Zusammenfassung des Urteils VWBES.2021.433: Verwaltungsgericht
Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass einer Person der Führerausweis für zwölf Monate entzogen wird, nachdem sie beim Autofahren auf ihr Handy geschaut und beinahe einen Unfall verursacht hat. Die Person hatte zuvor bereits zwei Führerausweisentzüge wegen ähnlicher Vergehen. Trotz des Einspruchs der Person wurde das Urteil bestätigt, und sie muss die Verfahrenskosten von CHF 800.00 tragen. Die Beschwerde wurde vom Bundesgericht am 26. September 2022 bestätigt.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | VWBES.2021.433 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Verwaltungsgericht |
Datum: | 30.03.2022 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Schlagwörter: | Richt; Recht; Verkehr; Strasse; Verfahren; Widerhandlung; Gericht; Gefährdung; Führer; Führerausweis; Befehl; Fahrzeug; Schule; Urteil; Entscheid; Mobiltelefon; Aufmerksamkeit; Verkehrsregel; Rudolf; Steiner; Sachverhalt; Gefahr; Strassenverkehr; Vorfall; Verwaltungsgericht; Verfahren; Behörde; Verfügung; Bundesgericht |
Rechtsnorm: | Art. 16 SVG ;Art. 16c SVG ;Art. 26 SVG ;Art. 31 SVG ; |
Referenz BGE: | 123 II 97; 131 IV 133; 132 II 234; 136 II 447; 137 IV 290; |
Kommentar: | Roth, Andreas, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1900 |
Geschäftsnummer: | VWBES.2021.433 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Entscheiddatum: | 30.03.2022 |
FindInfo-Nummer: | O_VW.2022.64 |
Titel: | Führerausweisentzug |
Resümee: |
Verwaltungsgericht
Urteil vom 30. März 2022 Es wirken mit: Oberrichter Müller Oberrichterin Weber Rechtspraktikant Probst In Sachen A.___ vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Fasnacht,
Beschwerdeführerin
gegen
Bau- und Justizdepartement, vertreten durch Motorfahrzeugkontrolle,
Beschwerdegegner
betreffend Führerausweisentzug zieht das Verwaltungsgericht in Erwägung:
I.
1. Mit Schreiben vom 17. Mai 2021 teilte die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Solothurn (nachfolgend MFK genannt) A.___ (nachfolgend Beschwerdeführerin genannt) mit, dass gegen sie wegen eines Vorfalls vom 18. März 2021 in Duggingen ein Administrativverfahren eingeleitet worden sei. Das Verfahren sei sistiert, bis ein rechtskräftiger Entscheid der Strafbehörde vorliege. Je nach Ausgang des Strafverfahrens habe sie auch zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Administrativmassnahme zu rechnen. Allfällige Einwendungen habe sie deshalb bereits im Strafverfahren anzubringen.
2. Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft vom 10. August 2021 wurde die Beschwerdeführerin wegen grober Verkehrsregelverletzung schuldig gesprochen und zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 20 Tagessätzen à CHF 140.00 sowie zu einer Busse von CHF 700.00 verurteilt. Der Beschwerdeführerin wurde konkret vorgehalten, als Lenkerin eines Personenwagens am 18. März 2021, um 13:34 Uhr, in Duggingen auf der Apfelseestrasse in Fahrtrichtung Angenstein während der Fahrt verbotenerweise auf ihr Mobiltelefon über dem Steuerrad in der Hand geschaut zu haben. Dadurch abgelenkt sei sie aufgrund pflichtwidrigen Nichtbeherrschen des Fahrzeugs und mangelnder Aufmerksamkeit auf Höhe der Rudolf Steiner Schule mit der Hälfte ihres Fahrzeugs auf die Gegenfahrbahn geraten. Um eine Kollision zu vermeiden, habe ein korrekt entgegenkommendes Fahrzeug einen starken Schlenker nach rechts in die Grünfläche machen müssen. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen keine Einsprache, der besagte Strafbefehl erwuchs in Rechtskraft.
3. Am 21. September 2021 gab die MFK der Beschwerdeführerin bekannt, es sei vorgesehen, ihr den Führerausweis aufgrund des beschriebenen Vorfalls wegen einer schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften durch Vornahme einer Verrichtung, welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert, Mangel an Aufmerksamkeit sowie Nichtbeherrschen des Fahrzeugs zu entziehen.
