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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VSBES.2023.24)

Zusammenfassung des Urteils VSBES.2023.24: Verwaltungsgericht

Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn hat in einem Fall medizinischer Massnahmen entschieden. A.___, vertreten durch B.___ und Rechtsanwältin Rebecca Wyniger-Gärtner, hat Beschwerde gegen die IV-Stelle Solothurn eingereicht, nachdem diese den Anspruch auf medizinische Massnahmen verneint hatte. Das Gericht stellte fest, dass die interne Abklärung der IV-Stelle nicht ausreichend war und ordnete weitere medizinische Gutachten an. Die Beschwerde wurde daher gutgeheissen, die IV-Stelle muss die Verfahrenskosten tragen und dem Beschwerdeführer die Parteientschädigung zahlen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VSBES.2023.24

Kanton:SO
Fallnummer:VSBES.2023.24
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Versicherungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VSBES.2023.24 vom 21.12.2023 (SO)
Datum:21.12.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Störung; Geburt; Störungen; Abklärung; Geburtsgebrechen; Beurteilung; GgV-EDI; Ziffer; IV-Stelle; Anspruch; «Störungen; Massnahmen; Abklärungen; Recht; Verfügung; Gehör; Solothurn; Leistung; Wahrnehmung; Zweifel; Erfassens; Vorbescheid; Beweiswürdigung; Verletzung; Verfahren; Normbereich; Kantons; Parteien
Rechtsnorm: Art. 3 ATSG ;Art. 44 ATSG ;
Referenz BGE:104 V 212; 125 V 352; 125 V 353; 134 I 140; 134 V 231; 135 V 465; 136 I 229;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts VSBES.2023.24

 
Geschäftsnummer: VSBES.2023.24
Instanz: Versicherungsgericht
Entscheiddatum: 21.12.2023 
FindInfo-Nummer: O_VS.2023.224
Titel: medizinische Massnahmen

Resümee:

 

 

 

Urteil vom 21. Dezember 2023

Es wirken mit:

Präsidentin Weber-Probst

Oberrichter Flückiger

Oberrichter Thomann

Gerichtsschreiberin Baltermia-Wenger

In Sachen

A.___ gesetzlich vertreten durch B.___ hier vertreten durch Rebecca Wyniger-Gärtner

Beschwerdeführer

 

gegen

IV-Stelle Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil

Beschwerdegegnerin

 

betreffend       medizinische Massnahmen (Verfügung vom 14. Dezember 2022)

 


zieht das Versicherungsgericht in Erwägung:

I.

 

1.       Der  2013 geborene A.___ wurde am 29. Juli 2022 durch die C.___ bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn (nachfolgend: IV-Stelle) wegen einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ADHS) zum Leistungsbezug angemeldet [Akten der IV-Stelle] 34). Mit Vorbescheid vom 14. Dezember 2022 (IV-Nr. 42) und Verfügung vom 14. Dezember 2022 verneinte die IV-Stelle gestützt auf die Beurteilung des regionalen ärztlichen Dienstes (nachfolgend: RAD; IV-Nr. 41) das Vorliegen eines Geburtsgebrechens (Ziffer 404 Verordnung des EDI über Geburtsgebrechen, GgV-EDI SR. 831.232.211) und einen Anspruch auf medizinische Massnahmen (A.S. [Akten-Seite] 1 f.).

 

2.       Dagegen lässt A.___, vertreten durch seine Eltern und Rechtsanwältin Rebecca Wyniger-Gärtner, (nachfolgend: Beschwerdeführer) am 26. Januar 2023 Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erheben und folgende Rechtsbegehren stellen (A.S. 7):

 

1.    Die Verfügung der IV-Stelle Solothurn vom 14. Dezember 2022 sei aufzuheben und dem Beschwerdeführer sei Kostengutsprache für medizinische Massnahmen zuzusprechen.

2.    Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die IV-Stelle Solothurn zurückzuweisen.

3.    Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (zzgl. MwSt.).

