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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VSBES.2020.115)

Zusammenfassung des Urteils VSBES.2020.115: Verwaltungsgericht

Der Beschwerdeführer, ein 1978 geborener Mann, war bei einer Firma beschäftigt und wurde zur Arbeit in einer anderen Firma entsandt, wo er einen schweren Sturz aus dem Fenster erlitt und querschnittgelähmt wurde. Es entstand ein Streit über die Zuständigkeit der Unfallversicherung, da die Firma des Beschwerdeführers die Leistungen verweigerte. Es wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Sturzes eine schwere depressive Episode hatte, was zu einer aufgehobenen Schuldfähigkeit führte. Die Firma und die Ersatzkasse wiesen die Einsprachen des Beschwerdeführers ab, woraufhin dieser Beschwerde einreichte. Es wurde geprüft, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Sturzes gänzlich urteilsunfähig war. Es wurde festgestellt, dass er unter einer schweren depressiven Episode litt und seine Schuldfähigkeit aufgehoben war. Letztendlich wurde entschieden, dass er Anspruch auf Unfallleistungen hatte.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VSBES.2020.115

Kanton:SO
Fallnummer:VSBES.2020.115
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Versicherungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VSBES.2020.115 vom 28.09.2021 (SO)
Datum:28.09.2021
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: ähig; Suizid; Urteil; Urteils; Handlung; Tochter; Episode; Unfall; Urteilsfähigkeit; VSBES; Arbeit; Symptom; Suva-Nr; Hinweis; Fenster; Zeitpunkt; Beschwerdeführers; Suizidversuch; Symptome; Hinweise; Ereignis; Sinne; Einsprache; Bundesgericht; Akten
Rechtsnorm: Art. 1 UVG ;Art. 16 ZGB ;Art. 19 StGB ;Art. 37 UVG ;Art. 78a UVG ;Art. 8 ZGB ;
Referenz BGE:105 V 156; 113 V 61; 113 V 63; 125 V 351; 126 V 353; 129 V 95; 132 V 393;
Kommentar:
Ueli Kieser, ATSG- 4. Aufl., Zürich, 2008

Entscheid des Verwaltungsgerichts VSBES.2020.115

 
Geschäftsnummer: VSBES.2020.115
Instanz: Versicherungsgericht
Entscheiddatum: 28.09.2021 
FindInfo-Nummer: O_VS.2021.178
Titel: Unfallversicherung

Resümee:

 

 

 

 

 

 

 


Urteil vom 28. September 2021

Es wirken mit:

Präsident Flückiger

Oberrichter von Felten

Ersatzrichterin Steffen

Gerichtsschreiber Lazar

In Sachen

1.    Ersatzkasse UVG, Postfach, 8010 Zürich

2.    B.___ vertreten durch Rechtsanwalt Michael Bütikofer

Beschwerdeführer

 

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Hauptsitz Zürich, Postfach, 8085 Zürich

Beschwerdegegnerin

 

betreffend     Unfallversicherung (Einspracheentscheid vom 17. April 2020)

 


 

zieht das Versicherungsgericht in Erwägung:

I.       

 

1.

1.1     Der 1978 geborene B.___ (nachfolgend: Beschwerdeführer 2) ist [...] Staatsangehöriger und seit 2013 regelmässig in der Schweiz als [...] bei der Firma D.___, [...], resp. der Firma E.___, [...], beschäftigt. Mit Deputation Letter vom 14. Februar 2017 (Suva-Akten-Nummer [Suva-Nr.] 6, S. 20 f.) wurde der Beschwerdeführer 2 durch die Firma D.___ zwecks Arbeitserledigung zur Firma E.___ nach [...] geschickt. Eine Verlängerung des Arbeitseinsatzes in der Schweiz erfolgte mit dem Deputation Extension Letter vom 12. Dezember 2017 (Suva-Nr. 6, S. 22 f.). Die Firma E.___ hatte ihre Arbeitnehmer bei der Unfallversicherung F.___ (nachfolgend: F.___) gegen Berufs- und Nichtberufsunfälle versichert.

 

1.2     Am 26. April 2018 erlitt der Beschwerdeführer 2 einen schweren Sturz aus dem Fenster. In der Folge wurde er im Spital G.___ operiert (vgl. Austrittsbericht vom 26. Mai 2018; Suva-Nr. 27, S. 2 ff.) und danach im Zentrum H.___ [...], behandelt (Suva-Nr. 35). Der Beschwerdeführer 2 ist seit dem Sturzereignis querschnittgelähmt.

 

1.3     Der Beschwerdeführer 2 wurde im Rahmen eines gegen ihn laufenden Strafverfahrens psychiatrisch begutachtet. Dr. med. I.___, Facharzt FMH für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, diagnostizierte beim Beschwerdeführer 2 in seinem psychiatrischen Gutachten vom 28. Dezember 2018 (Suva-Nrn. 41 und 43) zum Tatzeitraum eine schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F32.2). Aus psychiatrisch-forensischer Sicht habe zum damaligen Zeitpunkt eine aufgehobene Schuldfähigkeit vorgelegen.

 

1.4     Mit Unfallmeldung UVG vom 16. Januar 2019 wurde die Ersatzkasse UVG (nachfolgend: Beschwerdeführerin 1) über das Ereignis vom 26. April 2018 informiert (Suva-Nr. 4).

 

1.5     Mit Schreiben vom 7. März 2019 (Suva-Nr. 2) teilte die Beschwerdeführerin 1 der F.___ mit, dass sie für den genannten Fall nicht zuständig sei, denn die E.___ sei bei der F.___ versichert und somit habe diese die Versicherungsleistungen nach UVG auszurichten. Die F.___ lehnte mit Schreiben an die Beschwerdeführerin 1 vom 12. April 2019 (Suva-Nr. 32) die Unterstellung unter ihre Unfallversicherung ab und stellte sich auf den Standpunkt, dass es sich beim Beschwerdeführer 2 um einen Entsandten handle, welcher in seinem Heimatstaat [...] versichert sei. Daraufhin ersuchte die Stiftung J.___ als damalige Vertreterin des Beschwerdeführers 2 die F.___ mit Schreiben vom 3. Mai 2019 um den Erlass einer anfechtbaren Verfügung (Suva-Nr. 36, S. 2 ff.).

 

1.6     Am 15. Juli 2019 erfolgte eine von der Unfallversicherung Suva veranlasste versicherungspsychiatrische Beurteilung der Urteilsfähigkeit zum Zeitpunkt des Ereignisses vom 26. April 2018 (Suva-Nr. 44). Kreisärztin K.___, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, kam darin zum Ergebnis, es sei davon auszugehen, dass zwar eine höhergradige psychische Störung im Sinne einer ersten depressiven Episode bestanden habe, diese den Beschwerdeführer 2 auch in seiner Urteilsfähigkeit erheblich einschränkte, aber nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer vollkommen aufgehobenen Urteilsfähigkeit geführt habe.

 

1.7     Mit Verfügung vom 12. August 2019 an die Stiftung J.___ bestätigte die F.___ ihren Entscheid und lehnte eine Kostenübernahme für Heilungskosten aus dem Ereignis vom 26. April 2018 mangels Zuständigkeit ab (Suva-Nr. 46). Am 26. August 2019 eröffnete die F.___ die Verfügung der Beschwerdeführerin 1 (Suva-Nr. 49).

 

1.8     Der Beschwerdeführer 2 liess gegen diese Verfügung mit Eingabe vom 3. September 2019 fristgerecht Einsprache erheben (F.___-Akten Nr. C16). Am 4. September 2019 liess auch die Beschwerdeführerin 1 gegen die genannte Verfügung Einsprache erheben (F.___-Akten Nr. C28/22), welche sie am 18. Dezember 2019 ergänzte (F.___-Akten Nr. C17).

 

1.9     Mit Gesuch vom 16. Dezember 2019 (F.___-Akten Nr. C17) beantragte die Beschwerdeführerin 1 beim Bundesamt für Gesundheit (nachfolgend: BAG) den Erlass einer Verfügung nach Art. 78a UVG (negativer Kompetenzkonflikt), worin festzustellen sei, dass die F.___ für das Ereignis vom 26. April 2018 zuständig sei. Mit Verfügung vom 10. März 2020 trat das BAG nicht auf das Gesuch der Beschwerdeführerin 1 vom 16. Dezember 2019 ein (Suva-Nr. 63).

 

1.10   Mit Einspracheentscheiden vom 17. April 2020 (Suva-Nr. 64; VSBES.2020.115 / Aktenseiten [A.S.] 1 ff. und Suva-Nr. 65; VSBES.2020.116, A.S. 1 ff.) wies die F.___ die Einsprachen der Beschwerdeführer ab.

 

2.       Mit Zuschrift vom 18. Mai 2020 lässt die Beschwerdeführerin 1 beim Kantonsgericht Luzern Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 17. April 2020 erheben und folgende Rechtsbegehren stellen (VSBES.2020.115 / A.S. 7 ff.):

 

1.   Der Einspracheentscheid vom 17. April 2020 sei aufzuheben.

2.   Die Beschwerdegegnerin sei für das Ereignis vom 26.04.2018 als zuständig zu erklären.

3.   Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beschwerdegegnerin.

