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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2022.90)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2022.90: Verwaltungsgericht

Das Obergericht hat entschieden, dass A.___ sich schuldig gemacht hat, indem sie am 9. September 2021 keine Gesichtsmaske in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen hat. Sie wurde zu einer Busse von CHF 100.00 verurteilt. Die Kosten des Verfahrens belaufen sich auf insgesamt CHF 1'240.00, die A.___ tragen muss. Die Entscheidung kann beim Bundesgericht innerhalb von 30 Tagen angefochten werden.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2022.90

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2022.90
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2022.90 vom 12.07.2023 (SO)
Datum:12.07.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Massnahme; Massnahmen; Bundes; Beweis; Urteil; Gesichtsmaske; Maske; Zeuge; Verordnung; Berufung; Personen; Covid-; Sachverhalt; Bundesrat; Recht; -Verordnung; Bestimmung; Verfahren; Vorinstanz; Beschuldigten; Zeugen; Verteidigung; Masken; Transportpolizei
Rechtsnorm: Art. 1 StGB ;Art. 398 StPO ;Art. 4 BV ;Art. 7 EMRK ;
Referenz BGE:118 Ia 144; 129 I 173; 131 IV 100; 138 IV 13; 143 IV 361; 144 IV 345;
Kommentar:
Daniel Jositsch, Niklaus Schmid, Praxis StPO, Art. 398 StPO, 2018

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2022.90

 
Geschäftsnummer: STBER.2022.90
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 12.07.2023 
FindInfo-Nummer: O_ST.2023.56
Titel: Unbefugtes Nichttragen einer Gesichtsmaske in geschlossenen Bereichen von Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 12. Juli 2023      

Es wirken mit:

Präsident von Felten

Oberrichter Werner

Oberrichter Marti

Gerichtsschreiberin Graf

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Oswald Rohner,

Beschuldigte und Berufungsklägerin

 

betreffend     Unbefugtes Nichttragen einer Gesichtsmaske in geschlossenen Bereichen von Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs


Die Berufung wird in Anwendung von Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO im schriftlichen Verfahren behandelt.

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I.          Prozessgeschichte

 

1. Mit Strafbefehl vom 22. Oktober 2021 sprach die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn A.___ (nachfolgend Beschuldigte) wegen unbefugten Nichttragens einer Gesichtsmaske in geschlossenen Bereichen von Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs, in öffentlich zugänglichen Innenräumen von Einrichtungen und Betrieben an Veranstaltungen schuldig und verurteilte sie zur Bezahlung einer Busse von CHF 100.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu einem Tag Freiheitsstrafe, und auferlegte ihr die Verfahrenskosten von CHF 100.00 (Aktenseite [AS] 15).

 

2. Gegen diesen Strafbefehl erhob die Beschuldigte mit Eingabe vom 11. November 2021 fristgerecht Einsprache (AS 18).

 

3. Am 18. Januar 2022 erliess die Staatsanwaltschaft einen inhaltlich ergänzten Strafbefehl (AS 27 f.). Gleichentags überwies sie die Akten dem Gerichtspräsidium Olten-Gösgen zum Entscheid (AS 29 f.). Mit der entsprechenden Überweisungsverfügung hielt sie fest, dass der Strafbefehl bezüglich Schuldspruch und Sanktion identisch mit dem Strafbefehl vom 22. Oktober 2021 sei und es sich somit nicht um einen neuen Strafbefehl gemäss Art. 355 Abs. 3 lit. c StPO handle, sondern um eine Bestätigung des ursprünglichen Strafbefehls vom 22. Oktober 2021. Eine erneute Eröffnung an die Parteien mit einer neuen laufenden Einsprachefrist sei daher mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht vorgesehen.

 

4. Am 5. Oktober 2022 fällte die a.o. Amtsgerichtsstatthalterin von Olten-Gösgen folgendes Urteil (AS 108 ff.):

 

1.     A.___ hat sich des unbefugten Nichttragens einer Gesichtsmaske in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs, begangen am 09.09.2021, schuldig gemacht.

2.     A.___ wird zu einer Busse von CHF 100.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 1 Tag, verurteilt.

3.     A.___ hat die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 600.00, total CHF 631.80, zu bezahlen. Wird kein Rechtsmittel ergriffen und verlangt keine Partei ausdrücklich eine schriftliche Begründung des Urteils, so reduziert sich die Urteilsgebühr um CHF 200.00, womit die gesamten Kosten CHF 431.80 betragen.

 

5. Gegen dieses Urteil liess die zwischenzeitlich anwaltlich vertretene Beschuldigte die Berufung anmelden (AS 114 ff.). In der Berufungserklärung vom 11. November 2022 verlangte sie einen vollumfänglichen Freispruch, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Staates auch für das zweitinstanzliche Verfahren.

 

6. Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 17. November 2022 auf eine Anschlussberufung und die Teilnahme am Berufungsverfahren.