 

3.       Mit Beschwerdeantwort vom 5. April 2023 beantragt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der Beschwerde (A.S. 30) und reicht eine Stellungnahme des RAD vom 5. April 2023 ein (A.S. 31).

 

4.       Die Parteien reichen am 3. Mai 2023 eine Replik (A.S. 36) und am 13. Juni 2023 eine Duplik ein (A.S. 41).

 

5.       Auf die Ausführungen der Parteien in ihren Rechtsschriften wird nachfolgend, soweit erforderlich, eingegangen. Im Übrigen wird auf die Akten verwiesen.

 

II.

 

1.

1.1     Die Sachurteilsvoraussetzungen (Einhaltung der Frist und Form, örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

1.2     Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG, SR 831.20) in Kraft. Die hier angefochtene Verfügung erging nach dem 1. Januar 2022. Auch die medizinischen Abklärungen bezüglich des umstrittenen Anspruchs auf medizinische Massnahmen erfolgten nach dem 1. Januar 2022. Gemäss den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts sind daher die Bestimmungen des IVG und der GgV-EDI sowie diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV, SR 831.201) in der ab 1. Januar 2022 gültigen Fassung (7. IV-Revision) anwendbar.

 

2.

2.1     Als Invalidität gilt die voraussichtlich bleibende längere Zeit andauernde ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG, SR 830.1]). Sie kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit Unfall sein. Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat (Art. 4 IVG).

 

2.2     Nach Art. 8 Abs. 1 IVG haben Invalide von einer Invalidität bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern (a) und die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind (b). Gemäss Art. 8 Abs. 2 IVG besteht der Anspruch auf Leistungen nach Massgabe der Art. 13 (medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen) und 21 (Hilfsmittel) unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung ins Erwerbsleben in den Aufgabenbereich.

 

2.3     Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Medizinische Massnahmen nach Absatz 1 werden gewährt für die Behandlung angeborener Missbildungen, genetischer Krankheiten sowie prä- und perinatal aufgetretener Leiden, die: (a) fachärztlich diagnostiziert sind; (b) die Gesundheit beeinträchtigen; (c) einen bestimmten Schweregrad aufweisen; (d) eine langdauernde komplexe Behandlung erfordern; und (e) mit medizinischen Massnahmen nach Artikel 14 behandelbar sind (Art. 13 Abs. 2 IVG). Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 3 Abs. 2 ATSG). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang zur GgV-EDI aufgeführt (Art. 1 GgV-EDI).

 

3.

3.1     Sowohl im Verwaltungsverfahren wie auch im gerichtlichen Sozialversicherungsprozess gilt der Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger das Gericht bei umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich (BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f. mit weiteren Hinweisen) zu betrachten, und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148, 124 V 90 E. 4b S. 94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteile des Bundesgerichts 9C_360/2015 vom 7. April 2016 E. 3.1 mit Hinweis, 9C_662/2016 vom 15. März 2017 E. 2.2).

 

3.2     Im Sozialversicherungsverfahren sind die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 352 E. 3a). Das Sozialversicherungsgericht hat alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Der Beweiswert eines ärztlichen Berichts hängt davon ab, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351 E. 3a S. 352).

 

3.3     Die Rechtsprechung erachtet es als mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung vereinbar, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 125 V 352 ff. E. 3b). So ist einem im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eingeholten medizinischen Gutachten durch externe Spezialärztinnen und -ärzte, welches aufgrund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten erstellt worden ist und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangt, in der Beweiswürdigung volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 104 V 212). Andererseits ist der Erfahrungstatsache Rechnung zu tragen, dass behandelnde Ärztinnen und Ärzte im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen mitunter eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen (BGE 125 V 353). Schliesslich haben die Berichte versicherungsinterner medizinischer Fachpersonen grundsätzlich Beweiswert, doch kommt ihnen praxisgemäss nicht dieselbe Beweiskraft zu wie einem Gutachten, das der Versicherungsträger im Verfahren nach Art. 44 ATSG von einer externen Fachperson eingeholt hat einem Gerichtsgutachten (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f. mit Hinweisen). Zwar lässt der Umstand, dass versicherungsinterne Fachpersonen in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger stehen, für sich allein noch nicht auf mangelnde Objektivität und Befangenheit dieser Personen schliessen. Soll ein Versicherungsfall jedoch ohne Einholung eines externen Gutachtens entschieden werden, so sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, so sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f. mit Hinweisen).

