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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2023.4)

Kopfdaten
Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2023.4
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2023.4 vom 30.10.2023 (SO)
Datum:30.10.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Zusammenfassung:Die Beschuldigte A.___ wurde wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren und Mangel an Aufmerksamkeit schuldig gesprochen. Sie wurde zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je CHF 70.00, einer Busse von CHF 350.00 und den Verfahrenskosten verurteilt. Die Kosten des Berufungsverfahrens belaufen sich auf CHF 1'300.00. Die Beschuldigte ist weiblich.
Schlagwörter: Beschuldigte; Fahrzeug; Abstand; Verkehr; Beschuldigten; Über; Video; Urteil; Aussage; Aussagen; Unfall; Berufung; Überholspur; Recht; Verletzung; Verkehrsregelverletzung; Geschwindigkeit; Verkehrsregeln; Verfahren; Vorinstanz; Gefahr; Personen; Bundesgericht; Aufmerksamkeit; Schuld; Sinne; Autobahn
Rechtsnorm: Art. 10 StPO ; Art. 106 StGB ; Art. 12 VRV ; Art. 31 SVG ; Art. 34 SVG ; Art. 399 StPO ; Art. 416 StPO ; Art. 90 SVG ;
Referenz BGE:104 IV 912; 112 Ia 107; 124 V 180; 125 II 369; 126 I 97; 127 I 38; 131 IV 133; 137 IV 290;
Kommentar:
Donatsch, Hans, Schweizer, Hansjakob, Lieber, Wohlers, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Art. 10 OR StPO, 2014
Entscheid
 
Geschäftsnummer: STBER.2023.4
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 30.10.2023 
FindInfo-Nummer: O_ST.2023.85
Titel: grobe Verletzung der Verkehrsregeln

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 30. Oktober 2023               

Es wirken mit:

Präsident Werner

Oberrichter Marti

Oberrichter von Felten

Gerichtsschreiber Wiedmer

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn

 

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Hadrian Meister,

 

Beschuldigte und Berufungsklägerin

 

betreffend     grobe Verletzung der Verkehrsregeln


 

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

 

I. Prozessgeschichte

 

1. Gestützt auf die Strafanzeige der Kantonspolizei Aargau verurteilte die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn A.___ (nachfolgend: Beschuldigte) mit Strafbefehl vom 29. November 2021 wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren sowie Mangel an Aufmerksamkeit zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je CHF 30.00, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von CHF 300.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu zehn Tagen Freiheitsstrafe, sowie zur Tragung der Verfahrenskosten von CHF 710.00 (Aktenseiten [AS] 006 f.).

 

2. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2021 erhob die Beschuldigte Einsprache gegen den Strafbefehl (AS 024).

 

3. Am 24. Februar 2022 überwies die Staatsanwaltschaft die Einsprache mit den Akten dem Gerichtspräsidium Olten-Gösgen zum Entscheid. Am angefochtenen Strafbefehl wurde festgehalten (AS 044).

 

4. Die Amtsgerichtsstatthalterin von Olten-Gösgen erliess am 12. Oktober 2022 folgendes Strafurteil:

 

1.   A.___ hat sich der groben Verletzung der Verkehrsregeln (durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren und durch Mangel an Aufmerksamkeit), begangen am 22. September 2021, schuldig gemacht.

2.   A.___ wird verurteilt zu:

a)  einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren.

b)  einer Busse von CHF 350.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 5 Tagen.

3.   A.___ hat die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 400.00, total CHF 848.80, zu bezahlen.

 

5. Gegen das Urteil liess die Beschuldigte am 24. Oktober 2023 die Berufung anmelden (AS 107 f.; Art. 399 Abs. 1 StPO). Mit Berufungserklärung vom 24. Januar 2023 (Aktenseiten Berufungsverfahren [ASB] 001 f.; Art. 399 Abs. 3 StPO) wurde das Urteil vollumfänglich angefochten. Konkret sei die Beschuldigte von Schuld und Strafe freizusprechen unter Kosten- und Entschädigungsfolgen für das ganze Verfahren zu Lasten des Staates.

 

6. Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 30. Januar 2023 auf eine Anschlussberufung und auf die weitere Teilnahme am Berufungsverfahren (ASB 007).

 

7. Mit Verfügung der Verfahrensleitung vom 1. März 2023 wurde gestützt auf Art. 406 Abs. 2 StPO das schriftliche Verfahren angeordnet (ASB 012 f.). Der Berufungsklägerin wurde Frist gesetzt zur Einreichung der schriftlichen Berufungsbegründung und von aktuellen Einkommens- und Steuerbelegen. Ebenso wurde die Möglichkeit zur Einreichung einer Honorarnote eingeräumt. Nach zweifacher Fristerstreckung wurde am 25. Januar 2023 die schriftliche Berufungsbegründung inkl. Beilagen eingereicht (ASB 022 ff.) Die Beschuldigte stellte darin die folgenden Rechtsbegehren:

 

1.   Es sei in Gutheissung der Berufung das Urteil der Amtsgerichtsstatthalterin von Olten-Gösgen vom 12. Oktober 2022 vollumfänglich aufzuheben.