 

II.         Prozessuale Vorfragen

 

1. Die Beschuldigte lässt in ihrer Berufungsbegründung vom 16. Dezember 2022 durch ihren Rechtsvertreter ausführen, die Vorinstanz habe ihr keine Frist im Sinne von Art. 331 Abs. 2 StPO gesetzt, um Beweisanträge zu stellen. Allein dieser schwerwiegende, nicht heilbare Verfahrensfehler müsse mindestens zweitinstanzlich zu einem Freispruch führen.

 

2. Die Rüge erweist sich als unbegründet. Mit Verfügung vom 7. Februar 2022 teilte die a.o. Amtsgerichtsstatthalterin von Olten-Gösgen den Parteien mit, welche Beweise anlässlich der Hauptverhandlung erhoben würden. Gleichzeitig setzte sie in Ziffer 3 der Verfügung Frist für ein allfälliges Ausstandsgesuch sowie zur Einreichung und Begründung von Beweisanträgen mit dem Hinweis, dass verspätete Beweisanträge Kosten- und Entschädigungsfolgen haben können (AS 32).

 

3. Im Übrigen hätten allfällige Beweisanträge bis zum Abschluss des Beweisverfahrens gestellt werden können (Art. 345 StPO), weshalb ein allfälliges Versäumnis nicht zu einem Freispruch führen würde (Stephenson / Zalunardo-Walser in: Niggli et al. [Hrsg.], Basler Kommentar Strafprozessordnung / Jugendstrafprozessordnung, Freiburg / Luzern / Basel 2014, Art. 331 N 6). Die Beschuldigte wurde sodann anlässlich der Hauptverhandlung vom 5. Oktober 2022 zweimal auf die Möglichkeit hingewiesen, weitere Beweisanträge zu stellen, wobei sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machte.

 

III.        Umfang der Prüfungsbefugnis des Berufungsgerichts

 

1. Bildeten ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens, beschränkt Art. 398 Abs. 4 StPO die Überprüfung des Sachverhalts auf offensichtlich unrichtige Feststellungen des Sachverhalts und Rechtsverletzungen. Offensichtlich unrichtig ist eine Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist. Relevant sind hier zunächst klare Fehler bei der Sachverhaltsermittlung, liegend etwa in Versehen und Irrtümern, offensichtlichen Diskrepanzen zwischen der sich aus den Akten sowie der Hauptverhandlung ergebenden Akten- und Beweislage und der Urteilsbegründung. In Betracht fallen sodann Fälle, in denen die gerügte Sachverhaltsfeststellung auf einer Verletzung von Bundesrecht, in erster Linie von Verfahrensvorschriften der StPO selbst, beruht. Unter diesen Rügegrund fallen weiter Konstellationen, in denen die an sich zur Verfügung stehenden Beweismittel offensichtlich ungenügend ausgeschöpft wurden, also der Sachverhalt unvollständig festgestellt und damit der Grundsatz der Wahrheitsforschung von Amtes wegen missachtet wurde (Niklaus Schmid / Daniel Jositsch, Praxiskommentar StPO, 3. Auflage, Zürich / St. Gallen 2018, Art. 398 StPO N 13; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 6B_226/2018 vom 26. April 2018 mit Hinweisen).

 

2. Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt Willkür einzig dann vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht bzw. im Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 129 I 173 E. 3.1, BGE 6B_811/2007 E. 3.2). Dass auch eine andere Beweiswürdigung in Betracht kommt sogar naheliegender ist, genügt praxisgemäss für die Begründung von Willkür nicht (BGE 131 IV 100 E. 4.1; 127 I 54 E. 2b mit Hinweisen). Willkür liegt sodann nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 127 I 54 E. 2b, 60 E. 5a, je mit Hinweisen; BGE 1P.232/2003 vom 14. Juli 2003, BGE 6B_811/2007 vom 25. Februar 2008 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann das Abstellen auf eine nicht-schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen einen Verstoss gegen Art. 4 BV (Verbot willkürlicher Beweiswürdigung) nach sich ziehen (BGE 118 Ia 144).

 

3. Neue Behauptungen und Beweise können nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO). Neu im Sinne dieser Bestimmung sind Tatsachen und Beweise, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgebracht wurden. Nicht darunter fallen demgegenüber Beweise, die beantragt, erstinstanzlich jedoch abgewiesen wurden. Der Berufungskläger kann im Berufungsverfahren namentlich rügen, die erstinstanzlich angebotenen Beweise seien (in antizipierter Beweiswürdigung) willkürlich abgewiesen worden. Desgleichen kann auch der Berufungsgegner seine erstinstanzlichen Beweisanträge im Berufungsverfahren erneuern (Urteil des Bundesgerichts 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012).