 

3.       Auch der Beschwerdeführer 2 liess mit Zuschrift vom 20. Mai 2020 beim Kantonsgericht Luzern fristgerecht Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 17. April 2020 erheben. Sein Vertreter stellte und begründete folgende Rechtsbegehren (VSBES.2020.116 / A.S. 7 ff.):

 

1.   Der Einsprache-Entscheid der Beschwerdegegnerin vom 17. April 2020 sei aufzuheben und es sei die Beschwerdegegnerin zu verurteilen, den Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 26. April 2018 rückwirkend dem UVG-Obligatorium zu unterstellen und dem Beschwerdeführer die ihm aus diesem Unfallereignis zustehenden Versicherungsleistungen gemäss Unfallversicherungsgesetz rückwirkend seit wann rechtens auszurichten.

2.   Eventualiter: Der Einsprache-Entscheid der Beschwerdegegnerin vom 17. April 2020 sei aufzuheben und die Sache sei zur Vornahme weiterer Abklärungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen verbunden mit der Anordnung, eine neue Verfügung im Sinne der Beschwerde-

rügen zu erlassen.

 

4.       Mit Schreiben vom 28. Mai 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 15) überweist das Kantonsgericht Luzern die beiden Beschwerden der Beschwerdeführer gegen die Einspracheentscheide der Beschwerdegegnerin zuständigkeitshalber an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn (nachfolgend: Versicherungsgericht).

 

5.       Mit Verfügung vom 2. Juni 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 17 f.) vereinigt das Versicherungsgericht das Verfahren mit dem Verfahren VSBES.2020.116.

 

6.       Mit Eingabe vom 8. Juni 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 21) teilt die Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) dem Versicherungsgericht mit, sämtliche Rechte und Pflichten der F.___ seien neu auf sie übergegangen. Mit Verfügung vom 12. Juni 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 22) nimmt das Versicherungsgericht vom Parteiwechsel Kenntnis.

 

7.       Die Beschwerdegegnerin schliesst in ihrer Beschwerdeantwort vom 8. September 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 30 ff.) auf Abweisung der Beschwerde und beantragt die Sistierung des Verfahrens für die Dauer der Rechtsmittelfrist zugunsten der L.___.

 

8.       Mit Verfügung vom 21. September 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 41) sistierte das Versicherungsgericht das Verfahren für die Dauer der Rechtsmittelfrist zugunsten der L.___, längstens jedoch bis 15. Oktober 2020.

 

9.       Mit Replik vom 8. Dezember 2020 (VSBES.2020.115 / A.S. 54 ff.) hält die Beschwerdeführerin 1 an ihren Anträgen fest.

 

10.     Der Vertreter des Beschwerdeführers 2 bestätigt in seiner Replik vom 21. Januar 2021 (VSBES.2020.115 / A.S. 64 ff.) die gestellten Rechtsbegehren.

 

11.     In ihrer Duplik vom 8. Februar 2021 (VSBES.2020.115 / A.S. 73 ff.) schliesst die Beschwerdegegnerin weiterhin auf Abweisung der Beschwerde.

 

12.     Mit Eingabe vom 2. März 2021 (VSBES.2020.115 / A.S. 82 f.) reicht der Vertreter des Beschwerdeführers 2 seine Kostennote zu den Akten.

 

13.     Auf die weiteren Ausführungen in den Rechtsschriften der Parteien wird, soweit erforderlich, in den folgenden Erwägungen eingegangen. Im Übrigen wird auf die Akten verwiesen.

 

II.      

 

1.

1.1     Die Sachurteilsvoraussetzungen (Einhaltung der Frist und Form, örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts) sind erfüllt. Auf die Beschwerden ist einzutreten.

 

1.2     Streitig und zu beurteilen ist die Frage, ob der Beschwerdeführer 2 Anspruch auf Unfallleistungen aus dem Sturzereignis vom 26. April 2018 hat und, wenn diese Frage bejaht würde, ob die Beschwerdegegnerin diese auszurichten hat. Kontrovers und zu prüfen ist dabei zunächst, ob der Beschwerdeführer 2 seinen Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt hat. Während die F.___ erwogen hatte, bei seinem Suizidversuch vom 26. April 2018 sei die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers 2 nicht vollständig aufgehoben gewesen (VSBES.2020.115 / A.S. 4, E. 2.6) woran die Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren festhält (Beschwerdeantwort vom 8. September 2020; VSBES.2020.115 / A.S. 30 ff.), stellt sich der Beschwerdeführer 2 auf den Standpunkt, dies sei sehr wohl der Fall gewesen, womit von einer absichtlichen Herbeiführung des Gesundheitsschadens keine Rede sein könne (VSBES.2020.116 / A.S. 7 ff.; VSBES.2020.115 / A.S. 64 ff.).

 

2.      

2.1     Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalls, Nichtberufsunfalls einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung [UVG, SR 832.20]). Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper (Art. 9 Abs. 1 der Verordnung über die Unfallversicherung [UVV, SR 832.202]). Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG mit Ausnahme der Bestattungskosten kein Anspruch auf Versicherungsleistungen. Indessen findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).

 

2.2     Nach der Rechtsprechung muss der Leistungsansprecher, da er das Vorliegen eines Unfalles zu beweisen hat, auch die Unfreiwilligkeit der Schädigung und bei Suizid Suizidversuch die Urteilsunfähigkeit nach Art. 16 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB, SR 210) zur Zeit der Tat nachweisen (SVZ 68 2000 S. 202; RKUV 1996 Nr. U 247 S. 168 E. 2a und b). Den Parteien obliegt jedoch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweisführungslast im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die überwiegende Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 134 V 109 E. 9.5 S. 125, 117 V 261 E. 3b S. 264; SVZ 68 2000 S. 202). Dass die versicherte Person absichtlich aus dem Leben geschieden ist scheiden wollte, darf nur dann als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere den Umständen angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen zunächst von der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen Vermutung auszugehen, es liege keine Selbsttötung bzw. kein Selbsttötungsversuch vor, und sodann zu fragen, ob derart überzeugende Umstände vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird (Urteile des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.2 und 8C_953/2012 vom 22. Februar 2013 E. 2.2 mit Hinweisen). 

 

2.3     Die Urteilsfähigkeit der versicherten Person ist in Bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen. Ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgte, ist nicht entscheidend; denn eine Absicht, und sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierten, dumpfen Willensimpulses, ist stets festzustellen; sonst liegt keine Selbsttötung bzw. kein Suizidversuch vor. Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen (d.h. vor allem der triebhaften innerseelischen) Abläufe vorhanden war (Urteil des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.3 mit Hinweisen). Es muss sich um eine vollständige Urteilsunfähigkeit handeln, eine bloss verminderte Urteilsfähigkeit genügt nicht (Ueli Kieser: ATSG-Kommentar, 4. Aufl., Zürich 2020, Art. 4 Rz 29 mit Hinweis auf BGE 129 V 95 ff.; BGE 113 V 63 f.; SVR 1995 UV Nr. 20). Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche im Zeitpunkt der Tat, unter Würdigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in Bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln. Es muss deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Geisteskrankheit eine schwere Störung des Bewusstseins nachgewiesen sein, also psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschungen, depressiver Stupor (plötzlicher Erregungszustand mit Selbsttötungstendenz), Raptus (plötzlicher Erregungszustand als Symptom einer seelischen Störung) u.a.m. Dazu muss das Motiv zum Suizid Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik stammen, mit anderen Worten muss die Tat "unsinnig" sein. Eine blosse "Unverhältnismässigkeit" der Tat, indem der Suizident seine Lage in depressiv-verzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätzt, genügt zur Annahme von Urteilsunfähigkeit nicht. Für deren Nachweis ist nicht bloss die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein entscheidend, ob diese als unvernünftig, uneinfühlbar abwegig erscheint. Vielmehr ist auf Grund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die Lebenssituation der versicherten Person vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt gehören, zu beurteilen, ob sie in der Lage gewesen wäre, den Suizid Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden nicht. Der Umstand, dass die Suizidhandlung als solche sich nur durch einen krankhaften, die freie Willensbetätigung ausschliessenden Zustand erklären lässt, stellt nur ein Indiz für das Vorliegen von Urteilsunfähigkeit dar. An deren Nachweis sind keine strengen Anforderungen zu stellen; er gilt als geleistet, wenn eine durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung als wahrscheinlicher erscheint als ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln (Urteil des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.3 mit Hinweisen). 

