E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Verwaltungsgericht (SO - VSBES.2022.9)

Zusammenfassung des Urteils VSBES.2022.9: Verwaltungsgericht

Die Versicherte A.___ hat sich 2009 erstmals bei der IV-Stelle angemeldet, wurde jedoch abgewiesen. Nach erneuter Anmeldung 2018 wurde ihr erneut Leistungen verweigert. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies den Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine Invalidenrente mit einem Invaliditätsgrad von 30% ab. A.___ erhob Beschwerde, die jedoch abgewiesen wurde. Das Gericht stützte sich auf Gutachten, die keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in den Fachrichtungen Innere Medizin, Orthopädie und Neurologie feststellten. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30% aus psychiatrischer Sicht wurde bestätigt. Die Beschwerdeführerin hat sich bislang keiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung unterzogen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VSBES.2022.9

Kanton:SO
Fallnummer:VSBES.2022.9
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Versicherungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VSBES.2022.9 vom 30.06.2022 (SO)
Datum:30.06.2022
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: ähig; Invalid; Arbeitsfähigkeit; Sicht; Schmerz; Invalidität; Recht; Eingliederung; Hände; Massnahme; Verfügung; IV-Nr; Massnahmen; Anspruch; Gutachten; Umschulung; Eingliederungs; Leistung; Beurteilung; Einschränkung; Rente; Schmerzen; Untersuchung; IV-Stelle; Invaliditätsgrad; öglich
Rechtsnorm: Art. 123 ZPO ;Art. 17 ATSG ;Art. 34 AHVG ;Art. 8 ATSG ;
Referenz BGE:105 V 29; 105 V 30; 117 V 194; 122 V 160; 125 V 352; 130 V 71; 130 V 73; 132 V 99; 133 V 108; 141 V 281; 145 V 2;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts VSBES.2022.9

 
Geschäftsnummer: VSBES.2022.9
Instanz: Versicherungsgericht
Entscheiddatum: 30.06.2022 
FindInfo-Nummer: O_VS.2022.90
Titel: Invalidenrente und berufliche Massnahmen

Resümee:

 

 

 

 

 

 

 


Urteil vom 30. Juni 2022

Es wirken mit:

Präsident Flückiger

Oberrichter Marti

Oberrichterin Hunkeler

Gerichtsschreiber Isch

In Sachen

A.___ vertreten durch Jeannette Frech, Rechtsanwältin

Beschwerdeführerin

 

gegen

IV-Stelle Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,

Beschwerdegegnerin

 

betreffend     Berufliche Massnahmen (Verfügung vom 29. November 2021)

 


 

zieht das Versicherungsgericht in Erwägung:

I.       

 

1.       Die 1988 geborene Versicherte A.___ meldete sich am 9. Januar 2009 bei der IV-Stelle des Kantons Tessin mit Verweis auf eine angeborene Fehlbildung beider Hände erstmals zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an (IV-Stelle Beleg Nr. [IV-Nr.] 9, S. 2). Nach Einholung diverser Unterlagen verneinte die IV-Stelle des Kantons Tessin mit Verfügung vom 14. Mai 2009 (IV-Nr. 13.5, S. 1) bei einem errechneten Invaliditätsgrad von 10 % einen Leistungsanspruch der Versicherten. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Tessin mit Urteil vom 26. Oktober 2009 (IV-Nr. 13.6, S. 1) ab.

 

2.       Am 12. Januar 2018 meldete sich die Beschwerdeführerin wiederum zum Leistungsbezug bei der neu zuständigen IV-Stelle des Kantons Solothurn (nachfolgend Beschwerdegegnerin) an (IV-Nr. 14). Darauf trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 23. April 2018 (IV-Nr. 20) nicht ein, da die Beschwerdeführerin eine Veränderung der gesundheitlichen Verhältnisse in anspruchsrelevanter Weise nicht glaubhaft gemacht habe.

 

3.       Am 3. September 2019 meldete sich die Beschwerdeführerin erneut zum Leistungsbezug bei der Beschwerdegegnerin an (IV-Nr. 25). In der Folge holte die Beschwerdegegnerin diverse medizinische Unterlagen ein, veranlasste eine berufliche Abklärung (IV-Nr. 51) und liess die Beschwerdeführerin schliesslich in den Fachrichtungen Innere Medizin, Handchirurgie, Neurologie, Psychiatrie und Orthopädie gutachterlich abklären. Im diesbezüglichen Bericht kamen die Gutachter der B.___ zum Schluss, die Beschwerdeführerin sei aus psychiatrischer Sicht in jeglicher Tätigkeit zu 30 % in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Zudem bestehe in der bisherigen Tätigkeit als Rezeptionistin aus handchirurgischer Sicht eine 25%ige Einschränkung.

 

Gestützt darauf verneinte die Beschwerdegegnerin nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren (IV-Nr. 71) den Anspruch der Beschwerdeführerin auf berufliche Eingliederungsmassnahmen und eine Invalidenrente mit Verfügung vom 29. November 2021 (A.S. [Akten-Seite] 1 ff.) bei einem errechneten Invaliditätsgrad von 30 %.

 

4.       Gegen diese Verfügung lässt die Beschwerdeführerin am 12. Januar 2022 fristgerecht Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erheben (A.S. 6 ff.) und folgende Rechtsbegehren stellen:

 

1.    Es sei die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 29. November 2021 aufzuheben und es seien A.___ berufliche Massnahmen zuzusprechen.

Eventualiter: Es sei die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 29. November 2021 aufzuheben und die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückzuweisen.

2.    Es sei A.___ für das vorliegende Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege unter Beiordnung der Unterzeichneten als unentgeltliche Rechtsbeiständin zu gewähren.

3.    Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (inkl. MWST.).

 

5.       Mit Beschwerdeantwort vom 28. Januar 2022 (A.S. 23 f.) schliesst die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde.

 

6.       Mit Verfügung vom 8. Februar 2022 wird der Beschwerdeführerin ab Prozessbeginn die unentgeltliche Rechtspflege (Befreiung von sämtlichen Gerichtskosten und von der Kostenvorschusspflicht) bewilligt und Rechtsanwältin Jeannette Frech als unentgeltliche Rechtsbeiständin bestellt.

 

7.       Auf die weiteren Ausführungen in den Rechtsschriften der Parteien wird, soweit erforderlich, in den folgenden Erwägungen eingegangen. Im Übrigen wird auf die Akten verwiesen.

 

II.

 

1.       Die Sachurteilsvoraussetzungen (Einhaltung von Frist und Form, örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

2.       Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG, SR 831.20) in Kraft. Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV, SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (Urteil des Bundesgerichts 8C_787/2021 vom 23. März 2022 E. 2.1 mit Hinweisen).

 

3.

3.1     Invalidität ist die voraussichtlich bleibende längere Zeit dauernde ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG). Sie kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit Unfall sein. Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat (Art. 4 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, IVG).

 

3.2     Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben Invalide von einer Invalidität (Art. 8 ATSG) bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit

-    diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbericht zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern; und

-    die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind.

 

4.

4.1     Wurde eine Rente wegen eines fehlenden zu geringen Invaliditätsgrades bereits einmal verweigert bzw. aufgehoben, so wird eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die versicherte Person glaubhaft macht, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV).

