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Urteil Verwaltungsgericht (SO - VSBES.2019.228)

Zusammenfassung des Urteils VSBES.2019.228: Verwaltungsgericht

Das Versicherungsgericht entscheidet in einem Fall betreffend Unfallversicherung über den Einspruch eines Versicherten gegen die Suva. Der Versicherte erlitt einen Sturz vom Balkon und leidet seitdem an einer kompletten Paraplegie. Die Suva verneinte die Leistungspflicht, da sie annahm, der Versicherte habe den Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt. Der Versicherte erhob Beschwerde und argumentierte, dass er zum Zeitpunkt des Sturzes gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln. Es wird diskutiert, ob der Versicherte suizidal handelte oder ob psychische Probleme und Medikamenteneinflüsse zu seinem Verhalten führten. Die Beschwerdegegnerin hält dagegen, dass der Versicherte absichtlich gehandelt habe. Die Frage der Urteilsunfähigkeit zum Zeitpunkt des Sturzes steht im Mittelpunkt der Diskussion.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VSBES.2019.228

Kanton:SO
Fallnummer:VSBES.2019.228
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Versicherungsgericht
Verwaltungsgericht Entscheid VSBES.2019.228 vom 14.10.2021 (SO)
Datum:14.10.2021
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: ähig; Sturz; Urteil; Suizid; Balkon; Urteils; Beschwerdeführers; Gutachten; Zeitpunkt; Suva-Nr; Freundin; Urteil; Unfall; Beurteilung; Suizidversuch; Hinweis; Ereignis; Störung; Trazodon; Balkons; Akten
Rechtsnorm: Art. 16 ZGB ;Art. 37 UVG ;Art. 4 ATSG ;Art. 6 UVG ;Art. 8 ZGB ;
Referenz BGE:112 V 101; 113 V 61; 113 V 63; 125 V 351; 126 V 353; 129 V 95; 132 V 393; 139 V 496; 143 V 269;
Kommentar:
Ueli Kieser, ATSG- 4. Aufl., Zürich, 2008

Entscheid des Verwaltungsgerichts VSBES.2019.228

 
Geschäftsnummer: VSBES.2019.228
Instanz: Versicherungsgericht
Entscheiddatum: 14.10.2021 
FindInfo-Nummer: O_VS.2021.193
Titel: Unfallversicherung

Resümee:

 

 

 

Urteil vom 14. Oktober 2021

Es wirken mit:

Präsident Flückiger

Vizepräsidentin Weber-Probst

Oberrichter von Felten

Gerichtsschreiber Isch

In Sachen

A.___ vertreten durch Rechtsanwältin Sarah-Maria Kaisser

Beschwerdeführer

 

gegen

Suva Rechtsabteilung, Postfach 4358, 6002 Luzern, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Frischkopf

Beschwerdegegnerin

 

betreffend Unfallversicherung (Einspracheentscheid vom 19. August 2019)

 


zieht das Versicherungsgericht in Erwägung:

I.

 

1.      

1.1     Der 1971 geborene A.___ (nachfolgend Beschwerdeführer) ist bei der Suva (nachfolgend Beschwerdegegnerin) gegen Berufs- und Nichtberufsunfälle versichert.

 

1.2     Am 20. November 2017 erlitt der Beschwerdeführer einen Sturz vom Balkon seiner Wohnung (vgl. Unfallmeldung vom 24. November 2017; Suva-Nr. [Akten der Suva] 3). In der Folge wurde er im B.___ (Suva-Nr. 19) sowie im C.___ (Suva-Nr. 20 ff.) und danach im D.___, behandelt. Der Beschwerdeführer leidet seit dem Sturzereignis an einer kompletten Paraplegie (Suva-Nr. 80).

 

1.3     Im Rahmen des zur Klärung eines allfälligen Drittverschuldens angehobenen Strafverfahrens wurde beim E.___ ein rechtsmedizinisches Gutachten (Suva-Nr. 96, S. 27) sowie beim F.___ ein forensisch-toxikologisches Gutachten (Suva-Nr. 96, S. 33) eingeholt. Mit Verfügung vom 13. September 2018 wurde das Strafverfahren gegen Unbekannt betreffend schwere Körperverletzung eingestellt. Zur Begründung wurde unter anderem festgehalten, der anfängliche Verdacht, der Beschwerdeführer sei Opfer einer strafbaren Handlung durch eine mehrere Drittpersonen geworden, habe sich nicht bestätigt. Es bestehe aufgrund der Erkenntnisse kein Zweifel daran, dass sich der Beschwerdeführer am 22. November 2017 das Leben habe nehmen wollen und sich dabei selber verletzt habe.

 

1.4     Sodann veranlasste die Beschwerdegegnerin zwei kreisärztliche psychiatrische Beurteilungen. Die diesbezüglichen Berichte vom 15. März 2019 (Suva-Nr. 107) und 2. Mai 2019 (Suva-Nr. 122) kamen übereinstimmend zum Resultat, es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte bei den Ereignissen, die zu seinem Balkonsturz am 20. November 2017 geführt hätten, in einem Zustand unverschuldeter gänzlicher Urteilsunfähigkeit selbstdestruktiv gehandelt habe.

 

Gestützt darauf verneinte die Beschwerdegegnerin mit Verfügung vom 20. Mai 2019 (Suva-Nr. 125) ihre Leistungspflicht und führte zur Begründung aus, nach dem Ergebnis der Abklärungen handle es sich um Folgen eines Tatbestandes, für den es der Suva verwehrt sei, Versicherungsleistungen auszurichten. Auf solche bestehe nämlich nach Artikel 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch, wenn der Versicherte den Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt habe. Die dagegen erhobene Einsprache (Suva-Nr. 147) wies die Beschwerdegegnerin mit Entscheid vom 19. August 2019 (A.S. [Akten-Seite] 1 ff.)

 

2.       Dagegen lässt der Beschwerdeführer am 19. September 2019 (A.S. 13 ff.) Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erheben und folgende Rechtsbegehren stellen:

1.    Der Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 19. August 2019 sei aufzuheben und es sei die Beschwerdegegnerin zu verurteilen, dem Beschwerdeführer rückwirkend ab dem 20. November 2017 die ihm zustehenden gesetzlichen Versicherungsleistungen aus UVG in vollem Umfang auszurichten.

2.    Eventualiter: Der Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 19. August 2019 sei aufzuheben und die Sache sei zur Vornahme weiterer Abklärungen der Urteilsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Ereigniszeitpunkt an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen verbunden mit der Anordnung, eine neue Verfügung im Sinne der Beschwerderügen zu erlassen.

-  unter Kosten- und Entschädigungsfolgen -

 

3.       Mit Beschwerdeantwort vom 16. Oktober 2019 (A.S. 31 ff.) schliesst die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde.

 

4.       Mit Replik vom 7. November 2019 (A.S. 41 ff.) verweist der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf seine bisherigen Ausführungen.

 

5.       Mit Duplik vom 19. November 2019 (A.S. 52) hält die Beschwerdegegnerin an ihren bisherigen Ausführungen fest.

 

6.       Mit Verfügung vom 9. September 2020 (A.S. 57) werden im vorliegenden Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Solothurn die Strafakten (STA.2017.4518) betreffend den Beschwerdeführer ediert.

 

7.       Mit Verfügung vom 16. Oktober 2020 (A.S. 61) holt das Versicherungsgericht zwecks Klärung des Sachverhalts beim F.___ einen Ergänzungsbericht zum forensisch-toxikologischen Gutachten vom 8. Dezember 2017 ein. Das diesbezügliche Aktengutachten ergeht am 29. Oktober 2020 (A.S. 64 f.).

 

8.       Mit Verfügung vom 24. November 2020 (A.S. 71 f.) veranlasst die Vizepräsidentin des Versicherungsgerichts bei Dr. med. G.___, MBA, Chefarzt Forensische Psychiatrie, H.___, ein gerichtliches Gutachten.

 

9.       Mit Schreiben vom 16. März 2021 (A.S. 76 f) teilt Dr. med. I.___ dem Versicherungsgericht mit, es seien bei der Bearbeitung der Fallakten noch diverse Fragen aufgetaucht. Möglicherweise könne hier eine Reevaluation der rechtsmedizinischen Kollegen helfen, den Ablauf besser verstehen und einordnen zu können.

 

10.     Aufgrund der Ausführungen von Dr. med. I.___ im vorgenannten Schreiben veranlasst die Vizepräsidentin des Versicherungsgerichts mit Verfügung vom 17. Mai 2021 (A.S. 86 f.) bei Prof. em. Dr. med. J.___, Facharzt für Rechtsmedizin, ein gerichtliches Gutachten.

 

11.     Aufgrund der Rückmeldungen von Prof. em. Dr. med. J.___ (vgl. Aktennotiz vom 19. Mai 2021 (A.S. 95) holt die Vizepräsidentin des Versicherungsgerichts mit Verfügung vom 25. Mai 2021 (A.S. 90 f.) bei Herrn K.___, Kriminaltechnik, Polizei des Kantons Solothurn, einen ergänzenden Spurenbericht zum Spurenbericht der Kantonspolizei Solothurn vom 29. Mai 2018 ein.

 

12.     Der Nachtragsrapport von Herrn K.___ ergeht am 4. Juni 2021 (A.S. 97 ff.).

 

13.     Das rechtsmedizinische Gutachten von Prof. em. Dr. med. J.___ wird am 5. Juli 2021 (A.S. 108 ff.) fertiggestellt.

 

14.     Schliesslich ergeht am 6. September 2021 (A.S. 121 ff.) das forensisch-psychiatrische Gutachten von Dr. med. I.___.

 

15.     Am 23. September 2021 (A.S. 157 f.) lässt sich der Beschwerdeführer abschliessend vernehmen. Die Beschwerdegegnerin verzichtet auf das Einreichen einer Stellungnahme.

 

II.

 

1.       Die Sachurteilsvoraussetzungen (Einhaltung der Frist und Form, örtliche und sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

2.      

2.1     Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalls, Nichtberufsunfalls einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung [UVG, SR 832.20]). Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper (Art. 9 Abs. 1 der Verordnung über die Unfallversicherung [UVV, SR 832.202]). Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG mit Ausnahme der Bestattungskosten kein Anspruch auf Versicherungsleistungen. Indessen findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).

 

2.2     Nach der Rechtsprechung muss der Leistungsansprecher, da er das Vorliegen eines Unfalles zu beweisen hat, auch die Unfreiwilligkeit der Schädigung und bei Suizid Suizidversuch die Urteilsunfähigkeit nach Art. 16 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB, SR 210) zur Zeit der Tat nachweisen (SVZ 68 2000 S. 202; RKUV 1996 Nr. U 247 S. 168 E. 2a und b). Den Parteien obliegt jedoch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweisführungslast im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die überwiegende Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 134 V 109 E. 9.5 S. 125, 117 V 261 E. 3b S. 264; SVZ 68 2000 S. 202). Dass die versicherte Person absichtlich aus dem Leben geschieden ist scheiden wollte, darf nur dann als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere den Umständen angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen zunächst von der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen Vermutung auszugehen, es liege keine Selbsttötung bzw. kein Selbsttötungsversuch vor, und sodann zu fragen, ob derart überzeugende Umstände vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird (Urteile des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.2 und 8C_953/2012 vom 22. Februar 2013 E. 2.2 mit Hinweisen). 

 

2.3     Die Urteilsfähigkeit der versicherten Person ist in Bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen. Ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgte, ist nicht entscheidend; denn eine Absicht, und sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierten, dumpfen Willensimpulses, ist stets festzustellen; sonst liegt keine Selbsttötung bzw. kein Suizidversuch vor. Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen (d.h. vor allem der triebhaften innerseelischen) Abläufe vorhanden war (Urteil des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.3 mit Hinweisen). Es muss sich um eine vollständige Urteilsunfähigkeit handeln, eine bloss verminderte Urteilsfähigkeit genügt nicht (Ueli Kieser: ATSG-Kommentar, 4. Aufl., Zürich 2020, Art. 4 Rz 29 mit Hinweis auf BGE 129 V 95 ff., BGE 113 V 63 f.; SVR 1995 UV Nr. 20). Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche im Zeitpunkt der Tat, unter Würdigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in Bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln. Es muss deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Geisteskrankheit eine schwere Störung des Bewusstseins nachgewiesen sein, also psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschungen, depressiver Stupor (plötzlicher Erregungszustand mit Selbsttötungstendenz), Raptus (plötzlicher Erregungszustand als Symptom einer seelischen Störung) u.a.m. Dazu muss das Motiv zum Suizid Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik stammen, mit anderen Worten muss die Tat «unsinnig» sein. Eine blosse «Unverhältnismässigkeit» der Tat, indem der Suizident seine Lage in depressiv-verzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätzt, genügt zur Annahme von Urteilsunfähigkeit nicht. Für deren Nachweis ist nicht bloss die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein entscheidend, ob diese als unvernünftig, uneinfühlbar abwegig erscheint. Vielmehr ist auf Grund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die Lebenssituation der versicherten Person vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt gehören, zu beurteilen, ob sie in der Lage gewesen wäre, den Suizid Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden nicht. Der Umstand, dass die Suizidhandlung als solche sich nur durch einen krankhaften, die freie Willensbetätigung ausschliessenden Zustand erklären lässt, stellt nur ein Indiz für das Vorliegen von Urteilsunfähigkeit dar. An deren Nachweis sind keine strengen Anforderungen zu stellen; er gilt als geleistet, wenn eine durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung als wahrscheinlicher erscheint als ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln (Urteil des Bundesgerichts 8C_496/2008 vom 17. April 2009, E. 2.3 mit Hinweisen). 

