Kanton: | SO |
Fallnummer: | STBER.2022.50 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Datum: | 24.11.2022 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Zusammenfassung: | Der Beschuldigte hat nach dem erstinstanzlichen Urteil Berufung eingelegt, ist jedoch während des Berufungsverfahrens bei einem Gefangenentransport geflohen. Da er nicht vorgeladen werden konnte, wurde die Berufung als zurückgezogen betrachtet. Das Berufungsgericht bestätigte, dass die Berufung als zurückgezogen gilt, wenn der Berufungskläger nicht vorgeladen werden kann. Das Bundesgericht kam zu demselben Schluss und hielt fest, dass die Rückzugsfiktion sofort eintritt, wenn die Partei nicht vorgeladen werden kann. Der Beschuldigte hat durch seine Flucht bewirkt, dass er nicht vorgeladen werden kann, weshalb die Berufung als zurückgezogen gilt. |
Schlagwörter: | Berufung; Vorladung; Beschuldigte; Berufungsverfahren; Beschuldigten; Berufungskläger; Flucht; Rechtsmittel; Entscheid; Urteil; Obergericht; Amtsblatt; Verteidiger; Zustellung; Verfahren; Aufenthalt; Kammer; Vertreter; Parteien; Zustand; Berufungsgericht; Publikation; Obergerichts; Spezialbestimmung; Rückzug; Hauptverhandlung; Bundesgericht |
Rechtsnorm: | Art. 386 StPO ; Art. 407 StPO ; Art. 87 StPO ; Art. 88 StPO ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | Daniel Jositsch, Niklaus Schmid, Schweizer, Praxis zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Art. 407 OR StPO SR, 2005 |
Geschäftsnummer: | STBER.2022.50 |
Instanz: | Strafkammer |
Entscheiddatum: | 24.11.2022 |
FindInfo-Nummer: | O_ST.2023.9 |
Titel: | versuchte schwere Körperverletzung, einfache Körperverletzung, mehrfache Drohung, Angriff, Nötigung, Hinderung einer Amtshandlung, Sachbeschädigung, mehrfaches Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfache Übertretung nach Art. 19a des Betäubungsmittelgesetzes, mehrfache Missachtung der Ein- |
Resümee: | Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO: Eine Berufung gilt als zurückgezogen, wenn der Berufungskläger nicht vorgeladen werden kann. Weder ist eine vorgängige Vorladung durch Veröffentlichung im Amtsblatt im Berufungsverfahren notwendig, noch muss zwingend ein HV-Termin mit dem Vertreter des Beschuldigten abgemacht sein. Ist der Fall verhandlungsreif und sollen die Parteien vorgeladen werden, gilt die Berufung als zurückgezogen, wenn der Beschuldigte durch Flucht den Zustand herbeiführt, dass er nicht vorgeladen werden kann. |
SOG 2022 Nr. 5
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO: Eine Berufung gilt als zurückgezogen, wenn der Berufungskläger nicht vorgeladen werden kann. Weder ist eine vorgängige Vorladung durch Veröffentlichung im Amtsblatt im Berufungsverfahren notwendig, noch muss zwingend ein HV-Termin mit dem Vertreter des Beschuldigten abgemacht sein. Ist der Fall verhandlungsreif und sollen die Parteien vorgeladen werden, gilt die Berufung als zurückgezogen, wenn der Beschuldigte durch Flucht den Zustand herbeiführt, dass er nicht vorgeladen werden kann.
Sachverhalt:
Der amtliche Verteidiger des Beschuldigten hat nach Ausfällung des erstinstanzlichen Urteils die Berufung angemeldet und erklärt. Im Laufe des Berufungsverfahrens ist der Beschuldigte bei einem Gefangenentransport geflohen. Der Fall war beim Berufungsgericht verhandlungsreif, der Beschuldigte konnte zufolge Flucht nicht vorgeladen werden. Das Berufungsgericht hat seine Praxis bestätigt, dass die Berufung als zurückgezogen gilt, wenn der Berufungskläger nicht vorgeladen werden kann.
Aus den Erwägungen:
II.
1. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO hält fest, dass die Berufung Anschlussberufung als zurückgezogen gilt, wenn die Partei, die sie erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann. Der amtliche Verteidiger stellt sich auf den Standpunkt, dass zunächst eine amtliche Publikation der Vorladung erfolgen müsse, wenn eine Zustellung der Vorladung an den Beschuldigten nicht erfolgen könne.
Die Strafkammer des Obergerichts hat diese Frage in einem Entscheid vom 21. Februar 2019 geprüft und verneint. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO ist eine Spezialbestimmung für das Berufungsverfahren, die Art. 88 Abs. 1 StPO vorgeht. Wäre die Vorladung im Berufungsverfahren gemäss Art. 88 Abs. 1 StPO im Amtsblatt zu publizieren, hätte Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO keine eigenständige Bedeutung, da eine Vorladung grundsätzlich immer publiziert und damit immer gültig zugestellt werden könnte (vgl. auch Oger BE SK 17 138-141 vom 23. Februar 2018, CAN 2018 Nr. 39 E. 6; SK 17 192 vom 5. Februar 2018 E. 5; Oger AG SST.2015.147 vom 20. August 2015, CAN 2016 Nr. 46 E. 1.3; Oger OW AS 14/002 und AS 14/006 vom 9. Januar 2015, CAN 2015 Nr. 44 E. 1.4 f.; KGer JU CP 21/2014 vom 12. September 2014).
