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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VSBES.2023.34)

Zusammenfassung des Urteils VSBES.2023.34: Verwaltungsgericht

Das Versicherungsgericht hat entschieden, dass kinderlose Witwer keinen Anspruch auf eine Witwerrente haben, da das geltende Gesetz keine entsprechende Regelung vorsieht. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das eine Diskriminierung feststellte, bleibt die Gesetzeslage unverändert. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass die bestehende Regelung eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts darstellt und gegen das Diskriminierungsverbot verstösst. Das Gericht stellte jedoch fest, dass die geltenden Gesetze und internationale Normen eine Witwerrente für kinderlose Witwer nicht vorsehen. Somit wurde der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Witwerrente abgelehnt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VSBES.2023.34

Kanton:SO
Fallnummer:VSBES.2023.34
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Versicherungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VSBES.2023.34 vom 01.03.2024 (SO)
Datum:01.03.2024
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Witwe; Witwer; Witwerrente; Anspruch; Urteil; Recht; Diskriminierung; Kinder; Witwen; Familie; Schweiz; Bundesgericht; Beeler; Switzerland; Familienleben; Diskriminierungsverbot; Zeitpunkt; Wortlaut; Schutz; Verwitwung; Geschlecht; Auslegung; Ungleichbehandlung; Familienlebens; Bundesgerichts; Altersjahr; Hinterlassene; Witwenrente
Rechtsnorm: Art. 14 EMRK ;Art. 190 BV ;Art. 24 AHVG ;Art. 8 BV ;Art. 8 EMRK ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts VSBES.2023.34

 
Geschäftsnummer: VSBES.2023.34
Instanz: Versicherungsgericht
Entscheiddatum: 01.03.2024 
FindInfo-Nummer: O_VS.2024.196
Titel: Witwerrente

Resümee:

Art. 24 Abs. 1 AHVG, Art. 8 BV, Art. 8 und 14 EMRK (Anspruch auf Witwerrente kinderloser Witwer, Diskriminierungsverbot): Gemäss dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 AHVG steht kinderlosen Witwen eine Witwenrente zu, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind. Witwer sind vom Wortlaut dieser Bestimmung nicht erfasst, weshalb ihnen keine Witwerrente zusteht. Auch aus dem Urteil i. S. Beeler v. Switzerland (Beeler v. Switzerland, no. 78630/12, Judgement of 11 October 2022 [Grand Chamber]) lässt sich für kinderlose Witwer kein Anspruch auf eine Witwerrente ableiten, da ihr Anspruch auf eine Witwerrente im Unterschied zu demjenigen von Witwern mit Kindern, deren Witwerrente vor dem Urteil des Gerichtshofes mit Erreichen der Volljährigkeit des jüngsten Kindes eingestellt wurde, nicht in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fällt und folglich das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK nicht zur Anwendung kommt (E. 4.1.2). Auch eine mit Art. 8 BV vereinbare, verfassungskonforme Auslegung verbietet sich mit Blick auf Art. 190 BV, da von einer gesetzgeberisch gewollten Diskriminierung von Witwern auszugehen ist (E. 4.1.1). Kinderlose Witwer haben demnach weiterhin keinen Anspruch auf eine Witwerrente.
 

SOG 2024 Nr. 3

Art. 24 Abs. 1 AHVG, Art. 8 BV, Art. 8 und 14 EMRK (Anspruch auf Witwerrente kinderloser Witwer, Diskriminierungsverbot): Gemäss dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 AHVG steht kinderlosen Witwen eine Witwenrente zu, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind. Witwer sind vom Wortlaut dieser Bestimmung nicht erfasst, weshalb ihnen keine Witwerrente zusteht. Auch aus dem Urteil i. S. Beeler v. Switzerland (Beeler v. Switzerland, no. 78630/12, Judgement of 11 October 2022 [Grand Chamber]) lässt sich für kinderlose Witwer kein Anspruch auf eine Witwerrente ableiten, da ihr Anspruch auf eine Witwerrente im Unterschied zu demjenigen von Witwern mit Kindern, deren Witwerrente vor dem Urteil des Gerichtshofes mit Erreichen der Volljährigkeit des jüngsten Kindes eingestellt wurde, nicht in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fällt und folglich das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK nicht zur Anwendung kommt (E. 4.1.2). Auch eine mit Art. 8 BV vereinbare, verfassungskonforme Auslegung verbietet sich mit Blick auf Art. 190 BV, da von einer gesetzgeberisch gewollten Diskriminierung von Witwern auszugehen ist (E. 4.1.1). Kinderlose Witwer haben demnach weiterhin keinen Anspruch auf eine Witwerrente.