 

IV.       Sachverhalt und Beweiswürdigung

 

1. Im Strafbefehl vom 18. Januar 2022, der vorliegend die Anklage bildet, wird der Beschuldigten vorgehalten, sich am 9. September 2021, um ca. 22:08 Uhr, in [Stadt], Zug Nr. […], [Strecke A nach B] vorsätzlich Massnahmen gegenüber Personen widersetzt zu haben. Konkret soll die Beschuldigte zur Tatzeit zumindest eventualvorsätzlich im Zug keine Gesichtsmaske über Nase und Mund getragen haben, obwohl ihr aufgrund der COVID-19-Pandemie und der medialen Berichterstattung über die aktuell geltenden Massnahmen bekannt sein musste, dass in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs eine Maskentragpflicht bestehe. Durch das Nicht-Tragen der Maske im Zug habe die Beschuldigte in Kauf genommen, sich den aktuell geltenden Massnahmen gegenüber Personen zu widersetzen.

 

2. Die Vorinstanz erachtete den angeklagten Sachverhalt gestützt auf die Aussagen des Zeugen D.___ sowie den von E.___ erfassten Journaleintrag der SBB Transportpolizei als erstellt.

 

3. Die Verteidigung macht in ihrer Berufungsbegründung vom 16. Dezember 2022 geltend, es existierten keinerlei Beweise, welche die Schuld der Angeklagten belegten, wonach sie im Zug keine Gesichtsmaske getragen habe. Der Zeuge D.___ (von der SBB Transportpolizei) habe anlässlich der erstinstanzlichen Zeugeneinvernahme ausgeführt, die «vier Personen» seien in [Stadt] auf dem Perron, Gleis 7, kontrolliert worden, also nicht im Zug, was angeklagt sei. Der Zeuge habe die Beschuldigte auch nicht im Zug gesehen, weshalb er den angeklagten Sachverhalt, wonach die Beschuldigte im Zug keine Gesichtsmaske getragen haben soll, nicht bestätigen könne. Dass diese ohne Maske aus dem Zug gestiegen sein solle, lasse keinen Schluss darauf zu, dass die Beschuldigte im Zug keine Gesichtsmaske getragen habe. Es sei allgemein bekannt, dass fast alle Bahnfahrenden ihre Gesichtsmasken beim Aussteigen rechtlich zulässig ausgezogen hätten. Auch aus dem Umstand, dass die Beschuldigte Maskengegnerin sei, dürfe willkürfrei nicht darauf geschlossen werden, dass sie im Zug keine Maske getragen habe. Viele Maskenverweigerer hätten sich der willkürlich verhängten Verpflichtung, im Zug eine Gesichtsmaske zu tragen, widerwillig beugen müssen, weil sie sonst den ÖV nicht straflos hätten benutzen dürfen, worauf viele dieser Maskenverweigerer aus diversen Gründen angewiesen gewesen seien.

 

4. Die Vorinstanz habe ihr Urteil weiter auf das Journal der SBB Transportpolizei abgestützt, wonach sich sechs Transportpolizisten in den Zug begeben hätten, darunter auch der Zeuge. Dieser habe jedoch gerade gegenteilig ausgesagt, dass die Kontrolle auf dem Perron stattgefunden habe. Vom Perron aus, als der Zug gestanden sei und die Ausstiegstüren offen gewesen seien, hätten die sechs Transportpolizisten überhaupt nicht feststellen können, ob im geschlossenen Zug jemand keine Gesichtsmaske getragen habe. Der Zeuge habe die Frage, ob er die Beschuldigte im Zug gesehen habe, sinngemäss verneint, indem er ausgesagt habe, sie sei ohne Maske ausgestiegen. Auch im «Rapport/Anzeige» vom 29. September 2021 mit Aussteller «Transportpolizei SBB / D.___» sei als «Ort» «[Stadt], Bahnhof SBB» genannt, nicht also etwa «im Zug [Strecke A nach B]».

 

5. Im Ergebnis sei es qualifiziert willkürlich, gestützt auf die Aussagen des Zeugen und den Journaleintrag den angeklagten Sachverhalt als erstellt zu erachten. Der Zeuge habe den angeklagten Sachverhalt gerade nicht bestätigt. Auch sei der Journaleintrag kein rechtlich zulässiges Beweismittel und werde durch den Rapport / die Anzeige des Zeugen nicht bestätigt. Im Übrigen unterstelle die Vorinstanz der Beschuldigten ein Geständnis bzw. Zugeständnis, keine Maske getragen zu haben. Dies sei eine willkürliche, rechtlich unzulässige, beweisirrelevante Schlussfolgerung.

 

6. Unbestritten bleiben die vorinstanzlichen Feststellungen, wonach die Beschuldigte mit dem fraglichen Zug gereist war und sie den Bussenzettel, welcher von der SBB Transportpolizei ausgestellt worden war, persönlich entgegengenommen hatte. Der sich in den Akten befindliche «Bussenzettel mit Bedenkfrist» wurde auf den Namen der Beschuldigten ausgestellt (AS 13), weshalb es keinen Anlass gibt, an der vorinstanzlichen Feststellung zu zweifeln. Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich die Beschuldigte am 9. September 2021 unter den von der SBB Transportpolizei kontrollierten Personen befand.