2.   Es sei die Beschuldigte von Schuld und Strafe freizusprechen.

3.   Eventualiter sei die Beschuldigte der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG schuldig zu sprechen und mit einer angemessenen Busse zu bestrafen.

4.   Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen für das ganze Verfahren zu Lasten der Staatskasse.

 

 

II. Sachverhalt

 

1. Prozessökonomie

 

Mit Blick auf die Prozessökonomie erlaubt Art. 82 Abs. 4 Schweizerische Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) den Rechtsmittelinstanzen, für die tatsächliche und rechtliche Würdigung des in Frage stehenden Sachverhalts auf die Begründung der Vorinstanz zu verweisen, wenn sie dieser beipflichten. Hingegen ist auf neue tatsächliche Vorbringen und rechtliche Argumente einzugehen, die erst im Rechtsmittelverfahren vorgetragen werden (Brüschweiler, SK-Schulthess Kommentar StPO, 3. Auflage, 2020, Art. 82 N 10).

 

 

2. Anklagevorwurf

 

Der Beschuldigten wird vorgeworfen, sie habe am 22. September 2021, um 14:11 Uhr, in Walterswil, Autobahn A1, Fahrtrichtung Zürich, eine grobe Verkehrsregelverletzung durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren sowie durch Mangel an Aufmerksamkeit begangen. Die Beschuldigte sei als Lenkerin des Personenwagens Opel Corsa, [Kennzeichen], mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h auf dem Überholstreifen der Autobahn gefahren, wobei direkt vor der Beschuldigten der Personenwagen Land Rover, [Kennzeichen], Lenkerin B.___, gefahren sei. Die vor der Beschuldigten fahrenden Fahrzeuge hätten verkehrsbedingt stark abbremsen müssen, was die Beschuldigte zufolge mangelnder Aufmerksamkeit zu spät wahrgenommen habe. Aufgrund ungenügenden Abstands zum Personenwagen Land Rover habe die Beschuldigte nicht rechtzeitig abbremsen können und habe eine Kollision zwischen ihrem Fahrzeug und dem Heck des Personenwagens Land Rover verursacht. Durch ihr Verhalten habe die Beschuldigte eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere von B.___, hervorgerufen und sie habe dabei zumindest unbewusst grobfahrlässig gehandelt.

 

 

3. Standpunkt der Beschuldigten

 

Die Beschuldigte und ihre Verteidigung bestreiten die Anklagevorwürfe. Sie lässt zunächst vorbringen, die Vorinstanz habe den Sachverhalt unvollständig und falsch festgestellt. Soweit diese argumentiere, die Beschuldigte habe im Wesentlichen zur Unfallursache ausgeführt, B.___ habe ruckartig abgebremst, weshalb sie keine Möglichkeit mehr gehabt habe, eine Vollbremsung einzuleiten, ergäben sich solche Ausführungen weder aus den vorinstanzlichen Plädoyernotizen noch aus den Ausführungen der Beschuldigten selbst. Die Beschuldigte habe auf Befragen lediglich geschildert, auf welche Weise B.___ gebremst habe, nämlich ruckartig. Ob nun aber B.___ ruckartig sonst wie abgebremst habe, sei nicht entscheidungsrelevant und für sich an sich nicht unfallursächlich. Unfallursächlich sei vielmehr der gesamte Ablauf des Vorgangs gewesen. Die Vorinstanz gehe schon irreführend davon aus, dass sich das Fahrzeug B.___ (gemäss Videoaufnahmen) bereits vollständig auf der Überholspur befunden habe. Dass das Fahrzeug aber erst unmittelbar vor dem Aufzeichnungsbereich des Videogerätes unvermittelt auf die linke Spur gewechselt habe, und zwar ca. eine Autolänge vor dem Fahrzeug der Beschuldigten, blende die Vorinstanz schlichtweg aus. Dass das Fahrzeug B.___ diesen Spurwechsel unmittelbar vorher ausgeführt habe, habe die Lenkerin B.___ selber mehrfach zugegeben. Sie sei auf der Normalspur hinter dem Lastwagen gefahren und habe dann auf die Überholspur gewechselt. Dabei habe sie nicht mehr sagen können, ob sie beim Spurwechsel geblinkt habe, und ebenso wenig habe sie Angaben darüber machen können, wie gross der Abstand zum Fahrzeug der Beschuldigten gewesen sei. Sie habe lediglich gesagt, es sei genügend Abstand gewesen. Die Beschuldigte ihrerseits meine, dass eine Wagenlänge nicht genügend gewesen sei und sie durch diesen Spurwechsel überrascht worden sei. Diesen Spurwechsel habe die Unfallbeteiligte B.___ bereits in der polizeilichen Befragung bestätigt.

