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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VWBES.2022.278)

Zusammenfassung des Urteils VWBES.2022.278: Verwaltungsgericht

Die Beschwerdeführerin, Frau A.___, beantragte die Aufhebung der Verfügung des Migrationsamts, welche ihre Niederlassungsbewilligung widerrufen und ihre Ausweisung aus der Schweiz anordnete. Das Verwaltungsgericht entschied, dass die Beschwerde begründet ist und die Verfügung aufgehoben wird. Es wurde angewiesen, die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung zu verlängern und A.___ formell zu verwarnen. Die Gerichtskosten von CHF 1'500 trägt der Staat, und A.___ erhält eine Parteientschädigung von CHF 5'095.20.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.278

Kanton:SO
Fallnummer:VWBES.2022.278
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Verwaltungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VWBES.2022.278 vom 24.04.2023 (SO)
Datum:24.04.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Niederlassungsbewilligung; Sozialhilfe; Rückstufung; Integration; Recht; Widerruf; Ausländer; Urteil; Schweiz; Verwaltungsgericht; Bundesgericht; Aufenthalt; Verfügung; Beschwerde; Kanton; Situation; Massnahme; Bundesgerichts; Integrationsdefizit; Verwarnung; Ausländerin; Person; Vorinstanz
Rechtsnorm: Art. 34 AIG ;Art. 58a AIG ;Art. 58b AIG ;Art. 63 AIG ;Art. 96 AIG ;
Referenz BGE:148 II 1;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.278

 
Geschäftsnummer: VWBES.2022.278
Instanz: Verwaltungsgericht
Entscheiddatum: 24.04.2023 
FindInfo-Nummer: O_VW.2023.105
Titel: Niederlassungsbewilligung

Resümee:

 

Verwaltungsgericht

 

Urteil vom 24. April 2023              

Es wirken mit:

Vizepräsident Müller

Oberrichter Frey    

Oberrichter Werner

Gerichtsschreiberin Blut-Kaufmann

In Sachen

A.___, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Fanny De Weck,    

 

Beschwerdeführerin

 

 

 

gegen

 

 

 

Departement des Innern, vertreten durch Migrationsamt,    

 

Beschwerdegegner

 

 

 

betreffend     Niederlassungsbewilligung


zieht das Verwaltungsgericht in Erwägung:

 

I.

 

1. A.___ (geb. [...] 1962 in Serbien; in der Folge Beschwerdeführerin) heiratete am 19. Oktober 1980 in Serbien den Landsmann B.___ (geb. [...] 1953), welcher damals mehrere Jahre in der Schweiz als Saisonnier tätig war. Die Beschwerdeführerin ist Mutter zweier Söhne, [...], geb. [...] 1981, und [...], geb. [...] 1992, welche beide im Besitz von Niederlassungsbewilligungen sind. Am 29. März 1998 zog sie im Rahmen des Familiennachzugs (aktenkundig; gemäss eigenen Angaben sei sie schon von 1989 bis 1993 als Saisonnière hier gewesen) zu ihrem Ehemann in den Kanton Wallis und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung. Im Jahr 2000 zogen die Ehegatten in den Kanton Zürich.

 

2. Am 11. September 2007 beantragten die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann bei der Migrationsbehörde des Kantons Solothurn (heute: Migrationsamt, MISA) den Kantonswechsel und gleichzeitig stellten sie ein Gesuch um Erteilung einer Niederlassungsbewilligung. Das MISA bewilligte beide Gesuche und erteilte der Beschwerdeführerin am 24. Juni 2008 eine Niederlassungsbewilligung. Im November 2009 trennte sich die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann; eine Scheidung ist bis heute nicht erfolgt. Am 17. September 2010 und am 4. September 2015 wurde die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung jeweils verlängert. Am 15. September 2020 ersuchte die Beschwerdeführerin zuletzt um Verlängerung der Kontrollfrist und gab dabei abermals und wie 2015 an, nicht erwerbstätig zu sein.

