Zusammenfassung des Urteils STBER.2022.9: Verwaltungsgericht
Der Beschuldigte wurde beschuldigt, die signalisierte Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 50 km/h um 58 km/h überschritten zu haben. Er wurde verurteilt, da er in fahrunfähigem Zustand fuhr und die Verkehrsregeln grob verletzte. Im Berufungsverfahren wurde die Signalisation in Frage gestellt, da sie nicht den rechtlichen Anforderungen entsprach. Es wurde diskutiert, ob Art. 90 Abs. 4 eine Legaldefinition des Verhaltens bei besonders krasser Missachtung der Höchstgeschwindigkeit ist. Das Bundesgericht betonte die Notwendigkeit, den subjektiven Tatbestand zu prüfen, selbst bei Überschreitung der Schwellenwerte von Art. 90 Abs. 4. Letztendlich wurde festgestellt, dass der Beschuldigte aufgrund eines Sachverhaltsirrtums fahrlässig handelte und nicht unter die Raserbestimmung fiel. Das Obergericht entschied, dass er gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG schuldig sei.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | STBER.2022.9 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Datum: | 27.02.2023 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Schlagwörter: | Geschwindigkeit; Tatbestand; Signal; Beschuldigte; Höchstgeschwindigkeit; Bundesgericht; Signalisation; Umstände; Verkehr; Missachtung; Tatbestandes; Fälle; Recht; Geschwindigkeitsüberschreitung; Sinne; Entscheid; Konstellation; Konstellationen; Beschuldigten; Baustelle; Signaltafel |
Rechtsnorm: | Art. 13 StGB ;Art. 90 SVG ; |
Referenz BGE: | 142 IV 137; |
Kommentar: | - |
Geschäftsnummer: | STBER.2022.9 |
Instanz: | Strafkammer |
Entscheiddatum: | 27.02.2023 |
FindInfo-Nummer: | O_ST.2023.58 |
Titel: | Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz |
Resümee: | Art. 90 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 90 Abs. 4 SVG («Rasertatbestand»): Art. 90 Abs. 4 SVG stellt lediglich eine Legaldefinition des in Art. 90 Abs. 3 SVG erwähnten Merkmals der «besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit» dar. Demzufolge ist es angebracht, in besonderen Konstellationen der Überschreitung der Tempo-Schwellenwerte nach Art. 90 Abs. 4 SVG sowohl die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes als auch das Vorliegen des objektiven Tatbestandsmerkmals des «hohen Risikos eines Unfalles mit Schwerverletzten Todesopfern» einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Damit wird dem Willen des Gesetzgebers nachgelebt, den Rasertatbestand auf besonders krasse Fälle zu beschränken. Im vorliegenden Fall wurde der Rasertatbestand zufolge mangelhafter und für den Beschuldigten überraschender Baustellensignalisation verneint. |
SOG 2023 Nr. 4 Art. 90 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 90 Abs. 4 SVG «Rasertatbestand»: Art. 90 Abs. 4 SVG stellt lediglich eine Legaldefinition des in Art. 90 Abs. 3 SVG erwähnten Merkmals der «besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit» dar. Demzufolge ist es angebracht, in besonderen Konstellationen der Überschreitung der Tempo-Schwellenwerte nach Art. 90 Abs. 4 SVG sowohl die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes als auch das Vorliegen des objektiven Tatbestandsmerkmals des «hohen Risikos eines Unfalles mit Schwerverletzten Todes-
Sachverhalt:
Im Oktober 2019 wurde abends um 21:04 Uhr im Bereich einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 50 km/h ein Personenwagen mit einer Geschwindigkeit von 114 km/h erfasst. Nach Vornahme des Toleranzabzugs von 6 km/h wurde damit eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 58 km/h festgestellt. Der Lenker wies im Tatzeitpunkt eine minimale Blutkonzentration von 0.54 ‰ auf. Die Amtsgerichtsstatthalterin von Solothurn-Lebern sprach den Beschuldigten in Anwendung von Art. 90 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 90 Abs. 4 lit. b SVG und Art. 91 Abs. 1 lit. a SVG der qualifiziert groben Verletzung der Verkehrsregeln durch Überschreiten der signalisierten Höchstgeschwindigkeit ausserorts sowie des Fahrens in fahrunfähigem Zustand schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von CHF 600.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von sechs Tagen. Im Rahmen des Berufungsverfahrens wurde in Frage gestellt, ob die Signalisation – da den geltenden rechtlichen Anforderungen nicht genügend – überhaupt verbindlich gewesen sei. Der Lenker sei von einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausgegangen und sei deshalb in Anwendung der Grundsätze über den Sachverhaltsirrtum lediglich wegen einfacher Verkehrsregelverletzung i.S.v. Art. 90 Abs. 1 SVG zu verurteilen.
