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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2022.44)

Kopfdaten
Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2022.44
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2022.44 vom 10.05.2023 (SO)
Datum:10.05.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Zusammenfassung:Die Beschuldigte wurde wegen geringfügiger Sachbeschädigung und Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt. Sie hat Einspruch gegen die Strafbefehle erhoben und wurde schliesslich freigesprochen. Es gab Zweifel an ihrer Schuldfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung, jedoch wurde kein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Die Kosten des Verfahrens tragen nun der Staat Solothurn und die Beschuldigte hat Anspruch auf eine volle Parteientschädigung. Der amtliche Verteidiger wird ebenfalls entschädigt.
Schlagwörter: Beschuldigte; Beschuldigten; Apos; Urteil; Solothurn; Schuldfähigkeit; Staat; Einsicht; Psychose; Einsichts; Recht; Berufung; Urteils; Medikament; Sachbeschädigung; Begutachtung; Medikamente; Einsichtsfähigkeit; Medikation; Verfahren; Befehl; Verteidiger; Vorinstanz; Störung; Gutachten
Rechtsnorm: Art. 10 StGB ; Art. 144 StGB ; Art. 19 StGB ; Art. 20 StGB ; Art. 406 StPO ; Art. 429 StPO ; Art. 90 SVG ;
Referenz BGE:107 IV 3; 124 I 40; 128 IV 241; 134 IV 132; 91 II 159;
Kommentar:
-
Entscheid
 
Geschäftsnummer: STBER.2022.44
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 10.05.2023 
FindInfo-Nummer: O_ST.2023.32
Titel: geringfügige Sachbeschädigung, geringfügiger Diebstahl, Sachbeschädigung, Verletzung der Verkehrsregeln

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 10. Mai 2023            

Es wirken mit:

Präsident von Felten

Oberrichter Marti

Oberrichter Werner  

Gerichtsschreiberin Schmid

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Boris Banga

Beschuldigte und Berufungsklägerin

 

betreffend     geringfügige Sachbeschädigung, geringfügiger Diebstahl, Sachbeschädigung, Verletzung der Verkehrsregeln


Die Berufung wird in Anwendung von Art. 406 Abs. 2 StPO im schriftlichen Verfahren behandelt.

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I.              Prozessgeschichte

 

1.   Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn verurteilte A.___ (nachfolgend Beschuldigte) mit Strafbefehl vom 10. März 2021 wegen geringfügigen Diebstahls sowie geringfügiger Sachbeschädigung, begangen annahmeweise am 18. Dezember 2020, vor 18:05 Uhr, bzw. zu einem nicht näher als zwischen dem 7. Dezember 2020 bis am 23. Dezember 2020 eingrenzbaren Zeitraum, zu einer Busse von CHF 100.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu einem Tag Freiheitsstrafe, sowie zur Bezahlung der Verfahrenskosten von total CHF 225.00.

 

2.   Gegen diesen Strafbefehl erhob die Beschuldigte am 17. März 2021 Einsprache. Mit Verfügung vom 7. April 2021 überwies die Staatsanwaltschaft das Verfahren an das Richteramt Solothurn-Lebern.

 

3.   Mit Strafbefehl vom 28. Juli 2021 verurteilte die Staatsanwaltschaft die Beschuldigte wegen Verletzung der Verkehrsregeln sowie Sachbeschädigung, begangen am 4. März 2021, ca. 05:25 Uhr, zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je CHF 70.00, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von 2 Jahren, sowie zu einer Busse von CHF 50.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu einem Tag Freiheitsstrafe, und zur Zahlung der Verfahrenskosten von CHF 525.00.

 

4.   Gegen diesen Strafbefehl erhob die Beschuldigte am 11. August 2021 Einsprache. Mit Verfügung vom 16. November 2021 überwies die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn auch dieses Verfahren an das Richteramt Solothurn-Lebern zur Beurteilung.

 

5.   Das Richteramt Solothurn-Lebern vereinigte mit Verfügung vom 18. November 2021 die beiden Verfahren betreffend die Strafbefehle vom 10. März 2021 sowie vom 28. Juli 2021.