 

4.2     Tritt die Verwaltung – wie im vorliegenden Fall – auf eine Neuanmeldung ein, so hat sie die Sache materiell abzuklären und sich zu vergewissern, ob die von der versicherten Person glaubhaft gemachte Veränderung des Invaliditätsgrades auch tatsächlich eingetreten ist; sie hat demnach in analoger Weise wie bei einem Revisionsfall nach Art. 17 Abs. 1 ATSG vorzugehen. Stellt sie fest, dass der Invaliditätsgrad seit Erlass der früheren rechtskräftigen Verfügung keine Veränderung erfahren hat, so weist sie das neue Gesuch ab. Andernfalls hat sie zusätzlich noch zu prüfen, ob die festgestellte Veränderung genügt, um nunmehr eine rentenbegründende Invalidität zu bejahen, und hernach zu beschliessen. Im Beschwerdefall obliegt die gleiche materielle Prüfungspflicht auch dem Gericht (BGE 133 V 108, 117 V 198 E. 3a, 109 V 115 E. 2b).

 

Ob eine anspruchsbegründende Änderung in den für den Invaliditätsgrad erheblichen Tatsachen eingetreten ist, beurteilt sich im Neuanmeldungsverfahren – analog zur Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, s. BGE 105 V 30 – durch Vergleich des Sachverhaltes, wie er im Zeitpunkt der Ablehnungsverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der streitigen neuen Verfügung (BGE 130 V 73 E. 3.1 mit Hinweisen; AHI 1999 S. 84 E. 1b).

 

5.

5.1     Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die Ärzte und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die Versicherten arbeitsunfähig sind. Im Weiteren sind ärztliche Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen den Versicherten noch zugemutet werden können (BGE 132 V 99 f. E. 4, 125 V 261 E. 4).

 

5.2     Das Administrativverfahren vor der IV-Stelle wie auch der kantonale Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben IV-Stelle und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum – auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe ebenfalls in gleicher Weise geltenden – Prinzip der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c in fine ATSG) auf (einschliesslich die antizipierte Beweiswürdigung): Führt die pflichtgemässe, umfassende und sachbezogene Beweiswürdigung den Versicherungsträger das Gericht zur Überzeugung, der Sachverhalt sei hinreichend abgeklärt, darf von weiteren Untersuchungen (Beweismassnahmen) abgesehen werden. Ergibt die Beweiswürdigung jedoch, dass erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteil des Bundesgerichts vom 9. April 2008, 8C_308/2007, E. 2.2.1 mit vielen Hinweisen).

 

5.3     Der im Sozialversicherungsrecht massgebende Beweisgrad ist derjenige der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 117 V 194 f. E. 3.b). Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (BGE 125 V 352 E. 3a). Der Sozialversicherungsrichter hat alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten – d.h. der Anamnese – abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und in seinen Schlussfolgerungen begründet ist (AHI 1997 S. 121; BGE 122 V 160). Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht Gutachten.

 

6.       Gemäss den Ausführungen der Beschwerdeführerin seien die Erwägungen der B.___-Gutachter im Fachbereich Psychiatrie und in der interdisziplinären Gesamtbeurteilung widersprüchlich, nicht klar begründet und grösstenteils nicht nachvollziehbar, namentlich was die prognostizierte Steigerung der Arbeitsfähigkeit bei Inanspruchnahme einer psychiatrischen ambulanten Therapie anbelange. So führe der Gutachter diesbezüglich aus, bei einem derzeit noch fehlenden Zugang zum Bestehen eines Krankheitsbildes sei davon auszugehen, dass innerhalb der nächsten zwei Jahre unter einer suffizienten durchgeführten Behandlung wieder von einer vollen Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit auszugehen sei. Darüber hinaus sollte eine unterstützende psychopharmakologische Begleitbehandlung mit Duloxetin in die Wege geleitet werden. Es sei aber rein spekulativ und stelle eine blosse Behauptung dar, dass bei Beginn einer psychiatrisch ambulanten Therapie innerhalb von zwei Jahren die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht von 70 % auf eine Arbeitsfähigkeit von 100 % sowohl in der angestammten wie auch in einer angepassten Tätigkeit gesteigert werden könne. Zu derselben Auffassung sei im Übrigen auch der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) in seiner Beurteilung vom 31. Mai 2021 gekommen. Zusammenfassend sei das B.___-Gutachten vom 27. Mai 2021 zumindest teilweise nicht verwertbar. Die Verfügung vom 29. November 2021 sei daher aufzuheben und entweder sei vom zuständigen Gericht im vorliegenden Beschwerdeverfahren ein Obergutachten im Fachbereich Psychiatrie in Auftrag zu geben die Sache zur Vornahme eines Zusatzgutachtens zur Klärung der Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, der Resterwerbsfähigkeit und deren Verwertbarkeit bei Aufnahme einer geeigneten Psychotherapie zur Vornahme der weiteren versicherungsmedizinischen Abklärungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Auch werde darüber zu befinden sein, ob die Beschwerdegegnerin nicht ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren unter Auflage einer psychiatrischen Behandlung hätte anordnen müssen. Dies insbesondere aufgrund des geltenden Grundsatzes «Eingliederung vor/statt Rente». Sodann liege im konkreten Fall ein Invaliditätsgrad von 30 % vor. Damit sei die geforderte Mindesterwerbseinbusse von 20 % klar überschritten. Es bestehe überdies eine lange Aktivitätsdauer aufgrund des jungen Alters der Beschwerdeführerin, weshalb die Voraussetzungen für das Gewähren von beruflicher Massnahmen – entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin – erfüllt seien. Die Beschwerdeführerin habe gegenüber der Beschwerdegegnerin den Wunsch geäussert, angewandte Linguistik zu studieren und eine Umschulung zu machen. Dies mit dem Ziel zeitnah einer Dolmetschertätigkeit nachzugehen. Wie sich aus den versicherungsmedizinischen Akten, namentlich aus der Abklärung beim C.___ in […], ergeben habe, verzeichne die Beschwerdeführerin Stärken in den Sprachen. So spreche sie fliessend mehrere Sprachen, davon u.a. Deutsch, Englisch, Italienisch und Spanisch. Bei einer Dolmetschertätigkeit wäre die Beschwerdeführerin zudem mehrheitlich frei, die Zeit frei einteilen zu können und die aus handchirurgischer und psychiatrischer Sicht notwendigen Pausen einzulegen. Die Tätigkeit mit den Händen könnte reduziert und eine Überbelastung verhindert werden. Da die Dolmetschertätigkeit sowohl mündlich wie auch schriftlich durchgeführt werden könne, wäre diese im Vergleich mit der bisherigen Tätigkeit als Tourismusfachfrau ideal und bestmöglich auf die noch zumutbare Resterwerbsfähigkeit der Beschwerdeführerin zugeschnitten. Die von der Beschwerdeführerin gewünschte berufliche Massnahme sei verhältnismässig. Es bestehe kein Missverhältnis zwischen den Kosten und dem voraussichtlichen Nutzen. Die beiden Berufe seien vom Bildungsstand und auch aus finanzieller Sicht vergleichbar. Die von der Beschwerdeführerin beantragte Umschulung sei zudem geeignet, die Erwerbsfähigkeit über die noch zu erwartende Arbeitsdauer zu verbessern und hernach aufrechtzuerhalten. Unzutreffend sei überdies, dass bei der Beschwerdeführerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine subjektive Krankheits- und Behinderungsüberzeugung vorliege. So sei die Initiative der Wunsch nach beruflichen Massnahmen durch die Beschwerdeführerin selbst erfolgt. Sie habe die Beschwerdegegnerin um entsprechende Unterstützung ersucht. Dass die getätigten Abklärungen in der D.___ nicht immer auf Begeisterung bei der Beschwerdeführerin gestossen seien, sei hingegen nachvollziehbar. Habe Letztere doch seit Jahren mit den bestehenden manuellen Einschränkungen und der Schmerzproblematik zu kämpfen und bereits diverse Therapieansätze und Medikationen ausprobiert. Dabei habe bisher kein angewandtes Instrument zu einem nachweislichen Erfolg geführt. Dass sich vor diesem Hintergrund ein gewisser Frust breit gemacht habe, sei verständlich. Daraus lasse sich aber keine subjektive Krankheits- und Behinderungsüberzeugung ableiten, insbesondere nicht was berufliche Massnahmen betreffe.