 

2.4     Ob diese Voraussetzung der fehlenden Urteilsfähigkeit gegeben ist, ist durch einen psychiatrischen Sachverständigen darzulegen (vgl. Kieser, a.a.O. Art. 4 Rz. 30). Aufgabe des medizinischen Experten ist es, den Geisteszustand des Untersuchten möglichst genau zu beschreiben und aufzuzeigen, ob und in welchem Masse sein geistiges Vermögen bei der fraglichen Handlung versagt hat. Welche rechtlichen Schlüsse aus dem Ergebnis der medizinischen Begutachtung zu ziehen sind, entscheidet der Richter (Urteil des Bundesgerichts U 55/99 vom 11. Juli 2001 E. 1.c mit Hinweisen).

 

3.

3.1     Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG, SR 830.1]). Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum – auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden – Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger das Gericht bei umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360, 125 V 193 E. 2 S. 195 je mit Hinweisen) zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148, 124 V 90 E. 4b S. 94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteil des Bundesgerichts 8C_715/2016 vom 6. März 2017 E. 5.1 mit Hinweis).

 

3.2     Der im Sozialversicherungsrecht massgebende Beweisgrad ist derjenige der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360 mit Hinweisen, 130 III 321 E. 3.2 und 3.3 S. 324 f.; Urteil des Bundesgerichts 8C_852/2016 vom 12. September 2017 E. 3). Rechtsprechungsgemäss bildet der Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung in tatbeständlicher Hinsicht grundsätzlich die Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis (BGE 105 V 156 E. 2d S. 161). Seit Einführung des Einspracheverfahrens ist der Sachverhalt bis zum Erlass des Einspracheentscheids – vorliegend bis 17. April 2020 – mitzuberücksichtigen, da der (materielle) Einspracheentscheid an die Stelle der angefochtenen Verfügung tritt und insoweit das Verwaltungsverfahren erst mit ihm abgeschlossen wird (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl., 2015, Art. 52 ATSG N 60 mit weiteren Hinweisen).

 

3.3     Für den Beweiswert eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten bzw. der Anamnese abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Fachperson begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte kommt Beweiswert zu, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen (BGE 125 V 351 E. 3b/ee S. 353 f.). Soll ein Versicherungsfall jedoch ohne Einholung eines externen Gutachtens entschieden werden, so sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229, 135 V 465 E. 4.4 S. 470).

 

4.       Zu prüfen ist somit zunächst, ob der Beschwerdeführer 2 im Zeitpunkt des Suizidversuchs gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln.

 

4.1.    Die F.___ legte dazu im angefochtenen Einspracheentscheid (A.S. 1 ff.) dar, der Beschwerdeführer 2 habe sich in suizidaler Absicht und mit seiner schlafenden Tochter auf den Armen aus dem Fenster gestürzt. Seine suizidalen Absichten habe er bereits vor dem 26. April 2018 einmal versucht in die Tat umzusetzen. Vier Tage zuvor habe er schliesslich einen Abschiedsbrief verfasst. Gemäss versicherungspsychiatrischer Beurteilung von Dr. med. K.___, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, sei die Urteilsfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht vollkommen aufgehoben gewesen. Angesichts dieser Ausgangslage sei der Anspruch auf Unfallleistungen aus dem Ereignis vom 26. April 2018 nicht gegeben.

 

Die gleiche Ansicht vertritt die Beschwerdeführerin 1, die in ihrer Beschwerde (VSBES.2020.115 / A.S. 7 ff.) ausführt, der Beschwerdeführer 2 sei vor dem 26. April 2018 nie in psychiatrischer Behandlung gewesen. Am 19. April 2018 habe er sich erstmals mit der Rasierklinge eine Verletzung zugefügt. Am 22. April 2018 habe er einen Abschiedsbrief verfasst. Darin habe er auch festgehalten, dass er seine Tochter mitnehme und er habe Kontaktdaten seines Bruders angegeben, so dass Ansprüche aus Sozialversicherungen diesem überwiesen werden könnten. Gemäss Beurteilung von Dr. med. K.___ habe der Beschwerdeführer 2 seine Handlungen im Ereigniszeitpunkt variieren und er habe vorausdenken können. Die Kriterien für eine schwere depressive Episode seien nicht gegeben gewesen. Hinweise für psychotische Symptome hätten nicht vorgelegen. Somit sei die Urteilsfähigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht aufgehoben gewesen. Aufgrund der Handlungsweise des Beschwerdeführers 2 sei davon auszugehen, dass sein psychischer Zustand weiterhin eine bewusst gesteuerte und willentliche Handlung zugelassen habe. Das Ereignis sei folglich nicht als Unfall einzustufen.

 

4.2     Der Beschwerdeführer 2 lässt dem in seiner Beschwerde (VSBES.2020.116 / A.S. 7 ff.) entgegenhalten, er sei schon vor dem Sturz aus dem Fenster am 26. April 2018 schweren psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen. Der Sprung aus dem Fenster sei ein Impuls gewesen, sein Denken sei gemäss Gutachten von Dr. med. I.___ wie blockiert gewesen, er habe nicht mehr klar und folgerichtig denken können. Der Gutachter diagnostiziere für den Tatzeitpunkt eine schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom und komme zum Schluss, dass der Beschwerdeführer 2 zur Tatzeit für die Tathandlung keine Einsicht in das Unrecht seines Handelns gehabt habe und seine Schuldfähigkeit aufgehoben gewesen sei. Der Beschwerdeführer 2 und dessen Ehefrau seien von diesem Gutachter persönlich exploriert worden. Es handle sich damit um eine voll verwertbare Beweisurkunde, die die gänzliche Urteilsunfähigkeit nachvollziehbar darlege. Die schwere depressive Episode werde auch vom behandelnden Psychiater bestätigt. Im Gegensatz zur versicherungsinternen Beurteilung von Dr. med. K.___ sei diese Begutachtung unabhängig. Dr. med. K.___ habe eine reine Aktenbeurteilung gemacht und es handle sich um eine versicherungsinterne Expertise, die auf der tiefsten Beweiskraftebene stehe. Ausserdem habe der Beschwerdeführer 2 bis anhin keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen einer durchzuführenden Befragung selber Fragen zu stellen. Den Abschiedsbrief, den der Beschwerdeführer 2 verfasst habe, habe er mehrere Tage zuvor geschrieben und dieser stehe in keinem engen zeitlichen Konnex zum Sturz. Überdies habe der Beschwerdeführer 2 seine Tat nicht im Voraus angekündigt. Für den Fall, dass beim derzeitigen Aktenstand die Arbeitsunfähigkeit wider Erwarten nicht auf einen Unfall zurückgeführt werde, sei die Frage der Urteilsunfähigkeit durch einen unabhängigen Gutachter klären zu lassen, dies unter Wahrung der Mitwirkungsrechte des Beschwerdeführers 2.

 

4.3     Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels führt die Beschwerdegegnerin zur vorliegenden Fragestellung aus (VSBES.2020.115 / A.S. 30 ff.), die Urteilsunfähigkeit sei nicht gleichzusetzen mit der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit. Der strafrechtliche Gutachter habe die Frage zu beantworten gehabt, ob der Beschwerdeführer 2 für das ihm vorgeworfene Handeln gegenüber seiner Tochter schuldfähig sei. Nicht geklärt werde die Frage, ob er gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln. Weil der Beschwerdeführer 2 durch den strafrechtlichen Gutachter bereits eingehend exploriert worden sei, habe nichts gegen eine Aktenbeurteilung durch die versicherungsinterne Ärztin gesprochen, da nicht der aktuelle Gesundheitszustand des Beschwerdeführers 2 habe erhoben werden müssen. Der Tathergang (Klärung der finanziellen Folgen vor Suizidhandlung, Tathergang an sich mit Fenster öffnen und warten, bis die Ehefrau wieder eingeschlafen ist) zeige, dass der Beschwerdeführer 2 nicht gänzlich urteilsunfähig gewesen sei.

 

Der Beschwerdeführer 2 hält in seiner Replik (VSBES.2020.115 / A.S. 64 ff.) an seinen bisherigen Ausführungen fest.

 

4.4     Bei der Frage, ob der Beschwerdeführer 2 aufgrund seines Geisteszustandes am Tag des Sturzes aus dem Fenster gänzlich urteilsunfähig war, handelt es sich um eine Rechtsfrage (Urteil des Bundesgerichts 8C_253/2008 vom 16. Oktober 2008 E. 1.3). Die Akten enthalten dazu insbesondere die folgenden Angaben:

 

4.4.1  Im Austrittsbericht der Klinik J.___ vom 30. November 2018 (Suva-Nr. 35) wird neben der Diagnose einer kompletten Querschnittslähmung unterhalb des thorakalen Segmentes (Th5) nach Sturz aus dem Fenster vom 26. April 2018 und neben weiteren somatischen Diagnosen psychiatrisch die Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10 F32.2) gestellt. Der Beschwerdeführer 2 sei aufgrund der komplexen psychiatrischen Situation durch Psychiater und regelmässig durch Psychologen begleitet worden. Beim Erstgespräch habe er berichtet, dass er vor dem Suizidversuch bei der Arbeit unter massiven Druck gestanden habe. Er hätte ein Projekt abschliessen sollen. Eigenanamnestisch sei es dann zunehmend zu depressiver Symptomatik mit Schlafstörungen und Morgentief gekommen. Bereits eine Woche vor dem Sprung aus dem Fenster habe er sich in suizidaler Absicht Schnittwunden an den Unterarmen zugefügt. Er habe sich dann jedoch selbstständig im Spital zur medizinischen Versorgung vorgestellt. Am Tag des Suizidversuchs sei die Situation dann dekompensiert und er sei mit der Tochter aus dem Fenster gesprungen. Er habe sie mitgenommen, da er nicht wollte, dass sie ohne Vater aufwachse.

