Zusammenfassung des Urteils VSBES.2020.15: Verwaltungsgericht
Das Versicherungsgericht hat entschieden, dass die Beschwerdegegnerin die laufende Invalidenrente des Beschwerdeführers zu Recht aufgehoben hat. Der Beschwerdeführer hatte einen Autounfall im April 2003 erlitten und verschiedene Verletzungen davongetragen. Nach langwierigen medizinischen Untersuchungen und Gutachten wurde ihm zunächst eine Invalidenrente zugesprochen, die später jedoch wieder aufgehoben wurde. Der Beschwerdeführer erhob Beschwerde gegen diese Entscheidung, die jedoch abgewiesen wurde. Das Gericht stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin die Rentenleistungen zu Recht eingestellt hatte, da der Beschwerdeführer laut früherem Urteil zu 100% arbeitsfähig war.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | VSBES.2020.15 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Versicherungsgericht |
Datum: | 20.01.2021 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Schlagwörter: | Unfall; Recht; Status; Verfügung; Fraktur; Niere; Schmerzen; Vergleich; Leistung; Becken; Wiedererwägung; Bereich; Einsprache; Rente; Untersuchung; Beckenring; Einspracheentscheid; Gutachten; Polytrauma; Osteosynthese; Metacarpale; Dysfunktion; Urteil |
Rechtsnorm: | Art. 1 UVG ;Art. 17 ATSG ;Art. 18 UVG ;Art. 44 ATSG ;Art. 50 ATSG ;Art. 53 ATSG ; |
Referenz BGE: | 129 V 177; 132 V 393; 133 V 593; 134 I 140; 138 V 147; 140 V 108; 140 V 77; 141 V 9; 143 V 418; 144 I 203; 144 V 245; |
Kommentar: | - |
Geschäftsnummer: | VSBES.2020.15 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Entscheiddatum: | 20.01.2021 |
FindInfo-Nummer: | O_VS.2021.18 |
Titel: | Unfallversicherung |
Resümee: |
Urteil vom 20. Januar 2021 Es wirken mit: Oberrichter Kiefer Oberrichter Marti Gerichtsschreiber Isch In Sachen A.___ vertreten durch Rechtsanwältin Michèle Wehrli Roth Beschwerdeführer
gegen B.___ vertreten durch Rechtsanwalt Damien-Raphaël Bossy Beschwerdegegnerin
betreffend Unfallversicherung (Einspracheentscheid vom 29. November 2019)
zieht das Versicherungsgericht in Erwägung: I.
1. 1.1 Der 1984 geborene A.___ (nachfolgend: Beschwerdeführer) lebt seit 2002 in der Schweiz und war ab 1. Oktober 2002 beim Hotel [...] als «Küchenbursche» angestellt. Am 19. Mai 2003 meldete die Arbeitgeberin ihrer obligatorischen Unfallversicherung, der Hotela, der Beschwerdeführer habe am 19. April 2003 einen Autounfall erlitten (KA [Korrespondenzakten der B.___] 1). Die Hotela erbrachte Leistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeldern. Schliesslich holte sie bei der Begutachtungsstelle C.___ ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten vom 11. September 2008 (MA 74; allgemeinmedizinisch-internistisch, rheumatologisch, neurologisch, neuropsychologisch, psychiatrisch) ein.
1.2 Am 25. September 2009 teilte die B.___ (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) dem Beschwerdeführer mit, sie sei aufgrund eines Zusammenarbeitsvertrags mit der Hotela (vgl. Art. 70 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung [UVG, SR 832.20]) für die langfristigen Leistungen zuständig (KA 7). Die Hotela stellte die durch sie erbrachten kurzfristigen Leistungen in der Folge ein (Verfügung vom 1. Februar 2010, KA 12). Die Beschwerdegegnerin veranlasste eine ergänzende neuropsychologische Untersuchung durch Prof. Dr. phil. D.___, [...] vom 15. März 2010 (Medizinische Akten der Beschwerdegegnerin [MA] 91), und eine Nachbefundung von bildgebenden Aufnahmen (Schädel-CT vom 19. und 23. April 2003) durch PD Dr. med. E.___, Leitender Arzt Neuroradiologie, Spital F.___, vom 29. Dezember 2010 (MA 105). Weiter holte sie eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. med. G.___, Spezialarzt FMH für Chirurgie, vom 22. März und 14. April 2011 ein (MA 107 und 109).
1.3 In der Folge nahm die Beschwerdegegnerin zunächst die Einholung eines weiteren polydisziplinären Gutachtens in Aussicht (vgl. Schreiben vom 8. März 2012 an die neue Vertreterin des Beschwerdeführers, KA 35). In der Folge schlug sie dem Beschwerdeführer jedoch vor, einen Vergleich abzuschliessen, wonach ihm für die Folgen des Unfalls vom 19. April 2003 eine Integritätsentschädigung von 50 % und eine Invalidenrente von 50 % zugesprochen werde (Schreiben vom 8. Mai 2012, KA 36). Nachdem der Beschwerdeführer diesen Vorschlag akzeptiert hatte (Schreiben vom 27. Juni 2012, KA 41), erliess die Beschwerdegegnerin am 23. Juli 2012 eine Verfügung, mit der sie dem Beschwerdeführer eine Integritätsentschädigung von 50 % sowie eine Invalidenrente von 50 % ab 1. Februar 2010 zusprach (KA 42).
2. 2.1 Der Beschwerdeführer hatte sich auch bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn führte Eingliederungsversuche durch, verneinte aber in der Folge mit Verfügung vom 10. September 2013 einen Anspruch auf eine Invalidenrente der Invalidenversicherung. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn (nachfolgend: Versicherungsgericht) mit Urteil vom 31. März 2015 (VSBES.2013.290; Beilage 7 zur Beschwerdeantwort) ab.
2.2 Anfang Juni 2016 meldete sich der Beschwerdeführer erneut zum Bezug von Leistungen bei der IV-Stelle Solothurn an. Diese holte ein polydisziplinäres Gutachten der Begutachtungsstelle H.___ vom 17. Mai 2017 ein (MA 124). Auf dieser Grundlage sprach sie dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 21. November 2017 rückwirkend ab 1. Dezember 2016 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu (Beschwerdebeilage 4). Diese Verfügung ist rechtkräftig.
3. Mit Verfügung vom 18. Mai 2017 (KA 47) hob die Beschwerdegegnerin ihre Verfügung vom 23. Juli 2012 wiedererwägungsweise auf und stellte die gestützt darauf erbrachten Rentenleistungen auf den 31. Mai 2017 ein. Zur Begründung wurde erklärt, die Verfügung vom 23. Juli 2012 sei zweifellos unrichtig, da der Beschwerdeführer laut dem Urteil des Versicherungsgerichts vom 31. März 2015 in einer Verweistätigkeit zu 100 % arbeitsfähig sei. Nachdem der Beschwerdeführer Einsprache erhoben und das durch die IV-Stelle eingeholte Gutachten der H.___ vom 17. Mai 2018 eingereicht hatte (KA 48), beauftragte die Beschwerdegegnerin ihrerseits Dr. med. I.___, Leitender Arzt, Psychiatrisches Zentrum Appenzell Ausserrhoden, mit der Ausarbeitung eine psychiatrischen Gutachtens. Dieses wurde am 7. November 2018 erstattet (MA 134). In der Folge wies die Beschwerdegegnerin die Einsprache ab (Einspracheentscheid vom 29. November 2019; KA 78; A.S. [Akten-Seite] 1 ff.).
4. Dagegen lässt der Beschwerdeführer am 20. Januar 2020 Beschwerde erheben und folgende Rechtsbegehren stellen (A.S. 16 ff.):
1. Der Einspracheentscheid vom 29. November 2019 sei aufzuheben. 2. Dem Beschwerdeführer sei weiterhin eine 50-prozentige Invalidenrente auszurichten. 3. Dem Beschwerdeführer sei die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen und die unterzeichnete Rechtsanwältin sei zu seiner unentgeltlichen Rechtsvertreterin zu bestellen. 4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin.
5. Mit Beschwerdeantwort vom 6. März 2020 (A.S. 60 ff.) schliesst die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde.
6. Mit Verfügung vom 11. März 2020 (A.S. 84 f.) wird dem Beschwerdeführer ab Prozessbeginn die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt und Rechtsanwältin Michèle Wehrli Roth, [...], als unentgeltliche Rechtsbeiständin bestellt.
7. Mit Replik vom 11. Mai 2020 (A.S. 92 ff.) und Duplik vom 2. Juni 2020 (A.S. 108 ff.) bekräftigen beide Parteien ihren jeweiligen Standpunkt.
8. Auf die Ausführungen der Parteien in ihren Rechtsschriften wird nachfolgend, soweit notwendig, eingegangen. Im Übrigen wird auf die Akten verwiesen.
II.
1. 1.1 Die Sachurteilsvoraussetzungen (Einhaltung von Frist und Form, örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
1.2 Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin die laufende 50%ige Invalidenrente des Beschwerdeführers zu Recht per Ende Mai 2017 aufgehoben hat. Sie stützt sich dabei auf die Argumentation, die rentenzusprechende Verfügung vom 23. Juli 2012 sei zweifellos unrichtig und deshalb im Rahmen einer Wiedererwägung aufzuheben.
2. 2.1 Ist der Versicherte infolge des Unfalles zu mindestens 10 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente, sofern sich der Unfall vor Erreichen des ordentlichen Rentenalters ereignet hat (Art. 18 Abs. 1 UVG). Die Invalidenrente beträgt bei Vollinvalidität 80 Prozent des versicherten Verdienstes; bei Teilinvalidität wird sie entsprechend gekürzt (Art. 20 Abs. 1 IVG). Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG, SR 831.1], in der obligatorischen Unfallversicherung anwendbar gemäss Art. 1 Abs. 1 UVG).