 

2.4     Ob diese Voraussetzung der fehlenden Urteilsfähigkeit gegeben ist, ist durch einen psychiatrischen Sachverständigen darzulegen (vgl. Kieser, a.a.O. Art. 4 Rz. 30). Aufgabe des medizinischen Experten ist es, den Geisteszustand des Untersuchten möglichst genau zu beschreiben und aufzuzeigen, ob und in welchem Masse sein geistiges Vermögen bei der fraglichen Handlung versagt hat. Welche rechtlichen Schlüsse aus dem Ergebnis der medizinischen Begutachtung zu ziehen sind, entscheidet der Richter (Urteil des Bundesgerichts U 55/99 vom 11. Juli 2001 E. 1 c mit Hinweisen).

 

3.

3.1     Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG, SR 830.1]). Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum – auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden – Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger das Gericht bei umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360, 125 V 193 E. 2 S. 195 je mit Hinweisen) zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148, 124 V 90 E. 4b S. 94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteil des Bundesgerichts 8C_715/2016 vom 6. März 2017 E. 5.1 mit Hinweis).

 

3.2     Für den Beweiswert eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten bzw. der Anamnese abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Fachperson begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte kommt Beweiswert zu, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen (BGE 125 V 351 E. 3b/ee S. 353 f.). Soll ein Versicherungsfall jedoch ohne Einholung eines externen Gutachtens entschieden werden, so sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229, 135 V 465 E. 4.4 S. 470).

 

3.3       Nach der Rechtsprechung weicht das Gericht bei Gerichtsgutachten nicht ohne zwingende Gründe von den Einschätzungen der medizinischen Experten ab (BGE 143 V 269 E. 6.2.3.2 S. 282, 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f.). Ein Grund zum Abweichen kann vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise widersprüchlich ist wenn ein vom Gericht eingeholtes Obergutachten in überzeugender Weise zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Abweichende Beurteilung kann ferner gerechtfertigt sein, wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer Fachexperten dem Richter als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass er die Überprüfung durch einen Oberexperten für angezeigt hält, sei es, dass er ohne Oberexpertise vom Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende Schlussfolgerungen zieht (BGE 125 V 351 E. 3b/aa S. 352 f. mit Hinweis).

 

4.       Gemäss den Ausführungen des Beschwerdeführers sei er zum Zeitpunkt des Sturzes vom Balkon am 20. November 2017 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gänzlich unfähig gewesen, vernunftgemäss zu handeln. Daher sei das Sturzereignis als Unfallereignis i.S.v. Art. 6 Abs. 1 UVG i.V.m. Art. 4 ATSG zu qualifizieren. Es stehe fest, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem Unfallereignis psychisch auffällig gewesen sei, wie sich dies unter anderem aus der hausärztlichen Stellungnahme von Dr. med. L.___ vom 19. Juni 2019 ergebe. Aus dieser Stellungnahme ergebe sich, dass der Beschwerdeführer bereits mehrfach in der psychiatrischen Klinik in [...] hospitalisiert gewesen sei und in der Vergangenheit unter depressiven Verstimmungen gelitten habe. Weiter sei zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer früher unter Problemen beim Einschlafen gelitten habe, weswegen ihm für jene Zeit Stilnox verordnet worden sei. Entgegen der kreisärztlichen Beurteilung von Dr. med. M.___ vom 15. März 2019 könne daher nicht ohne weiteres von einer blanden psychiatrischen Anamnese vor dem Sturzereignis am 10. November 2017 ausgegangen werden. Ausserdem lasse sich aus dem aufgeworfenen Umstand des Kreisarztes in seiner Beurteilung, wonach der Arbeitgeber des Beschwerdeführers mit seiner Arbeit zufrieden gewesen sei und ihn als Mitarbeitenden geschätzt habe, nicht ableiten, dass der Beschwerdeführer vor dem Sturzereignis eine unauffällige Persönlichkeit gewesen sei. Aufgrund der Polizeiakten liessen sich ebenfalls Rückschlüsse ziehen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Sturzes nicht fähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln. Der Erstbefragung des Vaters des Beschwerdeführers durch die Polizei vom 20. November 2017 sei zu entnehmen, dass ihm aufgefallen sei, dass sein Sohn «irgendwie verwirrt, geistig psychisch» gewesen sei. Er wisse auch nicht, wie er das sagen solle. Sodann habe die Freundin des Beschwerdeführers anlässlich der Erstbefragung am 20. November 2017 sinngemäss zu Protokoll gegeben, dass ihr rund drei Wochen vor dem Sturz aufgefallen sei, dass der Beschwerdeführer nicht mehr er selbst gewesen sei. Er sei wie paranoid gewesen, dass sie ihm etwas in den Tee schütten würde (vgl. Suva-Nr. 113). Des Weiteren habe der Nachbar anlässlich der Erstbefragung vom 21. November 2017 durch die Kantonspolizei Solothurn angegeben, dass er am Sonntag, um zirka 23.00 Uhr, eine andere männliche Stimme gehört habe, aber nicht diejenige des Beschwerdeführers. Als der Befragte um zirka 06.00 Uhr auf die Toilette gegangen sei, habe er die «für ihn» fremde Stimme wieder gehört. Seine Frau habe gemeint, dass sie während der ganzen Nacht gehört habe, wie jemand in der Wohnung herum gelaufen sei. Zudem sei der Einvernahme des Beschwerdeführers vom 14. März 2018 zu entnehmen, dass er sich nicht mehr an den Sturz, was unmittelbar vor dem Sturz passiert sei, zu erinnern vermöge. Er sei das Wochenende vorher bei seiner Freundin gewesen. Am Abend sei er zu seinem Vater nach [...] gegangen und habe dort übernachtet. Was dann passiert sei, wisse er nicht mehr genau. Er habe noch gewusst, dass er im C.___ erwacht sei. Weiter habe er auf die Frage, ob er sich erinnere, dass er sich gemäss den polizeilichen Ermittlungen vor dem Sturz in den Waschraum begeben habe, zu Protokoll gegeben, dass er sich daran nicht erinnere. Von Suizidgedanken habe er sich distanziert. Aus diesen Befragungen sei zu schliessen, dass der Beschwerdeführer vor dem Sturzereignis bereits psychisch auffällig gewesen sei. Die Aussagen und insbesondere die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer nicht an den Sturz und den Zustand unmittelbar davor erinnern könne, würden widerlegen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Sturzes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit urteilsfähig gewesen sei. Auf die nicht näher begründete Annahme der Polizei, dass der Beschwerdeführer mit Suizidabsicht gesprungen sei, dürfe nicht abgestellt werden, zumal es sich hierbei nicht um medizinische Fachpersonen mit den notwendigen fachlichen Qualifikationen handle. Sodann habe der Beschwerdeführer während der psychiatrischen Konsiliaruntersuchung vom 7. Dezember 2017 angegeben, dass er geglaubt habe, dass seine Freundin ihn umbringen wolle, indem sie ihn vergifte. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin sei somit nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer sich aufgrund allfälliger Probleme und vorangegangener Streitigkeiten mit seiner Freundin absichtlich habe suizidieren wollen. Hätten Beziehungsprobleme den Beschwerdeführer zum Sturz vom Balkon veranlasst, hätte der Beschwerdeführer seine Tat nach der allgemeinen Lebenserfahrung seiner Freundin entweder angekündigt er hätte einen Abschiedsbrief dergleichen hinterlassen. Weder das eine noch das andere sei vorliegend der Fall. Auch könne dem von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Motiv, dass der Beschwerdeführer seine Absicht bei nunmehr vollständig erlangtem Bewusstsein und in Kenntnis der unter anderem versicherungsrechtlichen Konsequenzen gegenüber der Polizei zu vertuschen versucht habe, nicht gefolgt werden. Die polizeiliche Einvernahme habe am 14. März 2018 stattgefunden. Bereits während der konsiliarischen Untersuchung vom 7. Dezember 2017 habe der Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er sich an den Vorfall nicht mehr genau erinnern könne. Dieser Befund anlässlich der konsiliarischen Untersuchung sei dem Sturzereignis vom 20. November 2017 in zeitlicher Hinsicht am nächsten, weswegen aufgrund der Akten nicht davon ausgegangen werden könne, dass er eine Suizidabsicht habe vertuschen wollen. Dem Konsiliarbericht von Dr. med. N.___ vom 8. März 2018 sei zu entnehmen, dass zum Zeitpunkt des Balkonsprunges beim Beschwerdeführer eine psychotische Symptomatik vorgelegen habe. Der Vorfall/Sprung müsse als Folge einer psychotischen Episode eingeordnet werden ohne eine darüberhinausgehende Klassifizierung vorzunehmen. Bezüglich der zur Verfügung stehenden Informationen sei am ehesten ein Status nach akuter polymorph psychotischer Störung (F23.0) anzunehmen. Diese Befunde stützten sich auf eine persönliche Exploration des Beschwerdeführers durch den Psychiater und nicht ausschliesslich gestützt auf die Akten, wie dies bei den versicherungsinternen Begutachtungen der Fall gewesen sei. Die Vermutung, dass der im Blut nachgewiesene Wirkstoff Trazodon hausärztlich verordnet gewesen sei, treffe nicht zu. Gemäss dem Bericht der Hausärztin Frau Dr. med. L.___ vom 19. Juni 2019 habe der Beschwerdeführer früher unter Problemen beim Einschlafen gelitten, weswegen ihm für jene Zeit Stilnox verordnet worden sei. Hingegen hätten sein Vater sowie auch seine Freundin Trittico eingenommen, welches den Wirkstoff Trazodon enthalte. Der Beschwerdeführer gehe davon aus, dass er dieses Medikament vor dem Sturz eingenommen habe. Der Beschwerdeführer habe zum Zeitpunkt des Sturzes somit unter dem Einfluss dieses Wirkstoffes gestanden bzw. den damit einhergehenden Nebenwirkungen. Diese Einflüsse kombiniert mit dem psychisch ohnehin labilen Zustand des Beschwerdeführers hätten dazu geführt, dass er im Zeitpunkt des Ereignisses gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln. Diese Schlussfolgerung stehe im Einklang mit den psychiatrischen Konsiliarbefunden von Dr. med. N.___ vom 7. Dezember 2017 und 7. Juni 2019, wonach der Sturz psychotisch motiviert gewesen sei und beim Beschwerdeführer zu jenem Zeitpunkt eine psychotische Störung vorgelegen habe, am ehesten im Sinne einer akuten psychomorphen Störung ohne Symptome einer Schizophrenie (ICD-10: F 23.0). Entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin sei aufgrund der Aktenlage sowie der Gesamtumstände des hier zu beurteilenden Unfallereignisses die Urteilsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Ereigniszeitpunkt mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt. Für den Fall, dass das Versicherungsgericht beim derzeitigen Aktenstand das Sturzereignis wider Erwarten nicht als Unfall i.S.v. Art. 4 ATSG qualifizieren könne, rechtfertige sich die Anordnung weiterer (Sachverhalts-) Abklärungen. Diesfalls würde sich eine polydisziplinäre Begutachtung aufdrängen. Denn gemäss den forensisch-toxikologischen Gutachten des IRM vom 8. Dezember 2017 zählten zu den bekannten Nebenwirkungen des im Blut des Beschwerdeführers nachgewiesenen Wirkstoffes Trazodon unter anderem Verwirrung, Schlaflosigkeit, Desorientierung, Manie, Ängstlichkeit, Nervosität, Unruhe (sehr selten bis zu einem Delirium führend), aggressives Verhalten, Halluzinationen, Alpträume, Benommenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, Gedächtnis- Sehstörungen. Bei dieser Ausgangslage erscheine es somit als gerechtfertigt, nebst einer psychiatrischen auch eine pharmakologische Begutachtung anzuordnen. Im Rahmen des pharmakologischen Gutachtens sollten die möglichen Nebenwirkungen des im Blut des Beschwerdeführers nachgewiesenen Wirkstoffes Trazodon sowie die Auswirkungen dieses Wirkstoffes auf die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Sturzes geklärt werden. Weiter rechtfertige sich die Begutachtung durch einen Pharmakologen im Hinblick auf die Frage, ob der Wirkstoff weitere (weniger bekannte) Nebenwirkungen habe und welchen Einfluss diese Nebenwirkungen auf die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Sturzes gehabt hätten. Tatsache sei, dass keiner der involvierten Ärzte die Wirkung des Trazodons im Zusammenhang mit der Frage nach der Urteilsunfähigkeit untersucht habe. Dies sei jedoch für die vorliegende Beurteilung der Urteilsfähigkeit in medizinischer Hinsicht aufgrund der drastischen Nebenwirkungen, welche von diesem Wirkstoff ausgehen könnten, unabdingbar. Demzufolge drängten sich diesbezüglich weitere Abklärungen auf, sollte das Gericht wider Erwarten nicht von einer fehlenden Urteilsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Ereigniszeitpunkt ausgehen. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin treffe es sodann nicht zu, dass der Beschwerdeführer mit seiner Freundin um Mitternacht telefoniert habe. Aus dem Bericht der Polizei Kanton Solothurn vom 30. Mai 2018 gehe lediglich hervor, dass der Beschwerdeführer versucht habe, seine Freundin um 23.50 Uhr zu erreichen. Die Recherchen im Internet hätten mutmasslich um Mitternacht stattgefunden. Die Meldung bei der Sanitätsnotrufzentrale [...] sei um 06.58 Uhr eingegangen. Somit liessen aufgrund der grossen Zeitspanne weder der Telefonversuch noch die Recherche Rückschlüsse auf die vorliegend bestrittene Urteilsfähigkeit zum Ereigniszeitpunkt zu. Dasselbe gelte für die Recherchen im Internet um Mitternacht. Auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer nach Mitternacht im Internet nach Wechselwirkungen von verschiedenen Medikamenten gesucht habe, könne nichts zu seinen Ungunsten abgeleitet werden.