 

4.4.2  Gegen den Beschwerdeführer 2 wurde eine Strafuntersuchung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung geführt, nachdem er am 22. April 2018 einen Abschiedsbrief geschrieben sowie am 26. April 2018 seine schlafende Tochter ergriffen hatte und mit ihr im Arm aus dem 4. Stock des Mehrfamilienhauses gesprungen war, wobei in Folge er und auch seine Tochter schwerverletzt am Boden vor dem Haus liegen geblieben waren (Suva-Nr. 31, S. 2 ff.). Im Rahmen des Strafverfahrens wurde von der Staatsanwaltschaft Solothurn ein externes psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, welches von Dr. med. I.___, Chefarzt, Klinik M.___, am 28. Dezember 2018 erstellt wurde (Suva-Nrn. 41 und 43). Dr. med. I.___ hatte sich zum Vorliegen einer psychischen Störung, der Schuldfähigkeit, der Rückfallgefahr und der Massnahmenindikation zu äussern.

 

4.4.2.1 Der Gutachter führt in seiner Beurteilung aus, in Bezug auf die persönliche Entwicklung des Beschwerdeführers 2 stelle sich eine weitgehend unauffällige Entwicklungsgeschichte dar, ohne Hinweise auf allenfalls früh sich manifestierende erhebliche Auffälligkeiten Normabweichungen im Bereich der Affekte, der Kognition der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen. Erkennbar sei der Beschwerdeführer 2 in seiner Heimat und Kultur gut integriert, berichte er darüber, ein guter und erkennbar auch ehrgeiziger Schüler gewesen zu sein. Er habe eine Universität besucht und habe sich als Software-Ingenieur beruflich entwickeln können. Überschattet sei die Kindheit allein durch den überraschenden und plötzlichen Herztod seines Vaters gewesen, als der Beschwerdeführer 2 12- 13-jährig gewesen sei. Es habe aber ein guter und fester familiärer Halt bestanden, mit dem sich aus dem Tod des Vaters ergebene, finanzielle Schwierigkeiten hätten aufgefangen werden können. Wie in seiner Kultur üblich, sei eine Ehe über einen Paarvermittler vermittelt worden. Die Ehefrau sei ebenfalls universitär ausgebildet und sie habe ihre Berufstätigkeit erst aufgegeben, als sie dem Beschwerdeführer 2 2013 mit der gemeinsamen, damals 3-jährigen Tochter nach Europa gefolgt sei. Normen und Werte seien beim Beschwerdeführer 2 fest verankert und zu erkennen seien eine sehr hohe Arbeitsmoral, eine hohe Leistungstätigkeit und auch eine sehr hohe Leistungsbereitschaft. Auffällig dabei sei eine sehr an Logik und Rationalität ausgerichtete Haltung und ein entsprechender Denkstil, bei der Emotionen, Gefühle und individuelle Aspekte fast wie kein Platz zu haben schienen. So habe er zur Frage angegeben, warum in der gemeinsam bezogenen Wohnung fast keinerlei dekorative Gegenstände zu sehen seien, dass diese nicht nötig für das Leben seien und man sich diese hier sparen könne. Es lägen insgesamt keine Auffälligkeiten vor, die ihn von den üblichen kulturellen Normen als deutlich und überdauernd abweichend erscheinen liessen, sei es im Bereich der Kognitionen, der Affekte, der Affektsteuerung der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen. Eine Persönlichkeitsstörung sei nicht zu diagnostizieren. Auffälligkeiten, die sich in der Lebenssituation des Beschwerdeführers 2 zum Tatzeitpunkt gezeigt hätten, wie ein Abgekapselt-Sein mit seiner Familie, liessen sich der hohen Arbeitsmoral und Arbeitsbelastung zuschreiben, aber auch dem Migrationsstatus und dem Umstand, dass auch seine Frau keinerlei sozialen Anschluss gesucht habe. Es falle jedenfalls auf, dass er jenseits des Berufes praktisch keinerlei Anschluss an die Gesellschaft gehabt habe, weder er noch seine Frau lokale soziale Kontakte gepflegt gar Freundschaften geschlossen hätten. Die angegebenen wenigen Freizeitaktivitäten hätten sich ganz auf das Zusammensein in der Kleinfamilie, auf Spielen im Park mit der Tochter, auf das Einkaufen-Gehen im Discounter und auf Ausschlafen am Wochenende und gemeinsam Filme im Internet schauen beschränkt. Für den Bereich der Affektivität sei nun zu erkennen, dass der Beschwerdeführer 2 für den Tatzeitraum fast lehrbuchartig spontan ein ganzes Spektrum von Symptomen nenne, die dem Störungsbild einer schweren depressiven Episode zuzusprechen seien. Dazu gehöre die herabgesetzte Stimmung, der Interessensverlust, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, aber auch Schuldgefühle sowie negative und pessimistische Zukunftsperspektiven. Dazu gehöre die mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung freudige Ereignisse emotional zu reagieren, was sich in den Angaben z.B. zum Kontakt der Tochter wiederfinde. Weiter sehe man eine ausgeprägte Schlafstörung, einen verminderten Appetit, einen Libido-Verlust. Depressionstypisch weiter das frühmorgendliche Erwachen und besonders typisch auch das Morgentief. Nicht zuletzt gehörten Suizidgedanken und Suizidhandlungen zum Krankheitsbild, falls dieses schwer ausgeprägt sei.

 

4.4.2.2 In der Gesamtschau und unter Beachtung der Schwere, Anzahl und Art der vorliegenden depressiven Symptome lasse sich zusammenfassend für den Tatzeitraum eine schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F32.2) diagnostizieren. Realitätsverkennende Aspekte, Störungen im formellen und inhaltlichen Denken, aber auch das Gefühl der Aussichtslosigkeit seiner Lage seien in dieser Diagnose subsumiert. Es habe eine starke gedankliche Einengung bestanden, von einem depressiven Wahn dem Auftreten von Halluzinationen sei aber nicht zu sprechen. Es stelle sich keine andere Diagnose dar, die bei der gegebenen Psychopathologie hier differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden müsste. Es gebe insbesondere keine Hinweise auf eine organisch-somatische Ursache der schweren depressiven Symptomatik. Zur Entwicklung der depressiven Störung scheine wesentlich ein sich zuspitzender Erschöpfungszustand bei Arbeitsüberlastung beigetragen zu haben. Ein soweit erkennbar extrem hoher Arbeitsdruck sei dabei auf eine Person mit besonders hohem Pflichtgefühl und hoher Arbeitsmoral getroffen. Als weitere belastende, depressionsfördernde Faktoren hätten die Migrationssituation und die weitgehende soziale Isolierung erkannt werden können, die Problematik, dass ein weiterer Kinderwunsch sich nicht habe realisieren lassen und wieweit allenfalls die Ehebeziehung selbst konfliktträchtig gewesen sei, müsse offenbleiben.

 