 

Demgegenüber vertritt die Beschwerdegegnerin die Ansicht, gemäss vorhandenen medizinischen Unterlagen sei der Beschwerdeführerin die erlernte Tätigkeit als Tourismusfachfrau sowie jede andere angepasste Tätigkeit zeitlich weiterhin im Umfang von 100 % möglich. Dabei bestehe gemäss vorhandenen medizinischen Unterlagen eine Leistungseinschränkung von 30 %. Mit einer solchen Tätigkeit könne sie wiederum ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen erzielen. Aus invalidenrechtlicher Sicht bestehe somit keine lang dauernde Arbeitsunfähigkeit, welche einen Rentenanspruch begründen würde. Bei der Suche nach einer geeigneten Stelle sei sie nicht auf IV-spezifische Unterstützung angewiesen. Für weitere Leistungen sei deshalb die Arbeitslosenversicherung zuständig. Gemäss Telefonat mit dem Eingliederungsfachmann vom 25. November 2021 wünsche die Beschwerdeführerin keine Stellenvermittlung. Sie wünsche die Unterstützung bei der Absolvierung eines Studiums in angewandter Linguistik. Ein Umschulungsanspruch bestehe jedoch nicht. Dies gestützt auf die Tatsache, dass ihr ihre angestammte Tätigkeit nach wie vor in einem 70%-Pensum zumutbar sei und sie damit in der Lage sei, ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen. Gemäss dem Gutachten des B.___ vom 27. Mai 2021 sei ihre Schmerzsymptomatik aus handchirurgischer Sicht nicht nachvollziehbar. In einer angepassten Verweistätigkeit wäre sie aus handchirurgischer Sicht sogar zu 100 % arbeitsfähig. Ihre Arbeitsfähigkeit sei aus psychiatrischer Sicht sowohl in der angestammten wie auch in einer angepassten Verweistätigkeit zu 30 % eingeschränkt. Aus psychiatrischer Sicht sollte sie eine ambulante psychotherapeutische Behandlung aufnehmen, um ein Verständnis für das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung zu erhalten. Es könne davon ausgegangen werden, dass dadurch innerhalb der nächsten zwei Jahre wieder eine volle Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit möglich wäre. Aufgrund ihrer subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung könnten berufliche Massnahmen nicht erfolgsversprechend umgesetzt werden. Es werde der Beschwerdeführerin empfohlen, die psychiatrische Problematik anzugehen um ihre Schmerzproblematik zu verbessern und so ihre Arbeitsfähigkeit weiter zu steigern. Sodann sei die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Rüge, es sei rein spekulativ, dass innert zwei Jahren nach Beginn einer psychiatrischen ambulanten Therapie die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht von 70 % auf 100 % sowohl in der angestammten wie auch in einer angepassten Tätigkeit gesteigert werden könne, im vorliegenden Fall nicht relevant. Die IV-Stelle stütze sich beim Entscheid auf eine 70%-Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit und füge einzig als Empfehlung an, dass von einer entsprechenden Therapie allenfalls eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit zu erwarten wäre. Von einem Mahn- und Bedenkzeitverfahren sei bewusst abgesehen worden, wie der RAD-Stellungnahme vom 31. Mai 2021 zu entnehmen sei.

 

7.       Strittig und zu prüfen ist somit, ob die Beschwerdegegnerin den Anspruch der Beschwerdeführerin auf berufliche Massnahmen zu Recht verneint hat. Aufgrund der gestellten Rechtsbegehren hat die in der Verfügung vom 29. November 2021 ebenfalls enthaltene Verweigerung der Invalidenrente als nicht angefochten zu gelten. Ob eine anspruchsbegründende Änderung in den für den Invaliditätsgrad erheblichen Tatsachen eingetreten ist, beurteilt sich im Neuanmeldungsverfahren – analog zur Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG (BGE 105 V 29 S. 30) – durch Vergleich des Sachverhalts, wie er im Zeitpunkt der letzten Ablehnungsverfügung – vorliegend am 14. Mai 2009 – bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der streitigen neuen Verfügung vom 29. November 2021 (BGE 130 V 71 E. 3.1 S. 73, mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 8C_819/2013 vom 4. Februar 2014 E. 2).

 

7.1     Im Zeitpunkt der in Rechtskraft erwachsenen ursprünglichen Verfügung vom 14. Mai 2009 erfolgte die Verneinung des Rentenanspruchs durch die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen gestützt auf folgende Unterlagen:

 

7.1.1  Dr. med. E.___, Facharzt für plastische Chirurgie FMH, führte in seinem Bericht vom 14. Januar 2009 (IV-Nr. 13.3, S. 3) aus, er habe bei der Beschwerdeführerin am 13. Juli 2008 eine Metakarpalamputation des vierten Strahls der rechten Hand wegen angeborener Fehlbildung durchgeführt. Der postoperative Verlauf sei komplikationslos gewesen. Dies sage sogar die Beschwerdeführerin. Sie weine jedoch seit etwa anderthalb Monaten sehr oft, weil sie es nicht akzeptieren könne, dass sie mit der operierten Hand aufgrund der Schmerzen noch keine längeren Anstrengungen machen könne. Sie habe sogar in seiner Gegenwart einen Tränenanfall gehabt, als sie ihm dies erzählt habe. Es wäre sicherlich wünschenswert, wenn die Beschwerdeführerin psychologische Unterstützung bekomme. Er, Dr. med. E.___, glaube auch, dass eine Evaluation für eine berufliche Umschulung angezeigt sei.

 

7.1.2  Dr. med. F.___, FMH für Innere Medizin, diagnostizierte in seinem Bericht vom 6. März 2009 (vgl. IV-Nr. 13.6, S. 8) angeborene Fehlbildungen der beiden Hände (Synhexadaktylie) bzw. einen angeborenen Digitus superductus mit Amputation des vierten Mittelhandknochens der rechten Hand. Die Beschwerdeführerin sei vom 22. Juli bis 16. November 2008 100 % und ab 17. November 2008 50 % arbeitsunfähig gewesen. Vom 20. bis 25. Januar 2009 sei sie aufgrund einer zwischenzeitlichen Erkrankung zu 100 % arbeitsunfähig gewesen. Unter Berücksichtigung der glaubhaften Beschwerden sei die teilweise Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt. Die Arbeitskapazität in einer Tätigkeit ohne Belastung der rechten Hand bei einer sehr leichten Tätigkeit ohne häufige Greifbewegungen mit der rechten Hand sei vollzeitig möglich.

