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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VWBES.2022.222)

Zusammenfassung des Urteils VWBES.2022.222: Verwaltungsgericht

Das Verwaltungsgericht entschied am 7. Juli 2023, dass die Annullierung des Führerausweises auf Probe für A.___ gerechtfertigt ist. A.___ wurde wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs verurteilt, da die Reifen mangelhaft waren. Trotz des Einspruchs von A.___, vertreten durch B.___, wurde die Massnahme aufrechterhalten. Das Gericht erkannte jedoch, dass die Massnahme unverhältnismässig war und entschied zu Gunsten von A.___, auf eine Massnahme zu verzichten. Die Kosten des Verfahrens in Höhe von CHF 800.00 trägt der Kanton Solothurn, und A.___ erhält eine Parteientschädigung von CHF 500.00.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.222

Kanton:SO
Fallnummer:VWBES.2022.222
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Verwaltungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VWBES.2022.222 vom 07.07.2023 (SO)
Datum:07.07.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Fahrzeug; Führer; Führerausweis; Reifen; Busse; Gerichts; Verwaltungsgericht; Motorfahrzeugkontrolle; Widerhandlung; Verkehr; Profiltiefe; Probe; Urteil; Beschwerde; Verschulden; Administrativmassnahme; Verfügung; Massnahme; Gericht; Ordnungsbusse; Verfahren; Urteil; Strassenverkehr; Behörde; Gefahr; ügend
Rechtsnorm: Art. 15a SVG ;Art. 16a SVG ;Art. 29 SVG ;Art. 54 SVG ;
Referenz BGE:108 Ib 254; 115 Ib 159; 116 Ib 146; 120 Ib 507; 136 I 345;
Kommentar:
Bernhard Rütsche, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1900

Entscheid des Verwaltungsgerichts VWBES.2022.222

 
Geschäftsnummer: VWBES.2022.222
Instanz: Verwaltungsgericht
Entscheiddatum: 07.07.2023 
FindInfo-Nummer: O_VW.2023.146
Titel: Annullierung des Führerausweises auf Probe

Resümee:

 

Verwaltungsgericht

 

Urteil vom 7. Juli 2023     

Es wirken mit:

Präsident Thomann

Oberrichter Müller 

Ersatzrichter Vögeli   

Gerichtsschreiber Schaad

 

In Sachen

A.___, vertreten durch  B.___   

 

Beschwerdeführer

 

 

 

gegen

 

 

 

Bau- und Justizdepartement, vertreten durch Motorfahrzeugkontrolle

 

Beschwerdegegner

 

 

 

betreffend     Annullierung des Führerausweises auf Probe


zieht das Verwaltungsgericht in Erwägung:

 

I.

 

1. A.___ wurde verzeigt wegen Führen eines nicht betriebssicheren Motorfahrzeugs, begangen am 11. September 2020, 17:25 h, in Dornach, mit einem Personenwagen. Die Reifen auf der Vorderachse wiesen eine ungenügende Profiltiefe auf, wobei teilweise die Karkasse sichtbar war. Das Administrativverfahren wurde bis zum Abschluss des Strafverfahrens sistiert. Mit Urteil des Richteramtes Dorneck-Thierstein vom 4. Februar 2022 wurde A.___ in Anwendung von Art. 93 Abs. 2 lit. a des Strassenverkehrsgesetzes (SVG; SR 741.01) i.V.m. Art. 29 SVG und Art. 57 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung (VRV; SR 741.11) rechtskräftig zu einer Busse von Fr. 100.00 verurteilt. Die zuständige Strafbehörde hat den Sachverhalt verbindlich festgestellt.

 

In der schriftlichen Stellungnahme vom 21. April 2022 im Administrativverfahren liess A.___ ausführen, dass vorliegend ein besonders leichter Fall nach
Art. 16a Abs. 4 SVG vorliegen würde und daher von einer Administrativmassnahme abzusehen sei. Der Antrag wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Strafbehörde wegen Führens eines nicht betriebssicheren Personenwagens lediglich eine Busse von Fr. 100.00 festgelegt habe, was betraglich einer Ordnungsbusse entsprechen würde. Die geringe Busse beziehe sich auf mangelhafte Profiltiefe und Druck der Vorderreifen. Weiter liess er bestreiten, dass von einer konkreten erhöhten abstrakten Gefahr die Rede sein könne, weil zum besagten Zeitpunkt der polizeilichen Rapportierung sonniges Wetter und mässiges Verkehrsaufkommen geherrscht habe. Mangels konkreter erhöhter abstrakter Gefahr könne kein Ausweisentzug nach Art. 16a SVG angeordnet und in der Folge auch der Führerausweis gestützt auf Art. 15a Abs. 4 SVG nicht annulliert werden.