 

7. Die Verteidigung wirft der Vorinstanz jedoch Willkür vor, wenn diese den angeklagten Sachverhalt gestützt auf die Zeugenaussage von D.___ als erwiesen erachtet, obschon dieser die Beschuldigte überhaupt nicht im Zug gesehen haben soll.

 

8. Die Vorinstanz gibt unter E. I./ 2.2 die Aussagen des Zeugen anlässlich der Hauptverhandlung wie folgt wieder (Urteilsseite [US 3 f.]): Er sei zusammen mit seinen Kollegen von der Zentrale aufgeboten worden. Sie sollten zum Zug, Gleis 7, von Bern herkommend, gehen. Im Zug seien vier respektive fünf Personen, die keine Hygienemaske und kein Attest haben würden; sie würden sich weigern, eine Maske anzuziehen. Sie seien dann zu sechst zu diesem Zug, wo sie vier von diesen fünf Personen hätten anhalten können. Die Beschuldigte habe er ohne Maske aus dem Zug steigen sehen. Sie seien alle von ihnen belehrt worden. Die Beschuldigte sei bei der Kollegin F.___ in der Kontrolle gewesen. Sie habe am meisten mit seinen Kollegen diskutiert. Was genau gesagt worden sei, wisse er nicht, nur, dass sie nachher mit ihr in den Kontrollraum gegangen seien, um ihre Identität festzustellen, da sie sich nicht habe ausweisen wollen. Danach habe D.___ Büroarbeiten im Stützpunkt erledigt. Nach einer bestimmten Zeit sei der Kollege mit den Angaben respektive der ID dem Swisspass der Beschuldigten gekommen. Sein Kollege habe ihn gefragt, ob er auch für die Beschuldigte eine Ordnungsbusse ausstellen könne, da er bereits die Erste ausgestellt habe. Dies habe er getan und dem Kollegen übergeben.

 

9. In der Tat behauptet der Zeuge nicht, die Beschuldigte ohne Gesichtsmaske im Zug gesehen zu haben. Dieser gibt lediglich die Meldung der Zentrale wieder, wonach sich vier respektive fünf Personen ohne Hygienemaske und Attest im Zug befänden und die Transportpolizei entsprechend aufgeboten worden sei. Der Zeuge sagte sodann klar aus, die Beschuldigte in [Stadt] auf dem Perron, Gleis 7, kontrolliert zu haben (vgl. Einvernahmeprotokoll vom 5. Oktober 2022, Rz. 79 f., AS 100). Der Verteidigung ist zuzustimmen, dass der Zeuge in diesem Punkt dem Journaleintrag des SBB Transportpolizisten E.___ widerspricht (AS 26). Dieser hält unter der Rubrik «Sachverhalt» u.a. fest, dass sich gemäss Auftrag […]-CH (Meldung ZP: 5 Maskenverweigerer auf dem Zug) Wm G.___, Wm D.___, Kpl H.___, Gfr F.___, Pol I.___ und Wm E.___ in den Zug begeben hätten und vier der gemeldeten Personen hätten festgestellt werden können. Im Weiteren wird jedoch der Kontrollvorgang beschrieben. Demnach hätten zwei Personen ein gültiges Attest vorweisen können. Zwei Personen sei sofort eine «OB Nr. […] / […], wegen Verstoss gegen die Maskentragpflicht im ÖV» durch Wm D.___ ausgestellt worden. Diese seien anschliessend um ca. 22:15 Uhr bzw. 22:50 Uhr vor Ort aus der Kontrolle entlassen worden.

 

10. Gestützt auf den Wortlaut des Journaleintrages hätte die Kontrolle somit im Zug stattgefunden. Lediglich in Bezug auf die Beschuldigte wird ausgeführt, dass diese für die «Personalienfeststellung» in den Kontrollraum Gleis 7 begleitet worden sei. Jedoch wäre es auch in Bezug auf die übrigen gemeldeten Personen lebensfremd, anzunehmen, dass diese im Zug von der SBB Transportpolizei kontrolliert wurden, hätte dies doch die Weiterfahrt erheblich verzögert. Der Journaleintrag dürfte demnach diesbezüglich nicht sehr präzise abgefasst sein, was sich auch anhand der stichwortartigen Formulierung zeigt. Weiter wird auch unter der Rubrik «Einsatz» als Kontrollort «im Zug, vor dem Zug und im Kontrollraum Gleis 7» angegeben, obschon im Sachverhalt streng genommen keine Handlungen «vor dem Zug» umschrieben werden. Naheliegender ist entsprechend, dass die Mitglieder der SBB Transportpolizei sich zum Zug begaben und dort die vier der fünf gemeldeten Personen feststellen konnten, wie dies auch vom Zeugen ausgeführt wurde.  