4. Mit Eingabe vom 1. Oktober 2021 folgte die Stellungnahme der Beschwerdeführerin.
5. Die MFK entzog der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 8. Oktober 2021 namens des Bau- und Justizdepartements (BJD) den Führerausweis infolge schwerer Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c Strassenverkehrsgesetz, SVG, SR 741.01) für die Dauer von zwölf Monaten.
6. Dagegen liess die Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Fasnacht, am 28. Oktober 2021 Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn erheben und beantragen, es sei die Verfügung der Motorfahrzeugkontrolle Kanton Solothurn vom 8. Oktober 2021 dahingehend abzuändern, als die Dauer des Entzuges des Führerausweises auf drei Monate festgesetzt wird, alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.
7. Mit Eingabe vom 11. November 2021 beantragte die Beschwerdeführerin zudem unter anderem die aufschiebende Wirkung der Beschwerde.
8. Mit prozessleitender Verfügung vom 15. November 2021 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt.
9. Anlässlich der Beschwerdebegründung vom 15. Dezember 2021 änderte die Beschwerdeführerin ihr Rechtsbegehren gemäss Ziff. 1 dahingehend ab, als sie nunmehr beantragte, die Dauer des Entzuges des Führerausweises solle auf einen Monat festgesetzt werden. Eventualiter sei die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Solothurn anzuweisen, den Führerausweisentzug gemäss Verfügung vom 8. Oktober 2021 erst ab dem 1. Mai 2022 zu vollziehen, alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.
10. Die MFK schloss im Rahmen der Stellungnahme vom 13. Januar 2022 auf Abweisung der Beschwerde.
11. Mit Stellungnahme vom 7. Februar 2022 und Eingabe vom 25. Februar 2022 äusserte sich die Beschwerdeführerin erneut zur Sache.
12. Auf die Ausführungen der Parteien und die Akten wird, soweit für die Entscheidfindung wesentlich, im Rahmen der nachfolgenden Erwägungen eingegangen.
II.
1. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht erhoben worden. Sie ist zulässiges Rechtsmittel und das Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuständig (vgl. § 49 Gerichtsorganisationsgesetz, GO, BGS 125.12). Die Beschwerdeführerin ist als Verfügungsadressatin durch den angefochtenen Entscheid beschwert und damit zur Beschwerde legitimiert. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
Nicht einzutreten ist jedoch auf die nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erweiterten Rechtsbegehren in der Begründung vom 15. Dezember 2021 (vgl. § 68 Abs. 3 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes, VRG, BGS 124.11).
2.1 Die MFK erwog in der angefochtenen Verfügung, es bestehe kein Anlass, vom Ergebnis des Strafverfahrens abzuweichen. Beim Vorfall vom 18. März 2021 handle es sich um eine schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im Sinne von Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG. Aufgrund der bereits vorhandenen Eintragungen im Massnahmeregister werde die Entzugsdauer in Anwendung von Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG auf das gesetzliche Minimum von zwölf Monaten festgesetzt.
Anlässlich der Stellungnahme vom 13. Januar 2022 führte die MFK zudem aus, der Strafbefehl sei unangefochten in Rechtskraft erwachsen. In diesem sei der Sachverhalt ausführlich dargestellt worden. Zudem liege ein noch ausführlicherer Polizeirapport vom 26. April 2021 vor. Der Sachverhalt sei somit liquide erstellt. Einwendungen gegen den Sachverhalt hätten im Strafverfahren geltend gemacht werden müssen. Die Sachverhaltsdarstellung des rechtskräftigen Strafbefehls vom 10. August 2021 sei daher verbindlich. Im Weiteren hielt die MFK an der Qualifikation der schweren Widerhandlung nach Art. 16c SVG fest.