 

Die Administrativbehörde erachtete A.___ als Führer des Fahrzeugs für dessen Betriebssicherheit und damit für die regelmässige Überprüfung der Profiltiefe der Reifen verantwortlich. Anlässlich der technischen Prüfung des Fahrzeugs durch die Motorfahrzeugkontrolle wurde bezüglich der Reifen festgestellt, dass diese auf der Vorderachse innen keine Profiltiefe aufwiesen und die Karkasse bereits zum Vorschein käme. Daher wurde zumindest eine leichte Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im Sinne von Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG angenommen.

 

Da A.___ bereits mit einer Eintragung für eine mittelschwere Widerhandlung im Massnahmenregister verzeichnet war, annullierte die Motorfahrzeugkontrolle, Abteilung Administrativmassnahmen, mit Verfügung vom 22. Mai 2022 dessen Führerausweis auf Probe und verfügte weiter, dass ein neuer Lernfahrausweis frühestens ein Jahr nach Einsendung des Führerausweises und nur aufgrund eines verkehrspsychologischen Gutachtens beantragt werden könne.

 

2. Mit Eingabe vom 15. Juni 2022 erhob A.___, vertreten durch B.___, Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verfügung der Motorfahrzeugkontrolle vom 22. Mai 2022 und beantragte deren Aufhebung und den Verzicht auf eine Massnahme, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Innert erstreckter Frist reichte der Beschwerdeführer am 24. Juli 2022 eine ergänzende Beschwerdebegründung ein. In ihrer Vernehmlassung vom 12. August 2022 beantragte die Motorfahrzeugkontrolle die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Mit Eingabe vom 1. September 2022 liess sie sich ein zweites Mal vernehmen. Schliesslich reichte der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 23. September 2022 noch weitere Bemerkungen ein.

 

3. Mit Verfügung vom 17. Juni 2022 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt.

 

 

II.

 

1. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht erhoben worden. Sie ist zulässiges Rechtsmittel und das Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuständig (vgl. § 49 Gerichtsorganisationsgesetz, GO, BGS 125.12). A.___ ist durch den angefochtenen Entscheid beschwert und damit zur Beschwerde legitimiert. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

2.1 A.___ ist von der Amtsgerichtspräsidentin Dorneck-Thierstein mit Urteil vom 4. Februar 2022 wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges, begangen am 11. September 2020, schuldig gesprochen und zu einer Busse von
CHF 100.00 verurteilt worden. Grundlage für die Verurteilung bildete die Überweisung der Staatsanwaltschaft gemäss dem neuen Strafbefehl vom 5. Mai 2021, welcher seinerseits auf den Fahrzeugprüfungsbericht der Motorfahrzeugkontrolle vom 16. September 2020 abstützte. Gemäss diesem Fahrzeugprüfungsbericht der MFK «weisen die [beiden] Reifen auf der Vorderachse innen keine Profiltiefe auf und das Karkassengewebe kommt bereits zum Vorschein.»

 

Der Aktennotiz zu Handen der Staatsanwaltschaft zum Urteil vom 4. Februar 2022 ist zu entnehmen, dass der Sachverhalt betreffend die ungenügende Profiltiefe gemäss Vorhalt erstellt ist. Diesen Sachverhalt hat A.___ vor Gericht nicht bestritten (Einvernahmeprotokoll, Zeilen 73 -77 und 105-108).

 

Gemäss BGE 1C_263/2019 vom 25. Februar 2020  ist die Verwaltungsbehörde nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich, von hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen, an die Tatsachenfeststellungen des Strafgerichts, nicht aber an dessen rechtliche Beurteilung, namentlich des Verschuldens, gebunden (vgl. BGE 136 I 345 E. 6.4 S. 350 und 136 II 447 E. 3.1 S. 451; Urteil des Bundesgerichts 1C_282/2011 vom 27. September 2011 E. 2.4).

 

2.2 Auszugehen ist daher davon, dass der Beschwerdeführer sein Fahrzeug mit zwei auf der Vorderachse montierten Reifen lenkte, welche keine genügende Profiltiefe aufwiesen.

 

2.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Fahrzeug sei am 27. April 2020 in der Garage […] AG gewesen. Ausserdem habe er das Fahrzeug mehrmals bei der Motorfahrzeugkontrolle gezeigt, nämlich am 2. April 2020 wegen einer technischen Änderung (Felgen) und am 19. Juni 2020 wegen einer weiteren technischen Änderung (Federn). An jedem dieser Termine sei das Fahrzeug auf dem Lift gewesen, sodass die Unterseite einsehbar gewesen sei, aber an keinem der Termine sei ein Hinweis auf das Reifenprofil erfolgt.