 

 

Sachverhalt:

 

Die Ehefrau des kinderlosen, 1960 geborenen Beschwerdeführers verstarb im September 2022, woraufhin sich der Beschwerdeführer am 20. Oktober 2022 bei der Ausgleichskasse Handel Schweiz (Beschwerdegegnerin) zum Bezug einer Witwer- bzw. Hinterlassenenrente anmeldete. Die Beschwerdegegnerin lehnte einen Anspruch ab mit der Begründung, zur Ausrichtung einer Witwerrente fehle es an einer gesetzlichen Grundlage; kinderlose Witwer hätten auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 11. Oktober 2022 in Sachen Beeler v. Switzerland keinen Anspruch auf eine Witwerrente. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Beschwerdegegnerin mit Einspracheentscheid vom 3. Januar 2023 ab. Dagegen lies der Beschwerdeführer am 31. Januar 2023 Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn führen und gestützt auf Art. 24 Abs. 1 AHVG, Art. 8 und 14 EMRK sowie das oben erwähnte Urteil des EGMR um Zusprache einer Witwerrente ersuchen. Das Versicherungsgericht weist die Beschwerde ab.

 

 

Aus den Erwägungen:

 

2.1     Die AHV-Gesetzgebung unterscheidet bezüglich des Anspruches auf Hinterlassenenrenten zwischen den Ansprüchen von Witwen und Witwern sowie danach, ob die hinterlassene Person Kinder hat.

 

2.1.1  Gemäss Art. 23 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) haben sowohl Witwen als auch Witwer Anspruch auf eine Witwen- Witwerrente, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung mit dem Tode der Witwe des Witwers (Art. 23 Abs. 4 lit. a und b AHVG). Bei Witwern erlischt der Anspruch auf eine Witwerrente nach den gesetzlichen Bestimmungen von Art. 24 Abs. 2 AHVG zusätzlich dann, wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat.

 

2.1.2  Kinderlose Witwen haben nach Art. 24 Abs. 1 AHVG überdies auch dann Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind. Für Ansprüche auf eine Rente kinderloser Witwer findet sich keine entsprechende gesetzliche Grundlage im AHVG.

 

2.2     […]

 

2.3.1  Mit Urteil vom 11. Oktober 2022 stellte der EGMR eine der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 0.101) zuwiderlaufende Ungleichbehandlung fest (Verletzung von Art. 8 EMRK [Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens] und 14 EMRK [Diskriminierungsverbot]), weil die Witwerrente des Beschwerdeführers, der nach dem Tod seiner Ehefrau seine Vollzeitstelle gekündigt hatte, um sich fortan ganz der Erziehung seiner kleinen Kinder zu widmen, mit Erreichen der Volljährigkeit seines jüngsten Kindes gestützt auf Art. 24 Abs. 2 AHVG aufgehoben wurde, was bei einer Witwe in der gleichen Situation nicht der Fall gewesen wäre.

 

2.3.2  Als Folge des Urteils muss die Schweiz die betreffende Bestimmung des AHVG im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren so revidieren, dass die Diskriminierung beseitigt wird. Diese Revision ist noch im Gange. Im Sinne einer Übergangsregelung, um die Aufrechterhaltung des konventionswidrigen Zustandes zu beenden, erliess das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) daher eine Mitteilung an die AHV-Ausgleichskassen, mit der sichergestellt werden soll, dass Witwer, deren jüngstes Kind das 18. Altersjahr erreicht, nicht mehr – wie bisher gemäss der gesetzlichen Bestimmung von Art. 24 Abs. 2 AHVG – ihren Anspruch auf Witwerrente verlieren, wenn dies bei einer Witwe in derselben Situation nicht der Fall gewesen wäre. Die Übergangsregelung betrifft nur am 11. Oktober 2022 noch laufende Witwerrenten noch nicht rechtskräftig gewordene Einstellungen solcher. Witwer, deren Renten in diesem Zeitpunkt bereits aufgrund einer rechtskräftigen Einstellungsverfügung nicht mehr ausgerichtet werden, sind von dieser Übergangsregelung nicht betroffen. Explizit nicht in Frage stellt die Übergangsregelung die Anwendung von Art. 24 Abs. 1 und 24a AHVG betreffend kinderlose Witwer. Kinderlose Witwer (und andere, hier nicht interessierende Hinterlassene) haben demnach gemäss der Übergangsregelung weiterhin keinen Anspruch auf eine Witwerrente. Begründet wird dies damit, dass sich das Urteil der Grossen Kammer des EGMR auf den spezifischen Einzelfall beziehe, in dem die Rente eines Witwers wegfällt, wenn sein jüngstes Kind das 18. Altersjahr erreicht (Mitteilungen des BSV an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 [Übergangsregelung]).