4.4.2.3 Zur Schuldfähigkeit für das ihm vorgeworfene Handeln an seiner Tochter berichtet der psychiatrische Gutachter, es lasse sich vorliegend eindeutig von einem Fall von erweitertem Suizidversuch sprechen. Festzustellen sei weiter, dass beim Beschwerdeführer 2 keine auffällige, z.B. dissozial narzisstisch ausgerichtete Persönlichkeitsproblematik zu erkennen sei, die allenfalls am motivationalen Geschehen Bedeutung haben könnte. Vielmehr lasse sich für die Tatzeit das Vorliegen einer sehr schweren Depression diagnostizieren mit störungstypischen Denkstörungen und realitätsverkennenden Zügen. Die Tatmotivation erscheine dann auch ganz deutlich auf altruistischen Überlegungen zu fussen. Zu sehen sei weiter, dass die Depression vorliegend einen Menschen getroffen habe, der sich durch besonders hohe Normen- und Arbeitsorientierung ausgezeichnet habe, bei der sich nun sein Erleben ganz zu einer Art Tunnelblick-Situation verdichtet habe, wo nur noch das Ziel der Pflichtwahrnehmung und Erfüllen der Arbeitsaufgabe mit der Vorstellung des unabwendbaren Scheiterns, das Gefühl, nicht genügen zu können, der Ausweglosigkeit, zusammengefallen seien. Gerade ein hohes Pflicht- und Verantwortungsgefühl – im Zusammenhang mit dem Erleben, die engste Bezugsperson für die gemeinsame Tochter zu sein – trügen zusammen mit der realitätsverkennenden Beurteilung, seine Tochter werde nach seinem Tod kein gutes Leben mehr führen können, wesentlich dazu bei, sie in das Suizid-Geschehen miteinzubeziehen. Wie im Sinne einer Selbstkorruption habe er dabei die wenigen Tage zuvor gemachte Äusserung seiner Tochter aufgegriffen, sie wolle mit ihm dorthin gehen, wohin er gehe. Eine Äusserung, die diese nach seinem Suizidversuch mit Schneiden am Handgelenk gesagt haben solle. Er habe sie in sein Denkgebäude eingebaut, in dem Sinne, dass die Tochter selbst auch ein Sterben wünsche. Der erweiterte Suizidversuch erscheine dann wie eine «Lösung», um zu einem ewigen, harmonischen Zusammenbleiben kommen zu können. Als auffälliger Umstand sei im vorliegenden Fall weiter die besondere Isolation des Beschwerdeführers 2 und seiner kleinen Familie zu nennen. Sie sei noch dadurch verstärkt worden, dass er eine Homeoffice-Arbeit geleistet habe, er also auch über die Arbeit praktisch keine Aussenkontakte gehabt habe, mit Ausnahme gelegentlicher Videokonferenzen mit seinem Kunden, den er zugleich als Boss bezeichnet habe. Aber auch in der Freizeit habe es keinerlei soziale Aktivitäten gegeben, keine Freundschaften, keinerlei Eingliederung in Verbände in Aktivitäten mit anderen Migranten seiner Heimat, die kleine Familie habe völlig abgekapselt und örtlich austauschbar erscheinend in einer kleinen Wohnung gelebt, in der sich alle ganz überwiegend aufgehalten hätten, mit Ausnahme kurzer Spaziergänge im Park dem Einkaufen im Lebensmittel-Discounter. Eine Wohnung ausgesprochen steril, ohne jegliche Dekoration Verzierung, es also keineswegs so gewesen sei, dass man sich hier eine gemütliche gar zweite Heimat geschaffen habe, sondern sich nur auf das Allernötigste beschränkt habe, um das Geld lieber zu sparen für Investitionen in sein Haus im Heimatland. Konkret sei beim Beschwerdeführer 2 festzuhalten, dass die Handlung an seiner Tochter in einem realitätsverkennenden Erleben im Sinne einer altruistischen Handlung erfolgt sei und ohne dass hier aus forensisch ärztlicher Sicht eine deliktische Willensrichtung erkannt werden könnte. Aus forensischer Sicht sei damit zusammenfassend und unter Beachtung der tatzeitaktuellen schweren Depression mit deutlichen realitätsverkennenden Anteilen von einer für das Tathandeln aufgehobenen Einsicht in das Unrecht seines Handelns zu sprechen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 StGB. Das Steuerungsvermögen sei in dieser Situation nicht weiter zu prüfen. Aus psychiatrisch-forensischer Sicht liege damit beim Beschwerdeführer 2 für das vorgeworfene Handeln an seiner Tochter eine aufgehobene Schuldfähigkeit vor.

 

4.4.3  Im Bericht der Klinik N.___ vom 14. Februar 2019 (Suva-Nr. 34) wird die Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10 F32.2) gestellt. Zum Sprungereignis vom 26. April 2018 wird im Bericht ausgeführt, der Beschwerdeführer 2 leide seit Januar 2018 an einer Depression. Bereits eine Woche vor dem Sprung aus dem Fenster des 4. Stockes im April 2018, habe er versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Am Abend, bevor er gesprungen sei, habe sich sein Zustand etwas stabilisiert. Am folgenden Morgen um 6 Uhr sei es ihm erneut sehr schlecht gegangen und er habe nicht mehr klar denken können. Er habe seine Tochter in den Tod mitnehmen wollen, weil er nicht gewollt habe, dass sie ohne Vater aufwachsen müsse.

 

4.4.4  Die Unfallversicherung Suva veranlasste bei der Kreisärztin K.___, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, eine versicherungspsychiatrische Aktenbeurteilung der Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers 2 zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung vom 26. April 2018. Die Kreisärztin führt in ihrem Bericht vom 15. Juli 2019 (Suva-Nr. 44) aus, es gebe in den vorhandenen Unterlagen Hinweise auf eine längere bewusste Auseinandersetzung mit der Frage des Suizids und vorbereitenden bzw. planenden Handlungen. Bereits am 19. April 2018 habe sich der Beschwerdeführer 2, mit dem Willen zu sterben, mit einer Rasierklinge einen Schnitt am linken Handgelenk zugefügt und habe in dieser Zeit berichtet, in den Wochen vor dem Ereignis sehr oft an Suizid gedacht zu haben. Hier sei insbesondere auch das vom Beschwerdeführer 2 hinterlassene handschriftliche, englischsprachige Schreiben an die Polizei zu nennen, datiert vom 22. April 2018, also vier Tage vor dem Suizidversuch. Dieses habe dem forensischen Gutachter vorgelegen und sei von diesem sinngemäss übersetzt worden. Der Beschwerdeführer 2 habe darin beschrieben, dass er in den letzten Wochen an einer Depression gelitten habe und viele schlaflose Nächte gehabt habe. Er sei nicht glücklich mit seinem Leben. Er liebe seine Familie, im speziellen seine Tochter. Er wolle nicht, dass sie ein miserables Leben in seiner Abwesenheit führe, daher nehme er sie mit sich mit. Unter PS habe er geschrieben: «Aufgrund meiner Depression bin ich nicht mehr in der Lage, meine Arbeit auszuführen und ich konnte nicht einfache Sachen machen, welche ich in Vergangenheit erfolgreich erledigte.» Angeführt worden sei auch die Kontakttelefonnummer des Bruders mit der Bitte, diesem zu helfen, das ihm zustehende Geld aus der deutschen und schweizerischen Sozialversicherung zu erhalten. Hieraus lasse sich schliessen, dass der Beschwerdeführer 2 sich um allfällige finanzielle Aspekte seiner geplanten Suizidhandlung Gedanken gemacht habe, was deutlich für eine zumindest teilweise bestehende Urteilsfähigkeit vier Tage vor der eigentlichen suizidalen Handlung spreche. Bezüglich der unmittelbar zeitnahen Rekonstruktion des Handlungsverlaufes lasse sich dem forensischen Gutachten auch entnehmen, dass der Beschwerdeführer 2 angeben habe, dass er in der Nacht auf den 26. April 2018 nicht, nur sehr wenig geschlafen habe, und am Morgen die Fenster geöffnet habe. Seine Frau habe gesehen, dass er die Fenster geöffnet habe, dann habe er gewartet, bis sie wieder geschlafen habe, dann habe er seine Tochter genommen und sei gesprungen. Dieser Aspekt spreche dafür, dass er zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung in der Lage gewesen sei, vorauszudenken und seine Handlungen danach zu variieren und somit für einen Rest von erhaltener Urteilsfähigkeit. Diese Details in der Rekonstruktion des Handlungsablaufes liessen aus psychiatrischer Sicht begründete Zweifel an einer vollkommen aufgehobenen Urteilsfähigkeit zu. Dies auch unter Berücksichtigung der vom Beschwerdeführer 2 gegenüber dem Gutachter gemachten Angaben, dass er nicht er selbst gewesen sei und sich alles nicht habe näher überlegen können, dass es kein Abwägen, kein Denken über ein Dafür Dagegen, kein klares Denken gegeben habe. Diese Angaben hätten aus versicherungspsychiatrischer Sicht lediglich eine erhebliche Einengung auf die suizidalen Gedanken belegen können.

 

Zur Rekonstruktion des psychopathologischen Befundes zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung führt die Kreisärztin aus, den Unterlagen sei zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer 2 wahrscheinlich Anfang 2018 erste depressive Symptome entwickelt habe mit zunehmender, fremdanamnestisch bestätigter Einengung auf die Arbeitstätigkeit und einer Minimierung von Freizeitaktivitäten. Später kämen, soweit retrospektiv nachvollziehbar, Schlafstörungen hinzu. Auch an den bereits im Vorfeld des 26. April 2018 aufgetretenen suizidalen Gedanken bestünden angesichts der suizidalen Handlung am 19. April 2018 und der Formulierungen im Schreiben des Versicherten vom 22. April 2018 keine Zweifel. Die Angaben des Beschwerdeführers 2 zu einer zusätzlich bestehenden Störung des Selbstvertrauens, Selbstvorwürfen, Konzentrationsstörungen betreffen das innere Erleben und seien nicht überprüfbar, passten aber zur depressiven Entwicklung und seien daher zumindest wahrscheinlich vorhanden gewesen. Eine Antriebsstörung/gesteigerte Ermüdbarkeit hingegen werde nicht deutlich, da der Beschwerdeführer 2 weiterhin seinen Arbeitsrhythmus eingehalten habe. Auch eine psychomotorische Agitiertheit / Hemmung ein Appetitverlust/gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsveränderung seien in der Fremdanamnese und in der Schilderung des eigenen Erlebens nicht nachvollziehbar. Nachvollziehbar sei aufgrund der Lebensbiographie, dass die Arbeitstätigkeit in Kombination mit einem hohen Leistungsanspruch an sich selbst und die vom Gutachter herausgearbeitete soziale Isolation der Familie psychosoziale Stressoren dargestellt hätten, welche den Beschwerdeführer 2 erheblich belastet hätten. Hinweise für weitere psychosoziale Stressoren hätten sich nicht finden lassen können. Als sogenannte Risikopsychopathologie, die das Risiko der Umsetzung von Suizidgedanken in die Handlung bei Depressiven erhöhe, seien beim Versicherten, soweit beurteilbar, eine tiefe depressive Herabgestimmtheit («mental pain»), Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen und pseudoaltruistische Ideen zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung vorhanden gewesen. Anhaltspunkte für akustische Halluzinationen, im Sinne von zum Suizid auffordernden, imperativen massiv entwertenden Stimmen, wahnhaften Befürchtungen quälender innerer äusserer Unruhe fänden sich weder für die Zeit vor dem Suizidversuch noch in der anschliessenden psychotherapeutisch-psychiatrischen Behandlung der forensischen Begutachtung.