 

3. Die Beschwerdeführerin wurde seit dem 1. November 2009 und bis auf weiteres ununterbrochen mit Sozialhilfe unterstützt. Per 17. November 2021 betrug das Total der ausbezahlten Sozialhilfe CHF 182’543.15. Im Register des Betreibungsamtes Olten-Gösgen war die Beschwerdeführerin am 12. August 2021 mit einem Verlustschein in Höhe von CHF 4’417.90 verzeichnet. Im Strafregister ist sie nicht registriert und den kantonalen Akten lassen sich keine Hinweise auf strafrechtliche Verurteilungen entnehmen.

 

4. Nach dem Einreichen des Verlängerungsgesuchs am 15. September 2020, verschiedenen Abklärungen und Gewährung des rechtlichen Gehörs erliess das Migrationsamt namens des Departements des Innern (DdI) am 22. Juli 2022 folgende Verfügung:

 

1.    Die Niederlassungsbewilligung von A.___ wird widerrufen.

2.    A.___ wird weggewiesen und hat die Schweiz – unter Androhung von Zwangsmassnahmen im Unterlassungsfall – bis am 31. Oktober 2022 zu verlassen.

3.    A.___ hat sich vor der Ausreise bei der Einwohnergemeinde [...] ordnungsgemäss abzumelden und sich die Ausreise mittels beiliegender Ausreisemeldekarte an der Schweizer Grenze bestätigen zu lassen.

 

Zur Begründung wurde zusammengefasst ausgeführt, die Beschwerdeführerin werde seit dem Jahr 2009 ununterbrochen sozialhilferechtlich unterstützt. Dabei sei bisher ein Negativsaldo von CHF 190’108.10 entstanden. Die bezogenen Sozialhilfeleistungen gälten ohne Weiteres als erheblich und dauerhaft. Es sei zudem nicht damit zu rechnen, dass die Beschwerdeführerin inskünftig selber für ihren Lebensunterhalt aufkommen werde, weshalb auch in prospektiver Hinsicht die konkrete Gefahr einer fortgesetzten Sozialhilfeabhängigkeit bestehe. Die objektiven Voraussetzungen des Widerrufsgrundes nach Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG seien damit offensichtlich erfüllt. Das Integrationskriterium der Teilnahme am Wirtschaftsleben nach Art. 58a Abs. 1 lit. d AIG sei deshalb nicht erfüllt. Zudem befinde sich in den Akten nach wie vor kein anerkannter Sprachnachweis, wonach die Beschwerdeführerin über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen würde. Dem aufgrund der bestehenden Sozialhilfeabhängigkeit erheblichen öffentlichen Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes stehe zwar wegen der langen Anwesenheitsdauer und den hier lebenden Söhnen und Verwandten ein beachtliches privates Interesse gegenüber, dieses überwiege aber das öffentliche Interesse nicht und angesichts der von der Beschwerdeführerin gezeigten Uneinsichtigkeit in die vorliegende Situation sowie des in Aussicht gestellten fehlenden Willens einer Verbesserung sei keine andere Massnahme als jene des Widerrufs angezeigt.

 

5. Gegen diese Verfügung erhob A.___, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Fanny De Weck, am 29. Juli 2022 frist- und formgerecht Beschwerde an das Verwaltungsgericht und stellte folgende Anträge:

 

1.    Es sei die Verfügung des Migrationsamts Solothurn vom 22. Juli 2022 aufzuheben.

2.    Es sei auf den Widerruf der Niederlassungsbewilligung sowie auf eine Wegweisung der Beschwerdeführerin zu verzichten.

3.    Es sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen und der Beschwerdeführerin zu erlauben, den Ausgang des Beschwerdeverfahrens in der Schweiz abzuwarten.

4.    Der Beschwerdeführerin sei für das Beschwerdeverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und die Schreibende sei als unentgeltliche Rechtsbeiständin einzusetzen.

5.    Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (zzgl. 7.7 % MwSt.) zu Lasten des Staates.

