entscheiddatum: 10.08.2023 
FindInfo-Nummer: O_VW.2023.256
Titel: Opferhilfe

Resümee:

Art. 25 Abs. 3 OHG. Die einjährige Frist berechnet sich nicht nach der formellen Rechtskraft des Strafurteils, sondern nach dem Zeitpunkt, an dem das Strafverfahren abgeschlossen wurde.
 

SOG 2023 Nr. 6

 

Art. 25 Abs. 3 OHG. Die einjährige Frist berechnet sich nicht nach der formellen Rechtskraft des Strafurteils, sondern nach dem Zeitpunkt, an dem das Strafverfahren abgeschlossen wurde.

 

 

Sachverhalt:

 

X.___ wurde im Juli 2015 Opfer einer Straftat. Die von ihr eingehend bezifferte und geltend gemachte Zivilforderung wurde im erstinstanzlichen Strafverfahren im Februar 2019 dem Grundsatz nach gutgeheissen. Zur Geltendmachung der Zivilforderung wurde sie jedoch auf den Zivilweg verwiesen. X.___ meldete Berufung gegen das Urteil an. Das schriftlich begründete Urteil erging knapp zwei Jahre später im Januar 2021. X.___ hielt in der Folge nicht an der Berufung fest, sodass das Berufungsverfahren im Februar 2021 abgeschrieben wurde und das erstinstanzliche Urteil per Februar 2019 in Rechtskraft erwuchs. Im Januar 2022 stellte X.___ bei der kantonalen Opferhilfestelle ein Gesuch um Ausrichtung von Genugtuung und Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz (OHG, SR 312.5). Diese wies das Gesuch zufolge Verwirkung der Frist ab. Das Verwaltungsgericht heisst eine dagegen erhobene Beschwerde gut und weist die Angelegenheit an die Vorinstanz zum Entscheid in der Sache zurück.

 

 

Aus den Erwägungen:

 

4.1 Art. 25 Abs. 3 OHG besagt: Haben das Opfer seine Angehörigen in einem Strafverfahren vor Ablauf der Fristen nach Absatz 1 2 Zivilansprüche geltend gemacht, so können sie innert einem Jahr ab endgültigem Entscheid über die Zivilansprüche die Einstellung des Strafverfahrens ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung stellen.

 

4.2 Unbestritten und aktenmässig erstellt ist die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin ihre Zivilforderungen im Strafverfahren adhäsionsweise innert der Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 1 OHG und somit rechtzeitig geltend gemacht hat. Fraglich bleibt somit einzig, wann die Verwirkungsfrist von einem Jahr nach Art. 25 Abs. 3 OHG zu laufen begann.

 

4.3 Die Gesetzesbestimmung selbst verwendet hier interessierend die Terminologie «innert einem Jahr ab endgültigem Entscheid über die Zivilansprüche». Der Gesetzgeber verwendet somit ausdrücklich nicht den Begriff ab «Rechtskraft» eines (Straf-)Urteils. Beim Wort «endgültig» handelt es sich nicht um einen in der Rechtsetzung gebräuchlichen Begriff. Endgültig setzt einerseits Rechtskraft voraus, aber entsprechend dem Wortlaut auch ein «Endurteil» im Rahmen des innerstaatlichen Instanzenzuges. Der Begriff endgültig geht deshalb weiter als nur die formelle Rechtskraft des Entscheides (Peter Gomm, in Handkommentar OHG, 4. Aufl., Bern 2020 [nachfolgend: Handkommentar OHG], Art. 25 N. 17). Zweck der Regelung von Art. 25 Abs. 3 OHG ist es, bei gerichtlicher Geltendmachung seiner Zivilansprüche eine für das Opfer privilegierte Fristbestimmung gelten zu lassen, weil es seine Ansprüche direkt gegenüber dem Täter geltend macht (Handkommentar OHG, Art. 25 N. 18).

 

4.3.1 Nach Art. 437 Abs. 2 der Schweizerischen Strafprozessordnung (Strafprozessordnung, StPO, SR 312.0) tritt die Rechtskraft eines Urteils rückwirkend auf den Tag ein, an dem der Entscheid gefällt worden ist. Unter anderem kann der Rückzug eines ergriffenen Rechtsmittels Grund dafür sein (Art. 437 Abs. 1 lit. b StPO). Die Rechtskraft bedeutet Unabänderlichkeit des Strafentscheides. Diese Unabänderlichkeit ist zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens und zur Erlangung der Rechtssicherheit – Ziele jedes prozessualen Verfahrens – notwendig. Üblicherweise wird die Vollstreckbarkeit (Art. 439 ff. StPO) an die formelle Rechtskraft des Entscheids geknüpft. Allerdings hat die StPO die Vollstreckbarkeit (oder negativ ausgedrückt: die aufschiebende Wirkung) weitgehend von der Rechtskraftfrage abgekoppelt, indem nach Art. 387 StPO die Rechtsmittel an sich nicht mit einer aufschiebenden Wirkung verbunden sind, allerdings mit der Ausnahme der Berufung nach Art. 402 StPO (vgl. Daniel Jositsch/Niklaus Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen, Rz. 1841 ff.). Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass einerseits die formelle Rechtskraft eines Urteils aufgrund gesetzlicher Bestimmungen (Art. 437 Abs. 2 StPO) rückdatiert wird, selbst wenn das Strafverfahren selber darüber hinaus lief, und dass andererseits die formelle (bescheinigte) Rechtskraft eines Urteils und dessen Vollstreckbarkeit nicht deckungsgleich sind.