Aus den Erwägungen:
E. IV./1.3. Was das Verhältnis von Art. 90 Abs. 4 zu Art. 90 Abs. 3 SVG anbelangt, entwickelte sich in der Lehre eine kontroverse Diskussion. Der Wortlaut von Art. 90 Abs. 4 SVG (Abs. 3 ist in jedem Fall erfüllt, wenn…) lässt verschiedene Interpretationen zu. Denkbar wäre zum einen, dass es sich bei Abs. 4 um eine vollständige Fiktion in dem Sinne handelt, dass sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand des Abs. 3 unwiderlegbar als komplett erfüllt gilt. Andererseits wäre grundsätzlich ebenso denkbar, dass es sich bei Abs. 4 lediglich um eine Legaldefinition des Merkmals der «besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit» handelt, was dann zur Folge hätte, dass nicht nur der subjektive Tatbestand, sondern auch das Vorliegen des objektiven Merkmals des «hohen Risikos eines Unfalles mit Schwerverletzten Todesopfern» zu prüfen wäre (Wolfgang Wohlers/ Alexander Schorro: «Die Neuausrichtung der Interpretation des Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG», in forumpoenale 2/2017, S. 114).
Während das Bundesgericht zuerst im Rahmen der Prüfung von administrativrechtlichen Massnahmen und der Beschlagnahmung von Motorfahrzeugen noch von einer unwiderlegbaren Vermutung des subjektiven Tatbestandes ausging, unterzog es diese Rechtsprechung im Entscheid 142 IV 137 vom 1. Juni 2016 (6B_165/2015, Praxis 5/2017, Nr. 42) einer eingehenden Überprüfung und kam dabei zu folgenden Schlüssen:
Der Wortlaut von Abs. 4 sei nicht gänzlich klar und unterscheide sich in den verschiedenen Sprachen. Während die deutsche Fassung von «erfüllt» spreche, würden die französische und italienische Fassung die Begriffe «applicable» resp. «applicabile» verwenden. Den Materialien sei zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Rasernorm angesichts der strengen strafrechtlichen Folgen restriktiv auslegen wollte. Die damalige zuständige Bundesrätin äusserte sich dazu in den Räten dahingehend, man müsse sich angesichts der massiven Folgen schon auf die krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit beschränken. Die historische Auslegung führe aber auch zum Schluss, dass der Richter einen Teil seines Ermessens behalten solle (wenn er auch in objektiver Hinsicht an die Definition des Rasers gebunden sei) und sich zu vergewissern habe, dass der Täter vorsätzlich zumindest mit Eventualvorsatz gehandelt habe, was dem Wortlaut der Raserinitiative entspreche, welcher ursprünglich nur eine Modifikation von Art. 90 SVG darstellte. Vom systematischen Gesichtspunkt aus sei festzustellen, dass Art. 90 Abs. 3 SVG die Strafbarkeit ausdrücklich auf Vorsatz beschränke. Abs. 4 enthalte weder einen formulierten gesetzlichen Tatbestand noch eine Sanktion und hange deshalb direkt von Abs. 3 ab. In dem Masse, in welchem Abs. 4 keine autonome Anwendung finden könne, dränge sich eine ganzheitliche Lesart von Art. 90 Abs. 3 und 4 auf. In diesem Sinne qualifiziere ein Teil der Lehre Art. 90 Abs. 3 als Grundsatznorm, welche sowohl eine Generalklausel als auch die subjektiven Tatbestandselemente enthalte, und sehe Abs. 4 als untergeordnete Bestimmung, welche einen Anwendungsfall von Abs. 3 konkretisiere. Diese Verflechtung der beiden Absätze stehe für eine Prüfung der subjektiven Tatbestandselemente jedes erwähnten beispielhaften Anwendungsfalles von Abs. 3 (insbesondere auch die besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nach Abs. 4) ein. Unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz der Gesetzgebung habe dies zur Folge, dass der einfache Verweis von Abs. 4 auf Abs. 3 es keineswegs erlaube, die Frage der Erfüllung der subjektiven Aspekte der Widerhandlung auszublenden, wenn es um besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gehe. Art. 