 

7.1.3  Mit Bericht vom 11. März 2009 (IV-Nr. 13.3, S. 25) führte Dr. med. G.___, RAD, aus, die Beschwerdeführerin berichte auch knapp acht Monate nach der Operation noch über zunehmende Belastungsschmerzen und ständige Beschwerden, obwohl eine Versetzung innerhalb ihres Unternehmens die Beschwerden gelindert habe. Hinzu kämen ein subjektives Unwohlsein und eine emotionale Störung, die die Funktionsfähigkeit und soziale Leistungsfähigkeit während dieser Phase der Anpassung an das chirurgische Ergebnis beeinträchtigten. Bei der zuletzt ausgeübten Tätigkeit (Bekleidungsabteilung) resultiere aus den eingeschränkten Funktionen eine Arbeitsfähigkeit von 50 %, während bei einer angepassten Tätigkeit allmählich eine volle Arbeitsfähigkeit gegeben sei. Eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber wäre wünschenswert, um die Beschwerdeführerin für eine Arbeitstätigkeit einzusetzen, die ihre beruflichen Fähigkeiten optimieren könnte.

 

7.2     Bei Erlass der vorliegend angefochtenen Verfügung vom 29. November 2021 präsentierte sich der medizinische Sachverhalt im Wesentlichen wie folgt:

 

7.2.1  Im Bericht des H.___ vom 11. Juli 2019 (IV-Nr. 29) wurden folgende Diagnosen gestellt:

 

1.    St. n. komplexer Syn-Hexadactylie der Hände bds.

·         St. n. multiplen Korrekturoperationen

·         St. n. Resektion von Dig. IV rechts

·         aktuell: Zunahme der chronisch-neuropathischen Schmerzen

2.    Leichtes sensibles Karpaltunnelsyndrom bds., elektrophysiologisch bestätigt

 

Nebendiagnosen

3.    Chronische muskuloskelettale Schmerzen

 

Es bestünden chronische Schmerzen aufgrund einer kongenitalen Dysmelie der Hände bds. und ein Status nach diversen operativen Eingriffen an den Händen bds. Ein Gross-Teil der Schmerzen sei sicherlich neuropathisch. Bereits 2017 seien diverse Analgetika und anti-neuropathisch wirksame Medikamente ohne nachhaltigen Erfolg eingesetzt worden. Auch der aktuelle Versuch mit Gabapentin (600mg/d) habe leider zu keiner Verbesserung der Schmerzsituation geführt. Aufgrund des jungen Alters der Beschwerdeführerin werde die Beurteilung der chronischen Handschmerzen an einem dafür spezialisierten Zentrum empfohlen.

 

7.2.2  Im Bericht des C.___ vom 10. Februar 2020 (IV-Nr. 42) wurde ausgeführt, klinisch-neurologisch bestehe kein wegweisender Befund. Ein neuropathischer Schmerz könne nicht diagnostiziert werden. Die Neurophysiologie habe neurographisch keine Schädigung der sensiblen large fibres und in der CHEPS Untersuchung (Funktionstest für Adelta-Fasern) bzw. im QST keinen Anhalt für eine Schädigung der Small-fibres erbracht. Insgesamt sei ein nozeptiver bzw. unspezifischer chronischer Handschmerz zu diagnostizieren. Nebenbefundlich lasse sich in der Neurographie eine mögliche motorische Neuropathie nachweisen, möglicherweise sei der Befund auch im Rahmen der Dysmelie zu werten. Orthopädisch bestünden funktionelle Residuen nach Dysmelie und entsprechenden Operationen, spezifisch orthopädische Therapien könnten nicht vorgeschlagen werden. Orthopädisch würden bei dauerhaftem Einsatz der Hände Einschränkungen der Hände dokumentiert im Sinne einer Ermüdung, subjektiven Schwäche und Schmerzen. Psychologisch bestünden psychosoziale Belastungsfaktoren, sodass eine Psychotherapie empfohlen werde. Es werde dringend eine Unterstützung durch die IV bei der Suche nach einem angepassten Arbeitsplatz, beziehungsweise einer entsprechenden Umschulung empfohlen. Zunächst beginnend mit 50 % in einer angepassten Tätigkeit. Der Beschluss der Krankentaggeldversicherung einer 100%igen mündlichen Tätigkeit erscheine zum jetzigen Zeitpunkt unrealistisch.

 

7.2.3  Im Bericht des C.___ vom 2. März 2020 (IV-Nr. 45, S. 2) wurden folgende Diagnosen gestellt:

 

      M79.64 Chronische Dauerschmerzen Schmerzen der Hände dorsal bds., rechts betont, auch einschiessende Schmerzattacken, unklarer Zuordnung

DD: am ehesten unspezifisch

-       klinisch neurologisch unauffälliger Befund der Hände

-       passagerer Phantomschmerz Dig. IV rechts 2008 nach Resektion

·         M54.2 Rechtsseitiger Nackenschmerz nozizeptiver Genese mit intermittierender Ausstrahlung zum Oberarm rechts

·         G56.0 Leichtgradiges Karpaltunnel-Syndrom bds. mit intermittierendem Taubheitsgefühl (extern neurographisch bestätigt, aktuell intermittierende Handschienen nachts bds.)

      F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren

      V.a. St.n. F32.0: Leichte depressive Episode (2008)

      V.a. St.n F43.2: Anpassungsstörung (2013)

      Q70.9 Kongenitale Dysmelie/Syndaktylie der Hände bds.

-       St.n. operativer Korrektur einer Syndaktylie zwischen Dig. III und IV links als Kleinkind

-       spätere Narbenkorrektur Dig. III links

-       St.n. Resektion von Dig. IV der rechten Hand 2008 wegen Fehlstellung

-       Fehlstellung Dig. IV links

      Z56 Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben

 

Die Beschwerdeführerin sei zum schmerzpsychologischen Konzil mit der Fragestellung zur einer Körperschemastörung gesehen worden. Sie beschreibe ihre Stimmung im Gespräch als grundsätzlich gut und nenne verschiedene Strategien zum Umgang mit einer niedergeschlagenen Stimmung, welche sie an gewissen Tagen, nicht aber über eine längere Zeit erlebe. Als bestehende psychosoziale Belastungsfaktoren seien die offene IV-Abklärung und die Frage nach der beruflichen Zukunft festzuhalten (ICD-10: Z.56). Sie beschreibe im Gespräch eine depressive Episode nach der Operation 2008 (Verdacht auf ICD-10: F32.0 St.n) sowie lebensgeschichtliche traumatische Erlebnisse im Jahr 2013 (Verdacht auf ICD-10: F43.21 St.n). Im heutigen Gespräch bestünden keine Hinweise für eine posttraumatische Belastungsstörung, deutlich werde aber die nach wie vor hohe Emotionalität beim Schildern der Erlebnisse. Die Beschwerdeführerin schildere im Gespräch eine Akzeptanz gegenüber ihren Veränderungen an den Händen, auch wenn sie es gerne anders hätte. Sie beschreibe keine übermässige Beschäftigung Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld auf Grund ihrer Fehlbildungen. Es sei nach dem heutigen Erstgespräch nicht von einer Körperdysmorphenstörung auszugehen. Aus schmerzpsychologischer würden die Schmerzen im Rahmen einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (ICD -10: F45.41) eingeordnet. Aus systemischer Perspektive sei die erbliche Komponente miteinzubeziehen. Die Beschwerdeführerin könnte von einer Erweiterung ihrer bereits bestehenden Schmerzbewältigungsstrategien profitieren.