 

Allein schon dieses Fahrverhalten der Unfallbeteiligten B.___ einschliesslich das Bremsmanöver B.___ hätte die Vorinstanz veranlassen müssen, der konkreten Verkehrssituation näher nachzugehen. Demgemäss mache zwar die Unfallbeteiligte B.___ geltend, sie habe den Spurwechsel ausgeführt, sie sei auf der Normalspur hinter einem Lastwagen gefahren und habe diesen überholt. Das treffe aufgrund der Videoaufzeichnungen offenkundig nicht zu. Vielmehr sei auf den Videoaufzeichnungen ersichtlich, dass sich der fragliche Lastwagen Anhängerzug weit vor dem Fahrzeug B.___ befunden habe. Dazwischen seien noch zwei andere Fahrzeuge gefahren. Es habe somit für das Fahrzeug B.___ kein Anlass bestanden, unvermittelt vor dem Fahrzeug der Beschuldigten auf die Überholspur zu wechseln. Das Fahrmanöver sei vielmehr im Lichte des bereits vorangehenden auffälligen Fahrverhaltens von B.___ zu beurteilen. Demgemäss sei der Beschuldigten schon seit längerem aufgefallen, dass B.___ immer links/rechts gewechselt habe. Offensichtlich habe die Lenkerin B.___ unmotiviert gedrängelt und mehrfach zwischen den beiden Spuren hin und her gewechselt. Dabei habe die Beschuldigte nicht davon ausgehen müssen, dass B.___ dies ohne Notwendigkeit unmittelbar vor ihr erneut tun werde und dass sie sich ca. eine Wagenlänge vor ihr ohne zu blinken auf die linke Fahrbahn vor sie setzen würde.

 

In einer solchen Situation habe der nachfolgende Fahrzeuglenker zwei Möglichkeiten, nämlich entweder selber sofort abzubremsen, um seinerseits den notwendigen Abstand einzuhalten, dann zwar nicht zu bremsen, aber das Fahrzeug ausrollen zu lassen, um innert eines vernünftigen Zeitraums den notwendigen Abstand wieder herzustellen. Im Kolonnenverkehr sei die zweite Variante weitaus vernünftiger, weil beim brüsken Abbremsen die Gefahr eines Auffahrunfalls hinter ihr massiv ansteige. In diesem Zusammenhang sei sodann die weitere Phase des Ablaufs zu ergründen. Dazu führte die Vorinstanz aus, auf den Videoaufnahmen sei zu erkennen, wie der Verkehr weiter vorne aufgrund des situativ ungünstigen Spurwechsels eines anderen Fahrzeugs ins Stocken geraten sei, weshalb B.___ gebremst und das Warnsignal eingeschaltet habe. Auch diese Argumentation treffe anhand des Videos nicht zu. Vielmehr sei der Abstand zwischen dem Fahrzeug B.___ und mehreren vor ihr fahrenden Fahrzeugen noch recht gross gewesen und ein dramatisches Abbremsen mit Warnsignal wäre offensichtlich nicht notwendig gewesen. Dazu sei ergänzend zu bemerken, dass namentlich der Abstand zwischen der Beschuldigten und dem sich bereits auf der Überholspur befindlichen voranfahrenden Fahrzeug (ohne Fahrzeug B.___) sehr gross gewesen sei und keinen Anlass zu einem sofortigen Bremsmanöver gegeben habe. ln dieser Situation sei es offenkundig, dass sich die Beschuldigte durch das unmotivierte Hineindrängeln des Fahrzeugs B.___ auf die Überholspur und das anschliessende ebenfalls unmotivierte dramatische Abbremsen (ruckartig und Warnleuchte) habe überraschen lassen. Das blosse Aufleuchten der Bremsleuchten führe im Kolonnenverkehr auf der Autobahn noch lange nicht zur Notwendigkeit einer Vollbremsung, sondern gehöre zu den normalen Abläufen, indem Fahrzeuglenker vorsorglich Bremsbereitschaft erstellten und die Bremse antippten, was bereits zum Aufleuchten der Bremslichter führe, aber noch keineswegs zur Notwendigkeit einer Vollbremsung durch das nachfolgende Fahrzeug. Es komme immer wieder zu Situationen, bei welchen beim vorausfahrenden Fahrzeug die Bremslichter zwar aufleuchteten, ohne dass das Fahrzeug wesentlich abgebremst werde, so dass beim nachfolgenden Fahrzeug das blosse Ausrollen (ohne Bremsenbetätigung) die adäquate Reaktion sei, so auch im vorliegenden Fall. Dass B.___ alsdann plötzlich ohne Notwendigkeit ruckartig abgebremst und das Fahrzeug wieder nach rechts gezogen habe, habe die Beschuldigte nicht voraussehen müssen. Erst dieses unmotivierte ruckartige Abbremsen habe dazu geführt, dass die Beschuldigte überrascht worden und es zur Kollision gekommen sei.

 

 

4. Beweisgrundsätze

 

4.1 Es ist zu prüfen, ob der angeklagte Sachverhalt – mithin das der Beschuldigten konkret vorgeworfene Verhalten – aufgrund der vorliegenden Beweismittel rechtsgenügend nachgewiesen werden kann. Dabei gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, dass die Überlegungen genannt werden, von denen sich das Gericht leiten lässt und auf welche sich sein Entscheid stützt. Das bedeutet indessen nicht, dass es sich ausdrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand der Verteidigung auseinandersetzen muss; vielmehr kann sich das Gericht auf die für die Entscheidfindung wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6P.62/2006 vom 14. November 2006 E. 4.2.2, unter Hinweis auf BGE 126 I 97 E. 2b; BGE 125 II 369 E. 2c; BGE 124 V 180 und BGE 112 Ia 107 E. 2b). Dabei ist der Richter an keine festen Beweisregeln gebunden. Vielmehr gilt der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO). Danach hat das Gericht das Beweisergebnis nach der persönlichen aus dem ganzen Verfahren geschöpften Überzeugung zu bewerten, das heisst, dem geltenden beschränkten Unmittelbarkeitsprinzip folgend, sowohl gestützt auf die in den Akten des Vorverfahrens enthaltenen Beweisergebnisse als auch auf das Ergebnis der vorinstanzlichen Hauptverhandlung sowie der Berufungsverhandlung. Das Gericht entscheidet nach der persönlichen Überzeugung, ob eine Tatsache bewiesen ist nicht (Wohlers in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2014, Art. 10 N 25; Tophinke in: Niggli/Heer/Wiprächtiger, Basler Kommentar StPO, 3. Aufl., Basel 2023, Art. 10 N 41, 58 ff.)