 

11. Entgegen den Ausführungen der Verteidigung in der Berufungserklärung wird der Beschuldigten jedoch auch nicht vorgeworfen, im Zug von der SBB Transportpolizei kontrolliert worden zu sein. Der Journaleintrag hält insofern auch nur fest, was auch vom Zeugen wiedergegeben wurde. Nämlich, dass eine Meldung eingegangen sei, wonach sich fünf Maskenverweigerer im Zug befänden und vier davon schliesslich von der Transportpolizei festgestellt werden konnten. Weder D.___ noch E.___ führten aus, die Beschuldigte selber ohne Gesichtsmaske im Zug gesehen zu haben. Die Aussagen des Zeugen stimmen somit mit dem Journaleintrag überein, wie dies auch die Vorinstanz festhält. Wenn die Vorinstanz die Aussagen des Zeugen in der Folge als glaubhaft würdigt, verfällt sie nicht in Willkür. Denn auch die Vorinstanz behauptet nicht, D.___ E.___ hätten die Widerhandlung der Beschuldigten direkt wahrgenommen.

 

12. Der Verteidigung ist insofern zuzustimmen, als dass kein direkter Beweis darüber besteht, ob die Beschuldigte im Zug eine Gesichtsmaske getragen hat nicht. Sie verkennt jedoch, dass der indirekte Beweis (sog. «Indizienbeweis») dem direkten Beweis gleichgestellt ist (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.4, Urteil 6B_360/2016 vom 1. Juni 2017 E. 2.4; BGE 143 IV 361 sowie Urteil 6B_332/2009 vom 4. August 2009 E. 2.3, je mit Hinweisen). Beim Indizienbeweis wird aus bestimmten Tatsachen, die nicht unmittelbar rechtserheblich, aber bewiesen sind (Indizien), auf die zu beweisende, unmittelbar rechtserhebliche Tatsache geschlossen. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich alleine nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Täterschaft die Tat hinweisen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das bei objektiver Betrachtung keine Zweifel bestehen lässt, dass sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (Urteil 6B_1427/2016 vom 27. April 2017 E. 3 mit weiteren Hinweisen; Urteil der Strafkammer des Bundesstrafgerichts SK.2018.26 vom 9. August 2018 E. 3.4.4.4).

 

13.  Wenn der Zeuge ausführt, von der Zentrale ein Aufgebot erhalten zu haben, zum Zug, Gleis 7, von Bern herkommend, zu gehen, da sich in diesem Zug vier respektive fünf Personen aufhielten, welche sich weigerten, eine Hygienemaske anzuziehen, ist dies als Indiz zu werten, dass sich tatsächlich vier bzw. fünf Personen in diesem Zug befanden, welche keine Gesichtsmaske trugen. Dass der Journaleintrag diese Meldung bestätigt, ist ein weiteres Indiz für deren Wahrheitsgehalt. Erwiesen ist sodann, dass die gemeldeten Personen auf dem Perron, Gleis 7, festgestellt werden konnten und sich die Beschuldigte unter den kontrollierten Personen befand. Ein weiteres Indiz ist sodann die Wahrnehmung des Zeugen, wonach er die Beschuldigte ohne Gesichtsmaske aus dem Zug habe aussteigen sehen. Rein theoretisch wäre denkbar, dass die Beschuldigte die Gesichtsmaske beim Aussteigen abgenommen hatte, wie dies von der Verteidigung in der Berufungsbegründung ausgeführt wird. Dies wurde jedoch von der Beschuldigten, welche das gesamte Verfahren hindurch keine Aussagen machte, nie behauptet und würde in diesem Verfahrensstadium auch eine neue – unzulässige – Behauptung darstellen.

 

14. Entgegen der Ansicht der Verteidigung bestehen somit (indirekte) Beweise, welche auf die Täterschaft der Beschuldigten schliessen lassen. Von einem Schuldspruch ohne Beweis kann somit keine Rede sein. Auch führt der Umstand, dass die Beschuldigte die Tat bestreitet, nicht automatisch zur Anwendung des Grundsatzes «in dubio pro reo», zumal nicht einmal die Beschuldigte behauptet, auf der fraglichen Zugfahrt eine Maske getragen zu haben.