90 Abs. 4b SVG müsse nach den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts ausgelegt werden. Das Bundesgericht verweist sodann auf verschiedene in der Literatur genannte Konstellationen, in denen es an der Erfüllung des subjektiven Tatbestandes fehlen könne: Technischer Defekt des Fahrzeuges (Fehlfunktion der Bremsen des Tempomats); äusserliche Drucksituation (Geiselnahme Drohung); Notfallfahrt ins Spital. Es werde in der Lehre auch auf Situationen Bezug genommen, in denen eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf einem bestimmten Strassenabschnitt unwahrscheinlich nur schwer erkennbar sei. Im Wesentlichen anerkenne die Doktrin eine Beschränkung des richterlichen Ermessens hinsichtlich der Definition des Rasers und der Strafe, allerdings unter Betonung der Notwendigkeit, in gewissen Konstellationen die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes zu prüfen, auch wenn die erwähnten Beispiele nicht alle subjektive Aspekte beleuchten würden, aber doch auch Rechtfertigungsgründe beträfen. Letzten Endes erlaube keine Auslegungsmethode bezüglich Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 SVG, eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung zu Gunsten der Erfüllung des subjektiven Tatbestandes von Abs. 3 im Falle einer in Abs. 4 lit. a - d vorgesehenen Geschwindigkeitsüberschreitungen anzunehmen. Der klare und ausdrückliche Wille des Gesetzgebers ziele darauf, die krassen Überschreitungen der Geschwindigkeitslimiten im Sinne von Art. 90 Abs. 4 SVG streng zu bestrafen und den Ermessensspielraum des Richters bezüglich der Definition des Rasers und der Strafe einzuschränken, unter Verdeutlichung, dass der Vorsatz gegeben sein müsse. Die systematische Auslegung auferlege dem Richter die Prüfung, ob die subjektiven Aspekte der Widerhandlung erfüllt seien. Deshalb sei es angebracht, festzustellen, dass derjenige, welcher eine von Art. 90 Abs. 4 SVG erfasste Geschwindigkeitsüberschreitung begehe, objektiv den Tatbestand der qualifizierten groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG erfülle und im Grundsatz die subjektiven Tatbestandselemente der Widerhandlung verwirkliche. Tatsächlich berge das Erreichen einer der in Art. 90 Abs. 4 SVG vorgesehenen Schwellenwerte im Allgemeinen die Unmöglichkeit in sich, das grosse Risiko eines Unfalls im Falle eines Hindernisses eines Verlusts der Fahrzeugbeherrschung zu vermeiden. Jedoch könne unter Berücksichtigung der verwendeten Auslegungsmethoden (historisch, systematisch und teleologisch) nicht ausgeschlossen werden, dass gewisse Verhaltensweisen geeignet seien, die objektiven Tatbestandselemente der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln zu erfüllen, ohne indessen einen Vorsatz zu beinhalten. Der Richter müsse deshalb einen gewissen, sehr beschränkten, Spielraum behalten, um in besonderen Konstellationen die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes bei der besonders krassen Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne von Art. 90 Abs. 4 SVG auszuschliessen. Im konkreten Fall lägen jedoch keine Umstände vor, die es erlaubt hätten, von einem Wegfallen von Vorsatz auszugehen. Die Vorinstanz habe insbesondere festgehalten, der Beschuldigte habe die Geschwindigkeitsbeschränkung weit überschritten, ohne dass sich ein Hinweis dahingehend ergeben hätte, die Signalisation sei nicht ausreichend klar gewesen, andere Umstände hätten einen Irrtum des Lenkers bewirken können. In welchen besonderen Konstellationen der subjektive Tatbestand verneint werden kann und wie der Spielraum des Richters konkret zu begrenzen ist, sagt das Bundesgericht in diesem Grundsatzentscheid nicht. Es belässt es vielmehr mit einem generellen Verweis auf Beispiele in der Lehre.