 

Die Kreisärztin kommt nach Prüfung der erforderlichen Kriterien für eine schwere depressive Episode zum Ergebnis, eine solche läge vor dem 26. April 2018 nicht vor. Auch seien bereits bei einer mittelgradigen Episode laut ICD-10 vier mehrere der angegebenen Symptome vorhanden und der Betroffene habe meist grosse Schwierigkeiten, alltägliche Aktivitäten fortzusetzen. Eine Veränderung im Aktivitätsniveau des Beschwerdeführers 2 sei jedoch weder vom Versicherten noch von dessen Ehefrau berichtet worden. Bis zum Tag vor dem Suizidversuch habe er vom Morgen bis am Abend mit 15 Minuten Pause gearbeitet, dasselbe auch an den Wochenenden, sodass er keine Zeit gefunden habe, mit der Tochter zu spielen zu essen. Dies auch unter Berücksichtigung der Angaben im Suizidschreiben vom 22. April 2018, nach denen er nicht mehr in der Lage gewesen sei, seine Arbeit richtig auszuführen. Zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung, aber auch in den Tagen und Wochen davor danach, habe es keine Hinweise für psychotische Symptome gegeben. Im Gutachten werde ebenfalls explizit ausgeführt, dass keine realitätsverkennenden Aspekte, keine Störungen im formellen und inhaltlichen Denken, kein depressiver Wahn und keine Halluzinationen bestanden hätten. Damit sei das Kriterium D (Keine Halluzinationen, Wahn depressiver Stupor) erfüllt und es habe keine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10 F32.3) vorgelegen. Anhand der formalen ICD-10 Kriterien werde auch deutlich, dass das Vorliegen von wiederkehrenden Gedanken an den Tod an Suizid suizidales Verhalten nur ein Merkmal von mehreren darstelle und nicht für sich genommen das Vorliegen einer schweren depressiven Episode begründe. Suizidgedanken und Suizidhandlungen hätten auch bei akuten Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und leichten bis mittelgradigen depressiven Episoden auftreten können. Im psychiatrischen Gutachten sei über eine «fast lehrbuchartig anmutende», spontane Schilderung der depressiven Symptomatik für den Tatzeitraum durch den Versicherten im Rahmen der anamnestischen Erhebungen berichtet worden. In Anlehnung an Schneider et al könne eine lehrbuchartige, präzise Darstellung der Symptome als Hinweis auf eine eingeschränkte Glaubhaftigkeit der Angaben angesehen werden. Es sei realistischerweise auch anzunehmen, dass sich der Beschwerdeführer 2 angesichts der versicherungstechnischen und damit finanziellen Unklarheiten seiner Lage sowie dem strafrechtlichen Verfahren mit den rechtlichen und medizinischen Details auseinandergesetzt habe und somit zum Untersuchungszeitpunkt nicht unvorbereitet gewesen sei.

 

Hinsichtlich der rückwirkenden Schlussfolgerungen zur Urteilsfähigkeit zum Zeitpunkt der Suizidhandlung sei beim Beschwerdeführer 2 davon auszugehen, dass zwar eine höhergradige psychische Störung im Sinne einer ersten depressiven Episode bestanden habe, diese den Beschwerdeführer 2 auch in seiner Urteilsfähigkeit erheblich einschränkt habe, aber nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer vollkommen aufgehobenen Urteilsfähigkeit geführt habe.

 

5.       Ob die Voraussetzung der fehlenden Urteilsfähigkeit gegeben ist, damit die Ausnahmebestimmung von Art. 48 UVV zur Anwendung kommt und ein Selbsttötungsversuch als Unfallereignis gelten kann, ist durch einen psychiatrischen Sachverständigen darzulegen (siehe E. II. 2.4 hiervor). Durch die Unfallversicherung wurde kein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Es lag bereits ein durch die Strafuntersuchungsbehörde eingeholtes, forensisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. med. I.___ vor. Dieses und die weiteren Unterlagen hat die Unfallversicherung Suva einer versicherungsinternen Kreisärztin vorgelegt, die Fachärztin auf dem entsprechenden Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie ist. Da es sich hierbei nicht um eine externe Begutachtung handelte, waren auch keine Mitwirkungsrechte im Sinne einer vorgängigen Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen, zu gewähren. Auf diese versicherungsinterne Expertise wurde im Einspracheentscheid abgestellt. Bei einer solchen genügen geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit, um ergänzende Abklärungen in Form eines Gerichtsgutachtens einer versicherungsexternen medizinischen Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG vorzunehmen zu müssen (Urteil des Bundesgerichts 8C_246/2020 vom 10. September 2020 E. 2.3 mit Hinweisen).

 

5.1     Die Suva-Kreisärztin, Dr. med. K.___, legt hinsichtlich des psychopathologischen Befundes einleuchtend dar, der Beschwerdeführer 2 habe wahrscheinlich Anfang 2018 erste depressive Symptome entwickelt mit zunehmender, fremdanamnestisch bestätigter Einengung auf die Arbeitstätigkeit und einer Minimierung von Freizeitaktivitäten. Später seien Schlafstörungen und Suizidgedanken hinzugekommen. Sie fügt weiter an, dass die Angaben des Beschwerdeführer 2 zu einer zusätzlich bestehenden Störung des Selbstvertrauens, Selbstvorwürfen und Konzentrationsstörungen zu einer depressiven Entwicklung passten. Nicht erkennbar ist für sie eine Antriebsstörung gesteigerte Ermüdbarkeit, weil der Beschwerdeführer 2 seinen massiv hohen Arbeitsrhythmus weiterhin eingehalten hatte. Nachvollziehbar sei aufgrund seiner Lebensbiographie, dass seine Arbeitstätigkeit in Kombination mit einem hohen Leistungsanspruch an sich selbst und die vom Gutachter (Dr. med. I.___) herausgearbeitete soziale Isolation der Familie psychosoziale Stressoren dargestellt hätten, welche ihn erheblich belastet hätten. Hinweise für weitere psychosoziale Stressoren erkennt sie nicht. Als sogenannte Risikopsychopathologie, die das Risiko der Umsetzung von Suizidgedanken in die Handlung bei Depressiven erhöhe, seien, soweit beurteilbar, eine tiefe depressive Herabgestimmtheit (mental pain»), Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen und pseudoaltruistische Ideen zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung vorhanden gewesen. Anhaltspunkte für akustische Halluzinationen, im Sinne von zum Suizid auffordernden, imperativen massiv entwertenden Stimmen, wahnhaften Befürchtungen quälender innerer äusserer Unruhe fänden sich weder für die Zeit vor dem Suizidversuch noch in der anschliessenden psychotherapeutisch-psychiatrischen Behandlung der forensischen Begutachtung. Damit entspricht der von Dr. med. K.___ herausgearbeitete Befund demjenigen des im Strafverfahren beauftragten Gutachters Dr. med. I.___, sie leitet ihren Befund denn auch weitgehend aus dessen Ausführungen ab, da sie selber den Beschwerdeführer 2 im Gegensatz zu Dr. med. I.___ nicht untersucht und von diesem somit keine direkten Angaben erhalten hat. Die einzig erkennbare Abweichung besteht beim Symptom des Appetitverlustes, das Dr. med. I.___ bejaht, dessen Vorliegen die versicherungsinterne Expertin indessen für nicht nachvollziehbar hält. Einig sind sich die beiden Experten insbesondere über das Vorliegen einer tiefen depressiven Verstimmung zum Ereigniszeitpunkt.