 

7.2.4  Im polydisziplinären Gutachten des B.___ vom 27. Mai 2021 (Fachrichtungen Innere Medizin, Handchirurgie, Neurologie, Psychiatrie und Orthopädie; IV-Nr. 67) wurden folgende Diagnosen gestellt:

 

Diagnosen mit Einfluss auf Arbeitsfähigkeit:

1.    Somatoforme Störung (ICD-10 F45.8)

2.    Chronische Schmerzen Hände beidseits rechtsbetont, unklarer Zuordnung (ICD-10 M79.64)

-       kongenitale Dysmelie/Syndaktylie Hände beidseits und Status nach Syndaktylie-Korrektur Dig. III/IV links als Kleinkind mit zusätzlicher Narbenkorrektur Dig. III links und mehrfacher Arthrodese Dig. IV rechts

-       Status nach Resektion Strahl IV rechts 2008

-       verbliebene Fehlstellung Dig. IV links bei Brachydaktylie und Status nach Arthrodese-Operation als Kleinkind (ICD-10 Q70.0)

-       mit möglichen nozizeptiven und funktionellen Komponenten

 

Diagnosen ohne Einfluss auf Arbeitsfähigkeit:

1.    Chronisch intermittierende Nacken-Schulter-Armbeschwerden der dominanten rechten Seite (ICD-10 M54.2/M79.60)

-       klinisch kein funktionelles Defizit

2.     Leichtgradiges Karpaltunnelsyndrom beidseits (ICD-10 G56.0)

3.     Nikotinabusus (ICD-10 F17.1)

 

Zur Beurteilung wurde aus interdisziplinärer Sicht festgehalten, bei der handchirurgischen Untersuchung sei festgestellt worden, dass bei der Explorandin chronische Schmerzen der Hände beidseits rechtsbetont bei bekannter kongenitaler Missbildung nach verschiedenen Korrektureingriffen bestünden. Funktionell bestehe aus handchirurgischer Sicht nur eine leichte Einschränkung, vor allem mit rascher Ermüdung und Schwächegefühl sowie im Vordergrund stehender Schmerzsymptomatik beider Hände rechtsbetont. Die Schmerzsymptomatik sei handchirurgisch nicht nachvollziehbar und es finde sich auch kein Anhaltspunkt für einen Phantomschmerz Neuromschmerz. Die Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit betrage aus handchirurgischer Sicht 75 % aufgrund eines vermehrten Pausenbedarfs. Angepasste Tätigkeiten mit möglichst wenig manueller Belastung und insbesondere ohne repetitive Arbeitsabläufe, ohne Kälteexposition Vibrationsexposition und ohne feinmotorisch anspruchsvolle Arbeiten seien der Explorandin aus handchirurgischer Sicht zu 100 % zumutbar. Bei der orthopädischen Untersuchung der Wirbelsäule, der unteren Extremitäten sowie der Schultern habe sich eine freie Beweglichkeit gezeigt. Bezüglich der Hände werde auf das handchirurgische Teilgutachten verwiesen. Zusammenfassend habe aus orthopädischer Sicht lediglich ein gewisser Hartspann im Bereich des Levator scapulae ohne nennenswertes funktionelles Defizit festgestellt werden können. Die Arbeitsfähigkeit für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten wie auch für die bisher durchgeführten Tätigkeiten sei aus orthopädischer Sicht nicht eingeschränkt. Bei der neurologischen Untersuchung habe sich keine Erklärung für die radial- und dorsalseits betonten beidseitigen Schmerzen ergeben. Die neurologische Untersuchung sei unauffällig ausgefallen und es hätten sich insbesondere auch im Bereich der Narben keine Allodynie Palpationsschmerzen feststellen lassen. Abgesehen von einem schwach positivem Tinel'schen Zeichen sei der neurologische Status auch sonst völlig unauffällig gewesen, anamnestisch bestehe diesbezüglich ein leichtgradiges Karpaltunnelsyndrom beidseits. Die Arbeitsfähigkeit sei aus neurologischer Sicht nicht eingeschränkt. Auch aus allgemeininternistischer Sicht habe keine Diagnose mit Einschränkung der Arbeitsfähigkeit gestellt werden können. Bei der psychiatrischen Untersuchung sei aufgefallen, dass bei der Explorandin eine Schmerzsymptomatik bestehe, für die ein nicht ausreichendes somatisches Korrelat habe gefunden werden können. Es handle sich um eine sonstige somatoforme Störung. Weitere psychiatrische Diagnosen hätten nicht gestellt werden können. Aus psychiatrischer Sicht bestehe eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 30 % in jeglicher Tätigkeit aufgrund der eingeschränkten Leistungsfähigkeit. Die Einschränkungen aus psychiatrischer und aus handchirurgischer Sicht addierten sich nicht, sondern ergänzten sich, es könnten die gleichen Zeitabschnitte zum Einlegen vermehrter Pausen verwendet werden. Gesamthaft bestehe somit eine Einschränkung von 30 %. Diese Einschätzung könne arbiträr seit April 2019 angenommen werden, nach vorangehend nicht nachgewiesener, länger andauernder, höhergradiger Arbeitsunfähigkeit. In adaptierten Verweistätigkeiten sei die Arbeitsfähigkeit nur aus psychiatrischer Sicht eingeschränkt. Hierzu sei anzumerken, dass die Explorandin bisher in keiner psychiatrischen Behandlung stehe. Aus psychiatrischer Sicht sollte eine ambulante psychotherapeutische Behandlung in die Wege geleitet werden, um der Explorandin ein Verständnis für das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung zu vermitteln. Es könne davon ausgegangen werden, dass dadurch innerhalb der nächsten zwei Jahre wieder eine volle Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit aus psychiatrischer Sicht erwartet werden könnte.

 

7.2.5  Dr. med. I.___, Praktischer Arzt, RAD, führte in seiner Stellungnahme vom 31. Mai 2021 (IV-Nr. 70) aus, aus Sicht des RAD erscheine das vorliegende polydisziplinäre Gutachten des B.___ umfassend, in Kenntnis der Vorakten erstellt, auf allseitigen Untersuchungen beruhend, die geklagten Beschwerden berücksichtigend, IV-fremde Faktoren und Diskrepanzen mit anderen medizinischen Einschätzungen diskutierend, und in der Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes und der daraus resultierenden Einschätzung der Arbeitsfähigkeit weitgehend nachvollziehbar und schlüssig. Der RAD könne sich daher dieser Beurteilung weitgehend anschliessen. Eine gewisse Unschärfe bestehe bezüglich des Beginn-Zeitpunkts der von den Gutachtern festgestellten Arbeitsunfähigkeit. Nach Ansicht des RAD sei diese nicht erst wie im Gutachten angegeben ab April 2019 anzunehmen, sondern seit Attestierung einer Arbeitsunfähigkeit am 23. Februar 2019. Weiter führte der RAD-Arzt aus, die Gutachter seien zwar davon ausgegangen, dass durch eine psychotherapeutische Behandlung innerhalb der nächsten zwei Jahre wieder eine volle Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit aus psychiatrischer Sicht erwartet werden könnte. Der RAD empfehle jedoch zum jetzigen Zeitpunkt keine diesbezügliche Auflage/MBZV, da seiner Ansicht nach sowohl der Zeitraum von zwei Jahren, als auch das zu erwartende Ergebnis eher als spekulativ anzusehen seien, und keine medizinischen Quellen/Untersuchungen/Studien genannt worden seien, auf die hier abgestützt werden könnte.

 

8.