 

4.       Strittig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin das Vorliegen eines Geburtsgebrechens nach Ziffer 404 GgV-EDI und damit ihre Leistungspflicht zu Recht verneint hat.

 

5.       Vorab ist auf die Rüge betreffend die Verletzung des rechtlichen Gehörs einzugehen. Der Beschwerdeführer macht diesbezüglich geltend, die Beschwerdegegnerin habe das rechtliche Gehör verletzt, indem sie dem Beschwerdeführer den Vorbescheid und die angefochtene Verfügung gleichzeitig zugestellt habe.

 

5.1     Gemäss Art. 57a Abs. 1 IVG teilt die IV-Stelle der versicherten Person den vorgesehenen Endentscheid über ein Leistungsbegehren, den Entzug die Herabsetzung einer bisher gewährten Leistung sowie den vorgesehenen Entscheid über die vorsorgliche Einstellung von Leistungen mittels Vorbescheid mit. Die versicherte Person hat Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Artikel 42 ATSG. Innerhalb einer Frist von 30 Tagen können die Parteien Einwände zum Vorbescheid vorbringen (Art. 57a Abs. 3 IVG). Der Verzicht auf einen Vorbescheid ist lediglich in Ausnahmefällen zulässig, in denen die Anspruchsvoraussetzungen offensichtlich erfüllt sind und den Begehren der versicherten Person vollumfänglich entsprochen wird (vgl. Art. 74ter IVV). Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit andern Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheids veranlasst wird nicht. Nach der Rechtsprechung kann eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Unter dieser Voraussetzung ist darüber hinaus – im Sinne einer Heilung des Mangels – selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Gehörs von einer Rückweisung der Sache an die Verwaltung abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären. Der Verzicht auf das zwingend vorgeschriebene Vorbescheidverfahren stellt eine schwerwiegende, grundsätzlich nicht heilbare Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (zum Ganzen: Urteil des Bundesgerichts 9C_555/2020 vom 3. März 2021 E. 4.4.1 und 5.1).

 

5.2     Mit Verfügung vom 14. Dezember 2022 hat die Beschwerdegegnerin den Anspruch des Beschwerdeführers auf medizinische Massnahmen verneint. Vor Erlass der ablehnenden Verfügung hätte das rechtliche Gehör in Form der Durchführung des Vorbescheidverfahrens gewährt werden müssen, was nicht geschehen ist. Dieser Verzicht auf das zwingend vorgeschriebene vorbescheidweise Anhörungsverfahren stellt im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine schwerwiegende, nicht heilbare Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Die angefochtene Verfügung wäre daher bereits aus diesem Grund aufzuheben und an die Vorinstanz zurückzuweisen.

 

6.       Zu beurteilen ist im Weiteren die umstrittene Frage, ob die Anerkennungskriterien für ein Geburtsgebrechen nach Ziffer 404 GgV-EDI erfüllt sind. Die Beschwerdegegnerin beruft sich auf die Beurteilung des RAD und verneint in der angefochtenen Verfügung die Kriterien «Störungen des Erfassens» und «Störungen der Merkfähigkeit». Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, dass die erforderlichen Kriterien gemäss Abklärung in der C.___ durch Dr. med. D.___, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie FMH, und E.___, Psychologin, kumulativ erfüllt seien. Eventualiter seien weitere Abklärungen vorzunehmen.

 

6.1     Bei der Beurteilung der Anerkennungskriterien nach Ziffer 404 GgV-EDI stützt sich die Beschwerdegegnerin auf die RAD-Stellungnahme vom 6. Dezember 2022 (IV-Nr. 41) und den Nachtrag vom 5. April 2023 (A.S. 31), weshalb nachfolgend deren Beweiswert zu prüfen ist. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Beweiswürdigung entscheidungsrelevanter versicherungsinterner ärztlicher Feststellungen strenge Anforderungen gelten. Bereits bei Vorliegen geringer Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit derselben müssen ergänzende Abklärungen vorgenommen werden (vgl. Erwägung II. 3.3).