 

Aufgrund dieser Befundlage kommt die Kreisärztin zum Ergebnis, es habe beim Beschwerdeführer 2 zum Zeitpunkt des 26. April 2018 eine mittelgradige depressive Episode laut ICD-10 vorgelegen. Von einer schweren depressiven Episode geht sie nicht aus, weil von den drei Hauptsymptomen, die bei einer schweren depressiven Episode alle vorliegen müssen (depressive Stimmung, Interessen- Freudverlust, verminderter Antrieb gesteigerte Ermüdbarkeit) das Kriterium «verminderter Antrieb gesteigerte Ermüdbarkeit» nicht erfüllt sei. Eine Veränderung im Aktivitätsniveau des Beschwerdeführers 2 sei weder berichtet worden noch erkennbar. Bis zum Tag vor dem Suizidversuch habe er vom Morgen bis am Abend mit 15 Minuten Pause gearbeitet, dasselbe auch an den Wochenenden. Zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung, aber auch in den Tagen und Wochen davor danach, habe es keine Hinweise für eine psychotische Symptome gegeben. Eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10 F32.3) kann nach ihrer Ansicht schon deshalb nicht vorgelegen haben. Suizidgedanken und Suizidhandlungen könnten auch bei akuten Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und leichten bis mittelgradigen depressiven Episoden auftreten, legt sie weiter dar, was plausibel erscheint.

 

Bezüglich der Frage der Urteilsfähigkeit weist die Suva-Kreisärztin in ihrer Beurteilung auf in den Unterlagen vorhandenen Hinweise auf eine längere bewusste Auseinandersetzung mit der Frage des Suizids und vorbereitenden bzw. planenden Handlungen hin. Dies ist korrekt und unbestritten. Bereits am 19. April 2018 fügte sich der Beschwerdeführer 2, mit dem Willen zu sterben, mit einer Rasierklinge einen Schnitt am linken Handgelenk zu. Am 22. April 2018 verfasste er ein entsprechendes Schreiben, worin er ausführte, nicht glücklich mit seinem Leben zu sein und nicht zu wollen, dass seine Tochter ein miserables Leben in seiner Abwesenheit führe, daher nehme er sie mit sich mit. Es wird auch vom Beschwerdeführer 2 selbst nicht in Frage gestellt, dass er sich am 26. April 2018 in suizidaler Absicht aus dem Fenster gestürzt hatte. Weiter legt Dr. med. K.___ einleuchtend dar, dass sich der Beschwerdeführer 2, der in seinem Abschiedsbrief auch geschrieben hatte, es sei seinem Bruder zu helfen, das ihm zustehende Geld aus der deutschen und schweizerischen Sozialversicherung zu erhalten, vorgängig um allfällige finanzielle Aspekte seiner geplanten Suizidhandlung Gedanken gemacht hatte. Daraus schlussfolgert sie, dass vier Tage vor dem Ereignis eine zumindest teilweise bestehende Urteilsfähigkeit vorgelegen haben müsse. Ebenfalls nachvollziehbar schliesst sie in der Rekonstruktion des Handlungsverlaufs auf bewusste Handlungen, indem der Beschwerdeführer 2 nach einer schlaflosen Nacht das Fenster geöffnet hatte und nachdem seine Frau erwacht war, abwartete, bis diese wieder einschlief. Er konnte somit zumindest in diesem Zeitpunkt abschätzen was es bedeutete, dass seine Ehefrau erwacht war, und seine Handlung entsprechend anpassen (abwarten, bis diese wieder einschläft).

 

5.2     Es stellt sich die Frage, ob die Expertise von Dr. med. I.___, der im Gegensatz zu Suva-Kreisärztin zum Ereigniszeitpunkt eine schwere depressive Episode diagnostiziert, geringe Zweifel an der versicherungsinternen Stellungnahme, auf die die Beschwerdegegnerin abgestellt hat, hervorruft. Diesbezüglich ist noch einmal festzuhalten, dass die Darstellung der Befunde in den jeweiligen Expertisen kaum voneinander abweicht. Dass Dr. med. K.___ den Beschwerdeführer 2 im Gegensatz zu Dr. med. I.___ nicht selber untersucht hat, spricht für sich alleine nicht gegen die Beweiskraft ihrer Expertise, da es im vorliegenden Fall um die Frage der Feststellung eines zeitlich zurückliegenden Zustands des Beschwerdeführers 2 geht, nicht um die Erhebung eines aktuellen psychopathologischen Befundes. Insofern sind auch die übrigen, in den Akten vorhandenen psychiatrischen Berichte der Kliniken J.___ und N.___ nicht geeignet, Rückschlüsse bezüglich des Gesundheitszustandes zum Ereigniszeitpunkt zu ziehen. Diese setzen sich mit dieser Frage nicht auseinander. Die in den Berichten jeweils diagnostizierte schwere depressive Episode wird für den aktuellen Zeitpunkt diagnostiziert, in welchem sich der Beschwerdeführer 2 mit der neuen Situation auseinanderzusetzen hatte, dass er nach seinem fehlgeschlagenen Selbsttötungsversucht querschnittgelähmt ist und seine Tochter ebenfalls mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat.

 

Fest steht gestützt auf die Expertisen von Dr. med. K.___ und Dr. med. I.___, dass beim Beschwerdeführer 2 im fraglichen Zeitpunkt eine psychische Störung im Sinne einer depressiven Episode bestanden hat. Einzig der Schweregrad wird von den beiden Fachpersonen unterschiedlich beurteilt. Hinsichtlich der Herleitung der Diagnose bzw. des Schweregrads, ist bei Betrachtung der Beurteilungen festzustellen, dass das Kriterium des verminderten Antriebs der gesteigerten Ermüdbarkeit gemäss Dr. med. K.___ fehlt und von Dr. med. I.___ ebenfalls nicht als bestehend genannt wird. Der Schweregrad der depressiven Episode spielt jedoch insofern keine entscheidende Rolle, als es für die (Rechts-)frage der Auswirkungen der bestehenden psychischen Einschränkungen auf die Urteilsfähigkeit nicht alleine auf diesen ankommt, sondern die gesamten Umstände heranzuziehen sind. Nicht ausschlaggebend ist, ob im Ereigniszeitpunkt eine schwere depressive Episode eine mittelgradige depressive Episode vorgelegen hat. Weder verhält es sich so, dass eine schwere depressive Episode zwangsläufig mit einer aufgehobenen Urteilsfähigkeit (gemäss Art. 16 ZGB) eingehergeht, noch schliesst das Vorliegen einer «nur» mittelgradigen depressiven Episode eine Urteilsunfähigkeit im hier relevanten Sinne aus. Gutachterlich zu beantworten ist die Frage, ob und in welchem Mass das geistige Vermögen bei der fraglichen Handlung versagt hat.

 

5.3     Die zuletzt genannte Frage wird in beiden psychiatrischen Expertisen beantwortet, allerdings unter verschiedenen Blickwinkeln bzw. Fragestellungen, was für die vorliegende Würdigung relevant ist. Während Dr. med. I.___ die Frage zu beantworten hatte, ob der Beschwerdeführer 2 in Bezug auf das Mitnehmen seiner Tochter beim Sturz aus dem Fenster schuldfähig war, hatte Dr. med. K.___ konkret zu prüfen, inwiefern die Handlungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers 2 hinsichtlich seines Selbsttötungsversuchs aufgrund einer psychischen Störung noch gegeben waren. Unterschiedlich sind die Blickwinkel insbesondere, weil es im einen Fall um das Verhalten gegenüber der Tochter und im anderen um den eigenen Lebenswillen geht. Bezüglich Letzterem wurde bereits festgehalten, dass schon in den Tagen vor dem Fenstersturz am 26. April 2018 ein Handeln in suizidaler Absicht erfolgte. Der Beschwerdeführer 2 schnitt sich am 19. April 2018 die Pulsadern auf. Er verfasste am 22. April 2018 einen Abschiedsbrief, der unter anderem Handlungsanweisungen zugunsten seines Bruders in finanzieller Hinsicht enthielt. Hieraus ist der Schluss zu ziehen, dass der Beschwerdeführer 2 in diesem Zeitpunkt in der Lage war, die Folgen seines Handelns abzuschätzen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Am Ereignismorgen selbst habe er sich nach seinen eigenen Angaben «mies» gefühlt (Gutachten Dr. med. I.___, S. 9; Suva-Nr. 41). In der Nacht habe er überhaupt nicht geschlafen. Der Morgen sei gekommen, er habe sich in das Bett seiner Tochter gelegt und dann ein bisschen geschlafen. Dann habe er die Fenster geöffnet. Seine Frau habe das gesehen, woraufhin er gewartet habe, bis sie wieder geschlafen habe. Dann habe er seine Tochter genommen und sei gesprungen. Unter Würdigung der gesamten Umstände lässt sich dabei nicht von einem depressiven Stupor Raptus sprechen. Vielmehr konnte der Beschwerdeführer 2 kurz vor dem Sprung aus dem Fenster sein Handeln anpassen und zuwarten, bis die Ehefrau wieder eingeschlafen war. Weiter lässt sich aus beiden vorhandenen Gutachten einleuchtend schliessen, dass beim Beschwerdeführer 2 keinerlei Anzeichen für psychotische Symptome (Wahn, Halluzinationen Ähnliches) bestanden hatten. Dr. med. I.___ spricht in seiner Beurteilung von einer starken gedanklichen Einengung (hinsichtlich der Folgen eines Suizids für seine Tochter, die dann ohne Vater aufwachsen müsste), nicht aber von einem depressiven Wahn. Er prüft und verneint die Schuldfähigkeit in Bezug auf die Mitnahme seiner Tochter. Hier stellt er einen Zusammenhang her zwischen dem beim Beschwerdeführer 2 bestehenden hohen Pflicht- und Verantwortungsgefühl und seinem Erleben, die engste Bezugsperson für seine Tochter zu sein. Hieraus habe der Beschwerdeführer 2 den realitätsverkennenden Schluss gezogen, seine Tochter werde ohne ihn kein gutes Leben führen können. Die Entstehung dieser irrigen Vorstellung, von der der Beschwerdeführer 2 gutachterlich gesehen nicht mehr abweichen konnte, liege in der von der Tochter nach der ersten suizidalen Handlung am 19. April 2018 (Aufschneiden der Pulsadern) getätigten Äusserung, sie gehe dorthin wo ihr Vater sei. Daraus habe der Beschwerdeführer 2 realitätsverkennend geschlossen, seine Tochter wolle ebenfalls sterben. Hierin liegt der gutachterlich festgestellte Realitätsverlust und daraus schliesst der Gutachter auf eine aufgehobene Einsichtsfähigkeit bzw. eine fehlende deliktische Willensrichtung. Die Schlussfolgerungen von Dr. med. I.___ sind damit untrennbar mit den einengenden Gedanken bezüglich der Tochter verbunden, indem er festhält, dass der Beschwerdeführer 2 seine Handlung nicht mehr von seiner Tochter abstrahieren konnte. Sie enthalten jedoch keine Aussagen über den Realitätsbezug des Beschwerdeführers 2 hinsichtlich seines eigenen Sterbewillens. So ist denn die strafrechtliche Einsichtsfähigkeit auch nicht gleichzusetzen mit der Urteilsfähigkeit nach Art 16 ZGB, die in der hier fraglichen Verordnungsbestimmung von Art. 48 UVV gefordert ist. Die Bestimmung stellt auf die gänzliche Unfähigkeit des Versicherten ab, vernunftgemäss zu handeln. Damit geht der Verordnungsgeber eindeutig von der fehlenden Urteilsfähigkeit im Sinne des Art. 16 ZGB und nicht von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit aus (vgl. hierzu BGE 113 V 61 E. 2c S. 62 f.).