8.1     In der angefochtenen Verfügung vom 29. November 2021 stellt die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen auf das B.___-Gutachten vom 27. Mai 2021 ab. Dieses ist sowohl bezüglich der Diagnostik (s. E. II. 7.2.4 hiervor) als auch der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit unbestritten und widerspruchsfrei. In den Teilgutachten in den Fachrichtungen Innere Medizin, Orthopädie und Neurologie konnte keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit festgestellt werden, was denn auch in Übereinstimmung mit den Vorakten steht und insgesamt zu überzeugen vermag. Während im internistischen Teilgutachten keine behandlungsbedürftigen Erkrankungen diagnostiziert wurden, wurden im orthopädischen Gutachten ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit lediglich chronisch intermittierende Nacken-Schulter-Armbeschwerden der dominanten rechten Seite diagnostiziert, wobei diesbezüglich klinisch kein funktionelles Defizit festgestellt wurde. Zudem wurde im neurologischen Teilgutachten ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit anamnestisch lediglich ein leichtes Karpaltunnelsyndrom beidseits (ICD-10 G56.0) diagnostiziert, zumal abgesehen von einem schwach positiven Tinel'schen Zeichen der neurologische Status völlig unauffällig war.

Des Weiteren wurde im handchirurgischen Gutachten in nachvollziehbarer Weise festgehalten, es bestünden bei der Beschwerdeführerin chronische Schmerzen Hände beidseits rechtsbetont bei bekannter kongenitaler Missbildung nach verschiedenen Korrektureingriffen. Funktionell bestünden aus handchirurgischer Sicht jedoch nur leichte Einschränkungen vor allem mit nachvollziehbarer rascher Ermüdung und Schwächegefühl sowie im Vordergrund stehende Schmerzsymptomatik beider Hände rechtsbetont. Eine belastende repetitive manuelle Tätigkeit sei nicht zumutbar. Die Ursache der geltend gemachten Schmerzen sei aus handchirurgischer Sicht nicht nachvollziehbar, auch insbesondere eine Verschlechterung in den letzten Jahren sei nicht erklärbar. Eine psychosomatische Überlagerung sei anzunehmen. Gestützt auf diese handchirurgischen Ausführungen vermag sodann die diesbezügliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu überzeugen, wonach in der bisherigen Tätigkeit eine Einschränkung der Leistung von 25 % bestehe, um vermehrt Erholung und Pausen einlegen zu können. In einer angepassten Tätigkeit mit möglichst wenig manuellen Belastungen und insbesondere ohne repetitive Arbeitsabläufe, Kälteexposition Vibrationsexposition und ohne feinmotorisch anspruchsvolle Arbeiten bestehe aus handchirurgischer Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.

Sodann wurde im psychiatrischen Teilgutachten die gestellte Diagnose einer somatoformen Störung (ICD-10 F45.8) einleuchtend hergeleitet. Bei guter Stimmungslage und normalem Antrieb bei einer guten affektiven Modulationsfähigkeit sei ein Störungsbild aus dem Spektrum der affektiven Erkrankungen, respektive einer Depressionserkrankung, nicht feststellbar gewesen. Die Explorandin habe eine Schmerzsymptomatik beider Hände, für die ein nicht ausreichendes somatisches Korrelat habe gefunden werden können. Hinweise für emotionale Konflikte psychosoziale Probleme bestünden nicht, es seien die Schmerzen auf eine bestimmte Körperregion beschränkt, sodass das Störungsbild einer sonstigen somatoformen Störung (ICD-10 F45.8) zu stellen sei. Zudem vermag auch die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht zu überzeugen, wonach in jeglicher Tätigkeit eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30 % bestehe. Diese gutachterliche Einschätzung wird durch die Indikatorenprüfung gemäss BGE 141 V 281 ebenfalls bestätigt. Hinsichtlich des Behandlungs- und Eingliederungserfolgs bzw. -resistenz ist den Akten und dem Gutachten zu entnehmen, dass nach den durchgeführten beruflichen Eingliederungsmassnahmen bislang keine erfolgreiche Eingliederung erfolgt ist, wobei in diesem Zusammenhang auch motivationale Faktoren genannt werden. Zudem hat sich die Beschwerdeführerin bislang keiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung unterzogen (s. S. 31 des B.___-Gutachtens). Eine Eingliederungs- und Therapieresistenz liegt somit nicht vor. Bezüglich allfälliger Komorbiditäten und Wechselwirkungen ist auf die seit Geburt bestehende Fehlbildung an beiden Händen zu verweisen. Sodann sind dem Gutachten überwiegend positive soziale Ressourcen zu entnehmen. Die Explorandin lebe noch daheim, sie befinde sich seit einem halben Jahr in einer harmonischen Partnerschaft, es bestünden gute und tragfähige soziale Kontakte, und eine gewisse erfüllende Freizeitgestaltung. Dagegen bestehen gemäss dem psychiatrischen Gutachten nur wenige persönliche Ressourcen. So bestehe gemäss dem Gutachten über die selbstlimitierenden und motivational bedingten Faktoren hinaus eine somatoforme Schmerzstörung, welcher die Explorandin derzeit nur wenige ausreichende persönliche Ressourcen entgegensetzen kann. Sodann ist gestützt auf die gutachterliche Anamnese (s. S. 29 des Gutachtens) nicht von einer «gleichmässigen Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen» auszugehen. Zusammenfassend ist somit auf die psychiatrische Beurteilung einer Arbeitsfähigkeit von 70 % in jeglicher Tätigkeit abzustellen.

Gestützt auf die beweiswertigen Teilgutachten vermag schliesslich auch die interdiszplinäre Gesamtbeurteilung der B.___-Gutachter zu überzeugen, wonach die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sowohl in der bisherigen Tätigkeit als Rezeptionistin als auch in einer angepassten Tätigkeit um 30 % eingeschränkt sei. Es ist demnach im Vergleich zur letztmaligen Rentenbeurteilung 14. Mai 2009 von einer revisionsrelevanten gesundheitlichen Verschlechterung auszugehen.

 

8.2     Strittig ist im Zusammenhang mit dem B.___-Gutachten vom 27. Mai 2021 dagegen einzig die prognostische Beurteilung im psychiatrischen Teilgutachten. So rügt die Beschwerdeführerin diesbezüglich, es sei rein spekulativ und stelle eine blosse Behauptung dar, dass bei Beginn einer psychiatrisch ambulanten Therapie innerhalb von zwei Jahren die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht von 70 % auf eine Arbeitsfähigkeit von 100 % sowohl in der angestammten wie auch in einer angepassten Tätigkeit gesteigert werden könne. In diese Richtung tendiert zudem auch der RAD-Arzt, Dr. med. I.___, in seiner Stellungnahme vom 31. Mai 2021 (IV-Nr. 70), in welcher er ausführt, seiner Ansicht nach seien sowohl der Zeitraum von zwei Jahren als auch das zu erwartende Ergebnis eher als spekulativ anzusehen seien, zumal vom psychiatrischen Gutachter keine medizinischen Quellen/Untersuchungen/Studien genannt worden seien, auf die hier abgestützt werden könnte. Wie die Beschwerdegegnerin in diesem Zusammenhang aber zu Recht angeführt hat, stützt sie sich in ihrem Entscheid ohnehin nicht auf die prognostische Beurteilung des psychiatrischen Gutachters, sondern auf eine 70%ige Arbeitsfähigkeit ab, weshalb es grundsätzlich offengelassen werden kann, ob die gutachterliche Prognose nachvollziehbar erscheint. Selbst wenn man in diesem Punkt den Ausführungen des RAD-Arztes folgen würde, wonach die gutachterliche Beurteilung in diesem Punkt als spekulativ anzusehen sei, würde dies nicht dazu führen, dass dem in sämtlichen anderen Punkten überzeugenden Gutachten der Beweiswert abzuerkennen wäre. Entgegen der Ansicht besteht somit kein Anlass, ein Obergutachten einzuholen.