 

Demgegenüber vertritt die Beschwerdegegnerin die Ansicht, aus den Akten ergebe sich, dass der Versicherte sich in suizidaler Absicht selbst geschädigt habe. Diesbezüglich lasse die Faktenlage mit dem Leibgurt und den heruntergerissenen Wäscheleinen und der beschädigten Wasserleitung sowie mit den Blutspuren in der Waschküche und an der Balkontüre und dem Geländer sowie letztlich dem Sturz vom Balkon hinunter keinen anderen vernünftigen Grund zu. Im Weiteren sprächen auch die Probleme des Versicherten mit seiner Freundin und der unmittelbar vorangegangene Streit mit dieser als Motiv für einen Selbsttötungsversuch. Als weiteres Motiv in Betracht zu ziehen sei, dass der Versicherte nicht wieder in die psychiatrische Klinik habe eingewiesen werden wollen. Schliesslich sei auch die Aussage des Vaters des Versicherten massgeblich, wonach der Versicherte ihm gegenüber zugegeben habe, dass er einen Suizidversuch unternommen habe. Dass der Versicherte Suizidabsichten im Nachhinein gegenüber der Polizei bestreite, sei damit zu erklären, dass der Versicherte seine Absicht bei nunmehr vollständig erlangtem Bewusstsein und in Kenntnis der unter anderem versicherungsrechtlichen Konsequenzen zu vertuschen versucht habe. Unter Berücksichtigung sämtlicher Fakten müsse folglich von einer absichtlichen Selbstschädigung, namentlich von einem Suizidversuch, ausgegangen werden. Diese Einschätzung decke sich im Übrigen auch mit der Beurteilung der Dres. med. O.___ und N.___ vom D.___ vom 7. Juni 2019. Wollte sich der Versicherte nachweislich das Leben nehmen sich selbst verstümmeln, so finde Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV). Damit gehe der Verordnungsgeber vom Begriff der Urteilsfähigkeit im Sinne von Art. 16 ZGB aus. Diese sei im Sozialversicherungsrecht in Bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen (BGE 112 V 101 E. 2a). Massgeblich sei einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen (d.h. vor allem der triebhaften innerseelischen) Abläufe vorhanden gewesen sei. Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entstehe, müsse mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche im Zeitpunkt der Tat, unter Würdigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in Bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben habe, vernunftgemäss zu handeln (BGE 113 V 61 E. 2c, Urteil des EVG U 276/01 vom 14. Februar 2002). «Gänzlich unfähig, vernunftgemäss zu handeln» im Wortlaut von Art. 48 UVV bedeute eine vollständige Urteilsunfähigkeit und nicht nur eine stark sehr erheblich verminderte Urteilsfähigkeit. Eine vollständige Urteilsunfähigkeit habe eine Geisteskrankheit im Rechtssinn, d.h. eine Psychose, allenfalls auch eine schwere Bewusstseinsstörung zur psychiatrischen Voraussetzung. Es müsse mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein solcher Zustand nachgewiesen sein, also psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschungen, depressiver Stupor, Raptus u.a. Dazu müsse das Motiv zum Suizid Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik stammen, mit anderen Worten, die Tat müsse «unsinnig» sein. Eine blosse «Unverhältnismässigkeit» der Tat, wie sie bei der Mehrzahl der Suizide und Suizidversuche vorliege, indem der Suizident seine Lage in depressiv-verzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätze, genüge zur vollständigen Urteilsunfähigkeit nicht. Für deren Nachweis sei nicht bloss die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein entscheidend, ob diese als unvernünftig, uneinfühlbar abwegig erscheine. Vielmehr sei aufgrund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die Lebenssituation der versicherten Person vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt gehörten, zu beurteilen, ob sie in der Lage gewesen wäre, den Suizid Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden nicht. Der Umstand, dass die Suizidhandlung als solche sich nur durch einen krankhaften, die freie Willensbetätigung ausschliessenden Zustand erklären lasse, stelle nur ein Indiz für das Vorliegen von Urteilsunfähigkeit dar (RKUV 1996 S. 310, Urteil des EVG U 276/01 vom 14. Februar 2002). Hinsichtlich der Frage, ob die Urteilsfähigkeit des Versicherten im Zeitpunkt des Sturzes unverschuldeterweise gänzlich aufgehoben gewesen sei, könne auf die Beurteilungen von Dr. med. M.___ und med. pract. P.___ voll und ganz abgestellt werden. Sie seien für die streitigen Belange umfassend, berücksichtigten die beklagten Beschwerden sowie die Vorakten und stützten sich auf eine persönliche Untersuchung. Die Stellungnahme sei in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Darlegung der medizinischen Situation einleuchtend und die Versicherungsmediziner begründeten ihre Schlussfolgerungen überzeugend und nachvollziehbar. Insbesondere legten die Psychiater schlüssig dar, dass im Zeitpunkt des Suizidversuchs eine Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit zwar möglich, nicht jedoch überwiegend wahrscheinlich erscheine. Nichts anderes sei den Berichten von Dr. med. O.___ und Dr. med. N.___ und den gesamten medizinischen Akten zu entnehmen. Die Vermutung, dass eine psychotische Störung im Zeitpunkt der Tat vorgelegen habe, genüge dem erforderlichen Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht. Der Nachweis einer vollständigen Aufhebung der Urteilsfähigkeit habe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass der Versicherte sich an den Medikamenten seines Vaters bedient und daher den Wirkstoff Trazodon im Blut gehabt habe, könne daraus nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, dass der Versicherte völlig unzurechnungsfähig gewesen sei, als er gehandelt habe. Somit sei davon auszugehen, dass der Versicherte im Zeitpunkt des Suizidversuches nicht gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln und er die resultierende Gesundheitsschädigung absichtlich habe herbeiführen wollen, weshalb die Suva ihre Leistungspflicht für die daraus entstandenen Kosten zu Recht verneint habe. Aus der Tatsache des fehlenden Erinnerungsvermögens an den Zeitpunkt vor dem Sturz dürfe nicht einfach auf diese erwähnte Unfähigkeit geschlossen werden. Ebenso wenig könne aus der Tatsache, dass er zuvor psychisch auffällig gewesen sei, bereits ein Anspruch auf UVG-Leistungen abgeleitet werden. Entgegen der Aussage des Beschwerdeführers sei er im Zeitpunkt des Sturzes nicht derart unter dem Einfluss dieses Wirkstoffes Trazodon gewesen, dass er auf jeden Fall nicht mehr hätte vernunftgemäss handeln können. Die blosse Einnahme dieses Medikamentes Trazodon berechtige nicht zu dieser Annahme und keiner der involvierten Ärzte stütze ihn bei dieser Annahme. Vielmehr sei vom ganzen Ablauf des Geschehens bzw. den Örtlichkeiten her (zuerst Waschküche, dann Wohnung, dann Balkon) mit verschiedenen Handlungen gerade nicht davon auszugehen, dass er ziellos und bei gänzlicher Aufhebung der Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, diese Vorgänge «absolviert» habe. Insbesondere auch die Tatsache, dass er um Mitternacht noch telefoniert habe und später im Internet nach Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten sich erkundigt habe, spreche sogar eindeutig gegen die Richtigkeit der Annahme des Beschwerdeführers. Er müsse sogar sehr weitgehend noch in der Lage gewesen sein, vernunftgemäss zu handeln bzw. Überlegungen dahingehend anzustellen.

 

5.       Strittig und zu prüfen ist somit, ob der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Balkonsturzes vom 20. November 2017 gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln. In diesem Zusammenhang sind im Wesentlichen folgende Unterlagen von Belang:

 

5.1     Im Austrittsbericht der H.___, vom 20. September 2011 (Suva-Nr. 52) wurden folgende Diagnosen gestellt:

 

-        Abhängigkeitssyndrom von Sedativa (Stilnox) (ICD-10 F13.25)

·      stationärer Entzug mit wenig Symptomen ohne Komplikationen (ICD-10 F13.30)

-        V. a. rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode, bei Austritt remittiert (ICD-10 F33.1/F33.4)

 

Der Beschwerdeführer habe vor ca. drei Jahren aufgrund von Schichtarbeit mit dem Konsum von Stilnox begonnen. Seit einem Jahr arbeite er nun nicht mehr im Schichtbetrieb, könne aber trotz Einnahme von 3 – 4 Tabletten Stilnox erst nach ca. vier Stunden einschlafen. Tagsüber leide er unter Konzentrationsschwierigkeiten, gelegentlich Schwindel. Er sei auf der fachspezifischen Station für Abhängigkeitserkrankungen aufgenommen worden zum Stilnoxentzug. Der Entzug sei komplikationslos verlaufen. Der Beschwerdeführer habe keine ambulante Weiterbehandlung durch einen Psychiater gewünscht. Am 12. August 2011 habe er in psychisch und physisch stabilem Zustand nach Hause entlassen werden können.

 

5.2     Anlässlich der polizeilichen Befragung vom 20. November 2017 (Suva-Nr. 113, S. 17 ff.) gab die Freundin des Beschwerdeführers, Q.___, an, ihr sei seit rund drei Wochen aufgefallen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr er selber sei. Er habe schlecht ausgesehen und sei wie paranoid gewesen, dass sie ihm etwas in den Tee tue. Er sei aggressiver gewesen und habe ihr Natel kontrolliert. Gestern vorgestern sei es um das Sexuelle gegangen und es habe nicht funktioniert. Da habe er sie beschuldigt, dass sie ihm etwas in den Tee getan habe und deswegen sein Penis nicht gestanden habe. Bezüglich Medikamente habe er von seinem Arzt, Herrn Dr. R.___, Stilnox verschrieben erhalten. Sie habe ihn zuletzt am Vortag besucht. Es sei eigentlich alles gut gewesen. Nachdem sie gegen 18.00 Uhr gegangen sei, habe sie keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt und wegen seiner paranoiden Art habe sie auch ihr Handy auf lautlos gestellt. Auf die Frage, ob sie glaube, dass er über den Balkon gesprungen sei, gab sie an: Der Beschwerdeführer habe das Leben schwarz gesehen und geglaubt, dass er den Job verliere und nachher in die Psychiatrie müsse. Sein Leben sei vorbei. Er habe auch dem Arbeitgeber von den Schlaftabletten erzählt und dass sie ihm das in den Tee getan haben solle.

 

5.3     Im rechtsmedizinischen Gutachten des E.___ vom 29. November 2017 (Suva-Nr. 96, S. 27) wurde ausgeführt, anlässlich der körperlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 21. November 2017 liessen sich Hautunterblutungen und Hautverfärbungen im Bereich beider Augenober- und -unterlider, der Zunge, des Rückens beidseits und der Arme feststellen. Weiter hätten sich eine bereits wundversorgte Hautdurchtrennung im Bereich der linken Augenbraue und im Bereich der Unterlippe innenseitig gefunden. Zudem hätten sich Hautdefekte mit vertrocknetem Wundgrund im Bereich des Nasenrückens und des rechten Unterschenkels gefunden. Diese Befunde seien allesamt Zeichen stumpfer Gewalteinwirkung und vereinbar mit einem Sturz aus der Höhe. Zumindest ein Teil der Befunde im Bereich der Arme könnte im Rahmen der medizinischen Massnahmen entstanden sein. Gemäss den zur Verfügung stehenden Unterlagen aus dem B.___ und dem C.___ seien beim Beschwerdeführer Verletzungen der Kopfhaut bis auf den Schädelknochen, ein Schädelbruch entlang der Kranznaht und ein kleines Subduralhämatom (Blutung unterhalb der harten Hirnhaut) auf der linken Seite, Rippenserienbrüche auf beiden Seiten hinten und instabile Brüche des 7. und 8. Brustwirbelkörpers festgestellt worden. Diese Befunde seien ebenfalls Folge stumpfer Gewalteinwirkung und vereinbar mit einem Sturz aus der Höhe. Gemäss den vorliegenden medizinischen Unterlagen sei der Beschwerdeführer mit einem GCS von 3 in das Spital eingeliefert worden. Eine daraus resultierende etwaige Lebensgefahr habe durch die getroffenen medizinischen Massnahmen abgewendet werden können. Bezüglich bleibender Schäden und der weiteren Wundheilung bleibe der Verlauf abzuwarten. Es hätten sich keine Verletzungen gefunden, die nicht mit einem Sturzgeschehen mit den medizinischen Massnahmen zu vereinbaren wären.