2.2 Die Beschwerdeführerin führte dagegen mit Verweis auf die von ihr eingereichten Beilagen sinngemäss aus, sie sei noch auf dem Gebiet Dornach mit ihrem PKW unterwegs gewesen, als sie ihr Mobiltelefon klingeln gehört habe. Praktisch auf der Kantonsgrenze habe sie sodann nach ihrem Mobiltelefon gegriffen, eine SMS in der Voransicht gelesen («Ja, es geht»), habe bemerkt, dass sie über die Mittellinie gelange und sei innert Sekunden sofort wieder auf ihre Fahrbahnseite zurückgefahren. Im Anschluss daran habe sie ihr Mobiltelefon noch in der einen Hand am Steuer gehabt und sei bei den Parkplätzen noch vor der Rudolf Steiner Schule mit einem Personenwagen gekreuzt. Während dieser Kreuzung mit dem anderen Personenwagen habe sie sich auf der korrekten Fahrspur befunden und ihr Mobiltelefon sobald als möglich wieder ablegen wollen. Während der Kreuzung mit dem anderen Personenwagen habe dieser gehupt. Einen Schlenker auf die Grünfläche habe sie nie wahrgenommen. Während der Kreuzung mit dem blauen PKW habe sie nicht mehr auf ihr Mobiltelefon geschaut und sei mit dem besagten PKW korrekt gekreuzt.
Die abstrakte Gefährdung konzentriere sich mithin auf einen Standort, der sich in sicherer Distanz zur Rudolf Steiner Schule befinde. Anschliessend, bei der Kreuzung mit dem PKW, sei die Widerhandlung bzw. die abstrakte Gefährdung – die Beschwerdeführerin habe nämlich ihr Mobiltelefon zwar noch in der Hand gehabt, aber beide Hände am Steuer und sei auf die Fahrbahn fokussiert gewesen – entgegen den Ausführungen der MFK nicht mehr als schwer, sondern als mittelschwer zu werten. Weiter sei festzustellen, dass die Führung des «Trottoirs» vor der Rudolf Steiner Schule durchwegs nicht der Strasse entlang, sondern abgetrennt von der Strasse verlaufe, was die abstrakte Gefährdung an der besagten, behaupteten Stelle «vor der Rudolf Steiner Schule» minimieren dürfte.
Zudem seien von der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft relevante Fragen bezüglich den Bericht der Polizei Basel-Landschaft vom 31. März 2021 nicht gestellt worden.
Es sei festzuhalten, dass ein Strafurteil die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu binden vermöge, der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebiete es aber, widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden. Vorliegend würden lediglich ein (rechtskräftiger) Strafbefehl und die dazugehörigen Akten vorliegen; ein Verfahren vor dem Strafgericht habe nicht stattgefunden. Es sei wohl trotzdem davon auszugehen, dass die Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahmen von den tatsächlichen Feststellungen (vorliegend) des Strafbefehls nur abweichen dürfe, wenn sie Tatsachen feststelle und ihrem Entscheid zugrunde lege, die dem Strafgericht unbekannt waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebe wenn das Gericht bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt habe.
Im Ergebnis sei die Verwaltungsbehörde berechtigt, vom Strafbefehl abzuweichen, wenn sie Tatsachen feststelle und ihrem Entscheid zugrunde lege, die der Staatsanwaltschaft unbekannt waren bzw., wie dargelegt, über nicht unrelevante Strecken unerforscht geblieben und in einem rechtskräftigen Strafbefehl eingeflossen seien.
Es sei somit in Abweichung vom Strafbefehl vom 10. August 2021 im vorliegenden Verfahren angesichts der Umstände davon auszugehen, dass keine schwere, sondern maximal eine mittelschwere Widerhandlung vorliege, was die Dauer des Führerausweisentzuges auf einen Monat reduziere (Art. 16b Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG); der Beschwerdeführerin sei in den letzten zwei Jahren der Ausweis nie entzogen worden.
3.1 Aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführerin ist vorab zu klären, ob der Sachverhalt des Strafbefehls vom 10. August 2021 für das vorliegende Verfahren als verbindlich gilt.