 

Zur Begründung wurde am 22. August 2022 fristgerecht und zusammengefasst ausgeführt, gemäss Bundesgericht gebiete die grundsätzlich bedingungslose Dauerhaftigkeit der Niederlassungsbewilligung grosse Zurückhaltung bei einer seit 1. Januar 2019 möglichen Rückstufung, ansonsten eine unzulässige Rückwirkung neuen Rechts vorliegen könne. Vor dem 1. Januar 2019 eingetretene Sachverhaltselemente dürften mitberücksichtigt werden, um die neue Situation im Lichte der bisherigen zu würdigen und in diesem Sinn die Entstehung und das Fortdauern des Integrationsdefizits umfassend klären zu können. Die allfällige Rückstufung müsse jedoch im Wesentlichen auf Sachverhalte abgestützt werden, die sich nach dem 1. Januar 2019 zugetragen hätten bzw. nach diesem Datum weiterdauerten. Die Rückstufung sei bei noch altrechtlich erteilten Niederlassungsbewilligungen nicht leichthin anzunehmen, sondern nur, wenn die Rückstufungsgründe aktuell seien, d. h. auf das Verhalten nach dem 1. Januar 2019 zurückzuführen seien. In dieser Situation sei nach Möglichkeit eine Verwarnung auszusprechen und die Rückstufung erst dann zu verfügen, wenn sie sich anstelle einer blossen Verwarnung praktisch zwingend aufdränge. Dies alles gelte selbstverständlich analog und umso mehr für einen direkten Widerruf der Niederlassungsbewilligung. Die Beschwerdeführerin sei noch gar nie verwarnt worden und der Sozialhilfebezug sei ihr vom MISA noch nie vorgehalten worden. Im Übrigen sei der Widerruf der Niederlassungsbewilligung angesichts der langen Aufenthaltsdauer in der Schweiz, des hier vorhandenen familiären Umfelds, der Wiedereingliederungsprobleme im Heimatland und aus zahlreichen weiteren Gründen bei weitem nicht verhältnismässig.

 

6. Mit Verfügung vom 2. August 2022 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt und mit Verfügung vom 23. August 2022 der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt sowie Rechtsanwältin Dr. Fanny De Weck als unentgeltliche Rechtsbeiständin eingesetzt.

 

7. Das MISA liess sich namens des DdI am 13. September 2022 vernehmen und beantragte die Beschwerde unter Kostenfolge vollumfänglich abzuweisen. Es werde nicht verkannt, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit mehrfach und über mehrere Jahre einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Hier massgebend sei jedoch, dass sie seit dem Jahr 2009 massive Sozialhilfekosten verursacht habe, obwohl sie gemäss IV-Stelle und Versicherungsgericht seit Juli 2011 zu 80 % arbeitsfähig gewesen sei. Der Vorwurf, dass die Beschwerdeführerin nie auf die finanzielle Situation resp. auf die ausländerrechtlichen Konsequenzen im Zusammenhang mit der Revision des Bundesgesetzes über Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration seitens des Sozialdienstes des Migrationsamtes hingewiesen worden sei, könne nicht gehört werden. Angesichts der langen Aufenthaltsdauer sollten ihr die hier geltenden Lebensbedingungen, unter anderem auch der Grundsatz der Subsidiarität in der Sozialhilfe bekannt gewesen sein. In der vorliegenden Situation sei eine mildere Massnahme weder zielführend noch realistisch. Die Beschwerdeführerin habe sich bis heute nicht dazu bewegen lassen, sich um eine entsprechende Erwerbstätigkeit resp. um die Ablösung von der Sozialhilfe zu bemühen. Stattdessen sei sie in den vergangenen Jahren gänzlich untätig geblieben.

 

8. Am 3. Oktober 2022 liess sich die Beschwerdeführerin nochmals vernehmen und die Vertreterin reichte ihre Kostennote ein.

 

 

II.

 

1.1 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht erhoben worden. Sie ist zulässiges Rechtsmittel und das Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuständig (vgl. § 49 Gerichtsorganisationsgesetz, GO, BGS 125.12). A.___ ist durch den angefochtenen Entscheid beschwert und damit zur Beschwerde legitimiert. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

1.2 Nicht einzugehen und demnach auch nicht zu behandeln ist alles, was vor der Erteilung der Niederlassungsbewilligung im Jahre 2009 liegt. Dies ist für die Beurteilung des vorliegenden Falles nicht relevant.