2.2 Streitigkeiten über sozialversicherungsrechtliche Leistungen können durch Vergleich erledigt werden (Art. 50 Abs. 1 ATSG). Der Versicherungsträger hat den Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung zu eröffnen (Art. 50 Abs. 2 ATSG).
2.3 Der Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Wiedererwägung; Art. 53 Abs. 2 ATSG). Rechtsprechungsgemäss kann ein Vergleich grundsätzlich ebenso in Wiedererwägung gezogen werden wie eine Verfügung. Es sind jedoch im Rahmen von Art. 53 Abs. 2 ATSG höhere Anforderungen zu stellen, um dem Vergleichscharakter Rechnung zu tragen (BGE 138 V 147 E. 2.3 S. 149).
3. 3.1 Die Leistungspflicht des Unfallversicherers gemäss UVG setzt voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche geistige Integrität des Versicherten beeinträchtigt hat, der Unfall mit anderen Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181).
3.2 Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts / ATSG, SR 830.1). Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum – auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden – Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger das Gericht bei umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148, 124 V 90 E. 4b S. 94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und / Richtigkeit der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteile des Bundesgerichts 8C_101/2010 vom 3. Mai 2010 E. 4.1, 8C_1021/2009 vom 3. November 2010 E. 4.2 und 8C_956/2011 vom 20. Juni 2012 E. 5.1).
4. Umstritten ist, ob die Beschwerdegegnerin mit dem angefochtenen Einspracheentscheid zu Recht die ursprüngliche Rentenverfügung vom 23. Juli 2012 wiedererwägungsweise aufgehoben hat.
4.1 Die Beschwerdegegnerin macht zunächst geltend, der Beschwerdeführer habe mit Schreiben vom 27. November 2017 (KA 54) sowohl die Vornahme einer Wiedererwägung als auch die Einholung des Gutachtens bei Dr. med. I.___ vorbehaltlos akzeptiert. Deshalb könne nicht mehr auf die Frage der Wiedererwägung zurückgekommen werden. Der Beschwerdeführer hat aber nie sein Einverständnis mit der Wiedererwägung erklärt, auch nicht implizit. In der Einsprache vom 21. Juni 2017 bestritt seine Vertreterin ausdrücklich das Vorliegen eines Wiedererwägungsgrunds (vgl. KA 48, S. 5). Auch im von der Beschwerdegegnerin erwähnten Schreiben vom 27. November 2017 verzichtete der Beschwerdeführer einzig auf Einwände gegen die Begutachtung («Zum Gutachten und zum Gutachter habe ich keine Bemerkungen anzubringen»). Daraus ergibt sich nicht, dass er einer Wiedererwägung der Verfügung vom 23. Juli 2012 zugestimmt hätte, zumal die Begutachtung auch anderen Zielen (etwa unter dem Aspekt einer Revision der laufenden Rente) hätte dienen können. Somit ist dieser Punkt – entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin – nicht in Rechtskraft erwachsen, weshalb die Rechtmässigkeit der Wiedererwägung nachfolgend zu prüfen ist.
4.2 Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung. Darunter fällt insbesondere eine Leistungszusprache aufgrund falscher Rechtsregeln bzw. ohne in unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen. Ob eine solche vorliegt, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage, wie sie bei Erlass der Verfügung bestand, einschliesslich der damaligen Rechtspraxis (BGE 144 I 203 E. 2.2 S. 105 f.). Massgebend ist die Aktenlage, wie sie sich im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 23. Juli 2012 darbot; eine Wiedererwägung aufgrund späterer Erkenntnisse ist unzulässig (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_347/2011 vom 11. August 2011 E. 4.1).
4.3 Aus dem vorstehend Gesagten ergibt sich ohne weiteres, dass die im Einspracheentscheid enthaltene Begründung, welche die Wiedererwägung auf das Urteil des Versicherungsgerichts vom 31. März 2015 und das dort berücksichtigte Gutachten des Psychiaters Dr. med. J.___ vom 8. Februar 2013 abstützt, von vornherein nicht stichhaltig sein kann. Wie erwähnt, ist für die Beurteilung der Wiedererwägung bzw. der zweifellosen Unrichtigkeit ausschliesslich die Aktenlage massgebend, die sich präsentierte, als die Verfügung vom 23. Juli 2012 erlassen wurde. Entscheidend und nachfolgend zu prüfen ist daher, ob der Vergleich und die ihn umsetzende Verfügung vom 23. Juli 2012 ausgehend von den damals vorhandenen Informationen als zweifellos unrichtig zu gelten hat.
4.4 Zum Hergang des Unfalls, der sich am 19. April 2003 um ca. 2 3 Uhr nachts ereignete, lässt sich den Akten entnehmen, dass der Beschwerdeführer als Mitfahrer in einem Personenwagen mit drei weiteren Insassen unterwegs war. Er sass auf dem Sitz hinter dem Fahrzeuglenker. Auf der Hauptstrasse von [...] Richtung [...] – die Geschwindigkeit betrug ca. 90 km/h – lenkte der Fahrer das Fahrzeug (angeblich wegen eines die Strasse überquerenden Tiers) nach links. Das Fahrzeug überfuhr eine Verkehrsinsel, gelangte auf die Gegenfahrbahn und prallte dort in eine Strassenlampe (Kandelaber). In der Folge drehte sich das Auto auf das Dach, geriet auf die Fahrbahn zurück und kam anschliessend auf dem Dach liegend mitten auf der Fahrbahn zum Stillstand. Der Beschwerdeführer lag beim Eintreffen der Polizei in einem angrenzenden Feld im Gras am Boden. Er konnte zum Unfallgeschehen keine Angaben machen. Später liess er vorbringen, er sei aus dem Auto geschleudert worden. Er wurde mit Becken-, Bein- und Armverletzungen durch die Ambulanz in das Spital F.___ gebracht (vgl. Polizeirapport, AA [Amtliche Akten der Beschwerdegegnerin] 1).
4.5 Im Zeitpunkt der Rentenzusprechung durch die Verfügung vom 23. Juli 2012 lagen der Beschwerdegegnerin insbesondere die folgenden medizinischen Unterlagen vor:
4.5.1 Im Bericht des Spitals F.___ vom 23. Juli 2003 (MA 9) wurden folgende Diagnosen gestellt: Polytrauma (ISS 27): 1. Beckenringfraktur (61-C1.2) mit/bei: - vertikal instabiler Längsfraktur des Os ileum links, Fraktur der Massa lateralis des Os sacrum links, ISG Sprengung links - oberer und unterer Schambeinastfraktur beidseits 2. Stumpfes Abdominaltrauma (AIS 3) mit/bei: - Milzkontusion - Leberkontusion - retroperitonealem linksbetontem Hämatom 3. Stumpfes Thorax-Trauma (AIS 3) mit/bei: - Lungenkontusionen beidseits 4. Vorderarmfraktur, rechts mit/bei: - diaphysärer distaler Radiusfraktur, Fraktur des Processus styloideus radii - subkapitaler distaler Ulnafraktur 5. Dislozierte intraartikulär verlaufende Metacarpale I-Basisfraktur (Rolando) rechts 6. Nicht dislozierte Metacarpale ll-Schaftfraktur rechts 7. Mediale Malleolarfraktur links 8. Urethraabriss 9. Leichtes Schädelhirntrauma mit initialer GCS von 15 10. Multiple ausgedehnte Schürfwunden im Gesicht, Thorax, Abdomen und Oberschenkel beidseits
Knapp drei Monate nach Polytrauma erscheine der Beschwerdeführer für eine klinische sowie radiologische Verlaufskontrolle der Beckenringfraktur, der Vorderarmfraktur rechts sowie der OSG-Fraktur links. Gleichzeitig werde die linke Hand geröntgt bei Zustand nach Schraubenosteosynthese einer Rolando-Fraktur rechts. Bis anhin sei er aufgrund der Beckenringverletzung mit den zusätzlichen peripheren Extremitätenverletzungen nur rollstuhlmobil gewesen. Knapp drei Monate nach schwerem Polytrauma mit u.a. Beckenringfraktur, Vorderarmfraktur rechts, Metacarpale 1- und Il-Frakturen rechts sowie einer isolierten medialen Malleolarfraktur links zeige sich klinisch und radiologisch ein zeitgerechter Heilungsverlauf. Die Frakturheilung an der rechten oberen Extremität sei abgeschlossen. Am linken oberen Sprunggelenk sei die Frakturheilung ebenfalls abgeschlossen. An sich wäre eine Mobilisation mit Vollbelastung der linken Extremität möglich. Limitierend sei jedoch weiterhin die Beckenringfraktur. Deshalb sollte die Mobilisation des lediglich mit einer Teilbelastung der linken unteren Extremität mit 30 kg für die nächsten 4 Wochen erfolgen. Im Anschluss könne die Belastung rasch gesteigert werden bis zur vollen Belastung.