3.2 Die für den Führerausweisentzug zuständige Verwaltungsbehörde darf bei einem Warnungsentzug grundsätzlich nicht von den Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Strafentscheids abweichen. Eine Abweichung ist nur zulässig, wenn die Behörde ihrem Entscheid Tatsachen zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt wenn der Strafrichter nicht alle sich mit dem Sachverhalt stellenden Rechtsfragen abklärte. Sie ist unter bestimmten Voraussetzungen auch an einen Strafentscheid gebunden, der im Strafbefehlsverfahren ergangen ist, selbst wenn er ausschliesslich auf einem Polizeirapport beruht. Dies gilt namentlich, wenn der Beschuldigte wusste angesichts der Schwere der ihm vorgeworfenen Delikte davon ausgehen musste, dass neben dem Strafverfahren ein Administrativverfahren eröffnet wird. Entsprechend dem Grundsatz von Treu und Glauben muss der Betroffene allfällige Verteidigungsrechte und Beweisanträge im Strafverfahren vorbringen und dort gegebenenfalls alle Rechtsmittel ausschöpfen (BGE 123 II 97 E. 3c/aa; Urteil des Bundesgerichts 1C_537/2020 vom 16. Februar 2021 E. 3.1).
3.3 Wie bereits ausgeführt, hatte die MFK die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 17. Mai 2021 darüber informiert, dass der zu beurteilende Vorfall vom 18. März 2021 in Duggingen ein Strafverfahren wie auch ein Administrativverfahren nach sich ziehe, wobei seitens der Administrativbehörde zunächst die strafrechtliche Erledigung abgewartet werde (siehe E. I/1. hiervor). Dabei wurde die Beschwerdeführerin darauf aufmerksam gemacht, dass allfällige Einwendungen bereits im Strafverfahren und nicht erst im Administrativverfahren anzubringen seien.
Am 10. August 2021 wurde gegen die Beschwerdeführerin der besagte Strafbefehl erlassen. Die Beschwerdeführerin wusste zu diesem Zeitpunkt, dass der fragliche Vorfall neben dem Strafverfahren ebenso ein Administrativverfahren nach sich zieht und die Verteidigungsrechte bereits im Rahmen des Strafverfahrens wahrzunehmen sind, was sie unbestrittenermassen unterlassen hat. Hinzukommt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund zweier vorangegangener Führerausweisentzüge (Verfügungen vom 30. Juni 2016 und 2. Oktober 2017) mit dem Ablauf der strassenverkehrsrechtlichen Straf- und Administrativverfahren vertraut ist. Es ist daher mit Treu und Glauben nicht vereinbar, die strafrechtliche Verurteilung zu akzeptieren und gegen deren tatsächlichen Grundlagen im anschliessenden Administrativverfahren Einwände zu erheben. Indem die Beschwerdeführerin die Strafverfügung in Rechtskraft erwachsen liess, hat sie folglich die tatsächlichen Feststellungen der Staatsanwaltschaft akzeptiert (vgl. statt vieler: Urteil des Bundesgerichts 1C_476/2014 vom 29. Mai 2015 E. 2.6). Dem vorliegenden Verfahren ist somit der im Strafbefehl vom 10. August 2021 geschilderte Sachverhalt zugrunde zu legen.
4.1 Es ist nun zu prüfen, ob die MFK das Verhalten der Beschwerdeführerin gestützt auf den Sachverhalt des Strafbefehls vom 10. August 2021 zu Recht als schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften gewertet hat.
4.2 In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts, insbesondere auch des Verschuldens, ist die Verwaltungsbehörde frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II 447 E. 3.1; Urteil des Bundesgerichts 1C_39/2018 vom 4. Juli 2018 E. 2.2).
Vorliegend fand keine Einvernahme der Beschwerdeführerin durch den Strafrichter statt, weshalb in rechtlicher Hinsicht keine Bindung der Verwaltungsbehörde an die strafrechtliche Qualifikation besteht.