 

3.       Der Beschwerdeführer führt aus, kinderlose Witwen hätten unter den Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 AHVG Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind. Als im Zeitpunkt seiner Verwitwung 62-jähriger hätte er im Zeitpunkt seiner Verwitwung das 45. Altersjahr längst vollendet gehabt. Zudem hätte die Ehe in diesem Zeitpunkt schon seit über 20 Jahren bestanden. Wäre er eine kinderlose Frau, würde er die Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 AHVG erfüllen und hätte Anspruch auf eine Hinterlassenenleistung. Da Art. 24 Abs. 1 AHVG nur kinderlose Witwen erfasse, nicht aber kinderlose Witwer, habe er als hinterlassener Mann keinen Anspruch auf eine Witwerrente. Er sieht darin eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts, welche nicht durch sachliche Kriterien gerechtfertigt sei und beruft sich auf das Urteil der Grossen Kammer des EGMR i. S. Beeler v. Switzerland vom 11. Oktober 2022. Art. 24 Abs. 1 AHVG verletzte das Diskriminierungsverbot von Art. 8 der Bundesverfassung (BV, SR 101) ebenso wie Art. 14 und Art. 8 EMRK.

 

3.1.1  Die BV statuiert in Art. 8 Abs. 1 das Rechtsgleichheitsgebot («Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich») bzw. als Teilbereich davon in Abs. 2 ein Diskriminierungsverbot («Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen […] des Geschlechts»). Art. 8 Abs. 3 BV erklärt Mann und Frau zudem explizit als gleichberechtigt und verpflichtet den Gesetzgeber, für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit zu sorgen. Ausserdem hält Art. 8 Abs. 3 Satz 2 BV fest, dass Mann und Frau Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit haben.

 

3.1.2  Auch die EMRK garantiert in Art. 14 Schutz vor Diskriminierung, allerdings nicht als eigenständiges Freiheitsrecht, sondern nur in Bezug auf die in der EMRK statuierten Rechte und Freiheiten (Art. 14 im Wortlaut der französischen Originalversion: «La jouissance des droit et libertés reconnu dans la présente Convention doit être assurée, sans distinction aucune, fondée notamment sur le sexe, la race, la couleur, la langue, la religion, les opinions politiques ou toutes autres opinions, l’origine nationale ou sociale, l’appartenance à une minorité nationale, la fortune, la naissance ou toute autre situation» bzw. in der deutschen Übersetzung: «Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen sonstigen Anschauung, der nationalen sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt eines sonstigen Status zu gewährleisten.»). Dies hält auch der EGMR selbst im Urteil Beeler v. Switzerland fest (Beeler v. Switzerland, no.78630/12, Judgement of 11 October 2022 [Grand Chamber], E. 47 ff.), indem er schreibt, die Diskriminierung in Rechtsgebieten, die durch die Konvention bzw. die Zusatzprotokolle nicht geschützt sind, könne nicht als Konventionsverletzung gerügt werden. Art. 8 EMRK garantiert das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz (Abs. 1) und setzt in Abs. 2 als Rechtfertigung für Eingriffe in dieses Recht durch den Staat das Bestehen einer gesetzlichen Grundlage sowie eine Notwendigkeit unter Abwägung öffentlicher und privater Interessen voraus («Toute personne a droit au respect de sa vie privée et familiale, de son domicile et de sa correspondance [Abs. 1]. Il ne peut y avoir ingérence d’une autorité publique dans l’exercice de ce droit que pour autant que cette ingérence est prévue par la loi et qu’elle constitue une mesure qui, dans une société démocratique, est nécessaire à la sécurité nationale, à la sûreté publique, au bien-être économique du pays, à la défense de l’ordre et à la prévention des infractions pénales, à la protection de la santé ou de la morale, ou à la protection des droits et libertés d’autrui [Abs. 2]» ; «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat‑ und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz [Abs. 1]. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit der Moral zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer [Abs. 2]»).