4.5.2 Im Austrittsbericht der K.___ vom 30. September 2003 (MA 13) wurden folgende Diagnosen gestellt: 19. April 2003: Verkehrsunfall, von Hintersitz herausgeschleudert. Polytrauma mit 1. Beckenringfraktur Typ C mit kranialer Dislokation der linken Beckenhälfte vertikal instabil, dorsal linke Ileumfraktur und linke ISG-Sprengung, Impressionsfraktur der Ala des Sakrums. Ventral alle vier Schambeinäste frakturiert 2. Stumpfes Bauchtrauma mit intraparenchymatöser Milzruptur, Leberkontusion, retroperitonealem Hämatom 3. Thoraxtrauma mit Lungenkontusion beidseits, Pneumonie Im Verlauf 4. Extremitätenverletzungen mit Vorderarmfraktur rechts, Metacarpale Fraktur rechts I und II, Fraktur des medialen Malleolus links, multiple, ausgedehnte Schürfwunden im Gesicht, Thorax, Abdomen und Oberschenkel bds. 5. Urethraruptur. 6. SHT (initialer GCS 15) mit traumatischer SAB im Tentoriumbereich
Sodann wurde ausgeführt, die aktuellen Probleme seien Restbeschwerden am linken OSG und Beckenbereich bei Zustand nach Frakturen, aktuell mit Gehstock mobil, auf Zimmerebene stockfrei. Weitere Probleme seien ein Nephrostoma Iinks bei Nierenstein und Zustand nach erfolgloser ESWL, ein suprapubischer Katheter bei Zustand nach Uretherruptur, rez. Harnwegsinfekt, sowie eine leichte bis mittelschwere neuropsychologische Funktionsstörung. Gemäss klinischer und radiologischer Verlaufskontrolle (Spital F.___) seien die Frakturen komplikationslos abgeheilt und die Belastbarkeit habe entsprechend gesteigert werden können. Bei Austritt sei der Beschwerdeführer voll mobilisiert gewesen, zeitweise Benutzen eines Unterarmgehstocks bei Schmerzen und schmerzbedingt eingeschränkter Fussabrollung links. Bei Zustand nach Schrauben- und Kirschnerdraht-Osteosynthese der dislozierten, intraartikulär verlaufenden Metacarpale-I-Basisfraktur (Typ Rolando) habe sich bereits eine posttraumatische Arthrose manifestiert. Gemäss der beurteilenden Handchirurgin (PD Dr. med. F.___, Spital L.___) werde zunächst eine Weiterführung der Rehabilitation empfohlen. Eventuell wäre später bei symptomatischer Arthrose allenfalls eine Trapezienresektion im Rahmen einer Epping-Plastik notwendig. Im Rahmen der Handtherapie habe der Beschwerdeführer erfreulich auftrainiert werden können. Es sei zu einem langsamen Kraftzuwachs und im Alltag zu einem normalen Einsatz der rechten Hand (Rechtshänder) gekommen. Dennoch hätten v.a. bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen im Sattelgelenk rechts persistiert. Aus neuropsychologischer Sicht habe sich eine erfreuliche Verbesserung der Funktionsstörung feststellen lassen. Bei der Verlaufskontrolle vom 16. September 2003 habe noch eine leichte bis mittelschwere neuropsychologische Funktionsstörung bei nun gesteigerter Dauerbelastbarkeit und verbesserter Frischgedächtnisleistung mit Schwerpunkt im Bereich der Antriebsminderung sowie Störungen der Aufmerksamkeit, der Umstellfähigkeit und theoretischen Handlungsplanung sowie bei den mnestischen Funktionen evaluiert werden können. Zusammenfassend hielten die Ärzte der K.___ fest, sie bestätigten die Arbeitsunfähigkeit von 100 %. Herr A.___ befinde sich noch in der medizinischen Phase. Einerseits bestünden unfallkausal schmerzbedingt Bewegungsstörungen am linken Sprunggelenk sowie beim Abrollen des Fusses, nach längerer Belastung auch im Beckenbereich sowie das Benutzen einer Unterarmgehstütze auf längeren Wegstrecken. Andererseits bestehe eine Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit (endgradig) sowie eine bereits ausgebildete posttraumatische Arthrose im Sattelgelenk rechts. Zudem bestehe eine leichte bis mittelschwere neuropsychologische Funktionsstörung.
4.5.3 Der Austrittsbericht des Spitals F.___, Urologische Klinik, vom 27. Juli 2004 (MA 26) nennt die folgenden Diagnosen:
Präsphinktäre, ca. 2 - 3 cm lange Urethrastriktur (Pars bulbosa und Pars membranacea) mit/bei: - St. n. Polytrauma bei Verkehrsunfall mit schwerer Beckenringfraktur Typ C und St. n. Osteosynthese 5. Mai 2003 mit/bei in diesem Zusammenhang stumpfes Bauchtrauma mit Milzruptur, Leberkontusion und retroperitoneales Hämatom, stumpfes Thorax-Trauma mit Lungenkontusion beidseits und Pneumonie im Verlauf, metakarpale Fraktur rechts 1 und II, St. n. Fraktur des medianen Malleolus links - St. n. Zystofix-Einlage und St. n. Alignement mittels transurethralem Katheter am 28. April 2003 - Persistierende sekundäre erektile Dysfunktion
Proximales Ureterkonkrement (7x10mm) links mit/bei: - I.v.-urographisch Hydronephrose, sonographisch erhaltener Parenchymsaum - St. n. Urosepsis und perkutane Nephrostomie links 06/03 - St. n. 3maliger ESWL-Behandlung dieses Konkrementes
Es seien folgende Therapien durchgeführt worden: Eine innere Urethrotomie analog Sachse und Blasenkatheter-Einlage am 5. Juli 2004, eine ultraschall-gesteuerte Nephrostomie-Einlage links am 6. Juli 2004, eine anterograde Ureterschienung links am 8. Juli 2004 sowie eine retrograde DJ-Einlage links am 9. Juli 2004.
4.5.4 In dem von der Unfallversicherung veranlassten urologischen Gutachten des Spitals M.___, Urologische Universitätsklinik, vom 10. Mai 2005 (MA 41) wurden folgenden Diagnosen gestellt:
Status nach Polytrauma bei Verkehrsunfall mit Beckenringfraktur Typ C, stumpfem Bauch-trauma mit Milz-Kontusion, Leberkontusion, retroperitonealem Hämatom, stumpfem Thoraxtrauma mit Lungenkontusionen bds. und Pneumonienverlauf, Metakarpale-Fraktur rechts I und II, Fraktur des medialen Malleolus links. Traumatischer Urethraabriss mit: - Suprapubischer Ableitung mittels Zystofix ab dem 19. April 2003 - Status nach Realignement der Harnröhre mit DK-Einlage am 28. April 2003 - Status nach Urethrotomia interna bei präsphinkterieller 2-3cm langer Urethrastriktur der Pars bulbosa und membranacea am 5. Juli 2004 - Stressinkontinenz Grad I-II - Verdacht auf partiell denervierte Harnblase - Sekundärer erektiler Dysfunktion mit: · zur Zeit erfolgreich behandelt mit Levitra 10mg · Status nach Therapie mit SKAT PGE 1 - Fragliches Restkonkrement in der linken Niere mit: · Status nach PNS-Einlage bei obstruktiver Pyelonephritis bei Pyelonstein 06/2003 · Status nach antegrader sowie retrograder DJ-Einlage am 8. bzw. 9. Juli 2004 und Nephrostomie · Status nach 4-maliger ESWL-Behandlung in Aarau · Status nach einmaliger ESWL-Behandlung in Bern · szintigraphischer Nierenfunktion links von 26 %
Wie in der Diagnoseliste aufgelistet, bestünden beim Beschwerdeführer gleichzeitig mehrere urologische Probleme. Ausser der Steinproblematik mit den entsprechenden aufgelisteten Folgen (Pyelonephritis, PNS-Einlage links, partieller Verlust der Nierenfunktion links und ESWL-Behandlungen) seien sämtliche weiteren urologischen Gesundheitsstörungen (Harnröhrenstenose, Inkontinenz I-II, Verdacht auf partiell denervierte Blase, erektile Dysfunktion) mit Sicherheit die kausale Folge der Einwirkung aus dem behaupteten Unfallgeschehen vom 19. April 2003. Die Entwicklung des Steinleidens mit den entsprechenden Komplikationen habe mit dem Unfall und seinen Folgen kaum eine Verbindung. Der linksseitige Nierenstein habe wahrscheinlich schon seit längerer Zeit vor dem Unfall vorhanden gewesen sein müssen. In den CT-Untersuchungen vom 19. April 2003 (Unfalltag) und 24. April 2003 sei ein knapp zentimetergrosses Konkrement am pyeloureteralen Übergang links bereits sichtbar gewesen.