4.3 Nach Art. 16 Abs. 2 SVG wird nach Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsvorschriften, bei denen das Verfahren nach dem Ordnungsbussengesetz ausgeschlossen ist, der Führerausweis entzogen eine Verwarnung ausgesprochen. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen leichten, mittelschweren und schweren Widerhandlungen (Art. 16a-16c SVG). Gemäss Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG begeht eine leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft. Eine mittelschwere Widerhandlung begeht, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft in Kauf nimmt (Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG). Nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft in Kauf nimmt. Die mittelschwere Widerhandlung stellt dabei nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben sind. Demgegenüber setzt die Annahme einer schweren Widerhandlung kumulativ eine qualifizierte objektive Gefährdung und ein qualifiziertes Verschulden voraus. In objektiver Hinsicht wird verlangt, dass die Verkehrssicherheit ernsthaft gefährdet wurde. Dabei genügt nach der Rechtsprechung eine erhöhte abstrakte Gefährdung, die vorliegt, wenn in Anbetracht der jeweiligen Verhältnisse des Einzelfalls der Eintritt einer konkreten Gefährdung gar einer Verletzung nahe liegt. Subjektiv erfordert der Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung ein rücksichtsloses sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässiger Begehung grobe Fahrlässigkeit (Urteil des Bundesgerichts 1C_26/2018 vom 15. Juni 2018 E. 2.2 f.).
Die grobe Fahrlässigkeit ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht gezogen, also unbewusst fahrlässig gehandelt hat. In solchen Fällen ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen (BGE 131 IV 133 E. 3.2). In solchen Fällen bedarf jedoch die Annahme grober Fahrlässigkeit einer sorgfältigen Prüfung. Sie wird nur zu bejahen sein, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ebenfalls auf Rücksichtslosigkeit beruht und daher besonders vorwerfbar ist. Mit dem Begriff der «Rücksichtslosigkeit» wird eine besondere Gleichgültigkeit bzw. ein bedenken- gewissenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern umschrieben, das nicht nur im bewussten «Sichhinwegsetzen», sondern auch im blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen liegen kann. In Fällen unbewusster Fahrlässigkeit darf nicht einfach aus dem objektiven Tatbestand auf die Erfüllung des subjektiven geschlossen werden. Vielmehr ist aufgrund der gesamten Umstände zu ermitteln, ob das Übersehen eines Signals einer Gefahrensituation auf Rücksichtslosigkeit beruht nicht. Dazu ist einerseits zu prüfen, welcher Grad an Aufmerksamkeit vom Lenker unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände verlangt werden konnte, namentlich der Verkehrsdichte, der örtlichen Gegebenheiten, der Tageszeit, der Sichtverhältnisse, der voraussehbaren Gefahrenquellen, der besonderen und/oder sich wiederholenden Signalisation etc. Anders gesagt ist zu fragen, ob die besonderen Umstände den Lenker zum Nachlassen seiner Wachsamkeit verleitet haben ob sie im Gegenteil seine Aufmerksamkeit besonders auf sich hätten ziehen müssen. Andererseits muss die Wichtigkeit der verletzten Verkehrsregel geprüft werden, d.h., je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird die Rücksichtslosigkeit zu bejahen sein, sofern nicht besondere Gegenindizien vorliegen. Von der kombinierten Gewichtung dieser verschiedenen Elemente hängt die Qualifikation der Fahrlässigkeit ab (vgl. Cédric Mizel: Die Grundtatbestände der neuen Warnungsentzüge des SVG und ihre Beziehung zum Strafrecht, in: ZStrR 124/2006 S. 31).
4.4 Der Fahrzeuglenker muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann (Art. 31 Abs. 1 SVG). Er muss gemäss Art. 3 Abs. 1 Verkehrsregelverordnung (VRV, SR 741.11) seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden. Er darf beim Fahren keine Verrichtung vornehmen, welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert. Er hat ferner dafür zu sorgen, dass seine Aufmerksamkeit insbesondere durch Tonwiedergabegeräte sowie Kommunikations- und Informationssysteme nicht beeinträchtigt wird. Der Fahrzeuglenker muss demnach jederzeit in der Lage sein, in der erforderlichen Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und ohne Zeitverlust auf eine Gefahr zweckmässig reagieren zu können (Philippe Weissenberger, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, Zürich/St. Gallen 2015, Art. 31 SVG N 1). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich dabei nach den gesamten konkreten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 137 IV 290 E. 3.6). Die Anforderungen an den Führer, sein Fahrzeug ständig zu beherrschen, gehört zu den wesentlichsten und wohl wichtigsten Verkehrsregeln (Andreas Roth in: Marcel Alexander Niggli et al. [Hrsg.], Strassenverkehrsgesetz, Basler Kommentar, Basel 2014, Art. 31 SVG N 1).