 

4.2 Gemäss dem in Art. 8 und Art. 32 Abs. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV, SR 101) sowie Art. 6 Ziff. 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) und Art. 10 Abs. 1 StPO verankerten Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) ist bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren Handlung Beschuldigte unschuldig ist. Als Beweislastregel bedeutet die Maxime, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen, und dass nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist verletzt, wenn der Strafrichter einen Beschuldigten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen (zum Ganzen: BGE 127 I 38 E. 2a). Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Beschuldigten ungünstigen Sachverhaltes überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (Wohlers, a.a.O., Art. 10 N 11 ff.; Schmid/Jostisch, Handbuch StPO, 3. Aufl., Zürich 2017, N 233; Urteile 6P.155/2006 und 6S.363/2006 vom 28. Dezember 2006, E. 4.1). Die Überzeugung des Richters muss auf einem verstandesgemäss einleuchtenden Schluss beruhen und für den unbefangenen Beobachter nachvollziehbar sein (Tophinke, a.a.O., Art. 10 N 61; Schmid/Jostisch, a.a.O., N 227 f.; Wohlers, a.a.O., Art. 10 N 13).

 

4.3 Ein Schuldspruch darf demnach nur dann erfolgen, wenn die Schuld des Beschuldigten mit hinreichender Sicherheit erwiesen ist, das heisst Beweise dafür vorliegen, dass der Beschuldigte mit seinem Verhalten objektiv und subjektiv den ihm zur Last gelegten Straftatbestand verwirklicht hat. Dabei kann nicht verlangt werden, dass die Tatschuld gleichsam mathematisch sicher und unter allen Aspekten unwiderlegbar feststehe (Tophinke, a.a.O., Art. 10 N 83; Wohlers, a.a.O., Art. 10 N 13).

 

4.4 Muss sich die Beweisführung unter anderem auf die Aussagen von Beteiligten abstützen, so ist anhand sämtlicher Umstände, die aus den Akten ersichtlich sind, zu untersuchen, ob die beziehungsweise welche Sachdarstellung überzeugend ist. Dabei kommt es vorwiegend auf den inneren Gehalt der Aussagen an, verbunden mit der Art und Weise, wie die Angaben erfolgen. In erster Linie massgebend ist nicht die prozessuale Stellung der aussagenden Personen, sondern der materielle Gehalt ihrer Aussagen. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ist zu prüfen, ob diese in den wesentlichen Punkten Widersprüche enthalten, ob sie in ihrem Kerngehalt stimmig und im sich aus ihnen ergebenden Ablauf logisch und schlüssig sind sowie ob sie (soweit das objektiv möglich ist) anhand erstellter Sachverhalte korrekt verifizierbar sind. Zu achten ist insbesondere auf Strukturbrüche innerhalb einer Aussage, auf Über- und Untertreibungen, auch auf Widersprüche, vor allem aber auf das Vorhandensein hinreichender Realitätskriterien und das Fehlen von Lügensignalen (Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., München 2014, S. 83 ff.; Donatsch in Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2014, Art. 162 N 14 f.).

 

 

5. Beweismittel

 

Zur Erstellung des Anklagesachverhalts stehen vorliegend der Polizeirapport der Kantonspolizei Aargau vom 13. Oktober 2021, inkl. Aussagen der Unfallbeteiligten unmittelbar nach der Kollision (AS 008 ff.), die Aussagen anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung der Zeugin B.___ (AS 069 ff.) und der Beschuldigten (AS 076 ff.), sowie die Videoaufzeichnung des Unfalls durch die Autobahnkamera A1 ZH 62.32 (AS 020) als Beweismittel zur Verfügung.

 

5.1 Autobahnkamera

Der inkriminierte Vorfall wurde durch die Autobahnkamera A1 ZH 62.32 (AS 020) umfassend aufgezeichnet. Der Inhalt der Videoaufnahme wird nachfolgend unter Ziffer 6.2 wiedergegeben.

 

5.2 Aussagen B.___

5.2.1 Unmittelbar nach dem Unfall führte B.___ aus, sie sei auf dem Normalstreifen gefahren und habe den Lastwagen überholen wollen. Sie habe in den Rückspiegel geschaut und das andere Fahrzeug gesehen; dieses sei aber noch weit entfernt gewesen. Dann habe sie bemerkt, dass vor ihr der Verkehr zu bremsen begonnen habe. Sie habe langsam und kontinuierlich abgebremst und den Warnblinker eingeschaltet. Kurz vor dem Stillstand sei die Beschuldigte ihr ins Heck gefahren (AS 012).