Im Entscheid 6B_700/2015 vom 14. September 2016 bestätigte das Bundesgericht diese Rechtsprechung. Dem Entscheid zu Grunde lag folgender Sachverhalt: Der Beschuldigte fuhr mit seinem Auto auf der Autobahn A1 in Richtung der französischen Grenze. In der Gemeinde Bardonnex, bei der Annäherung an den Zoll, begrenzten Signale die zulässige Geschwindigkeit auf 40 km/h. Der Beschuldigte fuhr mit 99 km/h und wies nach Abzug der Marge von 3 km/h eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 56 km/h auf. Das Bundesgericht befand, die Vorinstanz sei von einer unwiderlegbaren Vermutung des subjektiven Tatbestandes ausgegangen, was der neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung widerspreche. Die Vorinstanz habe zu Unrecht nicht anhand der konkreten Umstände des Falles geprüft, ob der Beschuldigte tatsächlich vorsätzlich gehandelt habe und ob er ein hohes Unfallrisiko in Kauf genommen habe, das zu schweren Verletzungen zum Tod hätte führen können. Es sei ungewöhnlich, dass auf einer perfekt ausgebauten Autobahnfahrbahn eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 40 km/h gelte. Zudem sei die konkrete Geschwindigkeitsbegrenzung zufolge Nichtbeachtung der Art. 107 und 108 SSV nicht rechtmässig erfolgt. Eine Nichtigkeit liege jedoch nicht vor. Diese besonderen Umstände würden eine sorgfältige Prüfung des subjektiven Tatbestandes erfordern.
Im Entscheid 143 IV 508 vom 13. November 2017 ging das Bundesgericht gar noch einen Schritt weiter, indem es bei Überschreitung der Schwellenwerte nach Art. 90 Abs. 4 SVG gar das objektive Tatbestandsmerkmal der Schaffung eines hohen Risikos eines Unfalles mit Schwerverletzten Todesopfern in bestimmten Konstellationen als nicht zwingend gegeben erachtete. Es handle sich bei diesem objektiven Tatbestandskriterium lediglich um eine in aussergewöhnlichen Fällen widerlegbare Vermutung. Es nahm Bezug auf seine Rechtsprechung zu Art. 90 Abs. 2 SVG, wonach bei Erreichen der vom Bundesgericht festgelegten Geschwindigkeits-Schwellenwerte zur groben Verletzung der Verkehrsregeln unter aussergewöhnlichen Umständen dennoch eine grobe Verletzung zu verneinen sei. So habe es unter dem Gesichtspunkt der Skrupellosigkeit festgestellt, dass die grobe Verletzung nicht gegeben sei, wenn die Geschwindigkeit auf einem Autobahnabschnitt aus ökologischen Gründen, die mit einer übermässigen Feinstaubbelastung der Luft zusammenhingen, vorübergehend auf 80 km/h begrenzt wurde (6B_109/2008 vom 13.06.2008 E. 3.2), wenn die verletzte Geschwindigkeitsbegrenzung insbesondere unter Verkehrsberuhigungsmassnahmen fiel (6B_622/2009 vom 23.10.2009 E. 3.5). Diese Rechtsprechung im Zusammenhang mit Art. 90 Abs. 2 SVG bestätige, dass der Richter auch dann, wenn die festgelegten Schwellenwerte für Geschwindigkeitsüberschreitungen erreicht wurden, nicht auf die Prüfung aussergewöhnlicher Umstände verzichten könne. Unter Bezugnahme auf einen Teil der Lehre befand das Bundesgericht sodann, dass, da ein Fahrzeuglenker der eine Geschwindigkeitsüberschreitung unterhalb der Schwellenwerte von Art. 90 Abs. 4 SVG begangen habe, den Tatbestand von Art. 90 Abs. 3 SVG erfüllen könne, es sinnvoll sei, dass umgekehrt besondere Umstände die Annahme rechtfertigten, dass der Tatbestand des «Raserdelikts» nicht erfüllt sei, obwohl