Zusammenfassung des Urteils STBER.2023.39: Verwaltungsgericht
Die Beschuldigte A.___ wurde schuldig gesprochen, die Verkehrsregeln grob verletzt zu haben, indem sie den Vortritt eines anderen Fahrzeugs missachtete und es zu einer Kollision kam. Sie wurde zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je CHF 70.00 verurteilt, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie einer Busse von CHF 440.00 oder einer Freiheitsstrafe von 7 Tagen. Die Gerichtskosten belaufen sich auf CHF 715.00. A.___ hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, die jedoch abgewiesen wurde. Die Kosten des Berufungsverfahrens belaufen sich auf CHF 1'300.00.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | STBER.2023.39 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Datum: | 08.04.2024 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Schlagwörter: | Beschuldigte; Beschuldigten; Beweis; Lieferwagen; Verkehr; Kreuzung; Aussage; Urteil; Vortritt; Polizei; Berufung; Aussagen; Unfall; Recht; Verletzung; Strasse; Verkehrsregeln; Fahrzeug; Vortritts; Staatsanwaltschaft; Solothurn; Aufmerksamkeit; Urteils; Vorinstanz; Vortrittsrecht; Akten |
Rechtsnorm: | Art. 10 StPO ;Art. 106 StGB ;Art. 14 VRV ;Art. 27 SVG ;Art. 3 VRV ;Art. 31 SVG ;Art. 36 SVG ;Art. 416 StPO ;Art. 55 SVG ;Art. 82 StPO ;Art. 90 SVG ; |
Referenz BGE: | 115 IV 286; 120 Ia 36; 127 I 40; 133 I 33; 137 IV 290; |
Kommentar: | -, Kommentar StPO, Art. 82 StPO, 2020 |
Geschäftsnummer: | STBER.2023.39 |
Instanz: | Strafkammer |
Entscheiddatum: | 08.04.2024 |
FindInfo-Nummer: | O_ST.2024.23 |
Titel: | Fahren in fahrunfähigem Zustand (Motorfahrzeug, andere Gründe), ev. grobe Verletzung der Verkehrsregeln |
Resümee: |
Obergericht Strafkammer
Urteil vom 8. April 2024 Es wirken mit: Präsident Werner Oberrichterin Marti a.o. Ersatzrichter Marti Gerichtsschreiber Wiedmer In Sachen Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn
Anklägerin
A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Wasem,
Beschuldigte und Berufungsklägerin
betreffend grobe Verletzung der Verkehrsregeln
Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung: I. Prozessgeschichte
1. Am 2. März 2022 fuhr A.___ (nachfolgend: Beschuldigte / Berufungsklägerin) mit ihrem Personenwagen Mercedes-Benz D A 220 CDI (Kontrollschild-Nr. [Kennzeichen]) auf der Brühlstrasse in Grenchen in südliche Richtung. Im Bereich der Kreuzung Brühlstrasse / Niklaus-Wengistrasse kollidierte sie beim Verlassen der vortrittsbelasteten Strasse mit dem in östliche Richtung fahrenden Lieferwagen von B.___ (Kontrollschild-Nr. [Kennzeichen]). Durch die Wucht des Aufpralls drehte es den PW der Beschuldigten um die eigene Achse und dieser erlitt Beschädigungen an der Stossstange hinten rechts, am Kotflügel hinten rechts sowie an den Türen hinten rechts und vorne rechts. Dem Lieferwagen von B.___ wurde die gesamte Fahrzeugfront beschädigt (zum Ganzen: Strafanzeige der Polizei Kanton Solothurn [nachfolgend: Polizei] vom 16. Mai 2022, nicht paginiert).
2. Am 1. April 2022 zeigte Rechtsanwalt Matthias Wasem das Mandatsverhältnis mit der Beschuldigten an und ersuchte um Zustellung der Verfahrensakten. Dieses Schreiben blieb seitens der Staatsanwaltschaft Kanton Solothurn (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) unbeantwortet.
3. Da die Beschuldigte im Rahmen der am Unfalltag durchgeführten Erstbefragung durch die Polizei angegeben hatte, kurz vor der Kollision einen Schwindelanfall erlitten zu haben, verurteilte die Staatsanwaltschaft die Beschuldigte mit Strafbefehl vom 8. Juni 2022 wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand (Motorfahrzeug, andere Gründe) i.S.v. Art. 91 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG, SR 741.01), Art. 31 Abs. 2 SVG, Art. 55 Abs. 7 SVG und Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verkehrsregelnverordnung (VRV, SR 741.11). Als Sanktionen wurden eine Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je CHF 70.00, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren, und eine Busse von CHF 440.00 (bei Nichtbezahlung ersatzweise sechs Tage Freiheitsstrafe) ausgesprochen. Ebenso wurde die Beschuldigte zur Tragung der Verfahrenskosten von CHF 625.00 verpflichtet.
4. Am 14. Juni 2022 erhob die Beschuldigte Einsprache gegen den Strafbefehl vom 8. Juni 2022.
5. Mit Schreiben vom 24. Juni 2022 (versehentlich datiert mit 1. April 2022) ersuchte der Vertreter der Beschuldigten erneut um Zustellung der amtlichen Akten.
6. Mit Beweisverfügung vom 4. Juli 2022 wies die Staatsanwaltschaft den vom Verteidiger mit Eingabe vom 30. Juni 2022 gestellten Beweisantrag auf Einvernahme der Beschuldigten zur Sache ab. Der zweite Beweisantrag auf Aktennahme diverser Arztberichte und ärztlicher Unterlagen wurde gutgeheissen.