 

5.2.2 Anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung führte sie aus, sie sei an jenem Tag von der Arbeit in [Ort] gekommen. Sie sei auf dem Nachhauseweg in Richtung Zürich/Aarau gewesen. Sie sei auf der Normalspur gefahren, vor ihr ein Lastwagen, der nicht so schnell gefahren sei. Sie habe drei Mal geschaut, ob sie überholen könne. Sie habe nach hinten geschaut, ob es genügend Platz, genügend Abstand habe. Sie habe dann auf der linken Seite den Lastwagen überholt und sei wieder ganz normal gefahren. Ein bisschen weiter hätten die Autos vor ihr gebremst und sie habe auch normal abgebremst und das Warnsignal eingeschaltet. Auf einmal habe sie ein «boom» von hinten gehört. (Auf Frage, ob sie geblinkt habe?) Ja. (Auf Frage, ob sie dann auf die Überholspur gefahren sei?) Sie habe geschaut und gesehen, dass es genug Abstand gehabt habe. (Auf Frage, ob sie ein Fahrzeug hinter sich gesehen habe?) Genau, ja. (Auf Frage, in welchem Abstand sie das Fahrzeug gesehen habe?) Es sei genug Abstand gewesen. Sie könne nicht sagen, wie viele Meter. Aber normal zum Überholen. Sie habe mit richtigem Abstand überholt, auch vorne. Nachdem sie überholt gehabt habe, sei sie ein wenig gefahren und vorne habe es gestaut. Diese Autos seien langsam gefahren und sie habe den Abstand zu diesen Autos gehabt. Sie habe die Bremse und das Warnsignal betätigt. (Auf Frage, ob sie wieder auf die Normalspur gewechselt habe?) Nein, sie sei immer auf der linken Seite gewesen. (Auf Frage, ob sie im Stillstand gewesen sei, als es zur Kollision gekommen sei?) Genau, mit Warnsignal. (Auf Frage, ob sie wisse, mit welcher Geschwindigkeit sie unterwegs gewesen sei?) Das wisse sie nicht genau (AS 069 ff.).

 

5.3 Aussagen Beschuldigte

 

5.3.1 Unmittelbar nach dem Unfall führte die Beschuldigte aus, sie sei auf der Überholspur gefahren. Die andere Lenkerin habe zunächst auf ihre Spur gewechselt, dann wieder zurück und schliesslich wieder auf ihre Spur. Sie (die Beschuldigte) sei mit ca. 120 km/h gefahren. Als die andere Lenkerin wieder auf ihre Spur gewechselt sei, sei diese zirka fünf Meter vor ihr gefahren. Dann habe die Lenkerin abgebremst und den Warnblinker betätigt. Sie habe sich einfach zwischen sie und das Auto vor ihr gedrückt. Sie habe keine Chance gehabt, rechtzeitig abzubremsen (AS 012).

 

5.3.2 Anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung führte sie aus, sie sei auf der linken Spur gefahren, als Frau B.___ schnell vor sie hingefahren sei. Es seien Sekunden gewesen, in denen diese ruckartig abgebremst habe. Sie habe keine Möglichkeit zur Vollbremsung gehabt. Sie habe das Fahrzeug von Frau B.___ das erste Mal gesehen, als dieses eine Distanz von einer Autolänge gehabt habe. Sie habe es erst dann gesehen und den Abstand vergrössert. (Auf Frage, ob sie in diesem Moment abgebremst habe?) Ja. (Auf Frage, ob Frau B.___ ruckartig gebremst habe?) Genau und sie habe langsam abgebremst und den Abstand vergrössert. (Auf Frage, wieso Frau B.___ gebremst habe?) Wahrscheinlich, weil sie vorne gesehen habe, dass die Autos… (Auf Frage, ob sie auch gesehen habe, dass die Autos vor ihr gebremst hätten?) Nein, sie habe den Abstand zum vorderen Auto eigentlich gehabt und nicht gesehen, dass jemand abgebremst habe. (Auf Frage, ob sie die Videoaufnahme gesehen habe?) Ja. (Auf Vorhalt, auf der Aufnahme sei zu sehen, dass das Auto von Frau B.___ auf der Überholspur gefahren sei und sie (die Beschuldigte) sich relativ schnell nähere. Frau B.___ habe gebremst und sie (die Beschuldigte) habe erst verspätet gebremst.) Genau, Frau B.___ habe so schnell abgebremst, dass deren Auto hinten angehoben worden sei. Das sehe man auch auf dem Video (AS 076 ff.).

 

 

6. Würdigung

 

6.1 Die Beschuldigte ist als vom Strafverfahren Betroffene naheliegenderweise daran interessiert, ihr Verhalten in einem möglichst positiven Licht darzustellen. Ihre Aussagen sind daher mit einer gewissen Zurückhaltung zu würdigen. So anders steht aber die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen im Vordergrund. Die Aussagen der Beschuldigten sind einheitlich, konstant und im Wesentlichen widerspruchsfrei. So schätzte sie die von ihr gefahren Geschwindigkeit auf etwa 120 km/h und gab zu Protokoll, dass der Abstand zum vorderen Fahrzeug zirka fünf Meter (Einvernahme am Unfalltag) bzw. eine Autolänge (Einvernahme anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung) betragen habe. Auch den Unfallhergang schilderte sie jeweils konsistent.