 

1.3 Ebenso kann unter Verweis auf die Urteile des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.424 vom 11. Januar 2023, VWBES.2021.272 vom 19. Oktober 2021 und des Bundesgerichts 2C_499/2020 vom 25. September 2020 (E. 3.5 ff.) auf Ausführungen zur Bearbeitungsdauer des Verfahrens beim MISA und der damit verbundenen Rechtsverzögerung verzichtet werden. Einmal wurde zur Rechtsverzögerung kein formeller Antrag gestellt, zum anderen erübrigen sich angesichts des Resultats und den nachfolgenden Ausführungen weitere Bemerkungen. Festzuhalten ist lediglich, dass der Beschwerdeführerin durch das Ausstellen von Bestätigungen, dass die Verlängerung der Niederlassungsbewilligung in Bearbeitung sei, kein Rechtsnachteil entstanden ist.

 

2.1 Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. c des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG, SR 142.20) kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die Ausländerin der Ausländer eine Person, für die sie er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist. Dabei geht es in erster Linie darum, eine zusätzliche künftige Belastung der öffentlichen Wohlfahrt zu vermeiden. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist kaum je mit Sicherheit zu ermitteln. Es muss daher die wahrscheinliche Entwicklung der finanziellen Situation der ausländischen Person berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung ist eine andauernde konkrete Gefahr einer Sozialhilfeabhängigkeit erforderlich; Hypothesen und pauschalierte Gründe genügen nicht. Neben den bisherigen und den aktuellen Verhältnissen ist die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung auf längere Sicht in die Beurteilung miteinzubeziehen. Ein Widerruf fällt in Betracht, wenn eine Person hohe finanzielle Unterstützungsleistungen erhalten hat und nicht damit gerechnet werden kann, dass sie in Zukunft selber für ihren Lebensunterhalt wird aufkommen können (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_536/2021 vom 19. Oktober 2021 E. 5.1 mit Hinweisen).

 

2.2 Nach Art. 63 Abs. 2 AIG kann eine Niederlassungsbewilligung widerrufen und durch eine Aufenthaltsbewilligung ersetzt werden, wenn die Ausländerin der Ausländer die Integrationskriterien nach Art. 58a AIG nicht (oder nicht mehr) erfüllt. Die entsprechende Regelung ist mit der Revision des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) und dessen Umbenennung in AIG neu in das Gesetz aufgenommen worden und steht seit dem 1. Januar 2019 in Kraft (vgl. AS 2017 6521 ff., 2018 3171 f.; BBl 2013 2397 ff.; 2016 2821 ff.). Gleichzeitig wurde der bisherige Art. 63 Abs. 2 AuG aufgehoben, wonach Niederlassungsbewilligungen von Ausländerinnen und Ausländern, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhielten, nur bei längerfristigen Freiheitsstrafen, schwerwiegenden Verstössen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie bei Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz widerrufen werden konnten (vgl. Art. 63 Abs. 2 AuG i.d.F. vom 16. Dezember 2015 [AS 2007 5437, 5456]). Seit dem 1. Januar 2019 ist damit insbesondere der Widerruf von Niederlassungsbewilligungen wegen dauerhafter und erheblicher Sozialhilfeabhängigkeit auch nach der Frist von 15 Jahren möglich (Zusatzbotschaft «Integration», BBl 2016 2821 ff., 2829; s. zum Ganzen BGE 148 II 1 E. 2.1).

 

2.3 Als Integrationskriterien gelten nach Art. 58a AIG die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (lit. a), die Respektierung der Werte der Bundesverfassung (lit. b), die Sprachkompetenzen (lit. c) und die Teilnahme am Wirtschaftsleben am Erwerb von Bildung (lit. d). Die Art. 77a ff. der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR 142.201) konkretisieren die Integrationskriterien und -vorgaben. Die Rückstufung kann gemäss Art. 62a VZAE mit einer Integrationsvereinbarung mit einer Integrationsempfehlung nach Art. 58b AIG verbunden werden (Abs. 1). Geschieht dies nicht, ist in der Rückstufungsverfügung festzuhalten, welche Integrationskriterien die betroffene Person nicht erfüllt, welche Gültigkeitsdauer die Aufenthaltsbewilligung hat, an welche Bedingungen der weitere Verbleib in der Schweiz geknüpft wird und welche Folgen deren Nichteinhaltung nach sich zieht (Abs. 2).