 

2.4 Ebenso glaubhaft lässt der Beschwerdeführer vorbringen, die Polizisten hätten anlässlich der Kontrolle die Profiltiefe der beiden Vorderreifen nachgemessen und diese mit 1.5 mm bzw. 1.4 mm beziffert. Aus der Polizeianzeige vom 22. September 2020 geht lediglich hervor, dass das Reifenprofil ungenügend gewesen sei. Ebenfalls geht aus derselben Strafanzeige hervor, dass das Fahrzeug erst nach der Überführung auf die Motorfahrzeugkontrolle sichergestellt worden ist. Mithin haben die beiden Polizisten, auch nach eigener Feststellungen und Messungen, eine Gefährdung der Verkehrssicherheit als nicht gegeben erachtet, ansonsten das Fahrzeug gar nicht mehr in Verkehr hätte gebracht werden dürfen. Im Übrigen gibt selbiges auch der Beschwerdeführer selbst an der Hauptverhandlung vor der Gerichtspräsidentin Dorneck-Thierstein vom 4. Februar 2022 an, wonach er angab: «…, dort wurde ich aufgefordert, der Streife nach Wahlen zur MFK zu folgen und das Auto stehen zu lassen». Anhaltspunkte dafür, dass das Fahrzeug zur Überführung aufgeladen werden musste, wie das die MFK geltend macht, sind nicht aktenkundig. Die entsprechenden Ausführungen in der angefochtenen Verfügung vom 30. Mai 2022 sind somit nicht korrekt.

 

3. Der erstmals erworbene Führerausweis für Motorräder und Motorwagen wird zunächst auf Probe erteilt. Die Probezeit beträgt drei Jahre (Art. 15a Abs. 1 SVG). Dem Beschwerdeführer, geboren am 22. Januar 2001, wurde der Führerausweis auf Probe mit Verfügung vom 10. Dezember 2019 wegen einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen und die Probezeit wurde um 1 Jahr bis zum 25. Juli 2023 verlängert. Nun steht eine zweite Widerhandlung im Raum. Der Führerausweis auf Probe verfällt mit der zweiten Widerhandlung, welche zum Entzug des Ausweises führt (Art. 15a Abs. 4 SVG). Bestritten ist folglich, dass die zweite Widerhandlung zu einem Ausweisentzug führen und lediglich einen besonders leichten Fall nach Art. 16a Abs. 4 SVG darstellen soll.

 

4. Was ein besonders leichter Fall i.S.v. Art. 16a Abs. 4 SVG ist, ergibt sich in Abgrenzung zur leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 SVG. Ein besonders leichter Fall setzt demnach voraus, dass der Fahrzeugführer eine besonders geringe Gefahr für die Sicherheit anderer schafft und ihn dafür nur ein besonders leichtes Verschulden trifft. Es braucht für den besonders leichten Fall folglich eine besondere Geringfügigkeit sowohl in Bezug auf die Gefährdung als auch das Verschulden (vgl. VWBES.2022.234). Das Bundesgericht orientiert sich in seiner neuen Rechtsprechung für die Auslegung der besonders leichten Fälle i.S.v. Art. 16a Abs. 4 SVG an den Verkehrsregelverletzungen, die nach dem Ordnungsbussengesetz erledigt werden und damit ebenfalls keine Administrativmassnahmen nach sich ziehen. Eine besonders leichte Gefährdung entspricht demnach von ihrer Intensität her den Gefährdungen, die durch Widerhandlungen gemäss Ordnungsbussenliste hervorgerufen werden, sofern im Einzelfall nicht besondere Umstände wie schlechte Sichtverhältnisse, dichter Verkehr unübersichtliche Verkehrssituationen vorliegen, welche die Gefahr als höher erscheinen lassen. Ein mögliches Beispiel für eine besonders leichte Gefährdung (ausserhalb des Ordnungsbussenkatalog) ist eine geringfügige Streifkollision das Zusammenprallen der Rückspiegel bei sehr tiefer Geschwindigkeit auf einem Parkplatz (Bernhard Rütsche / Denise Weber in: Marcel Alexander Niggli et al. [Hrsg.], Strassenverkehrsgesetz, Basler Kommentar, Basel 2014, Art. 16a N 25 f.).