4.5.5 Der Bericht des Spitals F.___, Nephrologie, vom 13. Juni 2008 (MA 70) enthält die folgenden Diagnosen:
1. Kongenitale Megakalikosis Iinks mit - rezidivierender Nephrolithiasis links mit persistierendem Konkrement im Bereich der unteren Kelchgruppe sowie am pyelo-uroteralen Übergang DD: Parenchymverkalkung - Nachweis von Calcium-Oxalat-Monohydrat und Calcium-Oxalat-Dihydrat Steinen - St.n. Urosepsis bei Pyelonephritis links 06/03 - St.n. 6-maliger ESWL links seit 06/03 (letztmalig 06/06) - Nierenszintigraphie vom 29. August 2007: Funktionseinschränkung der linken Niere, links/rechts-Verhältnis 22.9 %: 77,1 %. 2. St.n. Polytrauma 05/06 mit - Beckenringfraktur mit Harnröhrenabriss - stumpfem Bauchtrauma mit Leberkontusion - stumpfem Thoraxtrauma mit Lungenkontusion beidseits 3. Stressinkontinenz Grad I-II 4. Enuresis nocturna 5. Erektile Dysfunktion 6. Chronische Schmerzsymptomatik mit linksseitigen Flankenschmerzen sowie lumbalen Schmerzen unklarer Aetiologie DD: muskulo-skelettal 7. chronischer Nikotinabusus
Beim Beschwerdeführer finde sich aktuell eine normale Nierenfunktion mit fehlender Proteinurie und unauffälligem Sediment. Sonographisch zeige sich eine deutlich veränderte Niere linksseitig. Die morphologischen Veränderungen seien sicher schon lange vorbestehend und fänden sich auch schon im CT-Abdomen vom 19. April 2003, dem Unfalltag mit Polytrauma. Dabei zeige sich eine im Seitenvergleich kleinere linke Niere mit einem erweiterten Nierenbecken-Kelchsystem mit einem Konkrement im Bereich des pyeloureteralen Übergangs sowie einem Nephrolith im Oberpolbereich und Parenchymverkalkung der Pars intermedia. Somit müsse von einer länger vorbestehenden Nephropathie resp. asymptomatischen Nephrolithiasis ausgegangen werden: In den mehrmalig durchgeführten Computertomographien sowie im MR-Tomogramm vom Juli 2007 zeige sich jeweils ein linksseitiges Nierenbecken mit deutlich erweiterten Kelchen. Morphologisch passe dieses Bild am ehesten zu einer Megakalikosis der linken Niere. Bei der Megakalikosis handle es sich um eine kongenitale idiopathische Nierenerkrankung, wobei es durch eine fehlende Entwicklung der medullären Pyramiden zu erweiterten Nierenkelchen komme. Die Nierenfunktion sowie die Nierengrösse seien primär unauffällig. Patienten mit Megakalikosis neigten jedoch zu gehäuften Nierensteinen. Wahrscheinlich einerseits durch eine gewisse Urinstase, andererseits durch einen tubulären Konzentrierungs-Defekt. Durch die Nephrolithiasis könne es im Verlauf zu einer Niereninsuffizienz sowie Schrumpfung der Niere kommen. Wie bei sonstigen Patienten mit Nephrolithiasis werde bei diesen Patienten eine 24-h-Diurese von mindestens 2 1/2 Litern empfohlen. Aktuell stünden beim Beschwerdeführer die chronischen Flankenschmerzen linksseitig sowie tief lumbal im Vordergrund. Ob diese Beschwerden mit der Nephropathie resp. Nephrolithiasis im Zusammenhang stünden, sei fraglich. Es wäre auch denkbar, dass diese rein muskulo-skelettaler Natur nach Polytrauma seien, da sie chronisch bestünden und nicht typisch im Sinne von kolikartigen Beschwerden aufträten.
4.5.6 In dem der Unfallversicherung am 11. September 2008 erstatteten Gutachten des N.___, (MA 74), wurden folgende Diagnosen ausgewiesen:
- Status nach Polytrauma am 19. April 2003 mit - Subarachnoidalblutung im Tentoriumbereich mit - persistierendem organischem Psychosyndrom - Beckenringfraktur mit - vertikaler instabiler Längsfraktur Os ilium links - Fraktur Massa lateralis Os sacrum links - ISG Sprengung links - obere und untere Schambein-Astfraktur beidseits - Status nach Osteosynthese des Beckenrings Mai 2003 - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen lumbo-gluetal links - Vorderarmfraktur rechts mit diaphysärer distaler Radiusfraktur - Fraktur des Processus styloideus radii rechts - Subcapitaler distaler Ulnarfraktur - Status nach Osteosynthese radius rechts und distale subcapitale Ulnarfraktur rechts April 2003 - persistierende, bewegungsabhängige Schmerzen rechter proximaler Vorderarm - Dislozierter intaartikulärer Metacarpale I Basisfraktur rechts und Metacarpale II Schaftfraktur mit - Osteosynthese und konservativer Behandlung - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen Daumengrundgelenk rechts - Medialer Malleolarfraktur mit - Status nach Osteosynthese und Status nach Metallentfernung - Status nach Arthrodese IP-Gelenk Grosszehe links, Sehnentransfer Flexor hallucis und Tendodese Extensor hallucis longus Juni 2005 bei / mit - Krallenzehen I und II links mit - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen Fuss medial und Grosszehe - Leichtgradiger sensibler Läsion des Nervus peroneus superficialis links - Distaler Claviculafraktur mit - leichter Fehlstellung ad axim mit Knochenvorsprung cranial - persistierenden, bewegungsabhängigen Schmerzen rechte distale Clavicula - Stumpfem Abdominaltrauma mit Milzkontusion, Leberkontusion und retroperitonealem linksbetontem Hematom - Stumpfem Thoraxtrauma mit Lungenkontusion beidseits - Traumatischem Urethraabriss mit - suprabubischer Ableitung mittels Zytofix - Status nach Relignement der Harnröhre mit DEKA-Einlage - Status nach Urethrotomia interna bei Urethrastriktur - Stressinkontinenz I bis II und nächtlicher Inkontinenz - Verdacht partiell denervierte Harnblase - sekundär erektile Dysfunktion - Chronische Kopfschmerzen - initial wahrscheinlich traumatisch bedingt - sekundär Analgetika- und ev. Cialis-induziert
- Leichtes thoracal betontes Panvertebralsyndrom bei - Wirbelsäulenfehlform mit Rundrücken bei Morbus Scheuermann - Übergewicht - Nikotinabusus - Nierensteinleiden links mit fraglichem Restkonkrement in der linken Niere mit - Status nach PNS-Einlage bei obstruktiver Pyelonephritis bei Pyelonstein Juni 2003 - Status nach anterograder sowie retrograder DY-Einlage Juli 2004 und Nephrostomie - Status nach fünfmaliger ESWL-Behandlung - szintigraphische Nierenfunktion links 26 %
Im rheumatologischen Teilgutachten wurde ausgeführt, die vom Versicherten angegebenen, vor allem belastungsabhängigen, zum Teil auch bewegungsabhängigen Schmerzen im Bereich der rechten distalen Clavicula, des rechten Unterarmes, des rechten Daumensattelgelenkes, des linken Sprunggelenkes, des medialen Fusses und der Grosszehe sowie der linken Lumbogluetalregion seien als Folge der multiplen Frakturen und entsprechenden Osteosynthesen erklärbar. Eine relevante Beweglichkeitseinschränkung sei zum aktuellen Zeitpunkt der Untersuchung in keinem der frakturierten peripheren Gelenke und auch nicht im Bereich der rechten Schulter objektivierbar gewesen. Dort bestehe allerdings, bei schmerzhaftem Apprehension-Test, der Verdacht auf eine leichte Schulterinstabilität neben den Schmerzen im Bereich des leicht fehlgestellten kaudalen Claviculaendes mit einem radiologisch sichtbaren cranialen Knochensporn. Eine Rotatorenmanschettenläsion habe auch mittels Arthro-MRI ausgeschlossen werden können. Am linken Fuss habe eine Zusatzoperation im 2005 durchgeführt werden müssen wegen unfallbedingter störender Krallenzehen mit entsprechender Mühe beim Gehen und Abrollen. Das Resultat an der Grosszehe links sei gut. Mittels spezieller Schuhversorgung und Einlagen habe das Gehen verbessert werden können. Bezüglich des rechten Handgelenkes sei der weitere Verlauf und die Entwicklung bezüglich möglicher posttraumatischer Arthrosen abzuwarten. Eine verminderte Belastbarkeit der rechten Hand und des rechten Daumens sei bei diesem Rechtshänder zu erwarten. Der Beckenring sei nach instabiler Fraktur torquiert. Die Frakturen seien abgeheilt und das Osteosynthesematerial in situ. Schliesslich finde sich ein thoracalbetontes Panvertebralsyndrom, zeitlich manifest nach dem Unfall. Die klinischen Hauptbefunde seien im Bereich der mittleren und unteren Brustwirbelsäule zu finden, wo in einem Computertomogramm im 2003 Scheuermannresiduen nachgewiesen worden seien mit entsprechender Fehlhaltung mit Hyperkyphose und Schulterprotraktion. Es handle sich nicht um eine Unfallfolge. Aus rheumatologischer Sicht bestehe in der zuletzt ausgeführten Tätigkeit als Hilfskoch, wo der Versicherte vorwiegend stehend Geschirr habe abwaschen müssen, eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit. Leichte Tätigkeiten ohne Gehstrecken grösser 500 Meter, ohne repetitives Treppensteigen, ohne repetitives Bücken Heben von Lasten grösser 10 kg sowie ohne Belastungen des rechten Daumens und des Handgelenks seien mit leichten Einschränkungen möglich. Zu berücksichtigen sei aber eine Leistungsverminderung bei langer Rehabilitationszeit nach Polytrauma mit entsprechender Dekonditionierung.
Im neurologischen Teilgutachten wurde ausgeführt, aufgrund der Unfallcharakteristika sei die Diagnose einer leichten traumatischen Hirnschädigung stellbar, wobei der initiale GCS von 15 eine eher gute Prognose mit Rückbildung der neuropsychologischen Defizite erwarten liesse, andererseits die im CT nachweisbare traumatische Subarachnoidalblutung auch eine substantielle Hirnverletzung möglich mache. Der Beschwerdeführer mache auch konstant vorhandene, druckartig im Stirnbereich lokalisierte Kopfschmerzen geltend, weswegen er täglich dreimal 1000 mg Dafalgan einnehme. Aufgrund dieser Medikamenteneinnahme liege, gemäss der IHS-Klassifikation (IHS = International Headache Society), zum aktuellen Zeitpunkt definitionsgemäss ein Analgetika-induziertes Kopfweh vor. Der Versicherte nehme wegen seiner erektilen Dysfunktion aber auch Cialis ein, welches eine lang anhaltende Wirkung habe und als Nebenwirkung Kopfschmerzen machen könne. Bei der neurologischen Untersuchung gebe der Explorand eine Sensibilitätsverminderung an der Aussenseite des linken Unterschenkels sowie am Fussrist an unter Aussparung des lnterdigitalraums I/II. Die Lokalisation entspreche dem autonomen Innervationsgebiet des N. peronaeus superficialis, wobei Anhaltspunkte für eine motorische Mitbeteiligung fehlten. Die leichte Schwäche für die Hebung der Zehen I und II dürfte auf die lokale orthopädische Problematik inklusive stattgehabte Operationen zurückzuführen sein. Für den vom Exploranden beklagten intermittierenden Schwindel finde sich im Intervall bei der klinischen Untersuchung kein sicheres Korrelat. Bei erschwerten Stand- und Gangversuchen finde sich zwar eine gewisse Unsicherheit, diese sei aber – bei normaler Okulomotorik – mit der orthopädischen Problematik im Bereich der unteren Extremitäten erklärbar. Aufgrund der Aktenlage seien die autonomen Funktionsstörungen nicht primär neurogener Natur: Die neurophysiologischen Untersuchungen im Paraplegikerzentrum der Universitätsklinik O.___ am 13. Juli und 19. August 2005 hätten keine Anhaltspunkte für eine peripher-neurogene Ursache ergeben.