 

6.2 Allerdings widersprechen ihre Aussagen zum Unfallhergang dem sich aus den Videoaufnahmen bzw. aus den korrelierenden Aussagen der Zeugin B.___ ergebenden Bild. Die seitens der Beschuldigten im Zusammenhang mit ihren Aussagen gemachten Schuldzuweisungen zu Lasten des vorderen Fahrzeugs wirken – wie sogleich zu zeigen sein wird – aufgrund der aus der Videoaufzeichnung hervorgehenden Umstände unbehilflich und wenig überzeugend.

 

Auf der Videoaufnahme ist zu sehen, dass es auf der Autobahn 1 (A1) in Fahrtrichtung Zürich auf der Überholspur aufgrund eines auf der Normalspur fahrenden Autotransporters (LKW) und damit verbundenen Überholmanövern von drei hinter dem LKW fahrenden Personenwagen zu abrupten Bremsungen kam. Bei den PWs von B.___ und der Beschuldigten, beide fuhren auf der Überholspur, waren zu diesem Zeitpunkt die Bremslichter noch nicht aktiviert.

 

Der Videoaufzeichnung kann bereits von blossem Auge ohne Weiteres entnommen werden, dass zu diesem Zeitpunkt die Beschuldigte den erforderlichen Abstand zum vor ihr fahrenden Fahrzeug unterschritt – und zwar beträchtlich. Nicht entnommen werden kann dem Video, welcher genaue Abstand in der massgebenden Zeit zwischen den beiden Fahrzeugen bestand. Aufgrund der Videoanalyse betrug dieser jedoch maximal drei Wagenlängen (15 Meter). Davon ist zugunsten der Beschuldigten auszugehen.

 

Der PW der bereits auf der Überholspur fahrenden B.___ leitete daraufhin (Zeitpunkt 14:11:43) analog der drei vor ihr bremsenden Personenwagen den Bremsvorgang ein; erkennbar durch die aufleuchtenden Bremslichter. Anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung gab die Zeugin in diesem Zusammenhang an, die Autos vor ihr hätten gebremst. Sie habe auch normal gebremst und das Warnsignal eingeschaltet (AS 082 ff.). Die Beschuldigte hingegen fuhr während den darauffolgenden rund zwei Sekunden ungebremst und in konstanter Geschwindigkeit hinter B.___ weiter, was konsequenterweise zur Verkleinerung des Abstands zwischen den beiden Fahrzeugen führte. Erst kurz vor der Kollision um 14:11:45 und bei einem Abstand von maximal einer Autolänge betätigte die Beschuldigte die Bremsen.

 

6.3 An diesen Feststellungen vermögen die diversen seitens der Beschuldigten geltend gemachten Einwände nichts zu ändern.

 

Das Vorbringen der Beschuldigten, wonach das Fahrzeug von B.___ ruckartig abgebremst und sie keine Möglichkeit zur Vollbremsung gehabt habe, ist mit Blick auf die Videoaufzeichnungen nicht zu hören. Es wird vielmehr deutlich, dass die Beschuldigte das Bremsmanöver erst nach rund zwei Sekunden – während deren die Bremslichter sowie die Warnanlage des vorausfahrenden Fahrzeugs aufleuchteten – einleitete und damit viel zu spät reagierte.

 

Soweit die Beschuldigte vorbringt, das Fahrzeug von B.___ sei erst unmittelbar vor dem Aufzeichnungsbereich des Videogeräts unvermittelt auf die linke Spur gewechselt, und zwar ca. eine Autolänge vor dem Fahrzeug der Beschuldigten, was letztlich zum Unfall geführt habe, ist darauf hinzuweisen, dass dieser (behauptete) Umstand letztlich nichts daran ändert, dass die Beschuldigte genug Zeit gehabt hätte, den Abstand zum vorderen Fahrzeug mit einer Reduktion der Geschwindigkeit unmittelbar hätte vergrössern können bzw. aufgrund der Situation hätte vergrössern müssen. Augenscheinlich ist die Beschuldigte weitergefahren, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln bzw. den Abstand zu vergrössern. Des Weiteren ist die Aussage der Beschuldigten, dass Frau B.___ bereits vor dem Unfall unmotiviert gedrängelt und mehrfach zwischen den beiden Spuren hin und her gewechselt habe, unbehilflich, da sich aus diesen (allfälligen) seitlichen Manövrierbewegungen von Frau B.___ keine rechtsgenügenden Schlüsse ziehen lassen, welche hinsichtlich des inkriminierten Vorfalls relevant sind. Insbesondere verkennt die Beschuldigte in diesem Zusammenhang, dass vorliegend lediglich ihre Fahrweise angeklagt und massgebend ist, weshalb ihre Behauptungen, welche andere Fahrsequenzen betreffen, von Vornherein fehlgehen. Ohnehin hätten die (allfälligen) seitlichen Manövrierbewegungen die Beschuldigte – wie bereits erwähnt – dazu veranlassen müssen, das eigene Fahrverhalten im Lichte der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer anzupassen: Es ist unverständlich, warum die Beschuldigte die Geschwindelt von 120 km/h nicht reduzierte und weshalb sie das Bremsmanöver erst nach rund zwei Sekunden einleitete, während deren die Bremslichter sowie die Warnanlage des vorausfahrenden Fahrzeugs aufleuchteten. Dafür kann es nur die Erklärung geben, dass die Beschuldigte äusserst unaufmerksam war.