 

2.4 Mit der Rückstufung haben die Ausländerbehörden die Möglichkeit erhalten, situationsgerechter und differenzierter zu handeln, wenn nach Erteilung der bedingungslosen und unbefristeten Niederlassungsbewilligung die Integrationskriterien nicht (mehr) gegeben sind. Der Rückstufung kommt dabei eine eigenständige, vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung mit Wegweisung unabhängige Bedeutung zu. Es soll mit ihr erreicht werden, dass die betroffene Person zukünftig ihr Verhalten ändert und sich besser integriert; es geht jeweils darum, ein ernsthaftes Integrationsdefizit zu beseitigen, wobei den persönlichen Umständen Rechnung zu tragen ist (vgl. Art. 58a Abs. 2 AIG; Art. 77f VZAE). Die Rückstufung ist unter anderem dann angezeigt, wenn ein Widerrufsgrund gemäss Art. 63 Abs. 1 AIG (z.B. die dauerhafte und erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit gemäss lit. c) erfüllt ist, der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung sich jedoch als unverhältnismässig erweisen würden (Urteil 2C_181/2022 vom E. 5.2 f. mit Hinweisen; BGE 148 II 1 E. 2.3.1). 

 

2.5 Die Rückstufung ist gestützt auf den Wortlaut von Art. 63 Abs. 2 AIG zulässig, wenn ein Integrationsdefizit im Sinn von Art. 58a AIG besteht. Sie muss beim Widerruf einer altrechtlich erteilten Niederlassungsbewilligung im Hinblick auf deren Unbefristetheit und Bedingungsfeindlichkeit (Art. 34 Abs. 1 AIG) sowie wegen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots an ein unter dem neuen Recht aktualisiertes, hinreichend gewichtiges Integrationsdefizit anknüpfen (BGE 148 II 1, E. 5.2 u. 5.3 sowie E. 6.3 u. 6.4); nur dann besteht ein hinreichendes öffentliches Interesse an der Rückstufung altrechtlich erteilter Niederlassungsbewilligungen unter dem seit dem 1. Januar 2019 gültigen (neuen) Recht (Urteil des Bundesgerichts 2C_592/2020 vom 28. April 2022 E. 4.2 f. mit Hinweisen). Die Migrationsbehörden haben ihr Ermessen einzelfallbezogen auszuüben und auf nach dem 1. Januar 2019 fortdauernde Integrationsdefizite von einer gewissen Relevanz abzustellen; sie haben einem in diesem Sinn gewichteten Kontinuitätsvertrauen bei ihrer Rechtsanwendung Rechnung zu tragen. Sie dürfen dabei vor dem 1. Januar 2019 eingetretene Sachverhaltselemente mitberücksichtigen, um die neue Situation im Lichte der bisherigen zu würdigen und in diesem Sinn die Entstehung und das Fortdauern des Integrationsdefizits umfassend klären zu können. Sie müssen die Rückstufung jedoch auf Sachverhalte abstützen, die sich nach dem 1. Januar 2019 zugetragen haben bzw. nach diesem Datum fortdauern; andernfalls läge eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung vor (BGE 148 II 1 E. 5.3). Die Rückstufung muss, wie jedes staatliche Handeln, verhältnismässig sein (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Respektierung des Übermassverbots [Zumutbarkeit]), was jeweils im Einzelfall zu prüfen und zu begründen ist. Die Rückstufung setzt sich aus einem Widerruf der Niederlassungsbewilligung und der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zusammen; die Rückstufung erfolgt jedoch als eine Einheit (uno actu), weshalb im kantonalen Verfahren ihre Verhältnismässigkeit jeweils als Ganzes zu beurteilen ist. Die Rückstufung kann deshalb auch als eigenständiger Akt mit einer Verwarnung angedroht werden – gegebenenfalls muss sie dies auch in Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Urteil 2C_592/2020 vom 28. April 2022 E. 4.4 f.; BGE 148 II 1 E. 2.6 und 5.3; Urteil 2C_96/2021 vom 19. Oktober 2021 E. 4.4 f.).