 

6.2     In Ziffer 404 GgV wird das Geburtsgebrechen wie folgt umschrieben: Angeborene Störungen des Verhaltens bei Kindern ohne Intelligenzminderung mit kumulativem Nachweis von: (1.) Störungen des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität der Kontaktfähigkeit; (2.) Störungen des Antriebes; (3.) Störungen des Erfassens (perzeptive Funktionen); (4.) Störungen der Konzentrationsfähigkeit und (5.) Störungen der Merkfähigkeit. Die Diagnosestellung und der Beginn der Behandlung müssen vor der Vollendung des 9. Lebensjahres erfolgt sein. Gemäss dem medizinischen Leitfaden zum Geburtsgebrechen Ziffer 404 GgV-EDI im Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV (KSME, in der ab 1. Januar 2022 gültigen Fassung) müssen die Symptome kumulativ nachgewiesen sein, sie müssen jedoch nicht unbedingt gleichzeitig vorhanden sein, sondern können unter Umständen sukzessive auftreten. Wenn bis zum neunten Geburtstag nur einzelne der erwähnten Symptome ärztlich festgestellt werden, sind die Voraussetzungen für ein Geburtsgebrechen Ziffer 404 GgV-EDI nicht erfüllt (KSME, Anhang 4, S. 186).

 

6.3     Im Rahmen der C.___-Abklärung vom 22. Februar 2022 diagnostizierte Dr. med. D.___ eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ADHS, F 90.1) und bejahte das Vorliegen eines Geburtsgebrechens nach Ziffer 404 GgV-EDI. Die Angaben der Lehrerin des Beschwerdeführers und die Testresultate wiesen auf eine Aufmerksamkeitsstörung hin. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit und das Arbeitsgedächtnis beim «WISC-V» sowie die Werte des «TAPs», des «Mottiers» und der motorikreduzierten Wahrnehmung seien deutlich unterdurchschnittlich. Auch die Werte des Fragebogens «Conners» wiesen auf ein ADHS hin (IV-Nrn. 32, 34, S. 12 ff. und 36). Der RAD-Arzt Dr. med. F.___, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie FMH, teilt diese Einschätzung nicht. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass ein Geburtsgebrechen nach Ziffer 404 GgV-EDI nicht vorliege. Zur Begründung führt er aus, die beiden Kriterien «Störungen des Erfassens» und «Störungen der Merkfähigkeit» seien nicht gegeben. Nachfolgend wird daher primär auf die umstrittenen Kriterien eingegangen.

 