die Richtwerte von Art. 90 Abs. 4 SVG erreicht wurden. Es könne deshalb unter aussergewöhnlichen Umständen – insbesondere wenn die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht die Verkehrssicherheit zum Ziel hatte – sein, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne von Art. 90 Abs. 4 SVG nicht zu einer grossen Unfallgefahr geführt habe, die zu schweren Verletzungen zum Tod führen könne. Art. 90 Abs. 4 SVG schaffe deshalb eine widerlegbare Vermutung für die Erfüllung des objektiven Tatbestandselementes der qualifizierten Gefahr im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG. Im konkreten Fall einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 58 km/h bei einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h lägen jedoch keine besonderen Umstände vor. Insbesondere gehe aus den Akten nicht hervor, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h nicht die Sicherheit von Personen bezweckt hätte dass sie nur vorübergehend gewesen und nicht mehr gerechtfertigt gewesen wäre. Das blosse Geltendmachen von idealen Verkehrsbedingungen, sowohl, was das Wetter als auch den Verkehr betreffe und der Umstand, dass der fragliche Strassenabschnitt sehr breit gewesen sei und es weder Kreuzungen noch Fussgängerstreifen gegeben habe, reiche zur Annahme aussergewöhnlicher Umstände nicht aus.
1.4. Wohlers/Schorro (in forumpoenale 2/2017, S. 113 ff.) halten zu Recht fest, dass die Argumente, die das Bundesgericht für die Ablehnung einer vollständige Fiktion ins Feld führe, konsequent zu Ende gedacht auch dahin führen könnten, Abs. 4 in Anlehnung an die französische und italienische Fassung der Norm als reine Legaldefinition für das Vorliegen des Merkmals der besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu interpretieren. Damit wäre auch sichergestellt, dass nicht jeder Tempoexzess unter die Rasernorm falle, sondern nur die Fälle, in denen der «Raser» durch seine Tat eine erhebliche Gefahr geschaffen habe. Dadurch würde man sogar dem gerecht werden, was im Gesetzgebungsverfahren immer wieder angetönt worden sei, dass man sich nämlich auf die krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit beschränken müsse, da die vorgesehenen Rechtsfolgen der Norm massiv seien. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass der Entscheid 142 IV 137 ff. ein wichtiger, erster Schritt sei, im Rahmen der Bemühungen, der missglückten Norm von Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 SVG klare Konturen zu verleihen. Eine konsequente Weiterführung der diesem Entscheid zugrundeliegenden Argumentation des Bundesgerichts in Richtung eines Verständnisses von Abs. 4 als einer Legaldefinition des Merkmals der besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von Art. 90 Abs. 3 SVG erscheine aus mehreren Gründen wünschenswert. Eine solche Auslegung hätte den Vorteil einer Vereinheitlichung der Struktur von Abs. 3 hinsichtlich aller Tatbestandsvarianten, sie würde sicherstellen, dass Abs. 3 wirklich nur auf die «krassen» Fälle Anwendung fände und sie würde bei alledem wohl auch dem Verständnis der Initianten der Volksinitiative «Schutz vor Rasern» entsprechen, die zur Kodifizierung von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG überhaupt erst Anstoss gegeben hätten (S. 117 f.).