 

2.6 Die ausländerrechtliche Massnahme hat gemäss Art. 96 AIG verhältnismässig zu sein, wobei die öffentlichen Interessen und die persönlichen Verhältnisse sowie die Integration zu berücksichtigen sind, und muss vor Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) standhalten. Ist eine Massnahme begründet, aber den Umständen nicht angemessen, so kann die betroffene Person unter Androhung dieser Massnahme verwarnt werden (Abs. 2). Eine vorgängige Verwarnung ist für das Aussprechen einer Massnahme nicht zwingend, ergibt sich aber aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip und dem Grundsatz von Treu und Glauben.

 

3.1 Die Beschwerdeführerin hat seit November 2009 bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung – also während rund 13 Jahren – ununterbrochen Sozialhilfe bezogen. Das Total betrug im Juni 2022 rund CHF 190’000.00 (AS 261) und dürfte seither weiter angewachsen sein. Die Beschwerdeführerin macht auch keine Anstalten, sich von der Sozialhilfe lösen zu wollen. In ihrer Stellungnahme vom 31. Dezember 2021 brachte sie viel mehr vor, aufgrund ihrer anstehenden Pensionierung in vier Jahren werde sie nicht mehr von der Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sie bis dahin plant, weiterhin von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Damit gelten die bezogenen Sozialhilfeleistungen nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung als erheblich und dauerhaft (vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_515/2016 vom 22. August 2017, E. 3.1 und 2C_502/2011 vom 10. April 2012, E. 4.1) und stellen einen Widerrufsgrund nach Art. 63 AIG dar.

 

3.2 Weiter ist zu beachten, dass die IV-Stelle des Kantons Solothurn der Beschwerdeführerin seit September 2011 wieder eine Arbeitsfähigkeit von 80 % attestierte und die Beschwerdeführerin seit dieser Zeit keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, sondern ihren Lebensunterhalt lediglich mit der Unterhaltszahlung ihres getrenntlebenden Ehemannes von monatlich CHF 850.00 (Direktanweisung der SUVA; vgl. AS 92) und der Sozialhilfe bestritten hat. Auch die Sprachkompetenzen gemäss Art. 58 a Abs. 1 lit. c AIG sind zumindest zweifelhaft, liess sich doch die Beschwerdeführerin im direkten Kontakt mit der Vorinstanz praktisch ausnahmslos durch den Sohn vertreten. Dieser gab denn auch an, seine Mutter könne nicht so gut Deutsch (AS 65). Die sich in den Akten befindliche Kursbestätigung aus dem Jahr 2004 (AS 91) und die entsprechenden Behauptungen der Beschwerdeführerin in ihrer Rechtsschrift vermögen diese Zweifel nicht auszuräumen. Die Beschwerdeführerin weist damit erhebliche Integrationsdefizite auf, welche auch nach dem 1. Januar 2019 weiterbestehen. Es bestehen damit auch Gründe für eine Rückstufung nach Art. 63 Abs. 2 AIG.

 

4. Fraglich ist aber, ob der durch die Vorinstanz verfügte Entzug der Niederlassungsbewilligung allenfalls die Anordnung einer Rückstufung im vorliegenden Fall auch verhältnismässig ist. Die Vorinstanz hat die Beschwerdeführerin erst mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung aus der Schweiz resp. Rückstufung (AS 147) erstmals mit ihrem Fehlverhalten und dem möglichen Widerruf der Niederlassungsbewilligung der allfälligen Rückstufung konfrontiert. Sie hat die Beschwerdeführerin seit 2009 nie aufgefordert, ihre Arbeitsfähigkeit von 80 % auszunützen und sich von der Sozialhilfe zu lösen, ansonsten sie gewärtigen müsse, ihre Niederlassungsbewilligung zu verlieren rückgestuft zu werden. Es erfolgte zu keiner Zeit je eine formelle Verwarnung, eine Ermahnung Androhung, sondern die Niederlassungsbewilligung wurde der Beschwerdeführerin durch die Vorinstanz ohne Vorwarnung nach mindestens 24-jährigem Aufenthalt in der Schweiz entzogen. Zwar trifft es zu, dass nicht jeder ausländerrechtlichen Massnahme eine formelle Verwarnung vorauszugehen hat, doch ist das Ausbleiben jeglicher Art einer Ermahnung in einem Fall wie dem vorliegenden (in welchem kein kriminelles Verhalten vorliegt) unverhältnismässig (vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_48/2021 vom 16. Februar 2022 E. 6.2, 2C_96/2021 vom 19. Oktober 2021 E. 6.3). Die Beschwerdeführerin war im Zeitpunkt des Entscheids der Vorinstanz bereits 60-jährig, hatte sich – wie erwähnt – zusammen mit ihrer Familie bereits seit mindestens 24 Jahren in der Schweiz aufgehalten und leidet an diversen Krankheiten (u.a. Diskushernie, Fibromyalgie, Depression, Panikstörungen; vgl. Arztzeugnis vom 7. September 2021, AS 95). Die Sozialregion Olten hatte denn auch «aufgrund Alter und gesundheitlichen Beschwerden» auf Integrationsmassnahmen verzichtet (vgl. Beilage 10 Beschwerdebegründung). Ohne jegliche Vorwarnung ist in diesem Fall auch eine Rückstufung nicht zulässig (vgl. nebst den obgenannten Urteilen des Bundesgerichts Urteil 2C_158/2021 vom 3. Dezember 2021 E. 7.1).