 

15. Letztlich ist zu erwähnen, dass die Vorinstanz das Beweisergebnis nicht etwa auf ein unterstelltes Geständnis bzw. Zugeständnis der Beschuldigten stützt. In der von der Verteidigung gerügten Passage führt diese lediglich aus, sie gehe gestützt auf das von der Beschuldigten eingereichte Schreiben vom 25. September 2022, wonach es keine wissenschaftliche Evidenz gebe, dass Masken vor Viren schützten und demzufolge das Tragen solcher sinnlos und rein politisch motivierter Befehl sei, davon aus, dass diese bewusst keine Maske im Zug getragen habe. Damit äussert sie sich lediglich zum Vorsatz der Beschuldigten, der angesichts der Formulierung «wenn ich einen Befehl einer Autorität nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, habe ich das Recht, nicht zu gehorchen» nicht zweifelhaft sein kann. Bereits zuvor hielt die Vorinstanz jedoch fest, dass sie den Sachverhalt gestützt auf die glaubhaften Aussagen des Zeugen und den Journaleintrag als erwiesen erachtet (vgl. E.I./2.2, US 5).

 

16. Im Ergebnis erweist sich die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhaltes nicht als willkürlich, weshalb bei der nachfolgenden rechtlichen Würdigung darauf abgestellt werden kann.

 

V.        Rechtliche Würdigung

 

1. Die Verteidigung führt in ihrer Berufungsbegründung aus, die Verurteilung der Beschuldigten gestützt auf Art. 28 lit. e Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand am 26. Juni 2021) beruhe auf einer Verletzung von Art. 1 StGB, da die Strafbestimmungen in der genannten Verordnung nicht auf einer gesetzlichen Grundlage basierten. Ebenfalls liege ein Verstoss gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK vor. Art. 6 des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiegesetz, EpG; SR 818.101), auf welchem die Covid-19-Verordnung besondere Lage beruhe, ermächtige den Bund nur zu Massnahmen, nicht zu Strafbestimmungen.

 

2. Gemäss Art. 1 StGB darf eine Strafe Massnahme nur wegen einer Tat angeordnet werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt. Der Grundsatz der Legalität («nulla poena sine lege») ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1, Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV. Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird; wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht subsumiert werden kann; wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird, die rechtlich keinen Bestand hat (BGE 138 IV 13 E. 4.1).

 

3. Der Bundesrat führte per 6. Juli 2020 in der auf Art. 6 EpG gestützten Covid-Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26) die Maskentragepflicht für Reisende im öffentlichen Verkehr (Stand am 6. Juli 2020) und per 1. Februar 2021 den Übertretungstatbestand der Widerhandlung gegen dieselbe ein (Stand am 1. Februar 2021). In der vorliegend relevanten Fassung der Verordnung vom 23. Juni 2021 (Stand am 26. Juni 2021) findet sich die Strafbestimmung in Art. 28. Demnach wurde mit Busse u.a. bestraft, wer der Bestimmung von Art. 5 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage zuwiderhandelte, ohne dass eine Ausnahme nach Art. 5 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage gegeben war (lit. e). Art. 5 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage sah u.a. in geschlossenen Bereichen von Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs eine Maskentragpflicht für Personen vor, die das 12. Altersjahr erreicht hatten, sofern diese kein ärztliches Attest vorlegen konnten.

 

4. Seitens der Verteidigung wird nicht behauptet, der Bundesrat habe keine Kompetenz zum Erlasse einer Maskentragpflicht gehabt. Eine solche Kompetenz ergibt sich sodann auch aus Art. 6 Abs. 2 EpG in der so genannten «besonderen Lage» als auch gemäss Art. 7 EpG in der so genannten «ausserordentlichen Lage», wie das Bundesgericht im Urteil 1C_143/2021 vom 28. Juli 2021 (E. 4; mit Verweis auf das Urteil 2C_793/2020 vom 8. Juli 2021) ausdrücklich festhielt. Die Verteidigung stellt sich jedoch auf den Standpunkt, Art. 6 Abs. 2 EpG, auf welchen die Covid-19-Verordnung besondere Lage abgestützt sei, ermächtige den Bund (nur) zu Massnahmen, wobei Strafbestimmungen keine Massnahmen seien.

 

5. Das Bundesgericht hat sich bereits im Urteil 1B_359/2021 vom 5. Oktober 2021 zur gesetzlichen Grundlage der Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung besondere Lage (in der damaligen Version noch in Art. 13 geregelt) geäussert. Dabei hielt es fest, dass die Strafbestimmung mit Blick auf das Erfordernis einer formell-gesetzlichen Grundlage nicht zu beanstanden sei. Denn das damit unter Strafe gestellte Verhalten sei (schon) nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG mit Busse bedroht, erfülle doch diesen gesetzlichen Übertretungstatbestand, wer sich Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG widersetze (E. 5.2; mit Verweis auf das Urteil 2C_8/2021 vom 25. Juni 2021 E. 3.8.3). Auch das Bundesstrafgericht hielt in seinem Urteil vom 10. Dezember 2021 fest, dass mit dem damals geltenden Art. 13 lit. f Covid-19 Verordnung besondere Lage ein nicht über die vom EpG vorgesehenen Straffolgen (Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG) hinausgehender Straftatbestand auf Bundesverordnungsebene vorliege und sich die fragliche Bestimmung daher auf eine genügende gesetzliche Grundlage stütze (SK.2021.29 E. 6.1.2).