 

5.4     Im forensisch-toxikologischen Gutachten des F.___ vom 8. Dezember 2017 (Suva-Nr. 96, S. 33) wurde festgehalten, die Untersuchungsergebnisse bewiesen, dass der Beschwerdeführer Medikamente mit den Wirkstoffen Midazolam, Thiopental, Ketamin, Fentanyl, Lidocain, Atracurium und Trazodon aufgenommen bzw. im Rahmen der ärztlichen Behandlung verabreicht erhalten habe. Hinweise, die für den Konsum von Betäubungsmitteln von weiteren im Standardurinscreening Blutscreening nachweisbaren Arzneistoffen sprächen, seien nicht festgestellt worden. Ein toxikologisch relevanter Alkoholkonsum habe in den Stunden vor der Blutentnahme vom 20. November 2017 nicht stattgefunden. Der negative Befund für das Alkoholabbauprodukt Ethylglucuronid im Urin weise im Weiteren darauf hin, dass der Beschwerdeführer in den Stunden bis Tagen vor der Urinasservierung keinen Alkohol konsumiert habe. Das im Blut nachgewiesene Trazodon sei ein Antidepressivum, das auch bei Angststörungen eingesetzt werde. Zu den bekannten Nebenwirkungen zählten u.a. Verwirrung, Schlaflosigkeit, Desorientierung, Manie, Ängstlichkeit, Nervosität, Unruhe (sehr selten bis zu einem Delirium führend), aggressives Verhalten, Halluzinationen, Alpträume, Benommenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, Gedächtnis- Sehstörungen. Trazodon sei ein stimmungsaufhellendes und sedierendes Antidepressivum und könne während der ersten Behandlungstage zu Schläfrigkeit führen; diese verschwinde jedoch im Allgemeinen im Verlauf der Behandlung.

 

5.5     In der Telefonnotiz betreffend das Gespräch vom 7. Dezember 2017 (Suva-Nr. 23) zwischen einem Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin und einer Mitarbeiterin der Arbeitgeberin des Beschwerdeführers, der S.___, wurde festgehalten, am 17. November 2017 sei der Beschwerdeführer zu seinem Vorgesetzten gegangen und habe ihm gemeldet, dass er sich nicht wohl fühle. Man habe ihn nach Hause geschickt, um sich zu erholen und habe ihm gleichzeitig auch mitgeteilt, dass er sich keine Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen müsse. Man habe über Umwege gehört, dass es über das Wochenende zu «einem Vorfall» mit der Freundin gekommen sei. Die Freundin habe sich dahingehend geäussert, dass er sich in den letzten 3 Wochen sehr verändert habe. Am Arbeitsplatz habe man dies nicht festgestellt. Im Personaldossier sei ein Vermerk vorhanden, dass im August 2016 ein Gespräch stattgefunden habe im Zusammenhang mit Schlaftabletten. Seit Stellenantritt bei der S.___ am 1. April 2012 seien keine wesentlichen Auffälligkeiten in Bezug auf Absenzen ersichtlich.

 

5.6     Anlässlich des psychiatrischen Konsiliums des D.___ vom 7. Dezember 2017 (Suva-Nr. 69, S. 3) gab der Beschwerdeführer an, er könne sich an den Vorfall selbst nicht mehr genau erinnern. Er sei wohl irgendwo heruntergesprungen. Davor habe er versucht, sich umzubringen, indem er an seiner Kehle manipuliert habe. Er habe geglaubt, dass seine Freundin ihn umbringen wolle, indem sie ihn vergifte. Er wisse nicht genau, wie er darauf komme. Auch aktuell sei er sich nicht sicher, ob von ihr nicht noch eine Gefahr ausgehe. Sonst sei ihm nichts auffällig gewesen. Hier im Krankenhaus fühle er sich sicher. Seine Freundin habe er vor einigen Jahren im Rahmen eines Entzugs kennen gelernt. Er sei dort von Schlafmitteln entzogen worden. Sie habe ein grösseres Drogenproblem, das auch immer noch bestehe. Eine Alkoholproblematik von Seiten des Beschwerdeführers werde für aktuell und für die Vergangenheit verneint. Er sei auch sonst nie in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er habe auch früher noch nie versucht, sich umzubringen. Zur Beurteilung wurde ausgeführt, der aktuelle Wissensstand bzgl. Anamnese und Befund liessen keine eindeutige Aussage zu. Wahrscheinlich bestehe weiterhin latent eine wahnhafte Beeinträchtigungssymptomatik, die ausschließlich auf die Lebensgefährtin ausgerichtet sei. Es ergäben sich darüber hinaus aktuell keine Hinweise auf weitere produktiv-psychotische Symptome (wie beispielsweise Halluzinationen Ich-Störungen). Dies könnten selbstredend Symptome einer Schizophrenie sein, möglicherweise aber auch eine isolierte paranoide Psychose aber auch eine organisch- substanzinduzierte Psychose.

 

5.7     Im Verlaufsbericht des D.___ vom 7. Dezember 2017 (Suva-Nr. 69, S. 3) wurde festgehalten, der Beschwerdeführer distanziere sich mittlerweile vollständig von der wahnhaften Beeinträchtigungssymptomatik, ausgehend von der Freundin. Diese sei auch bei ihm zu Besuch gewesen. Er könne sich mittlerweile gar nicht mehr erklären, warum er solche Gedanken gehabt habe.

 

5.8     Im Bericht betreffend das psychiatrische Konsilium des D.___ vom 1. März 2018 (Suva-Nr. 67, S. 2) führte Dr. med. N.___ aus, die genauen Umstände des Balkonsprungs im November 2017 liessen sich nicht klären. Vieles spreche dafür, dass zu diesem Zeitpunkt eine psychotische Symptomatik vorgelegen habe, für die es aktuell keine Hinweise mehr gebe. Insofern sei die Frage nach einem möglichen Suizidversuch nicht zu beantworten und werde wahrscheinlich auch nicht zu beantworten sein. Der Vorfall/Sprung sollte als Folge einer psychotischen Episode eingeordnet werden ohne darüber hinaus gehende Klassifizierung. Bezüglich der zur Verfügung stehenden Informationen sei am ehesten ein Status nach akuter polymorph psychotischer Störung (F 23.0) anzunehmen. Es werde empfohlen, die aktuelle psychotrope Medikation mit Venlafaxin und Quetiapin fortzuführen.

 

5.9     Anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 14. März 2018 (Suva-Nr. 114, S. 2) gab der Beschwerdeführer an, er habe keine Erinnerung mehr an den Vorfall. Am Abend des 19. November 2017 sei er bei seiner Freundin gewesen. Sie habe noch gekocht. Sie hätten Streit gehabt, er wisse aber nicht mehr warum. Dann sei er nach Hause gegangen. Wenn sie angebe, dass es umgekehrt gewesen sei, dass sie bei ihm zu Besuch gewesen sei, so wisse er das nicht. Soweit er wisse, sei er bei ihr zu Hause gewesen. Wenn auch sein Vater angebe, dass es so gewesen sei und sie mit einem Taxi nach Hause gefahren sei, so könne er sich daran nicht mehr erinnern. Auf die Angaben seiner Freundin, er habe ca. 3 Wochen vor dem Ereignis begonnen, sich seltsam zu benehmen, sei paranoid gewesen und habe auch immer wieder befürchtet, dass sie ihm etwas in den Tee mische, erwidert er, ja, er habe auch mal angedeutet, sie hätte ihn vergiftet. Er sei vielleicht schon etwas paranoid gewesen. Aber er habe das selbst nicht bemerkt. Er wisse nicht, wie es dazu gekommen sei, dass er das habe glauben können. Bezüglich der Blutanalyse und dem Medikament Trazodon wisse er nichts von einer solchen Einnahme. Manchmal habe er das Schlafmittel Stilnox genommen und zwar dann, wenn er bei seiner Freundin übernachtet habe, sonst nicht.

 

5.10   Im «Bericht Suizid-Versuch» der Polizei des Kantons Solothurn vom 30. Mai 2018 (Suva-Nr. 93, S. 3) wurde festgehalten, die Wohnung des Beschwerdeführers sei spurentechnisch untersucht worden. Auffällig seien Blutspuren am Balkongeländer, auf der Innenseite der Balkontüre sowie am Vorhang im Bereich der Balkontüre. Diese Blutspuren seien zunächst mit der vorliegenden Situation nicht erklärbar gewesen. Sodann sei durch die IT-Forensik das Mobiltelefon des Beschwerdeführers ausgelesen worden. Dies habe unter anderem ergeben, dass der Beschwerdeführer am 19. November 2017 um 23:59 Uhr versucht habe, Q.___ anzurufen, das Gespräch sei aber nicht zustande gekommen. Sonst habe es keine auffälligen Telefonanrufe Textnachrichten gegeben, die auf weitere beteiligte Personen hindeuteten. Zu erwähnen bleibe, dass der Beschwerdeführer am 20. November 2017 zwischen 01:44 Uhr bis 02:05 Uhr in der Suchmaschine Google auf seinem Mobiltelefon nach den Nebenwirkungen/Wechselwirkungen von verschiedenen Medikamenten gesucht habe. Des Weiteren hätten die Polizisten beim Rundgang durch die Liegenschaft in einer der beiden Waschküchen der Liegenschaft eine wichtige Feststellung gemacht. Dort hätten diverse Blutspuren und ein teilweise heruntergerissenes Wäscheseil angetroffen werden können. Sodann habe der zuständige Polizist am Nachmittag des 22. November 2017 ein Telefongespräch mit dem Vater des Beschwerdeführers geführt. Dieser habe bei diesem Gespräch verlauten lassen, dass er zuvor seinen Sohn im C.___ besucht habe. Dabei solle ihm dieser anvertraut haben, dass er Suizid habe begehen wollen. Diese Aussage des Beschwerdeführers gegenüber seinem Vater decke sich mit dem Spurenbild vor Ort. Somit dürfte der Beschwerdeführer zuerst in der Waschküche mit einem Leibgurt versucht haben, sich zu erhängen. Dies sei jedoch nicht gelungen und er sei dann wohl zu Boden gestürzt. Dabei habe er sich offenbar eine blutende Verletzung am Kopf zugezogen. Der Beschwerdeführer dürfte sich danach via Treppenhaus zurück in die Wohnung begeben haben, wo er mit blutverschmierten Händen die Balkontüre geöffnet und sich schliesslich in suizidaler Absicht vom Balkon gestürzt habe.

 

5.11   In seiner psychiatrischen Beurteilung vom 15. März 2019 (Suva-Nr. 107) führte Dr. med. M.___, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Kreisarzt, aus, da vom Versicherten selber wegen irreversibler Amnesie für den relevanten Zeitraum keine Auskünfte zu holen seien, und bis zum Berichtsdatum keine fremdanamnestischen Angaben von Seiten des Vaters, welcher mit dem Versicherten zusammengewohnt habe, und von der Freundin, welche am Vorabend des Ereignisses mit dem Versicherten noch zusammen gewesen sei, vorlägen und ebenso wenig ein hausärztlicher Bericht – es sei zu vermuten, dass das im Blut nachgewiesene Trazodon hausärztlich verordnet gewesen sei – stehe diese Beurteilung unter dem Vorbehalt, dass, gestützt auf diese zurzeit ausstehenden Angaben, der psychische Zustand des Versicherten zum Tatzeitpunkt anders zu beurteilen sein könnte. Insofern, als aus der Tatsache, dass der Versicherte als 46-jähriger mit seinem Vater zusammengelebt habe und anlässlich der stationären Entzugsbehandlung als 40-jähriger seine Freundin kennengelernt habe, nichts Nachteiliges abgeleitet werden könne, scheine es sich bei ihm bis zum Sturzereignis im November 2017 um eine unauffällige Persönlichkeit gehandelt zu haben. Im Betrieb, wo er in den vorausgegangenen fünfeinhalb Jahren gearbeitet habe, sei er ein geschätzter Mitarbeiter gewesen, mit dem der Chef sehr zufrieden gewesen sei. Bis zum Sturzereignis sei die psychiatrische Anamnese bland – abgesehen von der stationären Entzugsbehandlung vom Schlafmittel Stilnox 2011. Allerdings sei zu vermuten, dass er in der Zeit vor der Tat das sedierende Antidepressivum Trazodon eingenommen habe. Auch wenn die spekulativen Überlegungen des Konsiliarpsychiaters, Dr. med. N.___, D.___, zutreffen könnten, dass nämlich der Versicherte in einem psychotischen Zustand im Rahmen einer akuten polymorphen psychotischen Störung (F23.0) die suizidale Handlung begangen haben könnte, sei diese Annahme nicht ohne weiteres plausibel und damit nicht überwiegend wahrscheinlich. Dr. med. N.___ führe keine dokumentierten Hinweise an, dass beim Versicherten im November 2017 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte psychische Erkrankung vorgelegen habe. Im Konsiliarbericht vom 8. März 2018 sage Dr. med. N.___ selber, letztendlich liessen sich die genauen Umstände des Balkonsprungs nicht klären und die Frage des Suizidversuches werde wahrscheinlich nicht zu beantworten sein. Gestützt auf die polizeilichen Abklärungen – und gestützt auf eine Aussage des Versicherten dem Vater gegenüber – gehe man im Polizeiprotokoll vom 30. Mai 2018 indes ohne Zweifel von einem Suizidversuch aus. Unter Vorbehalt, dass durch das Einholen der oben genannten fehlenden anamnestischen Angaben der Sturz vom Balkon in einem anderen Licht stehen könnte, sei es somit nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte in einem Zustand unverschuldeter gänzlicher Urteilsunfähigkeit selbstdestruktiv gehandelt habe.