7. Am 16. August 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim zuständigen Richteramt Solothurn-Lebern wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand (Motorfahrzeug, andere Gründe; Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG, Art. 31 Abs. 2 SVG, Art. 2 Abs. 1 VRV), eventualiter wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) durch Mangel an Aufmerksamkeit (Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV) sowie Missachten des Vortrittsrechts (Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV, Art. 36 Abs. 2 der Signalisationsverordnung [SSV, SR 741.21], Aktenseiten Richteramt Solothurn-Lebern [ASSL] 0001 ff.).
8. Mit Eingabe vom 23. Dezember 2022 liess die Beschuldigte dem Gericht das verkehrstechnische Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich von Prof. Dr. med. C.___ vom 2. November 2022 zukommen (ASSL 0015 ff.).
9. Der a.o. Amtsgerichtsstatthalter von Solothurn-Lebern fällte nach durchgeführter mündlicher Hauptverhandlung (siehe diesbezüglich insbesondere das Protokoll der Hauptverhandlung in ASSL 0026 f. sowie das Protokoll der Einvernahme der Beschuldigten in ASSL 0028 ff.) am 27. März 2023 folgendes Strafurteil (ASSL 0055 ff.):
1. A.___ hat sich der groben Verletzung der Verkehrsregeln durch Mangel an Aufmerksamkeit sowie Missachten des Vortrittsrechts, begangen am 2. März 2022, schuldig gemacht. 2. A.___ wird verurteilt zu a) einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren, b) einer Busse von CHF 440.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 7 Tagen. 3. A.___ hat die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 400.00, total CHF 715.00, zu bezahlen. Wird kein Rechtsmittel ergriffen und verlangt keine Partei ausdrücklich eine schriftliche Begründung des Urteils, so reduziert sich die Urteilsgebühr um CHF 100.00, womit die gesamten Kosten CHF 615.00 betragen.
10. Nach Eingang der Urteilsanzeige am 29. März 2023 (ASSL 0048) meldete die Beschuldigte gleichentags gegen dieses Urteil des a.o. Amtsgerichtsstatthalters von Solothurn-Lebern vom 27. März 2023 die Berufung an (ASSL 0050 f.).
11. Am 8. Mai 2023 wurde den Parteien das schriftlich begründete Urteil zugestellt (ASSL 0054; Eingang bei der Staatsanwaltschaft ist nicht belegt bzw. Eingang bei der Beschuldigten am 9. Mai 2023 [ASSL 0072]).
12. Am 9. Mai 2023 erklärte die Beschuldigte die Berufung und focht das Urteil vollumfänglich in allen Punkten an (Aktenseite Berufungsgericht [ASB] 001).
13. Mit Eingabe vom 11. Mai 2023 teilte die Staatsanwaltschaft mit, keinen Antrag auf Nichteintreten zu stellen. Sie verzichtete auf eine Anschlussberufung und auf die weitere Teilnahme am Berufungsverfahren (ASB 010).
14. Mit Verfügung vom 13. Juni 2023 wurde das schriftliche Verfahren angeordnet (ASB 015).
15. Gestützt auf die Verfügung vom 13. Juni 2023 reichte die Beschuldigte am 3. Juli 2023 die Berufungsbegründung ein (ASB 017 ff.).
16. Für die Vorbringen der Parteien ist grundsätzlich auf die Akten zu verweisen; sofern notwendig, wird nachfolgend näher darauf eingegangen.
II. Gegenstand des Berufungsverfahrens
1. Mit der Berufungsbegründung vom 3. Juli 2023 stellte die Beschuldigte folgende Anträge:
I. Frau A.___ sei vollumfänglich frei zu sprechen von der Anschuldigung der groben Verletzung der Verkehrsregeln durch Mangel an Aufmerksamkeit sowie Missachten des Vortrittsrechts, angeblich begangen am 2. März 2022. II. Frau A.___ sei hingegen schuldig zu sprechen der einfachen Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG), begangen am 2. März 2022 um ca. 09:35 Uhr in Grenchen, Kreuzung Brühlstrasse / Niklaus-Wengistrasse und in Anwendung der einschlägigen Strafbestimmungen zu einer Busse im Betrag von CHF 200.00 zu verurteilen. III. Frau A.___ sei vom Kanton Solothurn eine angemessene Entschädigung im Umfang von 2/3 der Verteidigungskosten gemäss Honorarnote vom 27. März 2023 für das erstinstanzliche Verfahren auszurichten. IV. Die erstinstanzlichen Verfahrenskosten seien zu 2/3 dem Kanton Solothurn aufzuerlegen. V. Frau A.___ sei vom Kanton Solothurn eine angemessene Entschädigung im Umfang der Verteidigungskosten gemäss nachzureichender Honorarnote für das Berufungsverfahren auszurichten. VI. Die Kosten des Berufungsverfahrens seien vollumfänglich dem Kanton Solothurn aufzuerlegen. VII. Allfällige weitere Verfügungen seien von Amtes wegen zu erlassen.
2. Gegenstand des Berufungsverfahrens bildet somit der Schuldspruch der Beschuldigten wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln durch Mangel an Aufmerksamkeit sowie Missachten des Vortrittsrechts i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 36 Abs. 2 SVG mit allen zugehörigen Rechtsfolgen wie Strafzumessung sowie Kosten- und Entschädigungsfolgen. Nicht mehr Gegenstand ist der Vorwurf des Fahrens in fahrunfähigem Zustand, da die Vorinstanz diesen als nicht erstellt erachtet hat, was unter den Parteien unstrittig geblieben ist.