Im urologischen Teilgutachten wurde ausgeführt, weiterhin bestehe tagsüber eine Stressinkontinenz im Grad 1, indem schon beim Husten und natürlich auch bei anderweitigen Belastungen, die mit abdominaler Druckerhöhung einhergingen, einige Tropfen Urin verloren gingen, keine grossen Mengen. Ansonsten bestünden tagsüber eine Tendenz zur Pollakisurie und Urgeinkontinenz und ein mässiggradig abgeschwächter Harnstrahl. Nachts hingegen, dass heisse im Schlaf, verspüre der Versicherte kein Signal der vollen Blase, er sei grundsätzlich dann vollständig inkontinent und wache erst auf, wenn er bereits nass geworden sei. Um dem entgegen zu wirken, entleere er nachts die Blase nach der Uhr, das heisse, es werde zum Voraus dafür gesorgt, dass sie nicht zu voll werde, worüber auch seine Ehefrau wache. Ausdrücklich werde betont, dass diese Situation vor dem Unfall nicht bestanden habe. Im weiteren müsse angemerkt werden, dass der Versicherte in laufender urologischer Behandlung stehe, derzeit in erster Linie durch die urologische Klinik des Spitals F.___. Zusätzlich sei er im Verlaufe des letzten Jahres auch durch Prof. Dr. med. P.___, eine schweizweit anerkannte Spezialistin für neurogen bedingte Blasenstörungen, untersucht worden. Ausserdem werde der Versicherte aktuell auch wegen seiner rezidivierenden Urolithiasis beurteilt und behandelt, die allerdings mit dem Unfallgeschehen eindeutig keinen Zusammenhang habe. Auch die vorhandene erektile Dysfunktion müsse klar als unfallbedingt angesehen werden, sie werde zurzeit mit Cialis behandelt, was einigermassen erfolgreich sei. Die Unfallfolgen seien erheblich und steckten noch in laufender Evaluation, die von der Diagnostik her apparativ ziemlich aufwendig sei. Es müsse aber damit gerechnet werden, dass auch nach weiteren Korrekturmassnahmen im urologischen Bereich ein erheblicher Schaden bleiben werde. Dieser habe auf eine direkte Arbeitsfähigkeit, sofern eine solche nicht mit körperlicher Belastung einhergehe, einen eher geringen Einfluss. Es müsse aber beachtet werden, dass diese Folgen, nämlich Inkontinenz und schwere erektile Dysfunktion, für einen jungen Mann eine erhebliche psychische Belastung darstellten.
Im psychiatrischen und neuropsychologischen Teilgutachten wurde festgehalten, anzumerken sei, dass der Versicherte bezüglich des Unfalles eine deutliche retrograde und anterograde Amnesie gehabt habe; das letzte, an was er sich erinnern könne, sei das Einsteigen in das Fahrzeug, seine bewussten Erinnerungen begännen dann erst wieder über zwei Wochen nach dem Unfall im Spital. Hier stelle sich allerdings auch noch die Frage, ob er eventuell in ein künstliches Koma versetzt worden sein könnte. Heute sei die zeitliche und örtliche Orientierung erhalten, die Auffassungsgabe ebenfalls, aber deutlich verlangsamt, die autopsychische Orientierung sei intakt. Objektiv sei der Affekt und das gesamte Denken des Versicherten auffällig, er berichte monoton, die Affektivität sei kaum moduliert, der Gedankengang deutlich verlangsamt und etwas umständlich, der Versicherte berichte immer ernsthaft, gelegentlich stottere er etwas, seine Mimik und Gestik seien minimal, insgesamt sei der Affekt als apathisch-gehemmt imponierend, wobei der Versicherte sich selbst aber nicht als depressiv einstufe. Zu verstehen sei diese hypothyme Affektivität im Rahmen der deutlichen Verlangsamung der formalen Denkprozesse im Sinne einer hirnorganischen Schädigung nach Schädelhirntrauma. Beim Versicherten fänden sich eindeutige Folgen eines durchgemachten Schädelhirntraumas mit einer Verlangsamung des formalen Gedankenganges und einer Umständlichkeit desselben sowie einer affektiven Störung im Sinne einer mangelnden affektiven Modulationsfähigkeit und lnadäquanz der Stimmung und des sozialen Kontaktes sowie kognitiven Einschränkungen in Bezug auf Konzentrationsfähigkeit, Merkfähigkeit und Frischgedächtnisleistungen. Dies Leistungseinbussen seien umso auffälliger, als dass es sich beim Versicherten um einen jungen Mann handle, der in seiner Heimat ein Gymnasium habe besuchen können. Die heutige neuropsychologische Untersuchung zeige einen im Bereich der Intelligenz lediglich auf leicht unterdurchschnittlichem Niveau leistungsfähigen Exploranden. Im Bereich der Aufmerksamkeit sei die Leistung bei der selektiven Aufmerksamkeit deutlich beeinträchtigt. Im Bereich der geteilten Aufmerksamkeit zeige sich eine leichte Tendenz, dass kognitive Impulse nicht genügend unterdrückt werden könnten. Zudem sei die Reaktionszeit verlangsamt. Im Bereich der Merkfähigkeit sei die Merkfähigkeit für figurales Material, Gegenstände, Wörter und Textelement deutlich beeinträchtigt. Im Bereich der Frontalhirnfunktionen finde sich eine Reduktion der Autoproduktion für Wörter und im Bereich der Autoproduktion für Figuren eine sehr deutliche Perseverationstendenz. Die Rechenfähigkeit sei in allen Grundoperationen im Hunderterraum erhalten. Die gute Fehlerquote spreche deutlich gegen eine mögliche Aggravierungstendenz beim Exploranden.
In der interdisziplinären Beurteilung wurde festgehalten, die Restbeschwerden des Unfalls beträfen drei somatische Ebenen: 1. Die Folgen des Urethraabrisses mit einer nächtlichen Inkontinenz, einer Stressinkontinenz l bis II und einer erektilen Dysfunktion. 2. Es finde sich ein organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma mit Subarachnoidalblutung im Tentoriumbereich. Diese Hirnschädigung sei klinisch eindeutig und werde in den neuropsychologischen Testuntersuchungen bestätigt. Der normale Befund im aktuellen MRI des Schädels schliesse diese Diagnose keinesfalls aus. 3. Es bestünden im Bewegungsapparat persistierende, belastungsabhängige Schmerzen lumbo-gluteal links, im linken Fuss und der linken Grosszehe, belastungsabhängige Schmerzen im Daumengrundgelenk rechts und bewegungsabhängige Schmerzen im Bereiche der rechten distalen Clavicula und des rechten proximalen Vorderarmes. Weiter wurde im Gutachten ausgeführt, die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit basiere einerseits auf dem urologischen Leiden mit der Stressinkontinenz und nächtlicher Inkontinenz, welches generell die Notwendigkeit einer sofort erreichbaren Toilette mit sich bringe. Weiter habe der Beschwerdeführer infolge seiner nächtlichen Inkontinenz einen erhöhten Selbstpflegebedarf und werde in seinem Schlafrhythmus, da er sich regelmässig wecken lassen müsse, gestört. Haupteinschränkungsfaktor einer Arbeitsfähigkeit als Küchenbursche sei die organische Persönlichkeitsstörung mit einer deutlichen Verminderung des Antriebes, der Vigilanz, des Reaktionsvermögens und der allgemeinen Vitalität. Die Einschränkungen im Bewegungsapparat beträfen lediglich vorwiegend gehende Tätigkeiten infolge der Restbeschwerden im rechten Fuss. Insgesamt werde die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers als Küchenbursche als um 60 % eingeschränkt beurteilt. Nicht zumutbar seien vorwiegend gehende Tätigkeiten, Tätigkeiten mit Halten und Heben von Lasten repetitiv von mehr als 10 kg, Arbeiten in körperlicher Zwangshaltung, Arbeiten mit Belastungen regelmässig über Schulterhöhe und über Kopfhöhe. Haupthindernis seien aber, wie bereits oben ausgeführt, die organische Persönlichkeitsstörung und die sekundären Probleme durch das unfallbedingte urologische Leiden. Es werde betreffend die Arbeitsfähigkeit vom Endzustand ausgegangen, eine Steigerungsmöglichkeit sehe man nicht.