4.5.1 Vorliegend geriet die Beschwerdeführerin mit ihrem Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn, weil sie ihre Aufmerksamkeit dem Lesen der SMS anstatt der Strasse und dem Verkehr widmete. Die Verletzung der zentralen Verkehrsvorschrift nach Art. 31 Abs. 1 SVG ist denn auch unbestritten, gestand doch die Beschwerdeführerin im Rahmen der polizeilichen Einvernahme vom 20. April 2021 ein, durch das Lesen der SMS abgelenkt gewesen zu sein.
4.5.2 Gemäss dem Bericht des Anzeigeerstatters vom 31. März 2021 war dieser zum Zeitpunkt des Vorfalls mit ca. 40 km/h unterwegs, während die Beschwerdeführerin anlässlich der polizeilichen Einvernahme aussagte, 50 55 km/h schnell gefahren zu sein. Eine Frontalkollision bei solchen Geschwindigkeiten hätte somit verheerende Folgen gehabt und ereignete sich nur deshalb nicht, weil der Anzeigeerstatter auf die Grünfläche auswich. Es handelte sich folglich um eine konkrete Gefährdung. Zudem schuf die Beschwerdeführerin aufgrund der Nähe zur Rudolf Steiner Schule eine erhöhte abstrakte Gefährdung, da dadurch eine konkrete Gefährdung nahelag. Die Beschwerdeführerin verletzte demnach mit ihrem Verhalten in objektiv schwerer Weise eine zentrale Verkehrsvorschrift, da eine ernsthafte Gefährdung der Verkehrssicherheit bestand.
4.5.3 Die Beschwerdeführerin führte in der polizeilichen Einvernahme aus, sie habe ihr Mobiltelefon auf dem Beifahrersitz klingeln hören. Da sie dringend habe wissen wollen, ob die Mutter eines Kindes ihre Nachricht erhalten habe, habe sie das Mobiltelefon vom Beifahrersitz genommen, es mit der einen Hand am Steuerrad gehalten und die SMS gelesen. Es habe nur eine Sekunde gedauert. Zudem sei sie aufgrund der Situation rund um ihren Lebenspartner gestresst gewesen.
Auch wenn dieser Vorgang kaum nur eine Sekunde gedauert haben kann, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Ablenkung eher von kurzer Dauer war. Zudem war zum Zeitpunkt des Vorfalls mangels anderslautender Hinweise in den Akten die Sicht gut und die Verkehrsdichte gering. Erschwerend wirkt hingegen, dass die befahrene Strasse eher schmal war.
Aufgrund der auf der Strasse angebrachten Markierung «Schule» bestand zudem ein konkreter Hinweis, welcher die nahe Möglichkeit des Auftretens von Kindern ankündigte (Hans Giger, SVG Kommentar, Zürich 2014, Art. 26 SVG N 21; Philippe Weissenberger, Kommentar Strassenverkehrsgesetzgebung und Ordnungsbussengesetz, Zürich/St. Gallen 2015, Art. 26 SVG N 21; René Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band I, Grundlagen, Verkehrszulassung und Verkehrsregeln, Bern 2002, N 443). Die Beschwerdeführerin hätte deshalb den Strassenabschnitt vor der Rudolf Steiner Schule mit erhöhter Aufmerksamkeit befahren müssen, dies insbesondere auch deshalb, weil sich der Vorfall wochentags nach dem Mittag ereignete. Hinzukommt, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen der Einvernahme ausführte, sie kenne die Strasse relativ gut, da sie diese ab und zu befahre, vor allem bis zur Rudolf Steiner Schule und zurück. Demnach wusste die Beschwerdeführerin als ortskundige Person um diese Gefahrenquelle. Zutreffend führt sie jedoch aus, dass das Schulhausareal entlang der Strasse teilweise eingezäunt sei (Beilage 13). Zudem ist anhand der Akten lediglich bekannt, dass sich der Vorfall «auf Höhe» der Rudolf Steiner Schule zugetragen hat. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass in Fahrtrichtung der Beschwerdeführerin vor dem eingezäunten Teilstück bereits eine Zufahrt zum Schulhaus besteht und somit Kinder auch vor dem eingezäunten Teilstück unvermittelt auf die Fahrbahn treten mit dem Fahrrad auf diese einbiegen können. Nach dem eingezäunten Teilstück folgen sodann zwei weitere Zufahrten mit denselben Gefahren. Zudem führt nach dem eingezäunten Teilstück entlang der Strasse ein Kiesweg (Beilage 12 f.). Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführerin verläuft folglich die Führung des «Trottoirs» vor der Rudolf Steiner Schule nicht durchwegs abgetrennt von der Strasse. Die vorgebrachten Einwände ändern daher nichts am Erfordernis der erhöhten Aufmerksamkeit.