 

3.2     Nach Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. In Bezug auf Bundesgesetze und völkerrechtliche Normen bedeutet dies, dass diese stets und selbst dann anzuwenden sind, wenn sie sich als verfassungswidrig erweisen. Weder das Bundesgericht noch andere Behörden dürfen einem Bundesgesetz einer für die Schweiz verbindlichen völkerrechtlichen Norm unter Berufung auf ihre Verfassungswidrigkeit die Anwendung versagen. Die Korrektur einer allfälligen verfassungswidrigen bundesgesetzlichen Regelung ist nach dem Willen des Verfassungsgebers allein Sache des Gesetzgebers, nicht der Gerichte. Das Bundesgericht kann daher den Gesetzgeber lediglich einladen, die fragliche Bestimmung zu ändern. Gerichte sind aber befugt und verpflichtet, Verordnungen vorfrageweise auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen und ihnen bei Verfassungswidrigkeit die Anwendung zu versagen (Giovanni Biaggini, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 190 Rz 6). Bei der Auslegung von Gesetzen ist der Wortlaut aus demokratischen wie aus rechtsstaatlichen Gründen von zentraler Bedeutung. Aus Art. 190 BV resultiert indes keine strikte Bindung an den Normwortlaut. Art. 190 BV schliesst die Anwendung allgemein anerkannter Auslegungsprinzipien, besonders diejenige, wonach Bundesgesetze verfassungskonform auszulegen sind, nicht aus (Giovanni Biaggini, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 190 Rz 9). Wenn aber Wortlaut und Sinn der auszulegenden Gesetzes- Verordnungsnorm klar sind, verbietet sich, auch bei festgestellter Verfassungswidrigkeit, eine verfassungskonforme Auslegung und die rechtsanwendende Behörde ist an den Wortlaut der betreffenden Norm gebunden. Eine verfassungskonforme Auslegung, die zu einem anderen Resultat führen würde, kann nicht zum Zug kommen. Das Gegenteil würde auf eine – in der Schweiz mangels einer Verfassungsgerichtsbarkeit unzulässige – Normkorrektur hinauslaufen (Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller/Daniela Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich 2020, S. 36 Rz 154 ff.). Art. 190 BV macht keine Aussage über die Rangordnung der Verfassung bzw. der Bundesgesetze im Verhältnis zum internationalen Recht. Weil die Bundesverfassung den Rang des Völkerrechts innerhalb der schweizerischen Rechtsordnung nicht klar regelt, sind allfällige Konflikte schwierig zu lösen. Ein Konflikt sollte daher wenn immer möglich durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts vermieden werden (Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller/Daniela Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich 2020, S. 623 Rz 1918 ff.). Der völkerrechtskonformen Auslegung des Landesrechts sind dort Grenzen gesetzt, wo ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen dem schweizerischen Recht und dem Völkerrecht besteht (Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller/Daniela Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich 2020, S. 39 Rz 167).

 

3.3     Dem vom Beschwerdeführer angeführten Urteil des EGMR i. S. Beeler v. Switzerland ging ein Urteil des Bundesgerichts voraus, in welchem dieses feststellte, der Erlass von Normen, welche Mann und Frau unterschiedlich behandelten, sei aufgrund des Gleichstellungsartikels (Art. 8 Abs. 3 BV) sowohl dem kantonalen wie dem eidgenössischen Gesetzgeber verwehrt; die Geschlechtszugehörigkeit sei kein taugliches Kriterium für rechtliche Differenzierungen. Eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau sei nur dann zulässig, wenn auf dem Geschlecht beruhende biologische funktionale Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschlössen (Urteil des Bundesgerichts 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 E. 3.4). Hinsichtlich der gesetzlichen Regelung zur Witwen- und Witwerrente führte es aus, dieser sei ursprünglich die Überlegung zu Grunde gelegen, der Ehemann komme für den Lebensunterhalt der Ehefrau auf. Der Ehemann sei daher vom Recht als Versorger betrachtet worden, insbesondere beim Vorhandensein von Kindern. Mit der Witwenrente habe wirtschaftlich dem Wegfall des Versorgers Rechnung getragen werden sollen, während ein Korrelat für den verwitweten Ehemann gesetzlich weitgehend fehle. Dass darin eine unzulässige, der BV zuwiderlaufende geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung von Mann und Frau liege, sei dem Bundesrat bei der Überarbeitung des AHVG im Zuge der 10. AHV-Revision Anfang der 1990er-Jahre bewusst gewesen, weshalb der Bundesrat bereits damals eine Änderung vorgeschlagen habe. Die Räte hätten sich aber im Wissen um die Ungleichbehandlung für die bis heute gültig gebliebene Regelung entschieden. Auch anlässlich der 11. AHV-Revision zu Beginn der 2000er-Jahre habe der Bundesrat wiederum darauf hingewiesen, dass die bestehende Regelung von Art. 24 Abs. 2 AHVG, wonach Witwer nur solange Anspruch auf eine Witwerrente haben, bis das jüngste Kind das 18. Lebensjahr vollendet, dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau widerspreche. Er wollte daher eine Vereinheitlichung der Leistungsberechtigung unabhängig vom Geschlecht. Die 11. AHV-Revision sei in der Folge aber gescheitert, weshalb mit Verweis auf Art. 190 BV weiterhin die dargestellte, an den Geschlechtsunterschied anknüpfende Rechtslage für das Bundesgericht verbindlich sei (Urteil des Bundesgerichts 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 E. 3.5).