 

5.4     Der Blick in die Rechtsprechung zeigt, dass bei der Beurteilung gemäss Art. 48 UVV ein Fokus auf das Vorliegen von Wahnelementen gelegt wird. So verneinte das Bundesgericht das Vorliegen eines Unfalls in einem Fall, in welchem sich ein Versicherter, der sich zuvor wegen einer neurotischen Depression bei einer anankastischen Persönlichkeit in Behandlung befunden und sich mit seiner Armeepistole erschossen hatte (mit Hinterlassen einer Abschiedsnotiz), das Vorliegen einer Urteilsunfähigkeit. Zwar schliesse planmässiges und vernünftiges Handeln in den letzten Tagen und unmittelbar vor dem Suizid völlige Urteilsunfähigkeit im Zeitpunkt der Tat nicht aus. Wenn aber in verschiedener Hinsicht vernünftige und planmässige Handlungen ersichtlich seien (konkret Suizidäusserungen einen Monat zuvor, Verfassen eines ersten Abschiedsbriefs einige Tage zuvor), könne eine panikartige und in den Suizid mündende Kurzschlusshandlung ausgeschlossen werden. Wenn ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln wahrscheinlicher sei als Handeln im Zustand voller Urteilsunfähigkeit, müsse ein Unfall verneint werden (Urteil des Bundesgerichts U 55/99 vom 11. Juli 2001 E. 3b).

 

Im Falle eines Versicherten, der periodisch unter depressiven Schüben gelitten hatte und sich eines Abends von einer Brücke stürzte, erwog das Bundesgericht, im gesamten langjährigen Verlauf der depressiven Krankheit hätten jegliche Anhaltspunkte für das Vorliegen von Wahnideen, Halluzinationen anderen psychotischen Symptomen gefehlt. Es müsse als «extrem unwahrscheinlich» gelten, dass der Versicherte am fraglichen Abend erstmals von einem Raptus (plötzlich hervorbrechende, unsinnige und gewalttätige Handlung in einem albtraumartigen psychotischen Dämmerzustand) erfasst worden sei. Der Umstand, dass der Versicherte bereits rund eine Woche vor der Tat eine Selbsttötung durch Sprung von der Brücke in Betracht gezogen und am fraglichen Abend seinen Personenwagen in einem nahe dieser Brücke gelegenen Parkhaus abgestellt habe, belege vielmehr ein zielgerichtetes Handeln. Es müsse angenommen werden, dass er damals von Verzweiflung, subjektiver Ausweglosigkeit und antizipierter Scham für den Fall eines abermaligen Zurückweichens erfüllt gewesen sei. Hingegen seien keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er plötzlich von einer umfassenden und unsinnigen Realitätsverkennung überwältigt worden sein könnte (Urteil des Bundesgerichts U 313/99 vom 4. April 2000 E. 2a).

 

Eine völlige Urteilsunfähigkeit bejahte das Bundesgericht bei einem Versicherten, der an einer paranoiden depressiven Psychose litt, die auf dem Hintergrund einer depressiv-zwanghaften Persönlichkeit entstanden war, und der von einem unkorrigierbaren Wahngedanken beherrscht war, weil er glaubte, für die hohen finanziellen Verluste seiner Arbeitgeberfirma verantwortlich gemacht zu werden. Das Motiv zur Suizidhandlung (Sturz aus dem zweiten Stock) lag gemäss den Ausführungen des psychiatrischen Gutachters eindeutig in depressiven Wahnideen begründet (BGE 113 V 61 E. 3a S. 64 f.).

 

Beim Beschwerdeführer 2 waren gestützt auf die Aktenlage zum Zeitpunkt des Sturzes aus dem Fenster in suizidaler Absicht keine psychotischen Symptome erkennbar. Der Hergang und die Umstände in den Tagen zuvor (erster Suizidversuch in den Tagen zuvor, Verfassen eines Abschiedsbriefs mit Regelungen für die Zeit nach dem Ableben, Abwarten mit dem Sprung aus dem Fenster, bis die Ehefrau wieder schläft) lassen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schliessen, dass die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers 2 hinsichtlich der eigenen Suizidhandlung nicht gänzlich aufgehoben war. So ist – in Einklang mit der Schlussfolgerung von Dr. med. K.___ – davon auszugehen, dass beim Beschwerdeführer 2 zwar eine höhergradige psychische Störung im Sinne einer ersten depressiven Episode bestanden und diesen in seiner Urteilsfähigkeit auch erheblich einschränkt hat, aber nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer vollkommen aufgehobenen Urteilsfähigkeit führte. Dementsprechend ist kein Unfallereignis gegeben und es liegt keine Leistungspflicht der Unfallversicherung vor. Bei dieser Sachlage kann die Frage, welcher unfallversicherungsrechtliche Leistungserbringer im konkreten Fall zuständig wäre, offen gelassen werden. Die Beschwerde des Beschwerdeführers 2 ist abzuweisen. Diejenige der Beschwerdeführerin 1 erweist sich mit diesem Ergebnis als gegenstandslos, da sich ihr Rechtsschutzinteresse einzig auf die Frage beschränkt hat, welcher Leistungserbringer unter der Annahme des Vorliegens eines Unfalleiereignisses zuständig wäre. Jedoch ist der Entscheid unter diesen Umständen der Krankenversicherung zu eröffnen.

 

6.

6.1     Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Parteientschädigungen auszurichten. Der Beschwerdeführer 2 obsiegt nicht und die Beschwerdegegnerin sowie die Beschwerdeführerin 1 haben als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisationen – abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen – keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (vgl. etwa BGE 128 V 133 E. 5b, 126 V 150 E. 4a).

 

6.2     Das Beschwerdeverfahren der Unfallversicherung ist kostenlos (Art. 1 Abs. 1 UVG i.V.m. Art. 61 lit. a ATSG).

 

Demnach wird erkannt:

1.    Die Beschwerde der Ersatzkasse UVG wird als gegenstandslos von der Geschäftskontrolle abgeschrieben

2.    Die Beschwerde von B.___ wird abgewiesen.

3.    Es werden keine Parteientschädigungen ausgerichtet.

4.    Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

 

Rechtsmittel

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Mitteilung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar (vgl. Art. 39 ff., 82 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Bei Vor- und Zwischenentscheiden (dazu gehört auch die Rückweisung zu weiteren Abklärungen) sind die zusätzlichen Voraussetzungen nach Art. 92 93 BGG zu beachten.

 

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn

Der Präsident                           Der Gerichtsschreiber

Flückiger                                   Lazar

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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