Nach dem Klingeln des Mobiltelefons hätte die Beschwerdeführerin ohne Weiteres weiterfahren und bei der nächstmöglichen, geeigneten Stelle anhalten können. Wenn sie sich aufgrund des angeblichen Stresses dafür entschied, das Telefon in die Hand zu nehmen und die SMS zu lesen und in diesem Moment die Gefahren ihres Handelns nicht in Betracht zog, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Kenntnis um die Gefährlichkeit der Ablenkung durch ein Mobiltelefon im Strassenverkehr als allgemein bekannt vorausgesetzt wird und die Beschwerdeführerin als ortskundige Person wusste, dass sie an einer Schule vorbeifahren wird; entsprechend war sie verpflichtet, besondere Vorsicht walten zu lassen. Indem sie stattdessen in Begehung einer objektiv schwerwiegenden Verkehrsregelverletzung ihre Aufmerksamkeit durch das Lesen einer SMS vorübergehend nicht mehr dem Verkehr zuwandte, mit ihrem Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn geriet und beinahe eine Frontalkollision verursachte, handelte sie grobfahrlässig. Denn ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern kann – wie erwähnt – auch im blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen liegen.
4.6 Unter diesen konkreten Umständen hat die MFK demnach zu Recht auf eine schwere Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG erkannt.
5. Aufgrund zweier wegen mittelschwerer Widerhandlungen vorangegangener Führerausweisentzüge ist der angeordnete Ausweisentzug für die Dauer von zwölf Monaten nicht zu beanstanden (Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beginnt die Bewährungsfrist mit dem Ablauf des massgeblichen Ausweisentzugs, vorliegend am 29. Oktober 2016 (vgl. Auszug aus dem Register für Administrativmassnahmen, ADMAS), zu laufen (Urteil des Bundesgerichts 1C_83/2020 vom 13. Februar 2020 E. 4.3). Daran ändern auch die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte berufliche Notwendigkeit sowie die gesundheitlichen Beschwerden nichts, da die Mindestentzugsdauer nach der Rechtsprechung unter keinen Umständen unterschritten werden darf (BGE 132 II 234 E. 2.3).
6. Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet; sie ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
7. Bei diesem Ausgang hat die Beschwerdeführerin gemäss § 77 VRG i.V.m. Art. 106 Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272) die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht zu bezahlen, die einschliesslich der Entscheidgebühr auf CHF 800.00 festzusetzen sind. Sie werden mit dem geleisteten Kostenvorschuss in gleicher Höhe verrechnet. Eine Parteientschädigung wird nicht zugesprochen.
8. Der Beschwerde wurde mit Verfügung vom 15. November 2021 die aufschiebende Wirkung erteilt. Für die Einreichung des Führerausweises bei der MFK ist der Beschwerdeführerin deshalb eine neue Frist anzusetzen. Der Führerausweis ist spätestens innert 14 Tagen nach Rechtskraft des vorliegenden Urteils bei der MFK einzureichen.
Demnach wird erkannt:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht von CHF 800.00 zu bezahlen. Sie werden mit dem geleisteten Kostenvorschuss in gleicher Höhe verrechnet. 3. Die Beschwerdeführerin hat den Führerausweis spätestens innert 14 Tagen nach Rechtskraft des vorliegenden Urteils der MFK einzureichen.
Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Eröffnung des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Schweizerischen Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.
Im Namen des Verwaltungsgerichts Die Präsidentin Der Rechtspraktikant Scherrer Reber Probst
Das vorliegende Urteil wurde vom Bundesgericht mit Urteil 1C_266/2022 vom 26. September 2022 bestätigt.
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