 

5.12   In ihrer psychiatrischen Beurteilung vom 2. Mai 2019 (Suva-Nr. 122) führte Dr. med. P.___, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Kreisärztin, aus, durch die neu vorgelegten polizeilichen Einvernahmeprotokolle (des Versicherten, des Vaters, der Freundin und des Nachbarn) ergäben sich keine neuen Aspekte, sodass weiterhin an der ausführlichen und nachvollziehbaren Beurteilung von Dr. med. M.___ vom 15. März 2019 festgehalten werden könne. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte bei den Ereignissen, die zu seinem Balkonsturz am 20. November 2017 geführt hätten, in einem Zustand unverschuldeter gänzlicher Urteilsunfähigkeit selbstdestruktiv gehandelt habe.

 

5.13   Im Bericht des D.___ vom 7. Juni 2019 (Suva-Nr. 147, S. 7) führten Dr. med. O.___, Leiter Zentrum für Schmerzmedizin, und Dr. med. N.___, Leiter Psychiatrie, aus, die zur Verfügung stehenden Dokumente liessen den Balkon-Sturz beziehungsweise Sprung am 20. November 2017 plausibel als Suizidversuch werten. Es bestehe aber der Verdacht, dass zu diesem Zeitpunkt eine psychotische Störung vorgelegen habe, am ehesten im Sinne einer akuten polymorphen psychotischen Störung ohne Symptome einer Schizophrenie (ICD-10: F 23.0). Es sei wahrscheinlich, dass der mutmassliche Suizidversuch psychotisch motiviert gewesen sei. Inwieweit jedoch dadurch eine Aufhebung der Urteilsfähigkeit «mit überwiegender Wahrscheinlichkeit» vorgelegen habe, könne seinerseits nicht beurteilt werden und bedürfte einer entsprechenden gutachterlichen Wertung. Unter der Annahme «in dubio pro reo» könnte eventuell davon ausgegangen werden, da es sich auch nicht ausschliesse.

 

5.14   Die Hausärztin des Beschwerdeführers, Dr. med. L.___, Fachärztin AIM, hielt in ihrer Stellungnahme vom 19. Juni 2019 (Suva-Nr. 147, S. 9) fest, der Beschwerdeführer habe sich seit 13. November 2010 in ihrer hausärztlichen Betreuung befunden. Letztmals habe sie ihn am 16. Februar 2017 gesehen, also gut sechs Monate vor seinem Sturz vom Balkon. Aus der kreisärztlichen Beurteilung der Suva vom 15. März 2019 gehe hervor, dass im Blut des Beschwerdeführers Trazodon nachgewiesen worden sei, und dieses wohl hausärztlich verordnet worden sei. Sie habe aber den Beschwerdeführer seit dem Februar 2017 nicht mehr gesehen und die letzten Medikamente (1 Pack Valdoxan 25mg) habe sie am 16. Februar 2017 in ihrer Praxis abgegeben. Rezepte nach diesem Datum habe sie keine ausgestellt. Diagnostisch habe der Beschwerdeführer in der Vergangenheit an einem Alkoholabhängigkeitssyndrom gelitten und über eine depressive Verstimmung geklagt. Er sei auch bereits mehrmals in der psychiatrischen Klinik in [...] hospitalisiert gewesen. Ebenfalls bestehe ein Status nach Benzodiazepinabhängigkeit. Auf ihr Anraten habe sich der Beschwerdeführer am 25. Juli 2011 in die psychiatrische Klinik nach [...] für einen Stilnox-Entzug angemeldet, welcher auch erfolgreich durchgeführt worden sei.

 

6.      

6.1     Ob die Voraussetzung der fehlenden Urteilsfähigkeit gegeben ist, damit die Ausnahmebestimmung von Art. 48 UVV zur Anwendung kommt und ein Selbsttötungsversuch als Unfallereignis gelten kann, ist durch einen psychiatrischen Sachverständigen darzulegen (siehe E. II. 2.4 hiervor). Durch die Unfallversicherung wurde kein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Die Vorakten hat die Beschwerdegegnerin versicherungsinternen Kreisärzten vorgelegt, welche Fachärzte auf dem entsprechenden Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie sind. Da es sich hierbei nicht um eine externe Begutachtung handelte, waren auch keine Mitwirkungsrechte im Sinne einer vorgängigen Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen, zu gewähren. Auf diese versicherungsinternen Expertisen wurde im Einspracheentscheid abgestellt. Bei solchen genügen geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit, um ergänzende Abklärungen in Form eines Gerichtsgutachtens einer versicherungsexternen medizinischen Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG vorzunehmen zu müssen (Urteil des Bundesgerichts 8C_246/2020 vom 10. September 2020 E. 2.3 mit Hinweisen).

 

6.2     Aus den vorliegenden Akten ergeben sich verschiedene offene Fragen, welche durch die kreisärztlichen Berichte vom 15. März 2019 (Suva-Nr. 107) und 2. Mai 2019 (Suva-Nr. 122) nicht geklärt wurden. So bestehen in den Akten diverse Hinweise auf ein mögliches – im Vorfeld des Balkonsturzes vom 20. November 2019 bestehendes – psychotisches Geschehen, welches die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers erheblich beeinträchtigt bzw. sogar ganz aufgehoben haben könnte. Die Freundin des Beschwerdeführers gab in diesem Zusammenhang bei der polizeilichen Einvernahme vom 20. November 2017 an, ihr sei seit rund drei Wochen aufgefallen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr er selber sei. Er habe schlecht ausgesehen und sei wie paranoid gewesen, dass sie ihm etwas in den Tee tue. Er sei aggressiver gewesen und habe ihr Natel kontrolliert. Gestern vorgestern sei es um das Sexuelle gegangen und es habe nicht funktioniert. Da habe er sie beschuldigt, dass sie ihm etwas in den Tee getan habe und deswegen sein Penis nicht gestanden habe. Auch anlässlich des psychiatrischen Konsiliums des D.___ vom 7. Dezember 2017 konnte sich der Beschwerdeführer noch nicht von diesen Wahnvorstellungen distanzieren und gab an, er habe geglaubt, dass seine Freundin ihn umbringen wolle, indem sie ihn vergifte. Er wisse nicht genau, wie er darauf komme. Auch aktuell sei er sich nicht sicher, ob von ihr nicht noch eine Gefahr ausgehe. Die Kreisärzte der Suva stützen sich in ihrer Beurteilung, wonach ein psychotisches Geschehen nicht überwiegend wahrscheinlich sei, unter anderem auf die Aussage des Beschwerdeführers, wonach dieser nach dem Unfall gegenüber seinem Vater gesagt haben soll, dass er Suizid habe begehen wollen. Aus dieser Aussage kann aber kaum etwas Verlässliches abgeleitet werden. Diese wurde nur zwei Tage nach dem Sturz gemacht und könnte noch unter dem Einfluss der erheblichen Verletzungen, der nachfolgenden Operationen und der verabreichten Medikamente gestanden haben, zumal sich diese Aussage auch auf den dem Balkonsturz vorangehenden möglichen Erhängungsversuch des Beschwerdeführers in der Waschküche bezogen haben könnte. Relevant bleibt aber einzig, ob der Beschwerdeführer unmittelbar vor dem Balkonsturz gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln. Diese Frage wird von den Kreisärzten nur ungenügend beantwortet. Des Weiteren fehlen auch hinsichtlich des im Blut des Beschwerdeführers festgestellten Medikaments Trazodon weiterführende Informationen. Im toxikologischen Gutachten werden weder Feststellungen zum Zeitpunkt der Trazodon-Einnahme getroffen noch Ausführungen dazu gemacht, ob die festgestellte Menge bzw. die (gestützt auf eine Rückrechnung analog der Feststellung der Blutalkoholkonzentration) zur Zeit des Sturzes im Blut befindliche Menge ausreichend war, um die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers zu beeinträchtigen gar ganz aufzuheben. Damit liegen zumindest geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der kreisärztlichen Beurteilungen vor, weshalb das Versicherungsgericht nicht umhinkam, weitere Berichte einzuholen und ergänzende Abklärungen im Rahmen zweier Gerichtsgutachten zu veranlassen.

 

7.       Vorweg ist die Frage zu klären, ob und bejahendenfalls inwiefern das Versicherungsgericht als sozialversicherungsrechtliche Gerichtsinstanz an die vorgehenden Feststellungen der Strafverfolgungsbehörde in der Einstellungsverfügung vom 13. September 2018 gebunden ist. Diesbezüglich geht aus dem Urteil des Bundesgerichts 9C_785/2010 vom 10. Juni 2011 Folgendes hervor: «Liegt ein Strafurteil vor, ist das Sozialversicherungsgericht weder hinsichtlich der Angabe der verletzten Vorschriften noch hinsichtlich der Beurteilung des Verschuldens an die Feststellung und Würdigung des Strafgerichts gebunden. Es weicht aber von den tatbeständlichen Feststellungen des Strafgerichts nur ab, wenn der im Strafverfahren ermittelte Tatbestand und dessen rechtliche Subsumtion nicht zu überzeugen vermögen auf Grundsätzen beruhen, die zwar im Strafrecht gelten, im Sozialversicherungsrecht jedoch unerheblich sind». Auch wenn in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 13. September 2018 zur Begründung unter anderem ausgeführt wurde, «es besteht aufgrund der Erkenntnisse kein Zweifel mehr daran, dass sich A.___ am 22. November 2017 das Leben nehmen wollte und sich dabei selber verletzte», kann dies für das Versicherungsgericht somit keine Bindungswirkung entfalten, zumal die Staatsanwaltschaft die Frage, ob es sich um einen Suizid einen Unfall handelte bzw. ob der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Balkonsturzes gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln, nicht klären musste. Damit war es dem Versicherungsgericht unbenommen, in dieser Hinsicht weitere Abklärungen zu tätigen und allenfalls zu einer von der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft abweichenden Beurteilung zu kommen.

 

8.       Wie vorgehend festgehalten, musste das Versicherungsgericht aufgrund des durch die Beschwerdegegnerin ungenügend abgeklärten Sachverhalts weitere Abklärungen tätigen. Es veranlasste deswegen beim F.___ einen Ergänzungsbericht zum forensisch-toxikologischen Gutachten vom 8. Dezember 2017, bei Herrn K.___, Kriminaltechnik, Polizei des Kantons Solothurn, einen ergänzenden Spurenbericht zum Spurenbericht der Kantonspolizei Solothurn vom 29. Mai 2018 sowie bei Dr. med. G.___, MBA, Chefarzt Forensische Psychiatrie, H.___, und bei Prof. em. Dr. med. J.___, Facharzt für Rechtsmedizin, je ein entsprechendes Gutachten. Nachfolgend sind diese Berichte und Gutachten inhaltlich wiederzugeben und es ist sodann insbesondere der Beweiswert der beiden Gutachten zu prüfen.