6.3.1  Bei den «Störungen des Erfassens» stehen ausgewiesene Defizite der visuellen und auditiven Wahrnehmung im Vordergrund, letztere können zu Sprachentwicklungsstörungen führen. Eine Störung des Erfassens besteht bei definierten visuellen auditiv-perzeptiven Teilleistungsstörungen. Im C.___-Abklärungsbericht wird hinsichtlich der auditiven Wahrnehmung und Speicherung festgehalten, dass der Versicherte beim «Mottier»-Test einen Wert im klinisch auffälligen Bereich unterhalb des Normbereiches erreiche. Beim Untertest Zahlenfolgen des «WISC-V» liege der Wert ebenfalls unterhalb des Normbereiches in einem klinisch auffälligen Bereich. Eine Störung der auditiven Wahrnehmung ist damit ausgewiesen und wird auch vom RAD bestätigt. Uneinigkeit besteht dagegen in Bezug auf die visuelle Wahrnehmung. Gemäss C.___-Abklärungsbericht seien bei der Erhebung der testpsychologischen Befunde diesbezüglich die Untertests «Augen-Hand-Koordination», «Lage im Raum», «Abzeichnen» und «Gestaltschliessen» des «Frostig-Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung 2» durchgeführt worden. Dabei seien bei den Untertests zur visuomotorischen Integration («Augen-Hand-Koordination» und «Abzeichnen») Werte in einem klinisch auffälligen Bereich festgestellt worden. Bei der motorikreduzierten Wahrnehmung («Lage im Raum» und «Gestaltschliessen») hätten die Werte im Normbereich gelegen. In ihrer Beurteilung kommt die C.___-Ärztin Dr. med. D.___ dennoch zum Ergebnis, dass die Werte der motorikreduzierten Wahrnehmung deutlich unterdurchschnittlich seien. Der RAD weist deshalb darauf hin, dass der Befund und die Beurteilung hinsichtlich der motorikreduzierten Wahrnehmung nicht übereinstimmten. Seine daraus gezogene Schlussfolgerung, wonach ausschliesslich auf den Befund abzustellen und das Kriterium «Störungen des Erfassens» zu verneinen sei, überzeugt jedoch nicht vollständig. Hier hätte gemäss dem KSME-Leitfaden eine Nachfrage an die untersuchende C.___-Ärztin erfolgen sollen mit der Bitte um Präzisierung und Ergänzung mit zusätzlichen testpsychologischen Befunden (vgl. KSME, Anhang 4, S. 194). Dies umso mehr, als auch der RAD-Arzt Dr. med. F.___ im Nachtrag vom 5. April 2023 feststellt, dass bei der Abklärung der «Störungen des Erfassens» weitere Tests wünschenswert gewesen wären (A.S. 31). Das Kriterium «Störungen des Erfassens» wurde somit ungenügend abgeklärt.

 

6.3.2  «Störungen der Merkfähigkeit» werden meist definiert als eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses. Das akustische Kurzzeitgedächtnis kann mit sehr vielen Tests geprüft werden, beispielsweise mit Zahlen Nachsprechen, Wortreihen, Anweisungen «Mottier»-Silben. Die visuelle Merkfähigkeit kann mit dem Wiedererkennen von Gesichtern visuellen Lerntests erfasst werden. Auch für die Lernfähigkeit gibt es Testverfahren, wobei einige dieser Verfahren auch eine Beurteilung des Langzeitgedächtnisses erlauben (KSME, Anhang 4, S. 191). Anlässlich der testpsychologischen Befunderhebung der kognitiven Leistungsfähigkeit stellte Dr. med. D.___ fest, dass der Versicherte über eine Intelligenz unterhalb des Normbereichs verfüge (WISC-IQ 79). Das Profil sei heterogen. Auffällig sei ein sehr niedriger Wert beim Untertest «Wortschatz» (WP 3). Werde dieser Wert rausgenommen liege der WISC-IQ bei 87. Die zwei anderen Werte im Bereich Sprachverständnis («Gemeinsamkeiten finden» WP 8, Allgemeinwissen WP 11) lägen im Normbereich. Der Wert für das fluide Schlussfolgern (IW 85) und die Verarbeitungsgeschwindigkeit (IW 86) lägen an der unteren Grenze zum Normbereich. Der Wert für das Arbeitsgedächtnis (IW 76) liege unterhalb des Normbereichs. In ihrer Beurteilung schreibt Dr. med. D.___ sodann, die Verarbeitungsgeschwindigkeit und das Arbeitsgedächtnis beim «WISC-V» seien deutlich unterdurchschnittlich. Diese Beurteilung vermag mit Blick auf die vorstehenden Befunde nicht gänzlich zu überzeugen. Zweifelhaft ist jedoch auch die gegenteilige Auffassung des RAD, wonach keine Störung des Gedächtnisses vorliege. Zum einen fehlt hierfür eine schlüssige Begründung. Zum anderen weist der RAD darauf hin, dass zusätzliche Tests hätten durchgeführt werden sollen. Damit fehlt eine beweiswertige Grundlage für die Beurteilung des Kriteriums «Störungen der Merkfähigkeit».