 

Auch wenn die Aussagen der Beschuldigten somit isoliert betrachtet nicht per se unglaubhaft erscheinen, vermögen sie im Lichte des übrigen Beweisergebnisses, wie es insbesondere aus der Videoaufnahme hervorgeht, nicht zu überzeugen.

 

6.4 Zusammengefasst ist der Anklagesachverhalt erstellt.

 

 

III. Rechtliche Würdigung

 

1. Standpunkt der Beschuldigten

 

Die Beschuldigte bemängelt weiter die rechtliche Würdigung der Vorinstanz. Von einer groben Verletzung der Verkehrsregeln könne keine Rede sein. Es liege kein subjektiv rücksichtloses Verhalten im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor. Vielmehr sei die Beschuldigte durch das Fahrmanöver B.___ ohne eigenes Verschulden Zutun in eine Abstandssituation gedrängt worden, die sie nicht zu verantworten gehabt habe. Im vorliegenden Fall komme dazu, dass auch

das anschliessende abrupte Bremsmanöver B.___ für die Beschuldigte nicht voraussehbar gewesen sei. Der Verkehrsfluss auf der Überholspur und der Abstand zum weiter voraus fahrenden Fahrzeug habe kein abruptes Bremsmanöver erfordert. Eine dem Verkehrsfluss angepasste Reduktion der Geschwindigkeit mit ohne adäquatem Bremsen habe genügt, wie dies im Kolonnenverkehr auch absolut üblich sei. Von einem rücksichtslosen Fahrverhalten der Beschuldigten könne bei dieser Situation keine Rede sein. Die Beschuldigte sei demnach vom Vorwurf der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG freizusprechen.

 

 

2. Allgemeine Ausführungen

 

2.1 Nach Art. 90 Abs. 2 Strassenverkehrsgesetz (SVG, SR 741.01) macht sich strafbar, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft in Kauf nimmt. Der objektive Tatbestand ist nach der Rechtsprechung erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer ist bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Diese setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung Verletzung voraus. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses sonstwie schwerwiegendes regelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer dabei die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen (Urteil des Bundesgerichts 6B_1174/2013 vom 14. Mai 2014 E. 2 mit weiteren Hinweisen).

 

2.2 Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG hat der Führer das Fahrzeug ständig so zu beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Der Fahrzeugführer muss seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 [VRV, SR 741.11]) und jederzeit in der Lage sein, auf die jeweils erforderliche Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und auf jede Gefahr ohne Zeitverlust zweckmässig zu reagieren (Urteil 1C_656/2015 vom 8. April 2016 E. 2.3). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten konkreten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 137 IV 290 E. 3.6 S. 295 mit Hinweis).

 

2.3 Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Strassenbenützern ausreichender

Abstand zu wahren, namentlich beim Kreuzen und Überholen sowie beim Neben- und Hintereinanderfahren. Der Fahrzeugführer hat beim Hintereinanderfahren einen ausreichenden Abstand zu wahren, so dass er auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs rechtzeitig halten kann (Art. 12 Abs. 1 VRV). Was unter einem "ausreichenden Abstand" zu verstehen ist, hängt von den gesamten Umständen ab. Im Sinne von Faustregeln stellt die Rechtsprechung bei Personenwagen auf die Regel "halber Tacho" und die "Zwei-Sekunden-Regel" ab (BGE 131 IV 133, E. 3.1 mit Hinweisen). Die anhand dieser Regeln berechnete Distanz entspricht ungefähr der Anhaltestrecke bei plötzlichem ordnungsgemässem Bremsen und Anhalten des vorausfahrenden Personenwagens (BGE 104 IV 912, E. 2b). Gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts und in Übereinstimmung mit der schweizerischen Lehre wird für die Beurteilung, ob eine grobe Verkehrsregelverletzung anzunehmen ist, als Richtschnur die Regel "1/6 Tacho" bzw. der Abstand von 0,6 Sekunden herangezogen (Urteil des Bundesgerichts 6B_593/2013 vom 22. Oktober 2013, E. 2.3.2. mit Verweis auf BGE 131 IV 133 E. 3.2.2 und weiteren Hinweisen; Boll, Grobe Verkehrsregelverletzung, Davos 1999, S. 57 f.). Weiter entschied das Bundesgericht, dass ein Abstand von 12 bis 18 Metern bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h, entsprechend 1/10 bis rund 1/7 Tacho einem zeitlichen Abstand zwischen 0,36 und 0,54 Sekunden, auf dem Überholstreifen einer Autobahn während des Überholens von anderen Fahrzeugen jedenfalls eine erhöhte abstrakte Gefahr begründe und objektiv als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG zu qualifizieren sei, unabhängig davon, wie gross im konkreten Einzelfall das Risiko ist, dass etwa ein Fahrzeug vom rechten Fahrstreifen auf die linke Fahrbahn gelangen könnte (Urteil des Bundesgerichts 6B_593/2013 vom 22. Oktober 2013, E. 2.3.3). Für die Bejahung einer ernstlichen Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer durch einen ungenügenden Abstand genügt es, dass auf einer verhältnismässig kurzen Strecke zu nahe aufgefahren wird. Die Dauer des zu nahen Auffahrens ist nämlich nur ein Kriterium neben anderen (vgl. Weissenberger, SVG-Kommentar, 2. Auflage., Zürich/St. Gallen 2015, Art. 34 N 60). Seitens des Bundesgerichts wurde eine grobe Verkehrsregelverletzung bei einem Abstand von rund zehn Metern zum voranfahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h über eine Fahrstrecke von 330 bis 340 Metern jedenfalls bejaht (BGE 1C_356/2009 vom 12. Februar 2010 E. 2).