3. Mit Blick auf die Prozessökonomie erlaubt Art. 82 Abs. 4 StPO den Rechtsmittel-instanzen, für die tatsächliche und rechtliche Würdigung des in Frage stehenden Sachverhalts auf die Begründung der Vorinstanz zu verweisen, wenn sie dieser beipflichten. Hingegen ist auf neue tatsächliche Vorbringen und rechtliche Argumente einzugehen, die erst im Rechtsmittelverfahren vorgetragen werden (Brüschweiler, SK-Schulthess Kommentar StPO, 3. Auflage, 2020, Art. 82 N 10). III. Beweiswürdigung und Beweisergebnis
1. Anklagevorwurf
Der Beschuldigten wird der nachstehende Sachverhalt vorgeworfen:
«
[…]
Eventualiter grobe Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) durch Mangel an Aufmerksamkeit (Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV) sowie Missachten des Vortrittsrechts (Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV, Art. 36 Abs. 2 SSV)
begangen am 02. März 2022, um ca. 09:35 Uhr, in Grenchen, Kreuzung Brühlstrasse / Niklaus-Wengistrasse. Die Beschuldigte befuhr als Lenkerin des Personenwagens Mercedes Benz, [Kennzeichen], die Kreuzung Brühlstrasse / Niklaus-Wengistrasse in südliche Richtung, wobei sie zufolge mangelnder Aufmerksamkeit den aus östlicher Richtung auf der Niklaus-Wengistrasse fahrenden vortrittsberechtigten Lieferwagen Mercedes Benz, [Kennzeichen] (Lenker: B.___) übersah und damit sein Vortrittsrecht (vgl. Signal 3.02 "Kein Vortritt" auf Fahrbahn der Beschuldigten) missachtete. Trotz eines eingeleiteten Brems- und Ausweichmanövers des Lieferwagens kam es zu einer frontal-seitlichen Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen. Durch ihr Verhalten rief die Beschuldigte eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere von B.___, hervor. Die konkreten Strassen- und Sichtverhältnisse hätten es ohne weiteres zugelassen, dass die Beschuldigte den vortrittsberechtigten Lieferwagen bei Wahrung der nach den gesamten Umständen pflichtgemässen Sorgfalt hätte erkennen können. Mithin handelte die Beschuldigte zumindest unbewusst grobfahrlässig, zumal sie über einen längeren Zeitraum hinweg nicht in gebotenem Masse aufmerksam war und / sie die konkrete Verkehrssituation in schwerwiegender Weise falsch einschätzte.»
2. Bestrittener Sachverhalt
Unter Verweis auf die Ausführungen der Vorinstanz bringt die Beschuldigte vor, die Vorinstanz komme beweiswürdigend zum falschen Schluss, dass den Angaben der Beschuldigten, wonach sie vor der Kreuzung angehalten und dann langsam vorgefahren sei, nicht gefolgt werden könne (ASB 019 f.). Es sei der Grundsatz in dubio pro reo zur Anwendung zu bringen. Die Beschuldigte habe bereits bei ihrer Ersteinvernahme vor Ort bei der Unfallstelle gegenüber der Polizei angegeben, vor der Kreuzung gebremst und nach rechts und links geschaut zu haben. Unter Darlegung der weiteren Aussagen (ASB 020 f.) kommt die Beschuldigte zum Schluss, ihre Aussagen erwiesen sich von der Ersteinvernahme bis hin zur Einvernahme anlässlich der Hauptverhandlung in den Grundzügen als inhaltlich gleichbleibend und konstant. Auch seien die von ihr gemachten Angaben nachvollziehbar und schlüssig, weswegen auf sie abgestellt werden könne. Die Schilderungen der Beschuldigten würden durch die Schäden der Unfallfahrzeuge untermauert (diesbezüglich detailliert ASB 021). Zudem sei davon auszugehen, dass die von der Beschuldigten angegebene, geschätzte, aber nicht bekannte Geschwindigkeit, mit welcher sie die Kreuzung angeblich passiert habe, nicht dem effektiv im Unfallzeitpunkt gefahrenen Tempo entsprochen habe (ASB 021). Darüber hinaus sei festzuhalten, dass die Aussagen des Fahrers des unfallbeteiligten Lieferwagens nicht verwertbar seien. Es liege eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor, wobei der Chauffeur nie parteiöffentlich befragt worden sei (ASB 021 f.). Weiter könne der Vorinstanz nicht gefolgt werden, wenn sie feststelle, dass die Sicht der Beschuldigten auf den Lieferwagen nicht derart eingeschränkt gewesen sei, dass sie diesen nicht bereits von Weitem hätte sehen können. Aus den in den Akten liegenden Bildern sei sehr wohl ersichtlich, dass die Sicht eingeschränkt gewesen sei (ASB 022). Gehe die Vorinstanz schliesslich davon aus, die Beschuldigte sei über einen längeren Zeitraum unaufmerksam gewesen, so finde dieser Vorhalt in den Akten keinerlei Stütze und stehe dem Grundsatz in dubio pro reo entgegen (ASB 022).
Zusammengefasst ergebe sich, dass der Sachverhalt, auf den sich die Vorinstanz bei der Verurteilung der Beschuldigten gestützt habe, keineswegs erstellt sei und sie diesen daher unrichtig festgestellt habe. In Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo stehe fest, dass die Beschuldigte vor der besagten Kreuzung ihre Geschwindigkeit verlangsamt, bis zum Stillstand abgebremst, nach rechts und nach links geschaut, aber den herannahenden Lieferwagen, welcher wohl mit übersetzter Geschwindigkeit unterwegs gewesen und dessen Erblickbarkeit zufolge parkierter Fahrzeuge und Baustellensignalisationen eingeschränkt gewesen sei, nicht gesehen habe. Letztlich habe eine kurze Unaufmerksamkeit, ein minimes Fehlverhalten der Beschuldigten, zum Missachten des Vortrittsrechts mit Unfallfolge geführt.