4.5.7 Die Neuropsychologin Prof. Dr. phil. D.___ verfasste am 15. März 2010 eine verhaltensneurologische Beurteilung (MA 91), welche sie wie folgt zusammenfasste: Beim zurückhaltenden und sehr kooperativen Beschwerdeführer fänden sich eine gedämpft-depressive Stimmungslage und Leistungsminderungen im Arbeitstempo, in der geteilten Aufmerksamkeit (erhöhte Störbarkeit und Fehleranfälligkeit) sowie im sprachlichen Konzeptdenken und sprachlichen Gedächtnis. Im Vordergrund der Befunde zeigten sich eine Konzentrationsschwäche und – verglichen mit der visuellen Modalität – schwächere Leistungen in der sprachlichen Verarbeitung. Die erhobenen Befunde seien leichten Grades und ätiologisch nicht spezifisch. Die verbal betonten Leistungsschwächen liessen sich einerseits mit der Fremdsprachigkeit und andererseits mit einer depressiven Stimmungslage erklären. Hinweise auf eine Hirnverletzung als Folgen eines gedeckten Schädelhirntraumas ergäben sich nicht. Die neuropsychologischen Befunde hätten sich innerhalb eines Jahres nach dem Unfall gebessert, die 2008 in [...] durchgeführte neuropsychologische Kontrolluntersuchung zeige wieder Leistungsverschlechterungen, wahrscheinlich als Ausdruck der damaligen depressiven Episode. Ein anatomisch ätiologisch spezifisches Muster, welches hinweisend auf eine Hirnverletzung wäre, sei damals nicht gefunden worden. Es werde eine psychologische Stütztherapie mit antidepressiv medikamentöser Behandlung empfohlen. Die Arbeitsfähigkeit sei aus neuropsychologischer Sicht zu 10 % eingeschränkt.
4.5.8 Dr. med. Q.___, Spezialarzt FMH für Chirurgie, wurde von der Beschwerdegegnerin als deren beratender Arzt beauftragt, eine Einschätzung des Integritätsschadens und der Arbeitsfähigkeit vorzunehmen. In seinen Stellungnahmen vom 22. März und 14. April 2011 (MA 107, 109) hielt er fest, er beschränke sich auf die Beurteilung aus orthopädischer und urologischer Sicht. Generell müsse davon ausgegangen werden, dass es sich um ein High velocity Trauma gehandelt habe, es bestünden multiple Knochenläsionen, eine abdominelle Kontusion sowie eine Thoraxkontusion, die eine Intubation und sogar Tracheotomie notwendig gemacht habe. Die Beckenfraktur sei primär instabil gewesen und habe stabilisiert werden müssen, so dass man auch in diesem Zusammenhang von einer massiven Gewalteinwirkung ausgehen müsse. Als Folge davon hätten sich die verschiedenen Frakturen ergeben: Vorderarmfraktur rechts, Metacarpale Ⅰ Basisfraktur rechts, Metacarpale II Schaftfraktur rechts, mediale Malleolarfraktur links, Clavikulafraktur. Im Rahmen der massiven Gewalteinwirkung anlässlich des Unfallereignisses müsse neben den Frakturen auch von Weichteilschäden ausgegangen werden, die für chronisch rezidivierende Schmerzen verantwortlich gemacht werden könnten, auch wenn die Frakturen z.T. operativ versorgt seien und sich objektiv keine Bewegungseinschränkungen mehr einstellten. Neben den sicher hauptursächlich unfallbedingten Rückenschmerzen seien alle die erwähnten Frakturen bezüglich der Integrität in die Auflistung einzubeziehen. Gemäss Integritätsschaden der Schadenstabellen der Suva müsse bei Wirbelsäulenaffektionen mit 0 - 5 %, bei Arthrosen und Gelenkseinschränkungen der oberen Extremität (Claviculafraktur, SchuIterkontusion, Vorderarmfraktur, Metacarpale I Fraktur) mit insgesamt bis 20 % gerechnet werden. Die Rücken-, Becken- und Beinschmerzen dürften mit 10 % vernünftig abgebildet sein. Der Beschwerdeführer werde wiederholt Therapien benötigen. Aus urologischer Sicht scheine die Festlegung der Integrität viel schwieriger: Einerseits seien als direkte Unfallfolge die erektile Dysfunktion sowie eine partiell denervierte Harnblase anzusehen. Die erektile Dysfunktion sei mit entsprechender Medikation anzugehen, deshalb ergäben sich hier 10 %, für die Harnblase seien weitere 10 % zu veranschlagen, so dass der Integritätsschaden urologischerseits 20 % betrage. Dies ergebe eine Integritätssumme aus urologischer und orthopädischer Sicht von 50 % (ohne die neuropsychologische Problematik). Zur Arbeitsfähigkeit führte Dr. med. G.___ in seinem Schreiben vom 22. März 2011 aus, diese dürfte «bei körperlich anstrengenden Berufen […] aus dieser Sicht ebenfalls 50 % nicht überschreiten» (MA 107). Am 14. April 2011 erklärte Dr. med. G.___ zum Zumutbarkeitsprofil, ideal scheine eine Tätigkeit im Wechsel von sitzender und stehender Tätigkeit mit Heben von maximal 20 kg, ohne allzu langes Stehen Sitzen. Weiter führte er aus: «Generell resultiert eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit damit auf etwa 50 %» (MA 109).
4.5.9 Dr. med. R.___, Facharzt Rheumatologie FMH, Rehabilitation FMH, stellte im Bericht vom 19. Januar 2011 (MA 110d), welcher der Beschwerdegegnerin erst im August 2011 zuging (vgl. MA 110), folgende Diagnosen:
- Status nach Polytrauma am 19. April 2013 mit - Subarachnoidalblutung im Tentoriumbereich mit - persistierendem organischem Psychosyndrom - Beckenringfraktur mit - Vertikaler instabiler Längsfraktur Osilium links - Fraktur Massa lateralis Ossacrum links - ISG Sprengung links - obere und untere Schambein-Astfraktur beidseits - Status nach Osteosynthese des Beckenrings Mai 2003 - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen lumbo-gluetal links - Vorderarmfraktur rechts mit diaphysärer distaler Radiusfraktur - Fraktur des Processus styloideus radii rechts - Subcapitaler distaler Ulnarfraktur - Status nach Osteosynthese radius und distale subcapitale Ulnarfraktur rechts April 2003 - persistierenden, bewegungsabhängigen Schmerzen rechter proximaler Vorderarm - Dislozierter intaartikulärer Metacarpale I Basisfraktur rechts und Metacarpale II Schaftfraktur mit - Osteosynthese und konservativer Behandlung - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen Daumengrundgelenk rechts - Medialer Malleolarfraktur mit - Status nach Osteosynthese und Status nach Metallentfernung - Status nach Arthrodese IP-Gelenk Grosszehe links, Sehnentransfer Flexor hallucis und Tenodese Extensor hallucis longus Juni 2005 bei / mit - Krallenzehen I und II links mit - persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen Fuss medial und Grosszehe - Leichtgradiger sensibler Läsion des Nervus peroneus superficialis links - Distaler Clavikulafraktur mit - Leichter Fehlstellung ad axim mit Knochenvorsprung cranical - persistierenden, bewegungsabhängigen Schmerzen rechte distale Clavicula - Stumpfem Abdominaltrauma mit Milzkontusion, Leberkontusion und retroperitonealem linksbetontem Hematom - Stumpfem Thoraxtrauma mit Lungenkontusion beidseits - Traumatischem Urethraabriss mit - suprabubischer Ableitung mittels Zytofix - Status nach Relignement der Harnröhre mit DEKA-Einlage - Status nach Urethrotomia interna bei Urethrastriktur - Stressinkontinenz Grad I bis II und nächtlicher Inkontinenz - Verdacht partiell denervierte Harnblase - sekundär erektile Dysfunktion unter Cialis®-Therapie - Chronische Kopfschmerzen mit / bei - initial wahrscheinlich traumatisch bedingt - sekundär Analgetika- und ev. Cialis®-induziert
- Leichtes thoracal betontes Panvertebralsyndrom bei - Wirbelsäulenfehlform mit Rundrücken bei Morbus Scheuermann - Übergewicht - Nikotinabusus - Nierensteinleiden links mit - Verkalkung am Nierenunterpol - Status nach mehrfach URS und ESWL
Es handle sich um chronische posttraumatische Schmerzen bei Status nach Polytrauma im Jahr 2003. Die Beschwerden seien teilweise durch Status nach traumatischen Läsionen erklärbar. Dies gelte besonders für die Schmerzen am Handgelenk und am Daumen rechts, der Schulter rechts, bei Status nach Frakturen und Osteosynthesen mit posttraumatischen Veränderungen. Es gebe hingegen Beschwerden, für die er, Dr. med. R.___, keine sichere Erklärung habe; dies gelte besonders für die panvertebralen Beschwerden. Wegen Schmerzen im lumbalen Bereich, im Beckenbereich und der Flanke links sei am 12. Januar 2011 ein MR der LWS durchgeführt worden. Die Bilder seien im Normbereich und erklärten keine der geschilderten Beschwerden. Die Knieschmerzen seien auch möglicherweise auf ein femoropatellares Syndrom zurückzuführen, dies ohne Funktionseinschränkung bei der klinischen Untersuchung und ohne Knieerguss, sodass man auf weitere radiologische Abklärungen verzichtet habe. Die Schmerzen im Bereich des Fusses links seien auch schlecht erklärbar. Die Schmerzen im Bereich des OSG könnten als Folge der OSG-Fraktur erklärbar sein. Hingegen seien die Vorfussschmerzen, die eigentlich im Vordergrund stünden, schlecht erklärbar. Inwieweit die geschilderten Beschwerden mit polytopen Schmerzen eine vollständige Leistungsunfähigkeit begründeten, sei auch aus rheumatologischer Sicht schwierig zu beurteilen. Anamnestisch habe die relative Ruhigstellung, dank Arbeitsunfähigkeit seit dem 8. Dezember 2010, keine Schmerzlinderung gebracht. Diese Beobachtung zeige, dass die Aktivität bei der Institution S.___ auf jeden Fall nicht für eine Zunahme der Beschwerden bzw. der Verstärkung des Schmerzzustandes verantwortlich sei. Aus rheumatologischer Sicht sei eine medizinische Trainingstherapie indiziert. Das Ziel sei dann, die Leistungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit durch die Trainingstherapie dreimal wöchentlich zu verbessern. Diese aktive Physiotherapie könne parallel zur Wiederaufnahme einer Tätigkeit bei der Institution S.___ durchgeführt werden. Es müsse mit mindestens 3 Monaten Training dreimal wöchentlich gerechnet werden, bis man eine wesentliche Leistungsbesserung beobachten dürfe. Er, Dr. med. R.___, habe keine weitere Kontrolle geplant.