 

8.1     Im forensisch-toxikologischen Aktengutachten des F.___ vom 29. Oktober 2020 (A.S. 64 f.) wurde ausgeführt, wenn wie im forensisch-toxikologischen Gutachten vom 8. Dezember 2017 vermerkt werde «Trazodon qualitativ nachgewiesen», dann bedeute dies, dass die Substanz in der analysierten Probe sicher identifiziert und im gegenständlichen Fall das in den Proben identifizierte Trazodon somit aufgenommen worden sei. Es sei allerdings auftragsgemäss nicht bestimmt worden, welche Konzentration diese Substanz in der Blutprobe aufgewiesen habe. Eine Aussage, ob ein wirksamer Spiegel vorgelegen habe, der eine substanztypische Wirkung erzeugt haben könne, könne aus einem qualitativen Ergebnis nicht getroffen werden. Ferner sei nicht möglich, eine Einordnung vorzunehmen, ob eine Konzentration vorgelegen habe, die keinen therapeutischen Effekt erzeugt haben könne (weil Konzentration zu niedrig), im therapeutisch wirksamen sogar im übertherapeutischen / toxisch wirkenden Bereich gelegen habe. Aussagen zur Wirkung könnten nur aus einem quantitativen Blutergebnis bzw. einer Konzentrationsangabe im Blut getroffen werden. Aus einem qualitativen Ergebnis seien keine Rückschlüsse bezüglich der eingenommenen Menge, des Zeitpunktes der Einnahme sowie des Blutkonzentrationsgehalts im Zeitpunkt des Ereignisses – Sturz vom Balkon am 20. November 2017, ca. zwischen 6 und 7 Uhr morgens – gezogen werden. Aussagen über den Zeitpunkt der Einnahme und über die eingenommene Menge seien zudem nur anhand einer Blutkonzentration nicht möglich. Aus quantitativen Ergebnissen könne lediglich auf einen bestimmten Zeitpunkt (z. B. Ereigniszeit) extrapoliert werden. Die Lagerfrist habe, wie im Gutachten vom 8. Dezember 2017 ausgewiesen, ein Jahr betragen. Die Proben seien daher entsorgt worden.

 

8.2     Im Nachtragsrapport vom 4. Juni 2021 (A.S. 97 ff.) zum Spurenbericht vom 29. Mai 2018 hielt K.___, kriminaltechnischer Dienst, Polizei Kanton Solothurn, fest, die Höhe vom Balkongeländer, Oberkante des Handlaufes, bis auf den Plattenboden unterhalb des Balkons sei mit 3.5 Meter gemessen worden. Sodann seien die Ausführungen von Prof. em. Dr. med. J.___ plausibel, wonach aufgrund des Blut-Spurenbildes davon auszugehen sei, dass der Versicherte entlang der Hauswand abgeglitten und neben der grünen Giesskanne auf dem Steinplatten-Boden aufgeprallt sei, danach ein paar Stufen heruntergekollert sein dürfte bzw. sich dorthin geschleppt haben und bei der grossen Blutlache mit dem Kopf gelegen sein dürfte (vgl. Aktennotiz vom 19. Mai 2021, A.S. 95). Durch den Schreibenden, K.___, könne jedoch keine detailliertere Interpretation des Blutspurenbildes vorgenommen werden, da dazu die nötige Erfahrung fehle. Des Weiteren führte K.___ zur Frage, wie er die Beschädigung der Wäscheleine und der Rohrisolation im Keller interpretiere, Folgendes aus: Aufgrund der Beschädigung der Rohrisolationsverkleidung scheine es so, dass die Rohrisolationsverkleidung und das darunterliegende Rohr einer vertikalen Krafteinwirkung, von oben nach unten, ausgesetzt gewesen sei. Das Wäscheseil sei durch Hakenschrauben an den Wänden (Nord und Süd) der Waschküche befestigt gewesen. Um das Wäscheseil in horizontaler Position zu halten, seien etwa in der Mitte des Raumes, in die Decke, Ringschrauben eingelassen worden. Diese Ringschrauben seien mit Drähten mit dem Wäscheseil verbunden gewesen. Bei seinem Eintreffen sei das Wäscheseil ungespannt von den Hakenschrauben sowie den Halterungen in der Decke in Richtung Boden gehangen. Am Wäscheseil hätten Trennstellen festgestellt werden können. An der Nordwand, auf dem Fussboden liegend, habe ein Leibgurt aufgefunden werden können. Weiter hätten sich auf dem Boden und an der Wand verteilt blutartige Antragungen gefunden. Aus der Sicht des Schreibenden bestehe die Möglichkeit, dass versucht worden sei, sich mit dem aufgefundenen Leibgurt zu strangulieren. Der Leibgurt wäre demnach über die Rohrisolationsverkleidung gelegt worden. Im Verlaufe dieses Vorhabens habe sich der Leibgurt jedoch von der Rohrisolationsverkleidung gelöst und die Person sei auf den Boden geprallt. Anlässlich des Sturzes sei das Wäscheseil beschädigt bzw. durchtrennt worden. Aufgrund des Sturzes habe sich die Person verletzt. Auf diese Weise seien die blutartigen Antragungen zu erklären. Der genannte Ablauf erscheine dem Schreibenden als mögliches Szenario plausibel. Schliesslich hielt K.___ zur Frage, ob der Gurt intakt gerissen sei, Folgendes fest: Am Riemen des Leibgurtes hätten durch den Schreibenden keine Beschädigungen festgestellt werden können. An der Gürtelschnalle habe festgestellt werden können, dass der Dorn der Gürtelschnalle gebogen sei. Weiter sei anzufügen, dass je nach Art wie der Riemen in der Gürtelschnalle mit dem Dorn befestigt werde, es leicht geschehen könne, dass der Dorn durch die Gürtelschnalle rutsche und sich der Verschluss dadurch öffne.

 

8.3     Prof. em. Dr. med. J.___ führt in seinem rechtsmedizinischen Gutachten vom 5. Juli 2021 (A.S. 108 ff.) aus, er könne der Interpretation des Spurenbildes im Keller des Hauses durch Herrn K.___ vom KTD folgen. Er gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer dort versucht habe, sich mit dem am Boden hinter dem Sofa aufgefundenen, ca. 100 cm langen Ledergurt an einem ummantelten Rohr an der Decke der Waschküche, zu erhängen. Ergänzend sei davon auszugehen, dass er zu diesem Zweck auf die Sitzfläche des Sofas steigen, den Gurt ums Rohr befestigen und herunterspringen haben müssen. Der Gurt müsse sich unter Belastung gelöst haben, sei es, dass der Knoten am Rohr aufgegangen sei, sei es, dass der Dorn durch leicht tangentiale Zugwirkung von der Schnalle gerutscht sei. Das Blutspurenbild spreche dafür, dass sich der Beschwerdeführer durch den Sturz auf den Boden verletzt habe. Bei den Blutspuren am Boden der Waschküche vor dem Sofa handle es sich um eine recht geringe Menge an Blut in Form von Blutstropfen und Wisch-Spuren; vereinzelt seien Abdrücke der rechten Hand erkennbar. Bezüglich der Ursache der Blutspuren sei aufgrund der Berichte des B.___ davon auszugehen, dass der an einer erworbenen Blutgerinnungs-Störung leidende Mann beim nicht sehr hohen Sturz auf den Kellerboden den Kopf vorne, d.h. im Gesichtsbereich angeschlagen und dabei die rechtsmedizinisch festgestellten Hautwunden an der linken Augenbraue und am Nasenrücken, die Schleimhautwunde an der Innenseite der Unterlippe und die klinisch festgestellten Blutungen in die Nebenhöhlen und die Verrenkung des linken Kieferköpfchens erlitten habe. Gut möglich sei auch, dass er aus der Nase geblutet habe. Der Blutverlust im Keller sei als gering zu betrachten. Es sei davon auszugehen, dass es sich um weniger als 1 dl gehandelt habe. Eine Bewusstseinstrübung könne durch einen so geringen Blutverlust unmöglich verursacht werden. Es sei an dieser Stelle grundsätzlich zu bedenken zu geben, dass allein aus einer Verletzung und/oder einem Blutverlust nicht rechtsgenügend auf eine Urteils-Fähigkeit bzw. Urteils-Unfähigkeit geschlossen werden könne.

Weiter führt Prof. em. Dr. med. J.___ aus, das Spurenbild in der Waschküche spreche wie erwähnt dafür, dass der Beschwerdeführer versucht habe, sich nach Aufsteigen aufs Sofa mit dem Ledergurt am unter der Decke verlaufenden Rohr zu erhängen. Während die zulaufende Schlinge zu einer zirkulären Kompression des Halses und damit zu einer klassischen Strangulation mit Kompression der Blutgefässe am Hals führe, umfasse die offene Schlinge den Hals nicht vollständig, sondern drücke vorab auf dessen Vorderseite mit leichtem Ansteigen auf beide Seiten. Das Risiko, dass bei der weit offenen Schlinge die vom und zum Kopf führenden Blutgefässe komprimiert würden, sei hier weniger gross als bei der zulaufenden Schlinge. Dass Kräfte auf die Halshaut eingewirkt hätten, belegten die diskreten Hauteinblutungen und Hautabschürfungen an der Halsvorderseite mit geringen Ausläufern auf beide Halsseiten. Solche Befunde könnten bei beiden Schlingen-Varianten entstehen, weshalb die Eingrenzung auf eine Variante nicht möglich sei. Sie sagten aber nichts über die Dauer der Halskompression aus. Hinweise auf eine längerdauernde Halskompression mit Behinderung der Blutzirkulation habe die rechtsmedizinische Untersuchung nicht ergeben. Dafür beweisend wären sog. Stauungsblutungen in der Gesichtshaut und vor allem in den Augenbindehäuten und Schleimhäuten des Gesichtes. Solche seien nicht beschrieben und auf dem Foto im Spital, das die Schleimhaut der Innenseite der Unterlippe zeige, nicht ersichtlich. Es sei daher davon auszugehen, dass es sehr frühzeitig nach der Belastung des Gurtes zu einer Lösung desselben und zum Absturz gekommen sei und die nur ggf. kurzzeitig wirkende Halskompression mithin das Leben des Beschwerdeführers sicher nicht gefährdet und sein Gehirn nicht geschädigt habe. Eine kurzzeitige Trübung des Bewusstseins, evtl. sogar eine kurze Bewusstlosigkeit, könne jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Sodann setzt sich Prof. em. Dr. med. J.___ eingehend mit dem weiteren Spurenbild auseinander: Soweit auf den Fotos ersichtlich, gebe es am Fussboden des Kellers ausserhalb der Waschküche und der Wohnung im ersten Stockwerk keine weiteren Blutspuren. Dies spreche ebenfalls für eine geringe Blutung aus den Gesichtswunden und ggf. einem Nasenbluten. Die einzigen Blutspuren in der Wohnung befänden sich am Boden vor der Balkontüre (ein Tropfen) und am Vorhang und am Schliess-Hebel der Balkontüre (Wisch-Spuren). Dies belege zusätzlich, dass zumindest eine Hand blutverschmiert gewesen sei. Auf dem Balkon fielen mehrere blutige Wisch-Spuren (gemäss KTD-Bericht handle es sich um verschmierte Handflächenabdrücke) und ein Blutstropfen auf der gemäss Fotos ca. 10 cm breiten und 86 cm hohen Metallbrüstung auf. Der Beschwerdeführer sei somit mit der Brüstung in Kontakt gewesen. Obwohl auf dem Balkon an der Hauswand drei Stühle vorhanden seien, sei kein Stuhl verwendet worden, um das Balkongeländer überwinden zu können. Somit sei es sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer nicht auf das Geländer gestiegen sei, um von diesem in die Tiefe zu springen, sondern, dass er sich vornüber über die Brüstung gebeugt habe und in die Tiefe gefallen sei. «Vornüber» sei aus der Tatsache zu schliessen, dass, wie in Abb. 10 ersichtlich sei, auf der grobsteinigen Aussenfassade im obersten Bereich zahlreiche in der Vertikale ausgerichtete, flächenhafte Blutantragungen an den Kuppen der Fassaden-Steine zu sehen seien und davon auszugehen sei, dass nach dem Sturz im Keller mit Gesichtsverletzungen und ggf. einem Nasenbluten vorab die Brustpartie der Kleidung und das Gesicht von Herrn A.___ blutverschmiert gewesen sei. Ebenfalls für ein Abgleiten des Körpers an der Fassade spreche die Aufprallstelle am Boden nahe an der Hauswand, erkennbar durch mässige Blutantragungen auf der obersten Treppenstufe neben einer grünen Giesskanne. Die Absturzhöhe ab dem Balkongeländer betrage gemäss KTD 3,5 Meter. Die Befundkonstellation der Verletzungen spreche für einen Aufprall auf den Hinterkopf und den Rücken, was mit einem Sturz kopfüber ohne weiteres zu vereinbaren sei. Der nun offenbar schwer verletzte aber zu Beginn noch nicht stark blutende Mann müsse nach dem Aufprall bei Bewusstsein geblieben sein und sich anschliessend auf nicht klare Art und Weise über sechs Stufen der rechtwinklig verlaufenden Aussentreppe bewegt haben, wo er mit dem Kopf auf der untersten Stufe zu liegen gekommen sei. Auf dieser Stufe befinde sich eine grosse Blutlache und auf derjenigen darüber, wenig Blut. Bei einem Absturz durch ein Kopfüber-Hinüberkippen über eine Brüstung stelle sich die Frage, ob es sich dabei um ein unbeabsichtigtes aber um ein beabsichtigtes Ereignis im Sinne eines Suizidversuches handle. Hierbei müsse zunächst geprüft werden, ob ein unbeabsichtigtes, unfallmässiges Abstürzen überhaupt möglich sei, ob also eine Person, die sich, aus welchen Gründen auch immer, über die Balkonbrüstung beuge, ohne aktives Dazutun hinunterfallen könne. Sehr wichtig seien in diesem Zusammenhang die Höhe der Brüstung ab Balkon-Boden und die Grösse der Person. Die Brüstungshöhe betrage, wie Abb. 9 zeige, 86 cm. Gemäss einem Klinikbericht in den SUVA-Akten (105, Seite 4) betrage die Körpergrösse des Beschwerdeführers 178 cm. Bei dieser Körpergrösse reiche eine 86 cm hohe Brüstung bei normalen Proportionen ca. 6-9 cm unterhalb des grossen Rollhügels (Trochanter major) des Oberschenkels und liege damit unterhalb des Schwerpunktes des Körpers. Es wäre somit rein physikalisch ohne weiteres möglich, dass der Beschwerdeführer unbeabsichtigt kopfüber über die Balkonbrüstung gestürzt sei.