Im Gegenteil erfasst Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gerade den Fall, in dem eine Partei nicht vorgeladen werden kann, weil sie es in Verletzung von Art. 87 Abs. 2 StPO unterlassen hat, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen (Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1317; Niklaus Schmid / Daniel Jositsch [Hrsg]: Praxiskommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2018, Art. 407 StPO N 5; Entscheid des Obergerichts Schaffhausen in OGE 50/2016/6 vom 30. Oktober 2018, mit weiteren Hinweisen).
Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, wo es vornehmliches Ziel darstellt, ein materielles Urteil zu fällen. Auf ein Rechtsmittel kann verzichtet dieses (bis kurz vor dem zweitinstanzlichen Urteil) zurückgezogen werden (vergleiche Art. 386 Abs. 2 StPO). Dementsprechend folgerichtig ist Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO, wenn die Norm bei einem (konkludenten) Desinteresse an einer Berufung den Rückzug des Rechtsmittels annimmt. Diese Strenge rechtfertigt sich, weil diejenige Partei, welche mit dem angefochtenen Urteil nicht einverstanden ist und ein Rechtsmittel ergreift, ihren Standpunkt im Rechtsmittelverfahren darzulegen hat und vom Gericht dazu soll befragt werden können. Zunächst ein Rechtsmittel einzulegen, dann jedoch nicht an den dadurch ausgelösten Verfahrensschritten teilzunehmen, stellt ein widersprüchliches Verhalten dar, das keinen umfassenden Rechtsschutz verdient (vgl. Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 23. Februar 2018, SK 17 138-141 mit Hinweisen). Mit dem Obergericht des Kantons Bern ist festzuhalten, dass es nicht genügt, wenn der Verteidiger vorgeladen werden kann. Erstens ist die Rückzugsfiktion gesetzlich explizit vorgesehen und von einer Vertretung, eben anders als in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO, nicht die Rede. Zweitens erfolgt die Vorladung respektive der Vorladungsversuch zeitlich vor der Hauptverhandlung. Mit anderen Worten kommt bei Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO zum Umstand, dass die beschuldigte Person nicht zur oberinstanzlichen Verhandlung erscheint, erschwerend hinzu, dass sie im Zuge des Instruktionsverfahrens meist mangels Zustelldomizil nicht einmal (mehr) gesetzmässig vorgeladen werden kann (Art. 87 Abs. 4 StPO). Es genügt somit nicht, dass der Berufungskläger amtlich verteidigt ist. Der Beschuldigte hat es unterlassen, ein Zustellungsdomizil nach Art. 87 Abs. 2 StPO zu bezeichnen. Die Vorladung kann ihm nicht zugestellt werden und die Berufung gilt gemäss der Spezialbestimmung im Berufungsverfahren, Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO, als zurückgezogen (SOG 2019 Nr. 1).
Das Bundesgericht hat sich eben erst auch mit der Frage vertieft auseinandergesetzt und kommt zum selben Schluss (Urteil 6B_998/2021 vom 22. Juni 2022). Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stelle eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Art. 88 Abs. 1 StPO verdränge. Andernfalls bliebe Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stets toter Buchstabe, da eine Vorladung grundsätzlich immer durch öffentliche Bekanntmachung gemäss Art. 88 Abs. 1 StPO publiziert werden könne. Im Berufungsverfahren sei keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden könne, dann trete die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sofort ein. Dies gelte für sämtliche Konstellationen, die in Art. 88 Abs. 1 StPO beschrieben werden (6B_998/2021 E. 1.6.2).
Das Bundesgericht hielt auch zu einem Beschuldigten mit unbekanntem Aufenthalt fest, er könne nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und gleichzeitig die Mitwirkung daran ablehnen. Dies habe er aber getan, indem er die Angabe seines Aufenthaltsorts verweigert und auf diese Weise eine rechtsgültige Zustellung seiner Vorladung an die Berufungsverhandlung vereitelt habe (6B_998/2021 E. 1.10.3). Wie im zitierten Fall des Bundesgerichts verdient der Beschuldigte und Berufungskläger im vorliegenden Fall keinen Rechtsschutz, weil das Verhalten widersprüchlich ist und gegen Treu und Glauben verstösst. Er hat mit seiner Flucht und der Folge des unbekannten Aufenthalts bewirkt, dass er nicht vorgeladen werden kann. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO ist erfüllt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob mit dem Vertreter des Beschuldigten ein Hauptverhandlungstermin abgemacht worden ist. Der Fall war nach Erlass der internen Ansetzungsverfügung am 28. September 2022 verhandlungsreif. Die Parteien sollten zur Hauptverhandlung vorgeladen werden. Durch die Flucht hat der Beschuldigte den Zustand herbeigeführt, dass er nicht vorgeladen werden kann. Die Berufung gilt somit als zurückgezogen (Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO).
Auch der Einwand des amtlichen Verteidigers, es müssten entsprechende Säumnisfolgen erst in einer Vorladung dem Berufungskläger angedroht werden, dringt nicht durch, kann doch die Vorladung eben mangels Zustelladresse gar nicht zugestellt werden. Es braucht auch weder eine Publikation im Amtsblatt (s. Erwägungen oben), noch einen zweimaligen Vorladungsversuch (wie im erstinstanzlichen Verfahren) eine Sistierung des Verfahrens bis zur Ergreifung des Beschuldigten. Der Beschuldigte hat nach Anmeldung und Erklärung der Berufung die Flucht ergriffen und ist für das Berufungsgericht unbekannten Aufenthalts, obwohl er vorgeladen werden sollte. Er kann nicht vorgeladen werden, womit die Berufung als zurückgezogen gilt und abzuschreiben ist (Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO).
Obergericht, Strafkammer, Entscheid vom 24. November 2022 (STBER.2022.50)
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