3. Beweisgrundsätze
3.1 Gemäss der in Art. 32 Abs. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV, SR 101) und Art. 6 Ziff. 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) sowie Art. 10 Abs. 3 StPO verankerten Maxime „in dubio pro reo“ ist bis zum Nachweis der Schuld zu vermuten, dass die einer Straftat angeklagte Person unschuldig ist: Es gilt demnach die Unschuldsvermutung. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 120 Ia 36 ff, BGE 127 I 40 f.) betrifft der Grundsatz der Unschuldsvermutung sowohl die Verteilung der Beweislast als auch die Würdigung der Beweise. Als Beweislastregel bedeutet die Maxime, dass es Sache des Staates ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen und nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Als Beweiswürdigungsregel ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ verletzt, wenn sich der Strafrichter von der Existenz eines für den Beschuldigten ungünstigen Sachverhaltes überzeugt erklärt, obschon bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, dass sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, da solche immer möglich sind. Obwohl für die Urteilsfindung die materielle Wahrheit wegleitend ist, kann absolute Gewissheit bzw. Wahrheit nicht verlangt werden, da diese der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen ist. Mit Zweifeln ist deshalb nicht die entfernteste Möglichkeit des Andersseins gemeint. Erforderlich sind vielmehr erhebliche und schlechthin nicht zu unterdrückende Zweifel, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei mehreren möglichen Sachverhaltsversionen hat der Richter auf die für den Beschuldigten günstigste abzustellen.
Eine Verurteilung darf somit nur erfolgen, wenn die Schuld des Verdächtigten mit hinreichender Sicherheit erwiesen ist, d.h. wenn Beweise dafür vorliegen, dass der Täter mit seinem Verhalten objektiv und subjektiv den ihm vorgeworfenen Sachverhalt verwirklicht hat. Voraussetzung dafür ist, dass der Richter einerseits persönlich von der Tatschuld überzeugt ist und andererseits die Beweise die Schuld des Verdächtigen in einer vernünftige Zweifel ausschliessenden Weise stützen. Der Richter hat demzufolge nach seiner persönlichen Überzeugung aufgrund gewissenhafter Prüfung der vorliegenden Beweise darüber zu entscheiden, ob er eine Tatsache für bewiesen hält nicht (vgl. BGE 115 IV 286).
3.2 Das Gericht folgt bei seiner Beweisführung dem Grundsatz der freien Beweis-würdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO): Es würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung und ist damit bei der Wahrheitsfindung nicht an die Standpunkte und Beweisführungen der Prozessparteien gebunden. Unterschieden wird je nach Art des Beweismittels in persönliche (Personen, welche die von ihnen wahrgenommenen Tatsachen bekannt geben: Aussagen von Zeugen, Auskunftspersonen und Beschuldigten) und sachliche Beweismittel (Augenschein und Beweisobjekte wie Urkunden Tatspuren). Dabei kommt es nicht auf die Zahl Art der Beweismittel an, sondern auf deren Überzeugungskraft Beweiskraft. Das Gericht entscheidet nach der persönlichen Überzeugung, ob eine Tatsache bewiesen ist nicht.
3.3 Dabei kann sich der Richter auch auf Indizien stützen. Indizien (Anzeichen) sind Hilfstatsachen, die, wenn selber bewiesen, auf eine andere, unmittelbar rechtserhebliche Tatsache schliessen lassen. Der erfolgreiche Indizienbeweis begründet eine der Lebenserfahrung entsprechende Vermutung, dass die nicht bewiesene Tatsache gegeben ist. Für sich allein betrachtet deuten Indizien jeweils nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache hin. Auf das einzelne Indiz ist der In-dubio-Grundsatz denn auch nicht anwendbar. Gemeinsam – einander ergänzend und verstärkend – können Indizien aber zum Schluss führen, dass die rechtserhebliche Tatsache nach der allgemeinen Lebenserfahrung gegeben sein muss. Der Indizienbeweis ist dem direkten Beweis gleichgestellt (vgl. Urteile des Bundesgerichts 6B_360/2016 vom 1. Juni 2017 E. 2.4. sowie 6B_332/2009 vom 4. August 2009 E. 2.3.; je mit Hinweisen).
3.4 Im Rahmen der Beweiswürdigung ist die Aussage auf Glaubhaftigkeitsmerkmale bzw. Lügensignale hin zu analysieren. Die Aussage ist gestützt auf eine Vielzahl von inhaltlichen Realkennzeichen zu beurteilen, wobei zwischen inhaltlichen Merkmalen (Aussagedetails, Individualität, Verflechtung), strukturellen Merkmalen (Strukturgleichheit, Nichtsteuerung, Widerspruchsfreiheit bzw. Homogenität) sowie Wiederholungsmerkmalen (Konstanz, Erweiterung) unterschieden wird. Das Vorliegen von Realitätskriterien bedeutet, dass die betreffende Person mit hoher Wahrscheinlichkeit über erlebnisfundierte Geschehnisse berichtet. Zwar besitzt jedes Realitätskriterium für sich allein betrachtet meist nur eine geringe Validität, die Gesamtschau aller Indikatoren kann jedoch einen wesentlich höheren Indizwert für die Glaubhaftigkeit der Aussage haben, wobei sie in der Regel in solchen mit realem Erlebnishintergrund signifikanter und ausgeprägter vorkommen als in solchen ohne. Zunächst wird davon ausgegangen, dass die Aussage gerade nicht realitätsbegründet ist, und erst, wenn sich diese Annahme (Nullhypothese) aufgrund der festgestellten Realitätskriterien nicht mehr halten lässt, wird geschlossen, dass die Aussage einem wirklichen Erleben entspricht und wahr ist (BGE 133 I 33 E. 4.3.). Im Bereich rechtfertigender Tatsachen trifft den Beschuldigten eine gewisse Beweislast. Seine Behauptungen müssen plausibel sein; es muss ihnen eine gewisse Überzeugungskraft zukommen. Zumindest bedarf die Behauptung des Beschuldigten gewisser Anhaltspunkte, sei es in Form konkreter Indizien einer natürlichen Vermutung für seine Darstellung, damit sie als Entlastungstatsache dem Urteil zugrunde gelegt wird. Wenn die belastenden Beweise nach einer Erklärung rufen, welche der Beschuldigte geben können müsste, dies jedoch nicht tut, darf nach Massgabe des gesunden Menschenverstandes der Schluss gezogen werden, es gebe keine mögliche Erklärung und er sei schuldig. Nichts Anderes kann gelten, wenn er zwar eine Erklärung gibt, diese aber unglaubhaft gar widerlegt ist. Der Grundsatz "in dubio pro reo" zwingt somit nicht dazu, jede entlastende Angabe des Beschuldigten, für deren Richtigkeit Unrichtigkeit kein spezifischer Beweis vorhanden ist, als unwiderlegt zu betrachten. Nicht jede aus der Luft gegriffene Schutzbehauptung braucht durch einen hieb- und stichfesten Beweis widerlegt zu werden (vgl. Urteile des Bundesgerichts 6B_453/2011 vom 20. Dezember 2011 E. 1.6. und 6B_562/2010 vom 28. Oktober 2010 E. 2.1.).