Abschliessend hält Prof. em. Dr. med. J.___ fest, die Sturzhöhe von 3.5 Metern sei für einen Suizidversuch, wie von Dr. med. G.___ zu Recht angemerkt worden sei (vgl. Schreiben von Dr. med. I.___ vom 16. März 2021, A.S. 76 f.), eher ungewöhnlich. Die Sturzhöhe sei aber, wie der Fall zeige, geeignet, sehr schwere tödliche Verletzungen zu verursachen. Es stelle sich die Frage, ob der Beschwerdeführer nach seinem offensichtlich gescheiterten Suizidversuch kurzfristig einen für einen Suizid besser geeigneten, weil höher gelegenen Absturzort hätte erreichen können. Dazu könne er, Prof. em. Dr. med. J.___, sich nicht äussern. Ungewöhnlich für einen Suizidversuch sei ferner, dass der Beschwerdeführer nicht durch einen Sprung in die Tiefe, sondern durch Hinüberkippen abgestürzt sei. Obschon Stühle auf dem Balkon vorhanden gewesen seien, habe er keine Aufstiegsmöglichkeit in Anspruch genommen. Auch dies schliesse ein beabsichtigtes Hinunterstürzen aber nicht aus.

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das rechtsmedizinische Gutachten von Prof. em. Dr. med. J.___ sehr wohlbegründet und überzeugend ausgefallen. Der Gutachter legt seine Schlussfolgerungen einleuchtend dar, weshalb dem Gutachten voller Beweiswert zuzumessen ist

 

8.4     Dr. med. I.___ führt in seinem forensisch-psychiatrische Gutachten vom 6. September 2021 aus, vorweg sei anzumerken, dass gewisse Angaben des Versicherten mit denen seines Vaters und seiner Freundin nicht in Übereinstimmung zu bringen seien. Zum einen die Angabe des Versicherten, dass er den Tag und Abend vor dem Ereignis bei seiner Freundin verbracht habe, ehe er dann zu seinem Vater gefahren sei, wo es am nächsten frühen Morgen zu dem Ereignis gekommen sei, während diese und sein Vater davon gesprochen hätten, dass seine Freundin mit ihm beim Vater gewesen sei und sie ihn am Abend wieder verlassen habe. Für den Fall, dass diese sich nicht irrten und auch nicht anzunehmen sei, dass der Explorand hier bewusst falsche Erinnerungen angebe, könne im Gesamtbild vermutet werden, dass hier tatsächliche Erinnerungslücken im Sinne von Konfabulation mit Einfällen gefüllt würden. Ein anderer, nicht ganz unerheblicher Punkt betreffe das Erinnerungsvermögen und die angeblich gemachten Angaben zum Ereignis. Bei einer dermassen schweren Kopfverletzung sei eine Erinnerungslücke (Amnesie) schon vor dem Ereigniszeitpunkt, man nenne dies eine anterograde Amnesie, ohne weiteres anzunehmen und Entsprechendes habe der Explorand wiederholt geltend gemacht. Vermerkt sei nun aber auf einer polizeilichen Notiz, dass der Vater des Beschwerdeführers der Polizei gegenüber angegeben habe, sein Sohn habe nach dem Erwachen aus dem Koma ihm gegenüber am Telefon von einem Suizidversuch gesprochen. Der Widerspruch zwischen woanders wiederholt angegebener Amnesie und einer solchen angeblichen Erinnerung lasse sich auf unterschiedliche Art und Weise auflösen. Es könne sein, dass es hier einfach zu einer Unschärfe bei der Protokollierung gekommen sei und Vater und Polizei eben etwas so angenommen hätten, wie man es habe vermuten können. Eine andere Erklärung wäre die, dass der Sohn im Wissen um die näheren Umstände das gesagt habe, was ihm wahrscheinlich erscheine, auch wenn er sich tatsächlich gar nicht mehr an seine suizidalen Absichten habe erinnern können. Möglich wäre aber auch, dass er tatsächlich den etwas früher in der Nacht und damit zeitlich weiter vom Sturz und der Kopfverletzung entfernt durchgeführten Erhängungsversuch noch (schwach?) erinnert habe, aber nicht mehr den Sturz und dessen näheren Umstände.

Sodann setzt sich Dr. med. G.___ eingehend mit den beim Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Ereignisses vorliegenden Diagnosen auseinander und begründet seine Diagnosestellung nachvollziehbar: Überprüfe man zunächst einmal das Vorliegen überdauernder, allenfalls chronischer psychischer Störungen, sei gestützt auf die Angaben des Exploranden von Verhaltens- und Leistungsauffälligkeiten in Kindheit und Jugend auszugehen. Diese seien aber nicht als derartig ausgeprägt zu erkennen, dass sie einer erheblich schweren psychischen Störung, hier wäre z.B. an eine Störung des Sozialverhaltens eine ADHS zu denken, allenfalls später einer Persönlichkeitsstörung, zugeordnet werden könnten. So habe er Schwierigkeiten gehabt, sich in der öffentlichen Schule zurechtzufinden, später sei es aber, zunächst in einem Internat und dann in einer Privatschule ([...]) schulisch gutgegangen. Zu sehen sei auch, dass er eine vierjährige anspruchsvolle Lehre erfolgreich habe beenden können. Blicke man auf dem Boden dieser Angaben und auch unter Berücksichtigung des heutigen aktuellen psychopathologischen Befundes auf die Persönlichkeit des Exploranden, so stelle sich nicht dar, dass hier sehr tiefgreifende und deutlich normabweichende Auffälligkeiten im Bereich der Kognitionen, der Affektivität der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen vorlägen. Bezüglich fachärztlich psychiatrischer Befunddokumentation könne vor dem Ereignis in 2017 allein auf eine kurze stationäre psychiatrische Behandlung zum Schlafmittelentzug in 2011 zugegriffen werden. Damals habe man davon gesprochen, dass der Verdacht bestehe, es habe beim Beschwerdeführer einmal eine mittelgradige depressive Episode vorgelegen, er jetzt aber symptomfrei (d.h. remittiert) sei. Es sei allerdings in der vorliegenden Dokumentation nicht nachvollziehbar, worauf sich diese Verdachtsbeurteilung denn nun genau abstütze. Auf Auffälligkeiten im affektiven Bereich wiesen weiter die Angaben der Hausärztin auf das wiederholte Rezeptieren antidepressiver Medikamente hin, nämlich in 2011 (Valdoxan), in 2012 (Trittico), in 2014 (Redormin 500 mg) sowie zuletzt auch am 16. Februar 2017 von einer Packung Valdoxan 25 mg. Die Dokumentation lasse dabei nur jeweils ein einmaliges Rezeptieren einer Packung Antidepressiva erkennen und ohne sichtbare Nachfolgeverschreibungen. Damit spreche ein nur kurzes Rezeptieren eines Antidepressivums eher dagegen, dass eine schwere depressive Episode gemäss ICD in den letzten Jahren einmal vorgelegen habe. Dagegen spreche auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer in diesem Kontext nie einmal in fachärztliche Behandlung zu einem Psychiater überwiesen worden sei. Leichte und mittelschwere Bilder seien gleichwohl vorstellbar und könnten mit den obengenannten Informationen einen Hinweis dafür geben, dass der Explorand zu wiederholten, kurzfristigen, rasch kommenden (und auch wohl rasch wieder abklingenden) depressiven Stimmungseinbrüchen geneigt habe. Der Explorand selbst spreche nun für den Ereigniszeitraum vor allem von Vergiftungsideen, die ihm selbst heute im Rückblick unverständlich seien. Im Weiteren habe er auch eine Konzentrationsschwäche angefügt und dass er sich nicht mehr arbeitsfähig gefühlt habe. Er sei am Freitag auch nicht mehr arbeiten gegangen und dies habe ihn am Sonntag davon abgehalten, noch mit dem Auto nach Hause fahren zu wollen (er habe stattdessen ein Taxi genommen, allerdings: Auf die Widersprüche zu diesem Abend sei bereits hingewiesen worden). Zudem gebe es Hinweise auf eine Schlafstörung zumindest in dieser Nacht und festzuhalten sei weiter eine Suizidalität, bei einem doch als recht gesichert erscheinendem Suizidversuch des Exploranden in der Waschküche. Seine Freundin habe angegeben, dass er seit drei Wochen schon verändert und ereignisnah «paranoid» gewesen sei, als er sie verdächtigt habe, ihm etwas in den Tee getan zu haben, nachdem es zu einem sexuellen Versagen gekommen sei. Sie solle ihm auch ein Antidepressivum gegeben haben, deren Einnahme gemäss Blutuntersuchung als gesichert anzusehen sei (Trazodon). Dass dieses massive Nebenwirkungen ausgelöst haben könnte, erscheine hingegen unwahrscheinlich. Sei es doch in aller Regel eine gut verträgliche Substanz und gebe es auch in der Vorgeschichte des Exploranden keine Hinweise auf eine allfällige besondere Medikamentenunverträglichkeit. Theoretisch denkbar wäre weiter eine Überdosierung, allenfalls sogar in suizidaler Absicht. Hierfür gebe es aber sonst keinerlei Indizien. Es gebe dabei keine Hinweise auf eine Intoxikation bzw. ein dadurch ausgelöstes Geschehen. Es liessen sich auch nicht die Kriterien einer Schizophrenie belegen und auch schon bei der isolierten wahnhaften Störung (ICD-10: F22) müsste eine Wahnsymptomatik über mindestens 3 Monate bestehen, ehe diese Diagnose in Frage kommen könnte. Mit Blick auf die Vorgeschichte und im Wissen darum, dass es auch bei einem depressiven Geschehen zum Auftreten von erhöht misstrauischen, wahnartigen Erleben kommen könne, werde man eine Depression vermuten müssen. Konkret könnten Wahnideen bei rund 1/3 der an einer Depression Erkrankten festgestellt werden. Eine Schlafstörung finde sich bei nahezu 100 % der depressiv Erkrankten und Konzentrationsprobleme bei 91 %. Es sei also zusammengefasst beim Exploranden vom Vorliegen häufiger und typischer Symptome einer Depression zu sprechen und in einer Gesamtschau damit am wahrscheinlichsten für den Ereigniszeitpunkt vom Vorliegen einer mittelgradig depressiven Episode bei rezidivierenden depressiven Episoden (ICD 10; F33.1) auszugehen. Dies erscheine angesichts der Vorgeschichte sehr viel wahrscheinlicher, als die Diagnose einer akut vorübergehenden psychotischen Störung (ICD-10: F23.0), die grundsätzlich auch in Frage kommen könnte. Es gebe hingegen keine Hinweise auf ein umfassenderes, allenfalls komplexes Wahngeschehen, wie man es bei Schizophrenen kenne, wo dann auch von einem Realitätsverlust zu sprechen sei. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Explorand durch Halluzination beeinträchtigt bei Fremdsteuerungserleben wie fremdgelenkt gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Balkonsturzes habe nun zusätzlich ein Zustand mit Status nach Suizidversuch vorgelegen, wobei es durchaus Gründe gebe hypothetisch annehmen zu können, dass der Explorand durch den Erhängungsversuch eventuell kurz bewusstlos gewesen sei (da keine Schutzreflexe erfolgten, die das Aufschlagen des Gesichts auf den Kellerboden verhindert hätten). Weiter anzunehmen seien Schmerzen, die ihn belastet hätten und Blut-Verschmierungen an Gesicht und Händen. Zu diskutieren nach der Strangulation sei das Gefühl einer subjektiven Atemnot, was den Exploranden zum Balkon zum Luft schnappen geführt haben könnte, allenfalls könnte auch noch eine gewissen Benommenheit vorgelegen haben. Zu sprechen wäre hier von einem möglichen akuten Zustand beeinträchtigter kognitiver Funktionen in Folge des Erhängungsversuchs, der aber nicht als psychische Krankheit zu klassifizieren sei.