 

6.1 Das Luzerner Kantonsgericht hatte in seinem Urteil vom 2. März 2022 eine Widerhandlung gegen die Maskentragpflicht zu beurteilen, welcher sich vor der Einführung der Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung besondere Lage zugetragen hatte. Dabei hatte es zu prüfen, ob der Begriff «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung» nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG lediglich Massnahmen kantonaler Behörden beinhaltet, da in Klammern lediglich auf Art. 40 EpG verwiesen wird, ob auch Massnahmen des Bundesrates (Art. 6 Abs. 2 lit. b i.Vm. Art. 40 Abs. 2 EpG) umfasst werden (Urteil 4M 21 70 vom 2. März 2022 [noch nicht rechtskräftig]). Nachdem die grammatikalische Auslegung zu keinem klaren Ergebnis führte (E. 4.4.1.1), erwog das Kantonsgericht im Rahmen der systematischen Auslegung, dass Art. 6 Abs. 2 EpG keine genaueren Angaben zum Begriff «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung» enthalte und dieser im EpG ausschliesslich in Art. 40 Abs. 2 lit. a – c erläutert werde. Daraus ergebe sich, dass dieselben Massnahmen gemeint seien. Daher könne davon ausgegangen werden, dass der Bundesrat im Falle einer besonderen Lage ebenfalls Massnahmen im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. a – c EpG anordnen dürfe. Dies deute darauf hin, dass auch Massnahmen des Bundesrates als Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG zu verstehen und Widerhandlungen dagegen nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG strafbar seien (E. 4.4.1.2). Im Rahmen der historischen Auslegung verwies das Kantonsgericht Luzern sodann auf die Botschaft zum EpG (Botschaft, BBI 2011 311, 364), welche zu Art. 6 Abs. 2 EpG folgendes festhält:

 

«Der Bundesrat kann die in Absatz 2 aufgeführten Massnahmen anordnen. Dazu gehören Massnahmen gegenüber einzelnen Personen und gegenüber der Bevölkerung (Bst. a und b). Dabei beschränkt sich der Handlungsspielraum des Bundesrates auf die in den Artikeln 31 - 38 sowie 40 E-EpG festgelegten Massnahmen. Der Bundesrat kann als weitere Massnahme Ärztinnen und Ärzte und weitere Gesundheitsfachpersonen (Pflegefachpersonen, Hebammen und medizinisches Hilfspersonal) verpflichten, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken (Bst. c). (…)»

 

6.2 Gestützt auf die Botschaft kam das Kantonsgericht Luzern zum Schluss, dass der Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG beabsichtigt habe, dem Bundesrat im Falle einer besonderen Lage die Kompetenz zur Anordnung von Massnahmen im Sinne von Art. 40 Abs. 2 EpG zu gewähren. Dementsprechend solle auch der Bundesrat besondere Vorschriften zum Betrieb von Schulen, anderen öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen (z.B. Hygienemassnahmen) im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG verfügen dürfen, worunter insbesondere auch eine Gesichtsmaskentragepflicht falle. Dadurch werde klar, dass im Falle einer besonderen Lage unter «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung» im Sinne von Art. 40 Abs. 2 EpG auch Massnahmen des Bundesrates zu verstehen seien. Dementsprechend könnten auch Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrates unter Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG subsumiert werden. Dass sich die Botschaft nicht detailliert zu Art. 83 EpG äussere, ändere daran nichts, da es sich dabei ohnehin um eine Blankettstrafnorm handle, aus welcher allein noch nicht hervorgehe, welches Verhalten strafbar sei.

 

6.3 Das Kantonsgericht zog sodann die Erläuterungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zur Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 19. Juni 2020 bei. Demnach sei angesichts der im Zentrum stehenden Eigenverantwortung und mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip vorerst auf eine spezifische Strafbestimmung bezüglich Verhaltensweise von Privatpersonen verzichtet worden. Gleichwohl sei der Straftatbestand auf Gesetzesstufe, konkret Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG, weiterhin als anwendbar erklärt worden (vgl. auch Erläuterung BAG, Version vom 30. Oktober 2020; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/massnahmen-des-bundes.html; Abschnitt Erläuterungen, Unterabschnitt bisherige Fassung der Erläuterungen [ZIP, 50 MB, 16.02.2022], Nr. 44a S. 20; zuletzt besucht am 20. Juni 2023). Darüber hinaus – so das Kantonsgericht Luzern weiter – vertrete das BAG zwar die Ansicht, dass gemäss Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 40 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 EpG auch seitens des Bundes im Rahmen der besonderen Lage angeordnete Massnahmen strafbewehrt seien. Gleichzeitig halte es aber auch fest, dass eine explizite Regelung der Straftatbestände auf Verordnungsebene aus Gründen der Rechtsklarheit wünschenswert sei und dem Legalitätsprinzip damit Rechnung getragen werden könne. Demnach sei zu erkennen, dass seitens des BAG nicht bezweifelt worden sei, dass Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 40 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 EpG eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Bestrafung darstelle. Die Einführung der Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung besondere Lage (damals Art. 13 lit. f) habe vielmehr der blossen Klarstellung gedient (E. 4.4.1.3; vgl. auch Erläuterungen BAG Nr. 57a, a.a.O., S. 30 f.).