 

4.3.2 Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass mit der Revision des OHG, gültig ab 1. Januar 2009, eine zweite kurze Verwirkungsfrist geschaffen worden ist für jene Personen, «die ihre Zivilansprüche zuerst im Strafverfahren gegenüber der beschuldigten Person adhäsionsweise geltend machen. Dies wird nicht vorausgesetzt, aber die Opfer sollen angeregt werden, sich zunächst an den Täter an die Täterin zu halten. Sie können ihre Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung im Rahmen der Opferhilfe noch nachträglich innert eines Jahres nach Abschluss des Strafverfahrens geltend machen. Diese Frist kommt insbesondere dann zum Zuge, wenn der Täter die Täterin verurteilt worden ist, dem Opfer einen bestimmten Betrag zu bezahlen, und sich dann als zahlungsunfähig erweist. Macht das Strafverfahren nur langsam Fortschritte, kann sich das Opfer anders entscheiden und sich innert der 5-Jahres-First direkt an die Opferhilfe wenden und allenfalls einen Vorschuss auf die Entschädigung beantragen (Art. 21 OHG). In der Praxis wird der Entscheid über eine definitive Opferhilfeleistung in solchen Fällen regelmässig bis zum Abschluss des Strafverfahrens aufgeschoben» (BBl 2005 7230).

 

5. Die Vorinstanz begründete ihren Entscheid damit, dass nach gängiger Rechtspraxis und entsprechend dem Gesetzeswortlaut für die Beurteilung eines materiell-rechtlichen Anspruchs der rechtskräftige Entscheid bzw. das Datum der Rechtskraft massgebend sei. Dass eine Berufung angemeldet sei und danach zurückgezogen werde, vermöge am materiell-rechtlichen Entscheid noch nichts zu ändern, da dies eine prozessrechtliche Handlung darstelle. Darüber hinaus besage die Bestimmung in Art. 25 Abs. 3 OHG, dass die einjährige Frist ab endgültigem Entscheid über die Zivilansprüche beginne. Weder der Abschreibungsbeschluss des Obergerichts, noch das erstinstanzliche Urteil äusserten sich endgültig über die Zivilansprüche, denn die Gesuchstellerin werde in Ziff. 10 des nun rechtskräftigen Urteils für die Geltendmachung ihrer Ansprüche auf den Zivilweg verwiesen. Es handle sich somit um keinen Adhäsionsentscheid i.S. der StPO, weshalb Art. 25 Abs. 3 OHG gar nicht mehr einschlägig sei, sondern die allgemeine Verwirkungsfrist von fünf Jahren seit Ereignis der Straftat gemäss Art. 25 Abs. 1 OHG. Entsprechend sei der opferhilferechtliche Anspruch auf finanzielle Leistungen bereits im Jahre 2020 verwirkt.

 

5.1 Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. So ist aus dem zweiten Teilsatz von Art. 25 Abs. 3 OHG zu entnehmen, dass die Frist von einem Jahr auch für die Einstellung des Strafverfahrens gilt. Bei einer solchen Einstellung werden Zivilansprüche gar nicht beurteilt, weshalb es nicht auf eine materiell-rechtliche Beurteilung im engeren Sinne ankommen kann. Wie oben ausgeführt kann nicht unbesehen auf die vom urteilenden Gericht ausgestellte Rechtskraftbescheinigung abgestellt werden, zumal eine solche in vielen Fällen auch rückwirkend ausgestellt wird, vorliegend sogar beinahe auf zwei Jahre zurück. Massgebend ist, dass während dem laufenden Berufungsverfahren, unabhängig davon wer die Berufung angemeldet hat, die adhäsionsweise geltend gemachten Zivilforderungen in der Schwebe standen und somit nicht endgültig darüber entschieden worden ist. So wäre es im Berufungsverfahren auch möglich gewesen, dass die Zivilforderungen anders beurteilt werden als vor der ersten Instanz, womit die entsprechenden Forderungen offensichtlich nicht endgültig festgesetzt sind.

 

5.2 Würde man der Meinung der Vorinstanz folgen, wäre ein Opfer bei Berufungsanmeldung durch den Beschuldigten ihm ausgeliefert, könnte dieser doch die Berufung zurückziehen und die Ansprüche des Opfers wären bei entsprechender Verfahrensdauer und rückdatierter Rechtskraftbescheinigung verwirkt. Dies kann nicht das Ansinnen des Gesetzgebers sein. Entsprechendes ist auch aus der Botschaft zum revidierten OHG (vgl. E. 4.3.2) zu entnehmen, worin ausdrücklich von «Abschluss des Strafverfahrens» geschrieben wird. Vorliegend hat das Strafverfahren seinen Abschluss mit dem Abschreibungsbeschluss des Obergerichts vom 24. Februar 2021 gefunden. Mithin konnte bis dahin das erstinstanzliche Urteil, mitsamt möglichen Zivilforderungen, gar nicht vollstreckt werden. Bis mindestens zum Rückzug der Berufung am 4. Februar 2021 kann somit nicht von einem endgültigen Entscheid über die Zivilansprüche ausgegangen werden.

 

Verwaltungsgericht, Urteil vom 10. August 2023 (VWBES.2022.472)

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.