Des Weiteren legt Dr. med. I.___ mit einleuchtender Begründung dar, dass der Beschwerdeführer unmittelbar vor dem Balkonsturz nicht mehr in der Lage war, vernunftgemäss zu handeln: Gestützt auf die vorgehenden Ausführungen würden sich zwei naheliegende Hypothesen zum Sturzgeschehen darstellen. Einerseits könnte es sich bei dem Sturz um ein Unfallereignis mit eher passivem Hinüberkippen über die Balkonbrüstung bei einer nach einem Erhängungsversuch noch benommenen und nicht voll orientierten Person handeln. Die Frage der Urteilsfähigkeit stelle sich dann nicht (mehr). Andererseits könne das Hinüberkippen in suizidaler Absicht geschehen sein. Allerdings sprächen in diesem Falle die Umstände mit guter Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Explorand dabei nicht mehr urteilsfähig gewesen sei, da banale Abwägungen und ein Reflektieren über die z.B. für einen Suizid doch ungeeignete Sturzhöhe nicht stattgefunden und mögliche Suizidhilfen (wie Benutzen des Balkonstuhles um eine höhere Höhe zu erreichen und dann auch aktiv zu springen) nicht genutzt worden seien. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit habe zum Ereigniszeitpunkt eine mittelgradig depressive Episode vorgelegen, die dem Rechtsbegriff einer Geisteskrankheit zugeordnet werden könne. Weiter gebe es einige Indizien, die dafür sprächen, dass der Versicherte nach dem Erhängungsversuch nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen sei, sondern in einer Art Benommenheitszustand. Dies könne man dem Rechtsbegriff Geistesschwäche zuordnen. Unter der Annahme, zum Ereigniszeitpunkt könnte eine mittelschwere depressive Episode, womöglich im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung, vorgelegen haben, so beeinträchtige eine solche Störung das Urteilsvermögen erheblich. Betroffene fühlten sich isoliert, verlassen, sähen sich und die Umwelt negativ und kämen dadurch in einen suizidalen Zustand. Dieser werde häufig auch durch Gefühle der Hoffnungslosigkeit weiter begünstigt. Nicht selten werde dieser Zustand nicht als Krankheit erkannt und sei dann kein rationales Abwägen in wichtigen Lebensbereichen, wie auch in der Frage der Sinnhaftigkeit eines Weiterlebens, möglich. Zusätzlich gebe es einige Indizien die dafür sprächen, dass der Explorand nach dem gescheiterten Erhängungsversuch zusätzlich in seinen kognitiven Funktionen beeinträchtigt gewesen sei. Gestützt darauf kommt Dr. med. I.___ in nachvollziehbarer Weise zur Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer aus ärztlicher Sicht zum Zeitpunkt des Balkonsturzes überwiegend wahrscheinlich nicht in einem Zustand gewesen ist, in welchem er noch als urteilsfähig angesehen werden konnte und in dem er noch vernunftgesteuert Entscheidungen hatte treffen können. Im Übrigen ist es nicht zu beanstanden, dass sich Dr. med. I.___ bei mehreren möglichen Geschehensabläufen für den für ihn am überwiegend wahrscheinlichsten ausspricht. So hat bei mehreren möglichen Varianten die Beurteilung, ob ein Suizid(-versuch) ein Unfall vorliegt, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. etwa SVR 2017 UV Nr. 23 S. 75, Urteil des Bundesgerichts 8C_581/2016 vom 14. Februar 2017 E. 4.3). Es müssen nicht alle möglichen Varianten mit Sicherheit ausgeschlossen werden (Urteil des Bundesgerichts 8C_552/2019 vom 23. Dezember 2019 E. 5.1).

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass dem forensisch-psychiatrische Gutachten von Dr. med. I.___ vom 6. September 2021, welches insbesondere die Schlussfolgerungen aus dem rechtsmedizinischen Gutachten von Prof. em. Dr. med. J.___ vom 5. Juli 2021 in die Beurteilung miteinbezieht, voller Beweiswert zuzumessen ist. Das forensisch-psychiatrische Gutachten ist in Kenntnis der Vorakten bzw. der Anamnese abgegeben worden und leuchtet in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation ein. Die Schlussfolgerungen von Dr. med. G.___ sind zudem wohlbegründet. Im Übrigen weicht das Gericht, wie in E. II. 3.3. hiervor festgehalten, nach der Rechtsprechung bei Gerichtsgutachten nicht ohne zwingende Gründe von den Einschätzungen der medizinischen Experten ab (BGE 143 V 269 E. 6.2.3.2 S. 282, 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f.). Vorliegend gibt es keine solchen zwingenden Gründe, welche es rechtfertigen würden, von den Ergebnissen des Gutachtens von Dr. med. I.___ abzuweichen.

 

Schliesslich vermag die Beurteilung von Dr. med. I.___ auch im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu überzeugen, wie nachfolgend darzulegen ist: In der diesbezüglichen höchstrichterlichen Rechtsprechung wird bei der Beurteilung gemäss Art. 48 UVV der Fokus auf das Vorliegen von Wahnelementen gelegt. So verneinte das Bundesgericht das Vorliegen eines Unfalls in einem Fall, in welchem sich ein Versicherter, der sich zuvor wegen einer neurotischen Depression bei anankastischer Persönlichkeit in Behandlung befunden und sich mit seiner Armeepistole erschossen hatte (mit Hinterlassen einer Abschiedsnotiz) das Vorliegen einer Urteilsunfähigkeit. Zwar schliesse planmässiges und vernünftiges Handeln in den letzten Tagen und unmittelbar vor dem Suizid völlige Urteilsunfähigkeit im Zeitpunkt der Tat nicht aus. Wenn aber in verschiedener Hinsicht vernünftige und planmässige Handlungen ersichtlich seien (konkret Suizidäusserungen einen Monat zuvor, Verfassen eines ersten Abschiedsbriefs einige Tage zuvor), könne eine panikartige und in den Suizid mündende Kurzschlusshandlung ausgeschlossen werden. Wenn ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln wahrscheinlicher sei als Handeln im Zustand voller Urteilsunfähigkeit, müsse ein Unfall verneint werden (Urteil des Bundesgerichts U 55/99 vom 11. Juli 2001 E. 3b).

Im Falle eines Versicherten, der periodisch unter depressiven Schüben gelitten hatte und sich eines Abends von einer Brücke stürzte, erwog das Bundesgericht, im gesamten langjährigen Verlauf der depressiven Krankheit hätten jegliche Anhaltspunkte für das Vorliegen von Wahnideen, Halluzinationen anderen psychotischen Symptomen gefehlt. Es müsse als «extrem unwahrscheinlich» gelten, dass der Versicherte am fraglichen Abend erstmals von einem Raptus (plötzlich hervorbrechende, unsinnige und gewalttätige Handlung in einem albtraumartigen psychotischen Dämmerzustand) erfasst worden sei. Der Umstand, dass der Versicherte bereits rund eine Woche vor der Tat eine Selbsttötung durch Sprung von der Brücke in Betracht gezogen und am fraglichen Abend seinen Personenwagen in einem nahe dieser Brücke gelegenen Parkhaus abgestellt habe, belege vielmehr ein zielgerichtetes Handeln. Es müsse angenommen werden, dass er damals von Verzweiflung, subjektiver Ausweglosigkeit und antizipierter Scham für den Fall eines abermaligen Zurückweichens erfüllt gewesen sei. Hingegen seien keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er plötzlich von einer umfassenden und unsinnigen Realitätsverkennung überwältigt worden sein könnte (Urteil des Bundesgerichts U 313/99 vom 4. April 2000 E. 2a).

Eine völlige Urteilsunfähigkeit bejahte das Bundesgericht bei einem Versicherten, der an einer paranoiden depressiven Psychose litt, die auf dem Hintergrund einer depressiv-zwanghaften Persönlichkeit entstanden war, und der von einem unkorrigierbaren Wahngedanken beherrscht war, weil er glaubte, für die hohen finanziellen Verluste seiner Arbeitgeberfirma verantwortlich gemacht zu werden. Das Motiv zur Suizidhandlung (Sturz aus dem zweiten Stock) lag gemäss den Ausführungen des psychiatrischen Gutachters eindeutig in depressiven Wahnideen begründet (BGE 113 V 61 E. 3a S. 64 f.).

 

Beim Beschwerdeführer bestanden gestützt auf die Aktenlage vor dem Zeitpunkt des Sturzes vom Balkon erhebliche Hinweise auf ein wahnhaftes Geschehen. Es sind in diesem Zusammenhang die vorgehend erwähnten Vergiftungsphantasien bzw. das Sich-bedroht-fühlen durch die Freundin des Beschwerdeführers zu nennen. Hinzukommen, wie von Dr. med. I.___ erwähnt, die Auswirkungen des missglückten Strangulationsversuchs (vgl. S. 26 hiervor), welche zusammen mit den sehr ungewöhnlichen Umständen des Balkonsturzes (Sturz kopfüber in die Tiefe und Abgleiten an der Hausmauer; vgl. Beschrieb des Geschehensablaufes im Gutachten von Prof. em. Dr. med. J.___) zum Schluss führen, dass der Beschwerdeführer in seinen kognitiven Fähigkeiten unmittelbar vor dem Balkonsturz mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erheblich eingeschränkt war. Dies führt im Ergebnis zur Feststellung, dass der Beschwerdeführer unmittelbar vor dem Balkonsturz mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in der Lage war, vernunftgemäss zu handeln.

 

Dementsprechend ist ein Unfallereignis gegeben und die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin zu bejahen. Im Übrigen vermag der Umstand, dass der Beschwerdeführer gemäss Aktenlage um Mitternacht vor dem fraglichen Sturzereignis noch telefoniert hat und später zwischen 01:44 Uhr bis 02:05 Uhr im Internet nach Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten gesucht hat, entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin zu keinem anderen Ergebnis zu führen. So ist der Balkonsturz gestützt auf die Aussagen der Nachbarn erst nach 06.00 Uhr erfolgt (vgl. Suva-Nr. 113, S. 21), womit die vier Stunden davor erfolgten Handlungen keinen Rückschluss auf die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Balkonsturzes zulassen.

 

9.

9.1     Die Beschwerde ist somit in Aufhebung des Einspracheentscheides vom 19. August 2019 gutzuheissen und die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, für das in Frage stehende Sturzereignis vom 20. November 2017 die Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung zu erbringen. Die Sache ist zur Prüfung und Festsetzung der gesetzlichen Leistungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 

 

9.2     Bei diesem Verfahrensausgang besteht Anspruch auf eine Parteientschädigung, die von der Beschwerdegegnerin zu bezahlen ist. In Anbetracht von Aufwand und Schwierigkeit des Prozesses ist die durch die Beschwerdegegnerin zu bezahlende Parteientschädigung, wie in der eingereichten Kostennote der Vertreterin des Beschwerdeführers geltend gemacht, auf CHF 5'389.60 festzusetzen (18.25 Stunden zu CHF 270.00 [§ 160 Abs. 2 GT], zuzügl. Auslagen von CHF 76.80 und MwSt). Zwar wird vom Versicherungsgericht praxisgemäss nur in rechtlich sachverhaltsmässig aussergewöhnlichen Fällen ein Ansatz von mehr als CHF 260.00 gewährt. Ein solcher Fall liegt hier ausnahmsweise vor.

 

9.3     Grundsätzlich ist das Verfahren kostenlos. Von diesem Grundsatz abzuweichen, besteht im vorliegenden Fall kein Anlass.

 

9.4     Die Kosten eines Gerichtsgutachtens sind dem Versicherungsträger aufzuerlegen, wenn das Gutachten notwendig wurde, weil dieser den Sachverhalt nicht rechtsgenüglich abgeklärt hatte (BGE 139 V 496). Wie dargelegt, hatte die Beschwerdegegnerin den Sachverhalt unzureichend abgeklärt, weshalb das Gericht die Abklärungslücke durch zwei Gerichtsgutachten sowie einen Ergänzungsbericht bzw. ein Aktengutachten schliessen musste. Die Beschwerdegegnerin hat daher die Kosten des Aktengutachtens des F.___ von CHF 250.00, des Gutachtens von Prof. em. Dr. med. J.___ von CHF 4'000.40 sowie des Gutachtens von Dr. med. G.___ von CHF 5'070.00, total CHF 9'320.40, zu bezahlen.

 

Demnach wird erkannt:

1.    In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid der Suva vom 19. August 2019 aufgehoben und die Suva verpflichtet, für das Sturzereignis vom 20. November 2017 die Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung zu erbringen. Die Sache wird zur Prüfung und Festsetzung der gesetzlichen Leistungen an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.    Die Suva hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 5'389.60 (inkl. Auslagen und MwSt) zu bezahlen.

3.    Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.    Die Suva hat die Gutachtenskosten von gesamthaft CHF 9'320.40 zu bezahlen.

Rechtsmittel

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Mitteilung beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar (vgl. Art. 39 ff., 82 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Bei Vor- und Zwischenentscheiden (dazu gehört auch die Rückweisung zu weiteren Abklärungen) sind die zusätzlichen Voraussetzungen nach Art. 92 93 BGG zu beachten.

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn

Der Präsident                           Der Gerichtsschreiber

Flückiger                                   Isch

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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