4.5.10 Dr. med. T.___, Oberarzt, und Dr. med. U.___, Assistenzarzt, Psychiatrische Dienste der V.___, stellten in einem der Invalidenversicherung erstatteten Arztbericht vom 27. April 2012 (MA 111) folgende Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit:
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig mit intermittierenden Phasen von schweren Episoden, Episode mit abklingendem Schuldwahn (ICD-10 F33.2), seit circa 2004 - Status nach Polytrauma am 19. April 2003 - Beckenringfraktur - Traumatischer Urethraabriss - Chronische Kopfschmerzen - Nierensteinleiden links
Der Beschwerdeführer sei in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit vom 7. Juli 2011 bis auf weiteres zu 100 % arbeitsunfähig. Der Gesundheitszustand sei stationär und es seien weder berufliche noch medizinische Massnahmen angezeigt. Der Beschwerdeführer leide seit 2004 an Beschwerden affektiver Symptome einer mittelgraden bis schweren Depression mit rascher Ermüdung bei geringen Anstrengungen, erheblichen Beeinträchtigungen der Alltagsbewältigung, Insuffizienzgefühlen und vermindertem Konzentrationsvermögen, begleitet von reduzierter Belastbarkeit und zunehmendem Rückzugsverhalten. Die affektiven Beschwerden führten zu einer erheblichen Verminderung des Antriebs, Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen und des Durchhaltevermögens, so dass die Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei. Zudem leide der Beschwerdeführer unter Zukunftsängsten. Es bestehe durch die andauernde mittelgradige depressive Episode mit intermittierenden Phasen von schweren Episoden mit psychotischen Phänomenen eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit. Dem Beschwerdeführer seien sowohl die bisherige Tätigkeit als auch andere Tätigkeiten nicht zumutbar. Eine ambulante Behandlung sei weiterhin dringend indiziert, eine Tätigkeit im geschützten Rahmen aufgrund der aktuellen Situation noch nicht realisierbar. Vorerst müssten das psychiatrische Funktionsniveau und die somatische Problematik verbessert werden, um den Zugang für einen therapeutischen Prozess, Aktivität und Struktur zu erleichtern. Da es sich bei psychiatrischen Erkrankungen stets um individuell verlaufende Störungen handle, müsse der Verlauf abgewartet und später neu beurteilt werden.
5. 5.1 Es stellt sich zunächst die Frage, wie sich der Umstand, dass die Verfügung vom 23. Juli 2012 auf einem Vergleich beruhte, auf die Wiedererwägungsvoraussetzungen auswirkt (vgl. E. II. 2.3 hiervor am Ende).
5.1.1 Bereits vor Inkrafttreten des ATSG war es nach der Rechtsprechung zulässig, bestimmte sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Versicherungsträger und Versicherten vergleichsweise zu regeln (vgl. BGE 133 V 593 E. 4.3 S. 595, 104 V 162). In Art. 50 ATSG wurde dies kodifiziert.
5.1.2 Im Entwurf zu einem Allgemeinen Teil der Sozialversicherung der Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungsrecht (SGVR) zur Verbesserung der Koordination in der Sozialversicherung (publiziert in einem Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge [SZS], Bern 1984) war die Möglichkeit, Vergleiche abzuschliessen, nicht vorgesehen. Den Anstoss zum späteren Art. 50 ATSG gab die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates respektive deren «Subkommission ATSG» (vgl. zur Entstehungsgeschichte der Bestimmung: BGE 140 V 108 E. 5.3 S. 111 f.). Die Kommission setzte sich schliesslich gegen den Widerstand des Bundesrates, der Vergleiche verbieten wollte, durch, wobei Vergleiche im Verwaltungsverfahren auf Leistungsstreitigkeiten beschränkt wurden. In ihrem Bericht führte die Kommission aus, es gehe «um eine Form der Erledigung im Rahmen der Ermessensbetätigung, vor allem in Bezug auf Beweiswürdigung, Sachverhaltsabklärung, Bewertung des Sachverhaltes usw. Statt beispielsweise jahrelang über den Invaliditätsgrad, das Ausmass eines künftigen Erwerbsausfalles usw. zu streiten, könnten damit verbundene unzumutbar belastende Sachverhaltsabklärungen begrenzt und die Angelegenheit vergleichsweise erledigt werden» (Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4523 ff., 4609 f.). Wie aus dieser gesetzgeberischen Regelungsabsicht deutlich wird, nahm man in Kauf, dass im Rahmen eines Vergleichs Sachverhaltsabklärungen unterbleiben, welche «eigentlich» durch den Untersuchungsgrundsatz (vgl. E. II. 3.2 hiervor) geboten wären.
5.1.3 Die Befugnis zum Abschluss eines Vergleichs ermächtigt die Behörde nicht, bewusst eine gesetzwidrige Vereinbarung zu schliessen, also von einer von ihr als richtig erkannten Gesetzesanwendung im Sinne eines Kompromisses abzuweichen. Den Parteien wird aber bei ungewisser Sach- Rechtslage die Befugnis eingeräumt, ein Rechtsverhältnis vertraglich zu ordnen, um die bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Dabei und damit wird in Kauf genommen, dass der Vergleichsinhalt von der Regelung des Rechtsverhältnisses abweicht, zu der es bei umfassender Klärung des Sachverhalts und der Rechtslage allenfalls gekommen wäre. Ein Vergleich ist somit zulässig, soweit der Verwaltung ein Ermessensspielraum zukommt sowie zur Beseitigung rechtlicher und/oder tatsächlicher Unklarheiten (BGE 138 V 147 E. 2.4 S. 149 f.). Ein Vergleich, der sich innerhalb dieser Grenzen hält, kann nur dann als zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG gelten, wenn ihm ein klarer und grober inhaltlicher Irrtum zugrunde liegt, der das Ergebnis entscheidend beeinflusst hat. Der Umstand, dass durch den Untersuchungsgrundsatz «eigentlich» gebotene Abklärungen unterblieben sind, kann dagegen keinen Wiedererwägungsgrund bilden, da der Gesetzgeber gerade die Absicht hatte, eine Vergleichslösung in dieser Konstellation zuzulassen (vgl. E. II. 5.1.2 hiervor).
5.1.4 Der mit einem Vergleich verbundenen gesamthaften Betrachtungsweise läuft zuwider, wenn der Unfallversicherer im Nachhinein ein einzelnes Element des Leistungsanspruchs herausgreift und einer Wiedererwägung der damaligen Verfügung zugrunde legen, an den übrigen Anspruchsfaktoren gemäss Vergleich aber ohne nähere Prüfung festhalten will. Um eine Wiedererwägung vornehmen zu können, müsste vielmehr feststehen, dass die vergleichsweise verfügte Leistung bei einer auch sämtliche weiteren Anspruchsfaktoren umfassenden Klärung des Sachverhalts und der Rechtslage – auf damaligem Stand – im Ergebnis als offensichtlich unrichtig zu betrachten ist (BGE 140 V 77 E. 3.2.3 S. 81).
5.2 Das im Rahmen von Art. 44 ATSG eingeholte Gutachten der Begutachtungsstelle C.___ vom 11. September 2008 (E. II. 4.5.6 hiervor) wies – wie die Beschwerdegegnerin zu Recht erkannte – Mängel auf. So bestand angesichts der Ergebnisse der ergänzenden neuropsychologischen Untersuchung durch Prof. Dr. med. D.___ Anlass zu erheblichen Zweifel an der gutachterlichen Aussage, die psychischen und neuropsychologischen Defizite bildeten die Folge einer hirnorganischen Verletzung. Diese Frage war auch deshalb von Bedeutung, weil ihre Verneinung unter Umständen die Notwendigkeit einer separaten Adäquanzprüfung hätte nach sich ziehen können. Auch die auf die somatischen Aspekte bezogene Beurteilung von Dr. med. G.___ (E. II. 4.5.8 hiervor) vermochte nicht vollständig zu überzeugen: Es musste sich die Frage aufdrängen, warum der beratende Arzt die Arbeitsunfähigkeit von 50 %, die er in seinem ersten Schreiben vom 22. März 2011 für körperlich anstrengende Berufe attestiert hatte, in seiner Stellungnahme vom 14. April 2011 nunmehr «generell» – also offenbar auch für leichte, adaptierte Tätigkeiten – als gegeben ansah. Weiter wurden die Rückenbeschwerden, welchen er kein geringes Gewicht beimass, im Bericht von Dr. med. R.___ (E. II. 4.5.9), der zwar vor den Stellungnahmen von Dr. med. G.___ verfasst wurde, aber erst später in das Dossier der Beschwerdegegnerin gelangte, als nicht unfallbedingt beurteilt. Sowohl in somatischer als auch in psychiatrischer Hinsicht bestand somit Bedarf nach ergänzenden Abklärungen. Die Beschwerdegegnerin hatte dies auch durchaus erkannt und zunächst ein nochmaliges polydisziplinäres Gutachten in Aussicht genommen (vgl. Schreiben vom 8. März 2012, KA 35). In der Folge zog sie es aber vor, dem Beschwerdeführer einen Vergleich vorzuschlagen, der eine Invalidenrente von 50 % umfasste. Wie man zu dieser Rentenhöhe gelangte, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Es ist davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin sowohl die durch die Begutachtungsstelle C.___ geschätzte, primär psychiatrisch und neuropsychologisch begründete Arbeitsunfähigkeit von 60 % in einer Verweistätigkeit als auch die von Dr. med. G.___ angegebene «generelle» Arbeitsunfähigkeit von 50 % aus rein somatischer Sicht als tendenziell zu hoch ansah, aber von einer teilweisen Kumulation ausging. Dieses Vorgehen mag als diskutabel erscheinen und es wäre auch mit Blick auf das Alter des Beschwerdeführers, der sich bei Vergleichsabschluss im 28. Lebensjahr befand, vorzuziehen gewesen, mit einer neuen Begutachtung eine zuverlässige medizinische Grundlage zu schaffen. Von einer groben Fehleinschätzung einem offensichtlichen krassen Irrtum kann aber nicht gesprochen werden. Die Annahme, weitere Abklärungen hätten eine unfallkausale Arbeitsunfähigkeit von 50 % in einer Verweistätigkeit ergeben, lässt sich nicht als vollkommen abwegig bezeichnen. Daher sind der abgeschlossene Vergleich und die darauf basierende Verfügung vom 23. Juli 2012 nicht als (auch im Ergebnis) zweifellos unrichtig zu qualifizieren. Dieser Befund schliesst eine Wiedererwägung aus.