 

4.1 Der Beschwerdeführer ist wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges gemäss Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG zu einer Busse von CHF 100.00 verurteilt worden. Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG droht wie Art. 90 Ziff. 1 SVG als Sanktion einzig Busse an und sieht damit dieselbe Strafe vor. Die strafrechtliche Qualifikation des Verschuldens nach Art. 90 Ziff. 1 SVG  schliesst gemäss BGE 1C_263/2019  vom 25. Februar 2020 die Anwendung von Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG  nicht aus. Dasselbe muss analog auch bei einer Verurteilung nach Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG gelten. Auch bei einem leichten strafrechtlichen Verschulden kann daher sogar eine schwere Widerhandlung vorliegen. Umgekehrt gilt, dass nicht jede schwere Verkehrsregelverletzung mit einem schweren Verschulden einhergeht. Dies bedeutet, dass aus der Strafe bzw. der Bussenhöhe nicht direkt auf den Schweregrad der Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften geschlossen werden kann. Zu dessen Bestimmung ist vielmehr auf die Umstände des konkreten Einzelfalls abzustellen.

 

4.2 Hierbei sind hauptsächlich die Erkenntnisse der Strafbehörde, vorliegend der Amtsgerichtspräsidentin von Dorneck-Thierstein, zu berücksichtigen, zumal sie nach durchgeführter Hauptverhandlung mit Parteibefragung das Urteil vom 4. Februar 2022 fällte. Sie kam zum Schluss, dass von den ursprünglichen Anklagepunkten (Strafbefehl vom 5. Mai 2021) einzig die ungenügende Profiltiefe eine Verurteilung zuliess (Aktennotiz zu Handen der Staatsanwaltschaft zum Urteil vom 4. Februar 2022). Wortwörtlich wird darin ausgeführt, dass «…er den PW im April und Juni 2020 bei der MFK vorführte ohne dass jedoch die Auspuffanlage beanstandet worden sei. Dasselbe gilt für das linksseitig montierte Kontrollschild [vorne]. Mangels gegenteiliger Hinweise ist davon auszugehen, dass anlässlich der genannten MFK-Prüfungen sowohl der Auspuff, als auch das fragliche Kontrollschild gesichtet und nicht beanstandet wurden. Unter diesen Voraussetzungen ist insbesondere keine Sorgfaltspflichtverletzung und damit kein strafbares Verhalten des Beschuldigten erkennbar. Für die Übertretung erscheint eine Busse von CHF 100.00 angemessen». Die Gerichtspräsidentin ging demnach zu Gunsten des Beschuldigten davon aus, dass das Fahrzeug anlässlich der MFK-Prüfungen im selben Zustand war, wie an der polizeilichen Anhaltung vom 11. September 2020. Dasselbe muss auch für die Bereifung gelten, gibt doch der Beschwerdeführer an, die Bereifung habe er auch nicht gewechselt. Für die Prüfung der Auspuffanlage musste die MFK das Fahrzeug mittels Lift anheben, um es von unten begutachten zu können. Wären die Reifen damals derart auffällig abgefahren gewesen, hätte die MFK mit Sicherheit darauf hingewiesen. Auch die beiden Polizisten, welche die Reifen explizit kontrolliert haben, schreiben in der Polizeianzeige kein Wort über derart abgefahrene Reifen. Vielmehr haben Sie das Fahrzeug offenbar noch als betriebssicher eingestuft, ansonsten hätten sie den Beschwerdeführer nicht noch bis nach Wahlen fahren lassen dürfen, sondern das Fahrzeug hätte aufgeladen und überführt werden müssen, wie das die MFK fälschlicherweise geltend macht (Art. 54 Abs. 1 SVG). Wenn bereits fachkundige Dritte einen möglichen Mangel nicht unmittelbar erkennen, kann dies dem Beschwerdeführer nicht zum Vorwurf gemacht werden. Dies hat auch die Amtsgerichtspräsidenten so beurteilt und erkannte keine Sorgfaltspflichtverletzung, sondern verurteilte den Beschwerdeführer zu einer Busse von CHF 100.00, welche sich an die Ordnungsbussenverordnung (OBV, SR 314.11) hält (Anhang 1, Bussenliste, Ziff. 402.1, Führen eines Motorfahrzeugs mit einem mangelhaften Reifen) und im entsprechenden Verfahren hätte erlassen werden können. Insgesamt kann somit in der vorliegenden Angelegenheit, auch unter Berücksichtigung der Witterungsverhältnisse, nicht davon ausgegangen werden, dass das Fahrzeug nicht betriebssicher war und der Beschwerdeführer dies hätte erkennen müssen.