 

6.4 Auch die teleologische Auslegung führte das Kantonsgericht Luzern zu keinem anderen Ergebnis. Demnach bezwecke die Strafbestimmung des EpG – wie auch das EpG an sich – den Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit und die Einhaltung der Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG. Da der Bundesrat im Gegensatz zu den kantonalen Behörden erst im Falle einer besonderen Lage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EpG, d.h. wenn die epidemiologische Situation besonders besorgniserregend sei und Vorkehrungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit umso notwendiger seien, entsprechend Massnahmen anordnen dürfe, erweise sich die Missachtung solcher Massnahmen als umso gravierender und folglich strafwürdiger. Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrates gegenüber der Bevölkerung seien daher erst recht strafwürdig, wenn dies bereits für das Widersetzen gegen Massnahmen der zuständigen kantonalen Behörden gelte (E. 4.4.1.4).

 

7. Wenn die Verteidigung somit vorbringt, Art. 6 Abs. 2 EpG ermächtige den Bundesrat nur zum Erlass von Massnahmen, nicht zu Strafen, so ist dem entgegenzuhalten, dass Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrates gegenüber der Bevölkerung bereits vor der Einführung der Strafbestimmung in der Covid-19 Verordnung besondere Lage nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG strafbar waren. Wie das Luzerner Kantonsgericht zutreffend darlegt, ergeben die systematische, historische und teleologische Auslegung von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG, dass sowohl Massnahmen kantonaler Behörden (Art. 40 Abs. 2 EpG) als auch – im Falle einer besonderen Lage – solche des Bundesrates (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 40 Abs. 2 EpG) unter den Begriff «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung» in Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG fallen. Gemäss Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG kann es sich bei einer solchen Massnahme auch um eine Gesichtsmaskentragpflicht handeln. Die Einführung des Übertretungstatbestandes in der Covid-19 Verordnung besondere Lage diente lediglich der Klarstellung und sollte dem Grundsatz Rechnung tragen, wonach Straftatbestände gemäss Art. 1 StGB klar auszuformulieren sind (Erläuterungen BAG Nr. 57a, a.a.O., S. 30). Entsprechend kam auch das Bundesgericht in der zitierten Rechtsprechung zum Schluss, die Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung besondere Lage stütze sich auf eine genügende gesetzliche Grundlage. Von dieser Rechtsprechung ist gestützt auf die obigen Erwägungen nicht abzuweichen. Die Rüge erweist sich demnach als unbegründet.

 

8. In Bezug auf die konkrete rechtliche Würdigung kann sodann auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz auf Urteilsseite 5 f. verwiesen werden. Der Schuldspruch wegen unbefugten Nichttragens einer Gesichtsmaske in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs, begangen am 9. September 2021, ist somit zu bestätigen.

 

VI.       Strafzumessung

 

Die Beschuldigte liess gegen die von der ersten Instanz vorgenommene Strafzumessung keine Rügen erheben. Die Strafzumessung ist auch nicht zu beanstanden und kann somit bestätigt werden. Die Beschuldigte wird zu einer Busse von CHF 100.00, ersatzweise zu einem Tag Freiheitsstrafe, verurteilt.

 

VII.      Kosten

 

Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschuldigte die Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens zu tragen und ihr Entschädigungsbegehren ist abzuweisen. Die Urteilsgebühr für das Berufungsverfahren wird auf CHF 1'200.00 festgesetzt. Zuzüglich der Auslagen belaufen sich die Kosten des Berufungsverfahrens auf total CHF 1'240.00.

Demnach wird in Anwendung von Art. 28 lit. e i.V.m. Art. 5 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 26.06.2021), Art. 47, Art. 106 StGB, Art. 379 ff., Art. 398 ff., Art. 406 Abs. 1 lit. c, Art. 416 ff. erkannt:

1.    A.___ hat sich des unbefugten Nichttragens einer Gesichtsmaske in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs, begangen am 9. September 2021, schuldig gemacht.

2.    A.___ wird zu einer Busse von CHF 100.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 1 Tag, verurteilt.

3.    Der Antrag von A.___, verteidigt durch Rechtsanwalt Oswald Rohner, auf Ausrichtung einer Parteientschädigung für das Berufungsverfahren wird abgewiesen.

4.    A.___ hat die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 600.00, total CHF 631.80, zu bezahlen.

5.    A.___ hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Staatsgebühr von CHF 1'200.00, total CHF 1'240.00, zu bezahlen.

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

von Felten                                                                         Graf



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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