 

4.1.1  Mit Blick auf die Ausführungen des Bundesgerichts im oben zitierten Urteil zur ratio legis und dem historischen gesellschaftlichen Hintergrund der im Zuge der Ausarbeitung des AHVG im Jahr 1946 vielleicht noch nachvollziehbaren Unterscheidung im Hinblick auf das Geschlecht des hinterlassenen Ehepartners (vgl. Urteil des Bundesgerichts 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 E. 3.5), leuchtet diese Unterscheidung heute nicht mehr ein. Vor dem Hintergrund des Gleichstellungartikels von Art. 8 Abs. 3 BV scheint diese Ungleichbehandlung Hinterlassener aufgrund ihres Geschlechts in dieser Bestimmung (…) zweifellos problematisch. Es ist nicht ersichtlich, welche auf dem Geschlecht beruhenden biologischen funktionalen Unterschiede, welche eine Gleichbehandlung absolut ausschlössen, eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen würden. In diesem Punkt deckt sich somit der vorliegende Fall mit demjenigen im zuvor zitierten Urteil des Bundesgerichts, auch wenn im betreffenden Urteil unter Gleichstellungsaspekten die Einstellung einer Witwerrente gestützt auf Art. 24 Abs. 2 AHVG (Erlöschen des Anspruches bei Vollendung des 18. Lebensjahres des jüngsten Kindes eines Witwers) zu beurteilen war und nicht wie vorliegend die Zusprache einer solchen gestützt auf Art. 24 Abs. 1 AHVG. Da sich seit dem Urteil des Bundesgerichts und dem darauf fussenden Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 11. Oktober 2022 an der gesetzlichen Ausgangslage nichts geändert hat – der Wortlaut der Art. 23 und 24 AHVG ist noch immer unverändert – muss zudem vorliegend dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden wie im zitierten Bundesgerichtsurteil: Es liegt eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung vor, welche aber vom Gesetzgeber aufgrund des klaren Wortlautes und der Tatsache, dass im Rahmen mehrerer Revisionen bewusst auf eine Änderung verzichtet wurde, mit Absicht in Kauf genommen worden ist. Vor diesem Hintergrund verbietet sich mit Blick auf Art. 190 BV eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung von Art. 24 Abs. 1 AHVG (vgl. E. 3.2).

 