4. Beweismittel
Zur Erstellung des Anklagesachverhalts stehen vorliegend der Polizeirapport vom 16. Mai 2022 inkl. fotografische Aufnahmen (vgl. Akten Staatsanwaltschaft, nicht paginiert), zwei medizinische Berichte (vgl. Akten Staatsanwaltschaft, nicht paginiert), das verkehrsmedizinische Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich vom 2. November 2022 (ASSL 0016 ff.) sowie die Aussagen der Unfallbeteiligten unmittelbar nach der Kollision am 2. März 2022 (vgl. Ersteinvernahmen vom 2. März 2022, nicht paginiert) und die Aussagen der Beschuldigten anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung (ASSL 0026 ff.) als Beweismittel zur Verfügung.
4.1 Aussage B.___
Unmittelbar nach dem Unfall führte B.___ aus, er sei auf der Niklaus-Wengistrasse in Richtung Osten gefahren. Er habe in die Landi tanken wollen. Er sei ca. 40 – 50 km/h gefahren. Er habe das Auto von links kommen sehen und gedacht, dass es anhalte. Er habe ja Vortritt gehabt. Auf der Fahrbahn der Beschuldigten sei «kein Vortritt» signalisiert. Er kenne diese Strecke und sei diese schon mehrmals gefahren. Die Beschuldigte sei mit ca. 50 km/h gefahren. Sie sei geradeaus gefahren ohne zu bremsen. Als er gemerkt habe, dass sie nicht bremse, habe er abgebremst. Die Kollision habe er aber nicht mehr verhindern können. Die Lenkerin habe ihm anschliessend gesagt, dass sie ihn nicht gesehen habe (vgl. Ersteinvernahme vom 2. März 2022, nicht paginiert).
4.2 Aussagen Beschuldigte
4.2.1 Unmittelbar nach dem Unfall führte die Beschuldigte aus, sie habe ca. 10 Meter vor der Kreuzung auf ca. 40 km/h abgebremst und nach links und rechts geschaut. Sie habe nicht auf den Lieferwagen geachtet. Sie schaue bei der Kreuzung immer auf beide Seiten, da sie keinen Vortritt habe. Sie habe das Gefühl gehabt, dass es ihr schwindlig werde vor der Kollision. Sie denke, der Blutzucker Blutdruck sei tief gewesen, was ihr ein- zweimal im Jahr passiere. Sie habe im Moment sehr viel Stress und habe an diesem Morgen noch nichts gegessen getrunken. Sie denke, der Unfall sei wegen des Schwindels passiert. Sie könne sich nicht erinnern, wie alles passiert sei. Auf jeden Fall habe sie nicht reagieren und bremsen können. Sie denke, sie sei sicher nicht mit mehr als ca. 40 km/h, eher 30 35 km/h, über die Kreuzung gefahren. Sie habe gebremst, ihr sei schwindlig geworden und sie habe den Lieferwagen nicht gesehen. Komisch sei, dass der Lieferwagenfahrer offensichtlich nicht gebremst habe. Sie glaube, er habe sie auch nicht gesehen. Wenn man sehe, dass ein anderer einen Fehler mache, bremse man doch (Ersteinvernahme vom 2. März 2022, nicht paginiert).