1.5. Weissenberger führt in N. 165 und 168 zu Art. 90 SVG aus, ohne Vorsatz könne bspw. der Lenker handeln, wenn ein Geschwindigkeitssignal überraschend schwer erkennbar aufgestellt war, so dass der Einwand des Beschuldigten, dieses aus mangelnder Vorsicht übersehen und eine höhere zulässige Höchstgeschwindigkeit angenommen zu haben, nicht widerlegt werden könne. Die Strafbarkeit nach Art. 90 Abs. 3 SVG könne schliesslich bei einem Sachverhaltsirrtum entfallen. Diesfalls könne der Beschuldigte jedoch wegen fahrlässiger Begehung des Art. 90 Abs. 1 2 SVG strafbar sein. Die Berufung auf einen Sachverhaltsirrtum müsse freilich glaubhaft sein, ansonsten die Gerichte sie willkürfrei als blosse Schutzbehauptung abtun könnten. Wer z.B. behaupte, ein ordnungsgemäss aufgestelltes und leicht sichtbares Geschwindigkeitssignal nicht gesehen zu haben, dürfte es sehr schwer haben, das Gericht von einer bloss fahrlässigen Tatbegehung zu überzeugen. Anders dürfte es sich aber insbesondere verhalten, wenn ein Geschwindigkeitssignal erst vor kurzer Zeit aufgestellt worden war vorschriftswidrig und überraschend nur auf der linken statt (auch) auf der rechten Seite aufgestellt war (Art. 103 SSV). In diesem und ähnlichen Fällen könne das Vorbringen des Lenkers, das Signal aus mangelnder Aufmerksamkeit, aufgrund des unerwarteten Standortes wegen verstellter Sicht auf dieses (z.B. durch Pflanzenwuchs entgegenkommender Fahrzeuge) nicht erblickt zu haben, nur schwer widerlegt werden. Als Beispiele werden erwähnt: Die Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h wird aus Gründen der Erneuerung der Markierungen kurzfristig mit einem entsprechenden kleinen mobilen Signal auf 80 km/h gesenkt, was der ortskundige Lenker aus lauter Gewohnheit übersieht; der Lenker übersieht das vorschriftswidrig (Art. 103 SSV) nur am linken Strassenrand angebrachte Signal «50 Generell» auf einer Strecke, die keinen ersichtlichen Innerortscharakter aufweist. Er kann im letztgenannten Fall z.B. vorbringen, dass das Signal durch ein entgegenkommendes Fahrzeug verdeckt gewesen sei.
1.6. Fiolka (in BSK-Fiolka Art. 90, N. 109) vertritt ebenfalls die Auffassung, auch in Fällen, in denen die Grenzwerte von Art. 90 Abs. 4 SVG überschritten würden, müsse geprüft werden, ob eine «krasse» Verkehrsregelverletzung i.S. von Abs. 3 vorliege, also ob der Täter die objektiven und subjektiven Voraussetzungen für die Anwendung dieses qualifizierten Tatbestandes auch in begrifflicher Hinsicht erfülle. Abs. 4 sei mithin eine Konkretisierung des Begriffs in Abs. 3. Die Fälle von Abs. 4 seien spezifische, exemplarische Fälle von Abs. 3. Der Bezug von Abs. 4 zu Abs. 3 wäre nämlich völlig entbehrlich, wenn die Überschreitung der aufgeführten Grenzwerte an sich und ohne Weiteres bereits zur Anwendung der qualifizierten Strafdrohung führen sollte – dann wäre ein direkter Verweis auf die Strafdrohung zielführender gewesen. Für diese Konzeption spreche auch, dass sie strukturell den in der Rechtsprechung entwickelten Geschwindigkeitsschwellen gemäss Abs. 2 nachgebildet sei.