 

 

3. Subsumtion

 

3.1 Dass die Beschuldigte vorliegend objektiv betrachtet eine wichtige Verkehrsvorschrift in schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet hat, ist aufgrund der konkreten Umstände zweifellos gegeben. So fuhr die Beschuldigte gemäss Beweisergebnis viel zu nahe auf den vor ihr fahrenden Wagen auf. Sie folgte zunächst dem vorausfahrenden Fahrzeug, ohne dazu gezwungen zu sein und ohne den Abstand zu vergrössern, mit einem Abstand von maximal 15 Metern (drei Wagenlängen) bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h, mithin von weniger als 12.5% des Geschwindigkeitswerts. Der seitens der Beschuldigten eingehaltene Abstand betrug somit deutlich weniger als 1/6 Tacho, weshalb allein gestützt auf die 1/6-Tacho-Regel von einer groben Verkehrsregelverletzung auszugehen wäre. Der Eintritt einer konkreten Gefahr gar einer Verletzung lag aufgrund des deutlich zu dichten Abstands durch die Beschuldigte auf das voranfahrende Fahrzeug nahe und hat sich schliesslich auch verwirklich. Hinzu kommt, dass die Beschuldigte das Bremsmanöver erst nach rund zwei Sekunden – während deren die Bremslichter sowie die Warnanlage des vorausfahrenden Fahrzeugs aufleuchteten – einleitete und damit viel zu spät reagierte. Damit ist erwiesen, dass sie durch mangelnde Aufmerksamkeit nicht mehr in der Lage war, ihr Fahrzeug zu beherrschen, und sie mit dem Heck des Autos von Frau B.___ kollidierte. Das Verhalten der Beschuldigten ist entsprechend als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 34 Abs. 4 SVG zu qualifizieren.

 

3.2 Aufgrund der bereits im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des objektiven Tatbestands geschilderten Umstände ist davon auszugehen, dass der Beschuldigten diese Umstände und die besondere Gefährlichkeit ihrer verkehrsregelwidrigen Fahrweise bewusst waren und sie diese in Kauf nahm. Deshalb ist von eventualvorsätzlicher Tatbegehung auszugehen und mithin auch der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG ohne Weiteres erfüllt.

 

3.3 Mangels ersichtlicher Rechtfertigungs- Schuldausschlussgründe ist die Beschuldigte demnach der groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 34 Abs. 4 SVG schuldig zu sprechen.

 

 

IV. Strafzumessung

 

Die Vorinstanz hat den vorliegend anwendbaren Strafrahmen sowie die massgebenden Strafzumessungsfaktoren zutreffend dargelegt (Urteilsseiten [US] 7 ff.). Darauf ist zu verweisen. Die Strafzumessung wird von der Beschuldigten im Berufungsverfahren zu Recht nicht beanstandet, zumal die von der Vorinstanz ausgefällte Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von zwei Jahren, mit einer Verbindungsbusse von CHF 350.00, ersatzweise einer Freiheitsstrafe von fünf Tagen, jedenfalls nicht zu hoch ausgefallen ist. Die Sanktion ist entsprechend zu bestätigen.

 

 

V. Kosten und Entschädigungen

 

1. Bei diesem Verfahrensausgang ist der erstinstanzliche Kostenentscheid zu bestätigen.

 

2. Die Beschuldigte unterliegt umfassend und hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 1'200.00, total CHF 1‘300.00, zu bezahlen (Art. 428 StPO). Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

 

 


 

Demnach wird in Anwendung von Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 34 Abs. 4 und Art. 31 Abs. 1 SVG; Art. 34, Art. 42 Abs. 1, Art. 44 Abs. 1, Art. 47, Art. 69, Art. 106 StGB; Art. 406 Abs. 1, Art. 416 ff. StPO erkannt:

1.      A.___ hat sich der groben Verletzung der Verkehrsregeln (durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren und durch Mangel an Aufmerksamkeit), begangen am 22. September 2021, schuldig gemacht.

 

2.      A.___ wird verurteilt zu:

a)      einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren;

b)      einer Busse von CHF 350.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 5 Tagen.

 

3.      A.___ hat die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 400.00, total CHF 848.80, zu bezahlen.

 

4.      A.___ hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 1’200.00, total CHF 1'300.00, zu bezahlen.

 

5.      Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Der Gerichtsschreiber

Werner                                                                              Wiedmer



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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