4.2.2 Demgegenüber liess die Beschuldigte mit Schreiben vom 30. Juni 2022 durch ihren Verteidiger verlauten, keinen Schwindelanfall erlitten und sich im Unfallzeitpunkt insbesondere nicht in fahrunfähigem Zustand befunden zu haben. Gegenüber Dr. med. D.___ führte sie anlässlich der verkehrsmedizinischen Begutachtung vom 21. September 2022 aus, wegen ihres Kindes und einer Gerichtsverhandlung mit dem Kindsvater viel Stress gehabt zu haben. Der Stress habe jedoch nichts mit dem Verkehrsunfall zu tun gehabt. Sie habe in der Nacht ca. 10 Stunden geschlafen und sich am Morgen ausgeruht, fit und fahrfähig gefühlt. Bei der Kreuzung habe sie leicht abgebremst. Sie sei mit 30 – 40 km/h unterwegs gewesen. Sie habe seitlich geblickt, jedoch kein Fahrzeug gesehen. Sie könne sich an alles erinnern. Die Strasse rechts sei übersichtlich. Kurz vor der Kollision habe sie den Lieferwagen von der Seite kommen sehen und noch gebremst. Sie vermute, der Lieferwagen sei zu schnell unterwegs gewesen, eventuell mit 60 70 km/h. Sie denke auch, der Fahrer sei abgelenkt gewesen. Sie selbst sei nicht abgelenkt gewesen und habe absolut keine gesundheitlichen Beschwerden gehabt. Sie sei auch nicht eingeschlafen. Sie könne sich den Verkehrsunfall eigentlich nicht erklären. Sie habe den Lieferwagen einfach nicht gesehen. Auf jeden Fall habe sie keinen Schwindel gehabt. Sie habe das bei der Polizei nur gesagt, weil sie gedacht habe, es sei dann weniger schlimm. Sie sei wegen der Polizei nervös gewesen und dachte, so klinge es glaubwürdiger. Sie habe Angst vor einem Führerausweisentzug gehabt, da sie wegen der Tochter so sehr auf diesen angewiesen sei (ASSL 0016 ff.).
4.2.3 Anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung führte sie aus, während der Autofahrt habe sie keinen Schwindelanfall erlitten. Sie bestätigte, dies gegenüber der Polizei nur erwähnt zu haben, weil sie gedacht habe, es sei weniger schlimm. Sie habe vor der Kreuzung gebremst, auf beide Seiten geschaut, aber den Lieferwagen nicht gesehen. Sie habe schon vorher gebremst und auf beide Seiten geschaut. Sie kenne die Kreuzung gut, da sie den Weg damals jeden Tag gefahren sei. Auf entsprechende Nachfrage des Vorsitzenden ergänzte sie, vor den "Haifischzähnen", also vor Überqueren der Strasse, sogar angehalten und auf beide Seiten geschaut zu haben. Die Sicht sei damals auch eingeschränkt gewesen, da auf der rechten Strassenseite manchmal Autos grosse Lastwagen parkieren würden. Man könne wirklich nichts sehen. Auf die Frage, ob es aufgrund der eingeschränkten Sicht nicht sinnvoll gewesen wäre, langsam vorzufahren, antwortete die Beschuldigte, dies gemacht zu haben. Sie habe gebremst, sei langsam angefahren, habe geschaut und nichts gesehen. Auf den Vorhalt, dieses "Vortasten" weder gegenüber der Polizei noch gegenüber der Gutachterin je erwähnt zu haben, erwiderte die Beschuldigte, sie habe bei der Polizei Angst gehabt, etwas Falsches zu sagen. Die Gutachterin habe demgegenüber nicht so genau gefragt. Diese habe nur gefragt, ob sie den Lieferwagen gesehen habe, was sie verneint habe. Am fraglichen Tag habe es nicht viel Verkehr gehabt, nur sie und den Lieferwagen. Als sie getroffen worden sei, sei sie fast in der Mitte der Strasse gewesen. Sie hätte die Kreuzung also schon fast überquert gehabt, als es zum Zusammenstoss gekommen sei. Sie sei sicher nicht mehr als 40 km/h gefahren. Wenn man anhalte, könne man nicht so schnell Gas geben. Den Lieferwagen habe sie während der ganzen Zeit nie gesehen. Sie habe wirklich geschaut, ihn aber nicht gesehen. Sie sei auch nicht durch das Handy das Radio abgelenkt gestresst gewesen. Auch den Stress habe sie gegenüber der Polizei nur erwähnt, weil sie gedacht habe, es sei weniger schlimm. Da sie es gegenüber der Polizei erwähnt hatte, habe sie gedacht, sie müsse es auch bei der Gutachterin sagen, weil es weniger schlimm sei. Sie könne nicht sagen, ob der Lieferwagen zu schnell gefahren sei, da sie ihn nicht gesehen habe. Aber sie habe auf beide Seiten geschaut, gebremst, angehalten und nichts gesehen. Sie denke, er sei schon mit einer grossen Geschwindigkeit gekommen. Sie sei schon mehr als die Hälfte über der Strasse gewesen. Er hätte auch bremsen können. Nach dem Unfall habe er zu ihr gesagt, dass er sie nicht gesehen habe (ASSL 076 ff.).
5. Beweiswürdigung
5.1 Die Ausführungen der Beschuldigten sind uneinheitlich, inkonsistent und im Wesentlichen widersprüchlich. Die Vorinstanz hat die Aussagen sorgfältig und überzeugend gewürdigt (Urteilsseiten [US] 6 ff.). Darauf kann vorab verwiesen werden.
5.2 Die Beschuldigte ist als vom Strafverfahren Betroffene naheliegender Weise daran interessiert, ihr Verhalten in einem möglichst positiven Licht darzustellen. In den Aussagen der Beschuldigten ist dieses Bestreben denn auch deutlich erkennbar.
5.2.1 In der Ersteinvernahme vom 2. März 2022 sagte sie aus, ihr sei schwindelig gewesen und sie habe wohl deshalb den Lieferwagen nicht gesehen. Gegenüber der Gutachterin räumte sie sodann ein, den Schwindel erfunden zu haben, da es so glaubwürdiger geklungen habe (ASSL 0019). Sie führte jedoch – wie auch schon gegenüber der Polizei – weiter aus, im Unfallzeitpunkt unter viel Stress gestanden zu haben (ASSL 0021), wohingegen sie anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ausführte, keinen Stress gehabt zu haben (ASSL 0033). Auf die Frage, warum sie den Stress gegenüber der Gutachterin erwähnt hatte, sagte sie, sie habe gedacht, weil sie es gegenüber der Polizei gesagt habe, müsse sie das auch bei der Gutachterin sagen (ASSL 0033). Es scheint offensichtlich, dass die Beschuldigte ihre Aussagen jeweils so anpasste, wie es für sie am vorteilhaftesten erscheint. Sie versucht, ihr Fehlverhalten zu beschönigen.