1.7. In der neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung nimmt das Bundesgericht immer wieder auf die in BGE 142 IV 137 vorgenommene Praxisänderung Bezug, erwähnt jedoch als Ausnahmefälle, bei denen der subjektive Tatbestand verneint werden könne, nur noch die Konstellationen des technischen Fahrzeugdefekts, der äusserlichen Drucksituation der Notfallfahrt (Urteil 6B_1188/2021 vom 14.09.2022; Urteil 6B_931/2019 vom 17.01.2020; Urteil 6B_636/2019 vom 12.08.2019). Warum es die in BGE 142 IV 137 zusätzlich als in der Lehre genannte Konstellation der überraschenden und nur schwer erkennbaren Signalisation nicht mehr aufführt, ist diesen Entscheiden nicht zu entnehmen. Ebensowenig konkretisiert das Bundesgericht in diesen Entscheiden den dem Richter verbleibenden Spielraum legt dar, in welchen konkreten Situationen der subjektive Tatbestand verneint werden kann (abgesehen vom jeweils textbausteinartig anmutenden Wiederholen der in der Lehre genannten Beispiele). (…)
3. Subsumtion
Vorliegend ist erstellt, dass der Beschuldigte die [zwar nicht rechtmässig aber dennoch] verbindlich signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nach Abzug der Toleranz um 58 km/h überschritten hat. Weiter ist in objektiver Hinsicht erstellt, dass an besagter Stelle, wo die Radarmessung stattfand, normalerweise eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h galt. Ebenso hat das Beweisergebnis aufgezeigt, dass zur Tatzeit zwar eine Baustelle signalisiert war, die entsprechende Signaltafel sich jedoch auf dem durch einen Grünstreifen von der Fahrbahn abgetrennten Radstreifen befand. Aufgrund der Aussage des Beschuldigten und mehrerer Zeugen ist weiter erstellt, dass zwar vor dem 25. Oktober 2019 auf dem erwähnten abgetrennten Radstreifen einmal Bauarbeiten stattfanden, die Fahrbahn für den Automobilverkehr jedoch in keiner Art und Weise davon tangiert sonst wie irgendwie verändert war. Sowohl der Beschuldigte wie auch der Zeuge E.___ erwähnten eine Abschrankung, welche im Zeitpunkt der Bauarbeiten den Radstreifen von der Fahrbahn für den Automobilverkehr (zusätzlich zum Grünstreifen) abtrennte. Am 25. Oktober 2019 befanden sich im Bereich der signalisierten Baustelle weder Bauarbeiter noch irgendwelche Baumaschinen. Die Strecke weist einen typischen Ausserortscharakter auf. Lediglich in einiger Entfernung nach dem Radarmessgerät (in Fahrtrichtung Flumenthal) wurde im Normalbetrieb die Geschwindigkeit zufolge der Hinterriedholzkreuzung von 80 km/h auf für eine kurze Strecke auf 60 km/h reduziert. Auch während der Bauphase wurde die sich 50 Meter nach der provisorischen Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h befindende Signalisation (Ende Überholverbot) nie aufgehoben. Mit anderen Worten war während der ganzen Bauphase im «Baustellenbereich» das Überholen gestattet. Aus all dem folgt, dass die vom Beschuldigten am 25. Oktober 2019 gefahrene Geschwindigkeit von 108 km/h die Verkehrssicherheit nicht wesentlich stärker tangierte als dies im Normalfall bei geltender Geschwindigkeitslimite von 80 km/h der Fall gewesen wäre.