 

4.3 Das Verschulden des Beschwerdeführers ist im Strafverfahren bereits als besonders leicht beurteilt worden, ansonsten die Amtsgerichtspräsidentin nicht einzig eine Busse von CHF 100.00 ausgesprochen hätte. Es handelt sich vorliegend augenscheinlich um eine Bagatelle bzw. ein Bagatelldelikt, welches auch im Ordnungsbussenverfahren hätte erledigt werden können. Das Strafurteil beruht auf umfassenden Abklärungen und einer Hauptverhandlung mit Parteibefragung. Es besteht für das Verwaltungsgericht keine Veranlassung hiervon abzuweichen und es ist auf das Vorstehende zu verweisen.

 

4.4 Aufgrund der vorliegend doch aussergewöhnlich besonderen Umstände ist zu Gunsten des Beschwerdeführers von einer besonders geringen Gefahr und einem besonders leichten Verschulden auszugehen. Dies führt zu einem besonders leichten Fall nach Art. 16a Abs. 4 SVG, weshalb auf eine Massnahme zu verzichten ist.

 

4.5 Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Massnahme in jeder Hinsicht unverhältnismässig wäre, insbesondere auch im Hinblick auf den langen Zeitablauf seit dem Vorfall vom 11. September 2020. Der Beschwerdeführer hat seither im Strassenverkehr zu keinen Beanstandungen mehr Anlass gegeben, wie dies die aktuelle Übersicht über Administrativmassnahmen vom 22. Juni 2023 belegt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist zwar der Führerausweisentzug eine von der strafrechtlichen Sanktion unabhängige, um der Verkehrssicherheit willen angeordnete Administrativmassnahme mit präventivem und erzieherischem Charakter (BGE 116 Ib 146 E. 2; BGE 108 Ib 254 E. 1a mit Hinweisen). Sie soll daher mit der Verkehrsregelverletzung in einem angemessenen zeitlichen Zusammenhang stehen; unter diesem Gesichtspunkt ist ein Warnungsentzug nicht mehr gerechtfertigt, wenn seit dem ihm zugrundeliegenden Ereignis lange Zeit verstrichen ist, der Fahrzeuglenker hierfür nicht verantwortlich ist und er sich während dieser Zeit im Strassenverkehr wohlverhalten hat (BGE 115 Ib 159). Liegt zwischen dem massnahmeauslösenden Ereignis und der Durchführung der Massnahme eine lange Zeitspanne, so kann diese Lösung zu unerträglichen und vom Gesetzgeber nicht gewollten Härten führen. Im Strafverfahren wird dem Ablauf verhältnismässig langer Zeit durch Verjährung, Strafmilderung insoweit Rechnung getragen, als nicht mehr erforderliche Massnahmen aufzuheben beziehungsweise solche erst gar nicht anzuordnen sind. Diese Frage müsste auch beim Führerausweisentzug geregelt sein, weil die gesetzliche Regelung zu unerträglichen Härtefällen führen kann und dann dem Sinn und Zweck des Führerausweisentzugs bzw. dem Verfall des Ausweises entgegensteht. Da sich das SVG über die Folgen eines verhältnismässig langen Zeitablaufs für den Führerausweisentzug nicht äussert, liegt diesbezüglich eine (echte) Lücke vor (BGE 120 Ib 507 E. 4b).

 

5. Die Beschwerde erweist sich somit als begründet und ist gutzuheissen: Die Verfügung der Motorfahrzeugkontrolle, Abteilung Administrativmassnahmen vom 30. Mai 2022 ist aufzuheben. Auf eine Administrativmassnahme ist in Anwendung von Art. 16a Abs. 4 SVG zu verzichten.

 

6. Bei diesem Ausgang hat der Kanton Solothurn die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht von insgesamt CHF 800.00 zu tragen. In Anwendung von § 181 des Gebührentarifs hat das Gericht Parteientschädigungen namentlich nach dem Umfang der Bemühungen sowie der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Sache in einer Pauschalsumme festzusetzen. Im vorliegenden Fall erscheint eine reduzierte Parteientschädigung von CHF 500.00 als angemessen. Die Entschädigung ist durch den Kanton Solothurn zu bezahlen.

 

 

Demnach wird erkannt:

 

1.    Die Beschwerde wird gutgeheissen: Die Verfügung des Bau- und Justizdepartements, vertreten durch die Motorfahrzeugkontrolle, vom 30. Mai 2022 ist aufgehoben. Auf eine Massnahme ist zu verzichten.

2.    Die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht von insgesamt CHF 800.00 hat der Kanton Solothurn zu tragen.

3.    Der Kanton Solothurn hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 500.00 auszurichten.

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Eröffnung des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Schweizerischen Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

 

 

Im Namen des Verwaltungsgerichts

 

Der Präsident                                                                    Der Gerichtsschreiber

 

 

Thomann                                                                          Schaad

 

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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