5.2.2 Sie verstrickte sich in den Befragungen in unauflösbare Widersprüche. So versuchte die Beschuldigte anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung, ihr Fehlverhalten zu entschuldigen, indem sie behauptete, die Strasse rechts sei sehr unübersichtlich und die Sicht durch die parkierten Autos sehr eingeschränkt gewesen (ASSL 0031). Demgegenüber führte sie anlässlich der Begutachtung aus, die Strasse sei sehr übersichtlich (ASSL 0019). Die Fotos vom Unfallort bestätigen, dass auf der rechten Fahrseite Autos parkiert waren. Den hohen Lieferwagen, welcher die parkierten Autos deutlich überragt hat, hätte sie jedoch ohne weiteres dennoch erkennen müssen. Dies insbesondere, wenn sie sich – wie anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung behauptet – langsam vorgetastet hätte (ASSL 0032). Wenn die Beschuldigte behauptet, sie hätte den Lieferwagen wegen Autos nicht sehen können, hätte sie vor dem Befahren der Kreuzung anhalten müssen und es wäre ihr bewusste Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung brachte sie auch erstmals vor, sie habe vor der Kreuzung angehalten und auf beide Seiten geschaut. Vorher – in der Ersteinvernahme und anlässlich der gutachterlichen Befragung – hatte sie hingegen ausgeführt, vor der Kreuzung etwas abgebremst zu haben. Diese neue Angabe ist als reine Schutzbehauptung zu qualifizieren, zumal ihr bei anhalten vor der Kreuzung der Lieferwagen nicht hätte entgehen können (vgl. Fotografische Aufnahmen in den Akten Staatsanwaltschaft, nicht paginiert).
5.2.3 Die unglaubhaften Aussagen der Beschuldigten zum Unfallhergang widersprechen dem sich aus dem Polizeirapport, den Fotoaufnahmen, dem Verkehrsgutachten bzw. den korrelierenden Aussagen von B.___ ergebenden Bild. Die seitens der Beschuldigten im Zusammenhang mit ihren Aussagen gemachten Schuldzuweisungen zu Lasten von B.___ wirken unbehilflich und wenig überzeugend. Der Sachverhalt gemäss dem Eventualanklagepunkt (grobe Verletzung der Verkehrsregeln durch Mangel an Aufmerksamkeit sowie Missachten des Vortrittsrechts) ist gestützt auf die genannten Beweismittel als erstellt zu erachten.
5.3 An diesen Feststellungen vermögen die geltend gemachten Einwände der Beschuldigten nichts zu ändern.
5.3.1 Der Argumentation der Beschuldigten, wonach die Aussagen des Fahrers des unfallbeteiligten Lieferwagens mangels erfolgter Konfrontation nicht verwertbar seien, ist entgegen zu halten, dass der Tatvorwurf gestützt auf das unglaubhafte Aussageverhalten der Beschuldigten und die fotografischen Aufnahmen erstellt ist. Die Aussagen von B.___ werden nicht verwendet, entsprechend kann die Verwertbarkeitsfrage offengelassen werden.
5.3.2 Das Vorbringen der Beschuldigten in der Berufungsbegründung, wonach sie mehrmals konstant ausgesagt habe, dass sie vor der Kreuzung gebremst und auf beide Seiten geschaut, aber den Lieferwagen nicht gesehen habe, und deshalb davon auszugehen sei, dass ihre Ausführungen nachvollziehbar und schlüssig seien, ist im Hinblick auf das Aussageverhalten der Beschuldigten nicht nachvollziehbar (vgl. Ziffer 5.2 ff. hiervor). Ihre letzten Angaben decken sich auch nicht mit dem dokumentierten Schadensbild: Die Tatsache, dass der hintere Teil des Fahrzeugs der Beschuldigten getroffen wurde, belegt, dass die Beschuldigte mit einem gewissen Tempo über die Kreuzung gefahren ist und zuvor eben gerade nicht angehalten hatte. Die Version der Beschuldigten, wonach das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Seitenblicks bzw. des Überfahrens der Haifischzähne womöglich noch nicht in Sichtweite gewesen sei und sich wohl mit eher hoher Geschwindigkeit auf die Kreuzung zubewegt habe, ist schlicht nicht plausibel, denn sie hätte den massigen Lieferwagen selbst dann sehen müssen, wenn dieser mit der von ihr behaupteten Geschwindigkeit von 60 70 km/h gefahren wäre, insbesondere, wenn sie nur langsam vorgefahren wäre. Gegen die Version der Beschuldigten spricht auch, dass sie gegenüber der Gutachterin lediglich ein «leichtes Abbremsen» erwähnte (ASSL 0019) und gegenüber der Polizei ausführte, vor der Kreuzung auf ca. 40 km/h abgebremst zu haben (Ersteinvernahme vom 2. März 2022, nicht paginiert). Angesichts ihres berechnenden Aussageverhaltens kann maximal auf diese Angabe abgestellt werden. Es ist somit davon auszugehen, dass die Beschuldigte mit ca. 50 km/h auf die Kreuzung zufuhr, ca. 10 Meter vor der Kreuzung leicht abbremste und mit ca. 40 km/h über die vortrittsberechtigte Strasse fuhr.
Den Angaben der Beschuldigten, wonach sie vor der Kreuzung angehalten und dann langsam vorgefahren sei, kann nach dem Gesagten nicht gefolgt werden. Es wird vielmehr deutlich, dass die Beschuldigte nur wenig abbremste und damit das Vortrittsrecht des von rechts herannahenden Lieferwagens missachtete. Dafür kann es nur die Erklärung geben, dass sie äusserst unaufmerksam war.