Der Beschuldigte gab in allen Einvernahmen übereinstimmend zu Protokoll, von einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausgegangen zu sein. Er habe zwar die Baustellensignalisation (93 Meter vor der provisorischen Signaltafel 50 km/h), nicht jedoch die Signaltafel 50 km/h wahrgenommen. Er sei davon ausgegangen, die Baustellensignalisation beziehe sich nur auf den abgetrennten Radweg. Auch lediglich dort habe er vor dem 25. Oktober 2019 einmal Bauarbeiten wahrgenommen. Früher sei er diese Strecke regelmässig gefahren. Seit einiger Zeit fahre er nur noch dort durch, wenn er nach Solothurn müsse, was im Monat vor dem 25. Oktober 2019 (also zu Beginn der Signalisation auf 50 km/h) vielleicht einige wenige Male der Fall gewesen sei. Die Signalisation 50 km/h sei ihm bis zum 26. Oktober 2019, als er nach der Polizeikontrolle einen «Augenschein» vorgenommen habe, nie aufgefallen. Er habe keinerlei Veranlassung gehabt, von einer veränderten Signalisation auszugehen. Die Fahrbahn sei so wie immer befahrbar gewesen, ausser dass man in Fahrtrichtung Flumenthal bei der Hinterriedholzkreuzung nicht mehr habe rechts abbiegen können. Aufgrund dieser übereinstimmenden Schilderungen des Beschuldigten erscheint es glaubhaft, dass er die vorübergehende (erst seit Ende September 2019 bestehende) Signalisation von 50 km/h nicht wahrgenommen hat. Dies zumal sich die Signaltafel auf der rechten Seite mehr als vier Meter von der Fahrbahn entfernt und somit rund doppelt so weit als im Normalfall zulässig und auch weiter als die ausnahmsweise zulässigen 3.5 Meter (Art. 103 Abs. 4 SSV) befand. Zwar befand sich auch auf der linken Seite eine Signaltafel, was aber an der Regelwidrigkeit der Signalisation insgesamt nichts ändert. Wohl könnte dem Beschuldigten entgegengehalten werden, dass beide Signaltafeln (auf der rechten und linken Seite) in der Nacht das Scheinwerferlicht der ankommenden Fahrzeuge reflektierten. Dabei darf jedoch die Macht der Gewohnheit nicht ausser Acht gelassen werden. Der Beschuldigte war sich diese Strecke mit 80 km/h gewohnt und die üblicherweise vorhandene Signaltafel 60 km/h befand sich deutlich weiter in Richtung Flumenthal. Am 25. Oktober 2019 befanden sich in der Nähe der provisorischen Signaltafel 50 km/h zudem noch weitere Signale (Baustellensignal, Signal Überholverbot aufgehoben, Linksabbiegeverbot), was der Übersichtlichkeit der Signalisation nicht zuträglich war.
Berücksichtigt man all diese Umstände, muss im konkreten Fall sowohl das objektive Tatbestandselement des hohen Risikos eines Unfalles mit Schwerverletzten Todesopfern (im Sinne einer naheliegenden, die im Bereich von Art. 90 Abs. 2 SVG geforderte ernstliche Gefahr übersteigenden, abstrakten Gefahr) als auch der subjektive Tatbestand hinsichtlich der besonders krassen Missachtung der Höchstgeschwindigkeit und der Schaffung des hohen Unfallrisikos mit Schwerverletzten Todesopfern verneint werden. Der Beschuldigte fällt eindeutig nicht ins Visier der «Raserbestimmung», die der Gesetzgeber angesichts der «drakonischen Straffolge» auf besonders krasse Fälle beschränken wollte.
Der Beschuldigte befand sich in einem Sachverhaltsirrtum, da er irrtümlicherweise von einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausging. Diesen Irrtum hätte er aber bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können (Art. 13 Abs. 2 StGB). Es liegt daher lediglich eine fahrlässige Tatbegehung vor, weshalb die Bestimmung von Art. 90 Abs. 3 SVG auch in subjektiver Hinsicht nicht anwendbar ist. Da der Beschuldigte aber die geltende Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h fahrlässig um 58 km/h überschritten hat und die von ihm an den Tag gelegte Pflichtwidrigkeit als Rücksichts-losigkeit im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG zu werten ist, hat ein Schuldspruch wegen Art. 90 Abs. 2 SVG zu erfolgen. Im Anwendungsbereich von Art. 90 Abs. 2 SVG sind höhere Anforderungen an den «Ausnahmefall» zu stellen, der eine Abweichung vom Schwellenwert (bei dem Art. 90 Abs. 2 SVG grundsätzlich zu bejahen ist) erlauben würde. Ein solcher Ausnahmefall liegt in casu nicht vor. Die Signalisation war zwar überraschend und nicht ohne weiteres zu erkennen. Bei der im Rahmen von Art. 90 Abs. 2 verlangten Sorgfalt, hätte der Beschuldigte die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h jedoch erkennen können. Lediglich der Vollständigkeit halber sei angefügt, dass dieses Resultat auch der Neuformulierung des Raserartikels entspricht.
Obergericht Strafkammer, Urteil vom 27. Februar 2023, STBER.2022.9
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