 

5. Die Beschwerde erweist sich somit als begründet, sie ist gutzuheissen. Die Verfügung des MISA vom 22. Juli 2022 ist aufzuheben und die Vorinstanz ist anzuweisen, die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung der Beschwerdeführerin zu verlängern. Die Beschwerdeführerin ist aber in Anwendung von Art. 96 Abs. 2 AIG formell zu verwarnen, indem sie mit Nachdruck darauf hingewiesen wird, dass ihre Niederlassungsbewilligung widerrufen werden kann, wenn sie weiterhin durch Sozialhilfe unterstützt werden muss Schulden anhäuft.

 

6. Bei diesem Ausgang hat der Staat die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht, die einschliesslich der Entscheidgebühr auf CHF 1'500.00 festzusetzen sind, zu übernehmen und der Beschwerdeführerin in Anwendung von § 77 Verwaltungsrechtspflegegesetz (VRG, BGS 124.11) i.V.m. Art. 106 Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272) eine normale Parteientschädigung auszurichten. Die Vertreterin der Beschwerdeführerin macht eine Parteientschädigung von CHF 7'050.15 (29.16 Stunden à CHF 220.00 plus Auslagen von CHF 130.90 plus MwSt.) geltend. Sämtlicher Aufwand ist im vergangenen Jahr entstanden, sodass die alten Ansätze zur Anwendung kommen. Der Stundenansatz von CHF 220.00 entspricht nicht dem (solothurnischen) Minimalansatz von CHF 230.00 (vgl. § 160 Abs. 2 Gebührentarif [GT, BGS 615.11]) und ist deshalb zu Gunsten der Beschwerdeführerin um CHF 10.00 zu erhöhen. Hingegen ist der geltend gemachte Aufwand in Anbetracht des Streitgegenstandes übersetzt (vgl. II. Ziff.1). Im Vergleich mit ähnlichen Fällen (vgl. § 161 i.V.m. § 160 Abs. 1 GT) erscheinen insgesamt 20 Stunden als angemessen. Somit ergibt sich folgende vom Staat zu bezahlende Parteientschädigung: 20 Stunden à CHF 230.00 plus Auslagen von CHF 130.90 plus MwSt., insgesamt CHF 5'095.20.

 

Demnach wird erkannt:

 

1.    Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung vom 22. Juli 2022 aufgehoben.

2.    Die Beschwerdegegnerin wird angewiesen, die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung von A.___ zu verlängern.

3.    A.___ wird im Sinne der obigen Erwägungen verwarnt, indem sie mit Nachdruck darauf hingewiesen wird, dass ihre Niederlassungsbewilligung widerrufen werden kann, wenn sie weiterhin durch die Sozialhilfe unterstützt werden muss Schulden anhäuft.

4.    Der Kanton Solothurn hat die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht von CHF 1'500.00 zu bezahlen.

5.    Der Kanton Solothurn hat A.___, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Fanny De Weck, eine Parteientschädigung von CHF 5'095.20 zu bezahlen.

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Eröffnung des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Schweizerischen Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

 

Im Namen des Verwaltungsgerichts

Der Vizepräsident                                                             Die Gerichtsschreiberin

Müller                                                                                Blut-Kaufmann

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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