 

Schliesslich hätte die Beschwerdegegnerin – entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nach dem Grundsatz «Eingliederung vor/statt Rente» auch nicht ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren unter Auflage einer psychiatrischen Behandlung anordnen müssen. Nach dem Grundsatz Eingliederung vor Rente gehen Eingliederungsmassnahmen den Rentenleistungen vor. Diese werden nur erbracht, wenn die versicherte Person nicht bloss in ungenügendem Masse eingegliedert werden kann. Für die Abklärungspflicht der IV-Stelle bedeutet dies, dass sie nicht nur bei der erstmaligen Prüfung eines Leistungsgesuchs, sondern auch im Revisionsfall zuerst untersuchen muss, ob Eingliederungsmassnahmen angezeigt sind, bevor über den Rentenanspruch zu entscheiden ist (vgl. Urteil 8C_842/2016 vom 18. Mai 2017 E. 5.3.1 mit Hinweisen; vgl. auch Urteile 9C_689/2019 vom 20. Dezember 2019 E. 3.1 und 9C_450/2019 vom 14. November 2019 E. 3.3.1, je mit Hinweisen). Eine Invalidenrente soll erst und nur dann gesprochen werden, wenn die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, welche Eingliederungsmassnahmen zur Verbesserung der gesundheitsbedingt beeinträchtigten Erwerbsfähigkeit bieten. Denn die bestmögliche Verminderung der nachteiligen Auswirkungen eines Gesundheitsschadens auf die Erwerbsfähigkeit gestaltet sich bei der Eingliederung vor Rente in der Regel einfacher als die Wiedereingliederung von Rentenbeziehenden (vgl. BGE 145 V 2 E. 4.3.2 mit Hinweis). Falls ein Rentenanspruch indes – wie im vorliegenden Fall – durch allenfalls noch vorzunehmende berufliche Eingliederungsmassnahmen nicht mehr beeinflusst werden kann, etwa weil ein rentenbegründender Invaliditätsgrad bereits jetzt nicht gegeben ist, kann der Rentenentscheid unabhängig von allfälligen Eingliederungsmassnahmen gefällt werden (Urteile 8C_204/2021 vom 26. Mai 2021 E. 4.2.2 und 8C_691/2015 vom 11. Februar 2016 E. 4, je mit Hinweisen; vgl. auch Urteile 9C_207/2018 vom 16. April 2018 E. 3.2.4 und 8C_187/2015 vom 20. Mai 2015 E. 3.2.1, je mit Hinweisen). Der Entscheid der Beschwerdegegnerin ist somit auch im Lichte dessen nicht zu beanstanden.

 

9.       Die Invaliditätsberechnung ist unbestritten geblieben und denn auch nicht zu beanstanden. So ist der Beschwerdeführerin die bisherige Tätigkeit als Rezeptionistin weiterhin zumutbar, womit die Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30 % dem Invaliditätsgrad entspricht.

 

10.     Sodann ist zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf berufliche Massnahmen hat. Sie verlangt konkret eine Umschulung mittels eines Studiums in angewandter Linguistik.

 

Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben Invalide von einer Invalidität (Art. 8 ATSG) bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit

-     diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern; und

-     die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind.

 

Die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art sind in den Art. 15 – 18d IVG geregelt. So können Berufsberatung, eine erstmalige berufliche Ausbildung, eine Umschulung, eine Arbeitsvermittlung, Arbeitsversuche, Einarbeitungszuschüsse, eine Entschädigung für Beitragserhöhungen auch Kapitalhilfe gewährt werden. Jede einzelne Massnahme unterliegt gewissen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen und die sich aus der jeweiligen Bestimmung ergeben.

 

Arbeitsunfähige Versicherte, welche eingliederungsfähig sind, haben gemäss Art. 18 Abs. 1 IVG Anspruch auf aktive Unterstützung bei der Suche eines geeigneten Arbeitsplatzes und begleitende Beratung im Hinblick auf die Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes.

 

Die versicherte Person muss alles ihr Zumutbare unternehmen, um die Dauer und das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) zu verringern und den Eintritt einer Invalidität (Art. 8 ATSG) zu verhindern. Sie muss an allen zumutbaren Massnahmen, die zur Erhaltung des bestehenden Arbeitsplatzes zu ihrer Eingliederung ins Erwerbsleben in einen dem Erwerbsleben gleichgestellten Aufgabenbereich (Aufgabenbereich) dienen, aktiv teilnehmen (Art. 7 Abs. 1 und 2 IVG).

 

10.1   Nach Art. 17 Abs. 1 IVG besteht Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten verbessert werden kann.

 

10.2   Invalid im Sinne von Art. 17 IVG ist ein Versicherter, wenn er wegen der Art und Schwere des eingetretenen Gesundheitsschadens in den bisher ausgeübten und in den für ihn ohne zusätzliche berufliche Ausbildung offenstehenden noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet; dabei bemisst sich die Erwerbseinbusse an dem vor Eintritt des Gesundheitsschadens erzielten Erwerbseinkommen (Meyer / Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Aufl., 2014, S. 201 Rz. 3 mit Hinweisen).

 

Wer im Sinne von Art. 17 IVG schon erwerbstätig war, geht aus Art. 6 Abs. 1 IVV hervor, der für eine Umschulung voraussetzt, dass die versicherte Person vor Eintritt der Invalidität eine erstmalige berufliche Ausbildung abgeschlossen ohne vorgängige berufliche Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Dabei bezieht sich der zweite Tatbestand nur auf eine Erwerbstätigkeit ökonomisch relevanten Ausmasses; die betroffene Person muss während mindestens sechs Monaten ein Erwerbseinkommen in Höhe von mindestens drei Vierteln der minimalen vollen einfachen ordentlichen Invalidenrente (zurzeit CHF 1'175.00 bzw. ein Drittel davon: CHF 881.25 pro Monat) erzielt haben (Silvia Bucher, Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, Bern 2011, Rz. 689, 778; Art. 37 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 34 Abs. 5 AHVG). Wie aus den Akten ersichtlich ist, verfügt die Beschwerdeführerin über die Matura und einen Abschluss als spezialisierte Tourismusfachfrau. Zudem hat sie vor Eintritt des Gesundheitsschadens unbestrittenermassen eine Erwerbstätigkeit ökonomisch relevanten Ausmasses im oben genannten Sinne ausgeübt, womit sie grundsätzlich für eine Umschulung in Frage kommt.

         

10.3   Beim Anspruch auf Umschulung müssen sodann folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein: Es muss eine drohende bereits eingetretene Invalidität vorliegen, die es der versicherten Person nicht mehr erlaubt, den bisherigen Beruf auszuüben bzw. die Erwerbstätigkeit die Tätigkeit im Aufgabenbereich weiterzuführen, die versicherte Person muss eingliederungsfähig sein, d.h. sie muss objektiv und subjektiv in der Lage sein, berufsbildende Massnahmen zu bestehen und die Ausbildung muss der Behinderung angepasst sein und den Fähigkeiten der versicherten Person entsprechen. Sie muss zudem einfach und zweckmässig sein und zu einer Erwerbsmöglichkeit führen, die der früheren Tätigkeit annähernd gleichwertig ist. Nicht übernommen werden Kosten für eine Ausbildung, die keine Aussicht auf eine spätere wirtschaftliche Verwertbarkeit der Arbeitsleistung bietet (Kreisschreiben über die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (KSBE), Stand 1. Januar 2018, Rz. 4010).