IV. Rechtliche Würdigung
1. Standpunkt der Beschuldigten
Die Beschuldigte bemängelt weiter die rechtliche Würdigung der Vorinstanz. Von einer groben Verletzung der Verkehrsregeln könne keine Rede sein. Im vorliegenden Fall habe eine kurze Unaufmerksamkeit, ein minimes Fehlverhalten der Beschuldigten zum Missachten des Vortrittsrechts mit Unfallfolge geführt. Die Beschuldigte habe an der Kreuzung angehalten und nach links und rechts geschaut und infolge fehlenden Erblickens eines Lieferwagens die Kreuzung passiert, auf welcher es anschliessend zur Kollision gekommen sei. Mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung sei denn auch ein zumindest unbewusst fahrlässiges Handeln zu verneinen, da die Beschuldigte den Lieferwagen schlicht übersehen und somit unbewusst gehandelt habe.
2. Allgemeine Ausführungen
2.1 Nach Art. 90 Abs. 2 SVG macht sich strafbar, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft in Kauf nimmt. Der objektive Tatbestand ist nach der Rechtsprechung erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer ist bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Diese setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung Verletzung voraus. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses sonstwie schwerwiegendes regelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer dabei die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen (Urteil 6B_1174/2013 vom 14. Mai 2014 E. 2 mit weiteren Hinweisen).
2.2 Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG hat der Führer das Fahrzeug ständig so zu beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Der Fahrzeugführer muss seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VRV) und jederzeit in der Lage sein, auf die jeweils erforderliche Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und auf jede Gefahr ohne Zeitverlust zweckmässig zu reagieren (Urteil 1C_656/2015 vom 8. April 2016 E. 2.3). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten konkreten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 137 IV 290 E. 3.6 S. 295 mit Hinweis).
2.3 Nach Art. 36 Abs. 2 SVG hat auf Strassenverzweigungen das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Fahrzeuge auf gekennzeichneten Hauptstrassen haben den Vortritt, auch wenn sie von links kommen. Vorbehalten bleibt die Regelung durch Signale durch die Polizei. Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern. Er hat seine Geschwindigkeit frühzeitig zu mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten (Art. 14 Abs. 1 VRV).
3. Subsumtion
3.1 Dass die Beschuldigte, indem sie dem vortrittsberechtigten Fahrzeug von B.___ mit ihrer Fahrweise den Vortritt genommen hat, objektiv betrachtet eine wichtige Verkehrsvorschrift in schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet hat, ist zweifellos gegeben (vgl. Urteil 6B_761/2019 vom 9. März 2020 E. 2.4). Die Beschuldigte überfuhr infolge mangelnder Aufmerksamkeit die Kreuzung, ohne sich bei Verlassen der vortrittsbelasteten Strasse zu vergewissern, dass sich kein Fahrzeug näherte. Der Eintritt einer konkreten Gefahr gar einer Verletzung lag nahe und ersteres hat sich schliesslich auch verwirklicht, indem sie mit dem Lieferwagen von B.___ kollidierte. Dabei kann es sich nicht um eine kurze, momentane Unaufmerksamkeit gehandelt haben, war doch der vortrittsberechtigte Lieferwagen über längere Zeit sichtbar.
3.2 Die Beschuldigte handelte somit rücksichtslos. Es sind keine besonderen Umstände ersichtlich, die das Verhalten der Beschuldigten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen liessen. Deshalb ist auch der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt.
3.3 Mangels ersichtlicher Rechtfertigungs- Schuldausschlussgründe ist die Beschuldigte demnach der groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 36 Abs. 2 SVG schuldig zu sprechen.
V. Strafzumessung
Die Vorinstanz hat den vorliegend anwendbaren Strafrahmen sowie die massgebenden Strafzumessungsfaktoren zutreffend dargelegt (US 11 ff.). Darauf ist zu verweisen. Die Strafzumessung wird von der Beschuldigten im Berufungsverfahren zu Recht nicht beanstandet, zumal die von der Vorinstanz ausgefällte Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von zwei Jahren, und einer Verbindungsbusse von CHF 440.00, ersatzweise einer Freiheitsstrafe von sieben Tagen, jedenfalls nicht zu hoch ausgefallen ist. Die Sanktion ist entsprechend zu bestätigen.
VI. Kosten und Entschädigungen
1. Bei diesem Verfahrensausgang ist der erstinstanzliche Kostenentscheid zu bestätigen.
2. Die Beschuldigte unterliegt umfassend und hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 1’200.00, total CHF 1’300.00, zu bezahlen (Art. 428 StPO).
3. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Demnach wird in Anwendung von Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 2 SVG; Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 VRV; Art. 36 Abs. 2 SSV; Art. 34, Art. 42 Abs. 1, Art. 44 Abs. 1, Art. 47, Art. 106 StGB; Art. 390, Art. 398 ff., Art. 406 Abs. 1, Art. 416 ff. StPO erkannt: 1. A.___ hat sich der groben Verletzung der Verkehrsregeln durch Mangel an Aufmerksamkeit sowie Missachten des Vortrittsrechts, begangen am 2. März 2022, schuldig gemacht. 2. A.___ wird verurteilt zu: a) einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je CHF 70.00, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren; b) einer Busse von CHF 440.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 7 Tagen. 3. A.___ hat die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 400.00, total CHF 715.00, zu bezahlen. 4. A.___ hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 1’200.00, total CHF 1’300.00, zu bezahlen. 5. A.___ wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich. Im Namen der Strafkammer des Obergerichts Der Präsident Der Gerichtsschreiber Werner Wiedmer |
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