4.1.2  Die materiellen Bestimmungen der EMRK sind in der Schweiz wie die Grundrechte der BV unmittelbar anwendbar, d. h. der Einzelne kann sich direkt auf diese Normen berufen (Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller/Daniela Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich 2020, S. 66 Rz 235). Insofern sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) und Art. 14 (Diskriminierungsverbot) der EMRK beruft, ist daher zu prüfen, inwiefern die Verneinung seines Anspruchs auf eine Witwenrente allenfalls eine Konventionsverletzung darstellt. Im vom Beschwerdeführer zitierten Urteil des EGMR i. S. Beeler v. Switzerland bestritt die Schweiz vor der Grossen Kammer die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots von Art. 14 EMKR im konkreten Fall, mit der Begründung, die fragliche Hinterlassenenleistung sei charakteristisch primär finanzieller Art und nicht dem Schutz des Familienlebens dienend, weshalb sie nicht vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK erfasst sei, sondern bloss von jenem von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (Schutz des Eigentums), welcher für die Schweiz mangels Ratifizierung dieses Zusatzprotokolls indes nicht verbindlich sei. Der EGMR prüfte daher vorfrageweise, ob im betreffenden Fall Art. 8 EMRK berührt war und kam zum Schluss, der Schutzbereich von Art. 8 EMRK umfasse nicht nur das soziale, moralische und kulturelle Konzept von Familienleben, sondern auch gewisse damit verbundene finanzielle Aspekte. Sinn und Zweck der Witwerrente nach AHVG für Witwer mit minderjährigen Kindern sei, Witwer davor zu bewahren, einer bezahlten Erwerbsarbeit auf Kosten der Betreuung der Kinder nachzugehen aber, es einem Witwer zu ermöglichen, seine Erwerbsarbeit aufzugeben zu reduzieren, um sich vermehrt um die Kinder zu kümmern. Diese Überlegung ziele auf den Schutz des Familienlebens bzw. dessen Organisation ab. Auch im Falle des Beschwerdeführers vor dem EGMR, welcher zufolge Verwitwung seine Erwerbsarbeit aufgab, um sich der Erziehung seiner kleinen Kinder zu widmen, habe die Ausrichtung der Witwerrente sein Familienleben konkret dahingehend beeinflusst, als dass er auf die Erziehung der Kinder habe fokussieren können und nicht auf die finanzielle Existenzsicherung mittels Erwerbsarbeit. Da er im Zeitpunkt des Wegfalls der Witwerrente 57 Jahre alt war und infolge der Ausrichtung der Witwerrente bereits seit mehr als 16 Jahren keiner Erwerbsarbeit mehr nachgegangen war, sei es ihm nach Wegfall der Witwerrente unmöglich gewesen, im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Die Witwerrente habe einen massgeblichen Einfluss auf die Organisation seines Privat- und Familienlebens gehabt, weshalb die Einstellung derselben den Schutzbereich von Art. 8 EMRK tangiere (Beeler v. Switzerland, no. 78630/12, Judgement of 11 October 2022 [Grand Chamber] E. 44 ff.). Generell führte der Gerichtshof aus, die Ausrichtung von Sozialleistungen berühre in einer gewissen Weise immer das Familienleben, dies dürfe aber nicht zu einer automatischen Zurechnung aller Sozialleistungen unter den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK führen (a. o. O, E. 66 ff.). Es müsse im Einzelfall abgewogen werden, ob der Zweck der Sozialleistung die Organisation des Familienlebens betreffe und welchen beabsichtigten Effekt diese darauf habe (a. o. O, E. 72). Vor dem Hintergrund dieser EGMR-Rechtsprechung führte das Bundesgericht in einem neueren Urteil aus, nur der Wegfall einer Witwerrente habe Auswirkung auf die Organisation des Familienlebens, nicht aber die Verweigerung von deren Zusprache an einen Witwer mit erwachsenen Kindern und hielt die Situation eines im Zeitpunkt seiner Verwitwung 89-jährigen Mannes, dessen Kinder zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten erwachsen waren, als nicht mit jener i. S. Beeler v. Switzerland vergleichbar, weshalb es einen Anspruch auf Witwerrente im konkreten Fall verneinte (Urteil des Bundesgerichts 9C_248/2023 vom 2. August 2023 E. 4.2). Mit Blick auf diese europäische und die daran anknüpfende nationale Rechtsprechung ist ein Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Witwerrente zu verneinen. Der Beschwerdeführer hat keine Kinder, für deren Unterhalt und Erziehung er sein Familien- Erwerbsleben nach seiner Verwitwung umorganisieren müsste. Inwiefern die Ausrichtung einer Witwerrente die Organisation seines Familienlebens betreffen würde, ist nicht erkennbar und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt. Der vorliegende Sachverhalt fällt damit nicht in Analogie zu demjenigen i. S. Beeler v. Switzerland in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK, für den Art. 14 EMRK ein Diskriminierungsverbot statuiert. Aufgrund der akzessorischen Bedeutung von Art. 14 EMRK und weil die Schweiz das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK, welches ein allgemeines Diskriminierungsverbot statuiert, nicht ratifiziert hat, gibt es keine anwendbare Bestimmung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, die die Ungleichbehandlung des Beschwerdeführers verbieten würde. Dasselbe gilt für das in Art. 2 Abs. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I, SR 0.103.1) verankerte Diskriminierungsverbot, soweit diese Bestimmung überhaupt direkt anwendbar wäre. Ein Anspruch auf eine Witwerrente in direkter Anwendung der EMRK und entgegen dem Wortlaut des geltenden nationalen Rechts ist im vorliegenden Fall daher ausgeschlossen.

 

Versicherungsgericht, Urteil vom 1. März 2024 (rechtskräftig; VSBES.2023.34)



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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