 

10.3.1  Demnach ist im Folgenden als erstes zu prüfen, ob eine drohende bereits eingetretene Invalidität vorliegt. Die Frage der leistungsspezifischen Invalidität entspricht der Frage der invaliditätsbedingten Notwendigkeit einer Umschulung. Grundsätzlich gilt wie erwähnt, dass der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches Mass erreicht haben muss, was der Fall ist, wenn die versicherte Person in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet. Dieses Kriterium ist bei der Beschwerdeführerin zu bejahen, nachdem ein Invaliditätsgrad von 30 % gegeben ist. Jedoch ist ein Anspruch auf eine Umschulung im vorliegenden Fall dennoch ohne weitergehende Prüfung zu verneinen. Ein solcher besteht wie vorgehend erwähnt, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten wesentlich verbessert werden kann. Bei der Beschwerdeführerin besteht aber in jeglichen angepassten Tätigkeiten aus psychiatrischer Sicht eine Arbeitsunfähigkeit von 30 %, was somit auch für die von der Beschwerdeführerin angestrebte Tätigkeit als Dolmetscherin zutrifft. Eine Umschulung lässt demnach keine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit erwarten, womit der diesbezügliche Anspruch zu verneinen ist.

 

10.3.2  Was allfällige andere berufliche Massnahmen anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin in der bisherigen Tätigkeit ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen vermag, weshalb sie auf den Weg der Selbsteingliederung verwiesen werden kann, zumal sie gemäss den Angaben des Eingliederungsfachmannes keine Stellenvermittlung durch die IV wünscht (vgl. IV-Protokoll, S. 23 f.).

 

10.3.3 Im Übrigen erscheint aufgrund der Akten auch die subjektive Eingliederungsfähigkeit der Beschwerdeführerin kaum gegeben zu sein, weshalb der Anspruch auf berufliche Massnahmen aus diesem Grund ebenfalls zu verneinen ist. Wie hierzu im B.___-Gutachten festgehalten wurde, könnten berufliche Massnahmen aufgrund der subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung der Beschwerdeführerin nicht empfohlen werden, da sie kaum erfolgsversprechend umgesetzt werden könnten. Dies geht auch aus dem Zwischenbericht der IV vom 27. August 2020 (IV-Nr. 47) hervor, worin festgehalten wurde, die Beschwerdeführerin erhoffe sich durch die IV einerseits finanzielle Unterstützung und Sicherheit sowie andererseits Job-Ideen. Die Motivation für eine weitere Ausbildung, Umschulung sei begrenzt; sie sei schon lange in die Schule gegangen. Dem Vorschlag zu einer Abklärung bei D.___ habe sie nach längerer Diskussion und Argumentation zugestimmt. Sodann wurde im Bericht der berufsorientierten Integration in der D.___ vom 15. Oktober 2020 (IV-Nr. 51) festgehalten, die Beschwerdeführerin sei mässig motiviert gestartet, sie habe sich aber schliesslich doch auf die Abklärung einlassen können. Für ihr Leben wünsche sie sich jedoch Stabilität. Sie beziehe sich dabei vor allem auch auf eine finanzielle Sicherheit, welche sie aktuell nicht habe und die ihr sehr stark zusetze. Sie möchte, dass sie in der Abklärung weitergebracht werde. Sie nehme dabei eine eher passive Rolle ein und warte auf die Lösung. Dies hänge sicherlich mit der Ohnmacht bezüglich der Schmerzregulation zusammen. Aufgrund der massiven Schmerzthematik und der aktuellen Belastbarkeit von maximal zwei Stunden pro Tag mit Pausen dazwischen, könne in der Berufsberatung keine einkommenssichernde Berufsrichtung erarbeitet werden. Hinzu komme, dass keine grosse Offenheit gegenüber Hilfsmitten ersichtlich sei. Dies hänge wohl damit zusammen, dass sie schon sehr lange unter den Schmerzen leide und in ihren Augen die bestmöglichen Varianten zur Alltagsbewältigung bereits gefunden habe. Vor diesem Hintergrund kann – jedenfalls bezogen auf den hier zu beurteilenden Zeitraum bis zum Erlass der Verfügung vom 29. November 2021 – nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin sich in der Lage fühlt und bereit ist, die gutachterlich ermittelte Arbeitsfähigkeit im Rahmen beruflicher Massnahmen voll auszuschöpfen.

 

10.4   Zusammenfassend ist demnach der Anspruch der Beschwerdeführerin auf berufliche Massnahmen zu verneinen. Somit ist die Beschwerde abzuweisen.

 

11.     Bei diesem Verfahrensausgang besteht kein Anspruch auf eine Parteientschädigung.

 

11.1   Die Beschwerdeführerin steht ab Prozessbeginn im Genusse der unentgeltlichen Rechtspflege (vgl. E. I. 6 hiervor).

 

Die Kostenforderung ist bei Unterliegen der Partei mit unentgeltlichem Rechtsbeistand vom Gericht festzusetzen. Der Kanton entschädigt die unentgeltliche Rechtsbeiständin den unentgeltlichen Rechtsbeistand angemessen (Art. 122 Abs. 1 lit. a ZPO). Die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin hat am 14. Februar 2022 eine Kostennote eingereicht, worin sie einen Kostenersatz von insgesamt CHF 2'348.50 geltend macht. Der geltend gemachte Aufwand von 9.15 Stunden erscheint als angemessen, wobei gemäss § 160 Abs. 3 Gebührentarif (GT) der Stundenansatz von CHF 180.00 anwendbar ist. In Anbetracht von Aufwand und Schwierigkeit des Prozesses ist die Kostenforderung demnach auf CHF 1'855.75 festzusetzen (9.15 Stunden zu CHF 180.00, zuzügl. Auslagen von CHF 76.10 und MwSt), zahlbar durch die Zentrale Gerichtskasse des Kantons Solothurn. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren sowie der Nachzahlungsanspruch der Rechtsvertreterin von CHF 492.75 (CHF 2'348.50 – CHF 1'855.75), wenn A.___ zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

 

11.2   Aufgrund von Art. 69 Abs. 1bis IVG ist das Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten um die Bewilligung die Verweigerung von IV-Leistungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von CHF 200.00 – 1´000.00 festgelegt. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin an die gesamten Verfahrenskosten einen Betrag von CHF 600.00 zu bezahlen, die jedoch infolge Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege durch den Kanton Solothurn zu übernehmen sind (Art. 122 Abs. 1 lit. b ZPO). Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren, wenn A.___ zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

 

Demnach wird erkannt:

1.    Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.    Die Kostenforderung der unentgeltlichen Rechtsbeiständin, Jeannette Frech wird auf CHF 1'855.75 (inkl. Auslagen und MwSt) festgesetzt, zahlbar durch die Zentrale Gerichtskasse des Kantons Solothurn. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren sowie der Nachzahlungsanspruch der Rechtsvertreterin von CHF 492.75, wenn A.___ zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

3.    Die Beschwerdeführerin hat die Verfahrenskosten von CHF 600.00 zu bezahlen, die infolge Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege durch den Staat Solothurn zu übernehmen sind. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren, wenn A.___ zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

 

Rechtsmittel

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Mitteilung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar (vgl. Art. 39 ff., 82 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Bei Vor- und Zwischenentscheiden (dazu gehört auch die Rückweisung zu weiteren Abklärungen) sind die zusätzlichen Voraussetzungen nach Art. 92 93 BGG zu beachten.

 

 

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn

Der Präsident                           Der Gerichtsschreiber

Flückiger                                   Isch



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.