 

6.4     Rechtsprechungsgemäss reichen bereits geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, damit ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind. Solche geringe Zweifel lassen sich nicht verneinen. Wie vorstehend dargelegt, vermögen die vorliegenden regionalärztlichen Stellungnahmen nicht vollumfänglich zu überzeugen. Sie bilden dementsprechend keine geeignete Grundlage für die abschliessende Beurteilung der Anerkennungskriterien für ein Geburtsgebrechen nach Ziffer 404 GgV-EDI. Da auch sonst keine beweiswertigen medizinischen Berichte vorliegen, die eine Beurteilung der Anerkennungskriterien nach Ziffer 404 GgV-EDI zulassen würden, sind weitere Abklärungen in Form einer kinderpsychiatrischen Begutachtung zu veranlassen. Dabei gilt es sämtliche Anerkennungskriterien gemäss Ziffer 404 GgV-EDI abzuklären, insbesondere auch die vorliegend nicht behandelten Kriterien «Störungen des Verhaltens», «Störungen des Antriebs», «Störungen der Konzentration» und «Intelligenz» (vgl. KSME, Anhang 4, S. 184 ff.).

 

6.5     Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass – entgegen der Auffassung in der Duplik (A.S. 41) – die Tatsache, dass der Versicherte das neunte Altersjahr zwischenzeitlich erreicht hat, weiteren Abklärungen nicht im Wege steht. Grundsätzlich ist es möglich, nach dem Erreichen des neunten Altersjahres eine erstmalige Anerkennung der Problematik als Geburtsgebrechen unter Ziffer 404 GgV-EDI zu erreichen, sofern nachgewiesen wird, dass vor dem neunten Altersjahr eine Diagnose gestellt worden ist und eine medizinische Behandlung stattgefunden hatte (KSME, Anhang 4, S. 185).

 

7.       Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass aufgrund der zumindest geringen Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen Abklärungen keine beweiswertigen Berichte vorliegen für die Beurteilung eines Geburtsgebrechens nach Ziffer 404 GgV-EDI. Die Sache ist daher zur Vornahme weiterer Abklärungen in Form eines unabhängigen medizinischen Gutachtens im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Diese hat nach den erfolgten Abklärungen neu über den Anspruch des Beschwerdeführers auf medizinische Massnahmen zu befinden. Somit ist die Beschwerde gutzuheissen.

 

8.       Bei diesem Verfahrensausgang steht dem Beschwerdeführer eine ordentliche Parteientschädigung zu, die von der Beschwerdegegnerin zu bezahlen ist. In Anbetracht von Aufwand und Schwierigkeit des Prozesses ist die Parteientschädigung wie in der Kostennote vom 27. Juni 2023 geltend gemacht auf CHF 1'224.75 festzusetzen (4.49 Stunden zu CHF 250.00 [§ 160 Abs. 2 GT], zuzüglich Auslagen von CHF 14.70 und MwSt.).

 

9.       Aufgrund von Art. 69 Abs. 1bis IVG ist das Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten um die Bewilligung die Verweigerung von IV-Leistungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von CHF 200.00 - 1'000.00 festgelegt. Nach dem Ausgang des vorliegenden Verfahrens hat die IV-Stelle die Verfahrenskosten von CHF 600.00 zu bezahlen. Folglich ist dem Beschwerdeführer der geleistete Kostenvorschuss von CHF 600.00 zurückzuerstatten.

 

Demnach wird erkannt:

1.    In Gutheissung der Beschwerde wird die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 14. Dezember 2023 aufgehoben und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfährt und hierauf neu entscheidet.

2.    Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 1'224.75 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu bezahlen.

3.    Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat die Verfahrenskosten von CHF 600.00 zu bezahlen. Der geleistete Kostenvorschuss von CHF 600.00 wird dem Beschwerdeführer zurückerstattet.

 

Rechtsmittel

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Mitteilung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar (vgl. Art. 39 ff., 82 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Bei Vor- und Zwischenentscheiden (dazu gehört auch die Rückweisung zu weiteren Abklärungen) sind die zusätzlichen Voraussetzungen nach Art. 92 93 BGG zu beachten.

 

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn

Die Präsidentin                         Die Gerichtsschreiberin

Weber-Probst                           Baltermia-Wenger



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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