5.3 Zusammenfassend kann die in Umsetzung eines Vergleichs ergangene Verfügung vom 23. Juli 2012 nicht als zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG gelten. Die auf dieser Begründung basierende, mit der Verfügung vom 18. Mai 2017 vorgenommene und mit dem angefochtenen Einspracheentscheid vom 29. November 2019 bestätigte Rentenaufhebung per 31. Mai 2017 ist daher zu Unrecht erfolgt.
6. 6.1 Das Gericht hat die Möglichkeit, eine Rentenanpassung -aufhebung, welche zu Unrecht gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG erfolgt ist, im Rahmen einer subsituierten Begründung Motivsubstitution gestützt auf eine andere Rechtsgrundlage ganz teilweise zu bestätigen (vgl. BGE 140 V 85 E. 4.2 S. 87; Urteil des Bundesgerichts 9C_417/2017 vom 19. April 2018 E. 2.4). Die Prüfung einer substituierten Begründung ist nach neuerer Rechtsprechung zwingend, wenn der Versicherungsträger dies im Beschwerdeverfahren beantragt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_634/2017 vom 20. Februar 2018 E. 5.4). Sie kann aber auch unabhängig von einem Antrag erfolgen, wenn die Akten entsprechenden Anlass geben, wobei diesfalls der Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör zu wahren ist (vgl. BGE 125 V 368 E. 4a und 4b S. 370 f.). Vorliegend könnte prinzipiell eine substituierte Begründung in Anwendung von Art. 53 Abs. 1 ATSG (prozessuale Revision) von Art. 17 Abs. 1 ATSG (materielle Rentenrevision) infrage kommen. Da seitens der Parteien kein entsprechender Antrag gestellt wurde, ist die Prüfung einer Motivsubstitution zwar zulässig, aber nicht zwingend.
6.2 Wie erwähnt, begründet die Beschwerdegegnerin die vorgenommene Wiedererwägung der Verfügung vom 23. Juli 2012 mit dem später ergangenen Urteil des Versicherungsgerichts vom 31. März 2015 und dem darin zitierten, der IV-Stelle erstatteten psychiatrischen Gutachten von Dr. med. J.___ vom 8. Februar 2013 (vgl. E. II. 4.3 hiervor). Sie macht somit geltend, die Verfügung vom 23. Juli 2012 müsste aufgrund später entdeckter neuer Tatsachen und Beweismittel korrigiert werden. Diese Konstellation fällt nicht in den Anwendungsbereich einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG, sondern einer prozessualen Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG. Nach dieser Bestimmung müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Wird die Korrektur mit einer abweichenden medizinischen Beurteilung begründet, kommt eine prozessuale Revision allerdings nur selten infrage. Bei medizinischen Fragestellungen fällt ein prozessualer Revisionsgrund nur dann überhaupt in Betracht, wenn festgestellt wird, dass die frühere Beurteilung auf gravierenden und unvertretbaren Fehldiagnosen -einschätzungen beruhte (vgl. BGE 144 V 245 E. 5.4 S. 249 f.). Dies ist bei psychiatrischen Fragestellungen kaum je der Fall. Angesichts der ausgeprägten Ermessensprägung und weitgehend fehlenden Reliabilität psychiatrischer Arbeitsunfähigkeitsschätzungen (vgl. BGE 143 V 418 E. 6 S. 426 f.) bildet der Umstand, dass eine psychiatrische Begutachtung zu anderen Ergebnissen gelangt als frühere Abklärungen, praktisch nie Anlass für eine prozessuale Revision. Anders kann es sich verhalten, wenn die neue Einschätzung durch neue aussermedizinische Erkenntnisse (z.B. über ausgeübte Erwerbstätigkeiten anderweitige Aktivitäten) gestützt wird; so verhält es sich hier aber nicht. Es kommt hinzu, dass im IV-Verfahren inzwischen weitere Abklärungen durchgeführt wurden, welche wiederum zu anderen Ergebnissen gelangten als Dr. med. J.___. Das Vorgehen der IV-Stelle, welche dem Beschwerdeführer gestützt auf diese späteren ärztlichen Einschätzungen ab Dezember 2016 eine Rente zusprach (vgl. E. I. 2.2 hiervor), wirft zwar durchaus Fragen auf. Insbesondere ist unklar, ob dem Umstand, dass es sich um eine Neuanmeldung nach vorgängiger rechtskräftiger Anspruchsverneinung handelte, Rechnung getragen wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass eine vollkommen eindeutige medizinische Situation, welche Anlass zu einer prozessualen Revision geben könnte, nicht vorliegt. Damit entfällt die Möglichkeit, den angefochtenen Einspracheentscheid mit dieser substituierten Begründung zu bestätigen.
6.3 Die Aufhebung der laufenden Rente könnte grundsätzlich auch im Rahmen einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG (i.V.m. Art. 1 Abs. 1 UVG) erfolgen. Eine solche Rentenrevision fiele hier in Betracht, wenn sich der relevante Sachverhalt, insbesondere der Gesundheitszustand, zwischen dem Erlass der Verfügung vom 23. Juli 2012 und des hier angefochtenen Einspracheentscheids vom 29. November 2019 erheblich verändert hätte. Solches wird aber nicht geltend gemacht, und auch aus den Akten ergeben sich keine Hinweise, welche derart klar wären, dass es als angezeigt erschiene, diese Frage von Amtes wegen aufzugreifen. Von der Prüfung einer Motivsubstitution unter dem Titel einer materiellen Rentenrevision ist daher abzusehen. Eine Rentenüberprüfung unter dem Titel einer Veränderung gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG wäre, falls sie allenfalls als angezeigt erscheinen sollte, in einem neuen Verfahren vorzunehmen. Nur der Vollständigkeit halber ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass der Nachweis einer anspruchserheblichen Veränderung erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann, wenn ein Vergleich wegen sachverhaltlicher Ungewissheiten abgeschlossen wurde (vgl. Eva Slavik, Basler Kommentar zum ATSG, 2020, Art. 50 N 31 f.). Andererseits stünde, sollte eine solche Veränderung vorliegen, grundsätzlich der Weg zur Überprüfung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen, einschliesslich der Unfallkausalität, wieder offen (vgl. BGE 141 V 9).
7. Nach dem Gesagten sind die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Verfügung vom 23. Juli 2012 nicht erfüllt. Der angefochtene Einspracheentscheid lässt sich auch nicht im Rahmen einer substituierten Begründung unter dem Titel einer prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) bestätigen. Die Prüfung einer Motivsubstitution unter dem Aspekt einer materiellen Rentenrevision (Art. 17 Abs. 1 ATSG) ist nicht angezeigt. Die Beschwerde erweist sich somit als begründet. Sie ist gutzuheissen und der Einspracheentscheid vom 29. November 2019 ist aufzuheben.
8. 8.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 61 lit. g ATSG). Die mit Verfügung vom 11. März 2020 bewilligte unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos. Die Parteientschädigung ist entsprechend der Kostennote vom 15. Juni 2020 (A.S. 115 f.) auf CHF 4'248.45 festzusetzen (14.85 Stunden zu CHF 250.00 [§ 160 Abs. 2 GT], zuzügl. Auslagen von CHF 232.20 und MwSt).
8.2 In Beschwerdeverfahren über Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG).
Demnach wird erkannt: 1. In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 29. November 2019 aufgehoben. 2. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 4'248.45 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu bezahlen. 3. Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Rechtsmittel Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Mitteilung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar (vgl. Art. 39 ff., 82 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Bei Vor- und Zwischenentscheiden (dazu gehört auch die Rückweisung zu weiteren Abklärungen) sind die zusätzlichen Voraussetzungen nach Art. 92 93 BGG zu beachten.
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Der Präsident Der Gerichtsschreiber Flückiger Isch
Der vorliegende Entscheid wurde vom Bundesgericht mit Urteil 8C_182/2021 vom 9. November 2021 bestätigt. |
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