 

6.   Die Amtsgerichtsstatthalterin von Solothurn-Lebern fällte am 14. März 2022 nach erfolgter Hauptverhandlung folgendes Urteil:

 

1.      A.___ wird wie folgt freigesprochen:

a)  Geringfügiger Diebstahl, angeblich begangen annahmeweise am 18. Dezember 2020 bzw. zu einem nicht näher als zwischen dem 7. Dezember 2020 bis am 23. Dezember 2020 eingrenzbaren Zeitraum,

b)   geringfügige Sachbeschädigung, angeblich begangen annahmeweise am 18. Dezember 2020 bzw. zu einem nicht näher als zwischen dem 7. Dezember 2020 bis am 23. Dezember 2020 eingrenzbaren Zeitraum.

2.      A.___ hat sich schuldig gemacht der Sachbeschädigung, begangen am 4. März 2021.

3.      A.___ wird zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je CHF 70.00 verurteilt, unter Gewährung des bedingten Vollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren.

4.      A.___, bis am 6. Dezember 2021 privat verteidigt durch Rechtsanwalt Boris Banga, wird eine reduzierte Parteientschädigung von CHF 598.25 (1/5 von Honorar 10.38 Std. à CHF 250.00, ausmachend CHF 2'595.00, Auslagen CHF 182.50 und 7.7% MwSt. CHF 213.85) zugesprochen, zahlbar durch den Staat Solothurn, vertreten durch die Zentrale Gerichtskasse. Dieser Betrag wird mit dem von A.___ zu bezahlenden Anteil an den Verfahrenskosten verrechnet (vgl. Ziffer 6).

5.      Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers (ab 7. Dezember 2021) von A.___, Rechtsanwalt Boris Banga, wird auf CHF 1'813.15 (Honorar 8.92 Std. à CHF 180.00, ausmachend CHF 1'605.60, Auslagen CHF 77.90 und 7.7% MwSt. CHF 129.65) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu zahlen. Vorbehalten bleiben der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren im Umfang von 4/5, somit CHF 1'450.50, sowie der Nachzahlungsanspruch des amtlichen Verteidigers im Umfang von 4/5, somit CHF 538.00 (4/5 der Differenz zum vollen Honorar zu CHF 250.00 pro Stunde inkl. 7.7% MwSt.), sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

6.      Die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 1'200.00, total CHF 1'900.00, sind wie folgt durch die Beschuldigte und den Staat Solothurn zu übernehmen:

-     A.___: 4/5 entsprechend CHF 1'520.00 

-     Staat Solothurn: 1/5 entsprechend CHF 380.00

Nach Verrechnung mit der Parteientschädigung gemäss Ziffer 4 hiervor verbleiben zu Lasten von A.___ CHF 921.75. Wird von keiner Partei ein Rechtsmittel ergriffen und nicht ausdrücklich eine schriftliche Begründung des Urteils verlangt, reduziert sich die Urteilsgebühr um CHF 300.00, womit sich die Kosten auf CHF 1'600.00 belaufen und nach Verrechnung mit der Parteientschädigung gemäss Ziffer 4 hiervor CHF 681.75 zu Lasten von A.___ verbleiben.

 

7.   Die Beschuldigte, nach wie vor vertreten durch Rechtsanwalt Boris Banga, meldete gegen dieses Urteil am 24. März 2022 die Berufung an. Nach Erhalt des begründeten Urteils am 4. Mai 2022 stellte der Verteidiger mit Berufungserklärung vom 24. Mai 2022 die folgenden Anträge:

 

1.      Die Ziffern 2, 3, 4 und 6 des Dispositivs des angefochtenen Urteils seien aufzuheben.

2.      Die Beschuldigte sei vom Vorhalt der Sachbeschädigung, begangen am 4. März 2021 zufolge Schuldunfähigkeit i.S.v. Art. 19 Abs. 1 StGB freizusprechen.

3.      Das erstinstanzliche Kostendispositiv (Ziffer 4 und 6) sei aufzuheben und sämtliche Kosten seien auf die Staatskasse zu nehmen. Insbesondere sei der Beschuldigten, bis am 6. Dezember 2021 privat verteidigt durch den Unterzeichnenden, eine volle Parteientschädigung von CHF 2'991.35 (10.38 Std. à CHF 250.00, ausmachend CHF 2'595.00, Auslagen CHF 182.50 und 7.7% MwSt. CH 213.85) zuzusprechen.

4.      Es sei der Beschuldigten für das Berufungsverfahren die amtliche Verteidigung zu bewilligen und den unterzeichnenden Rechtsanwalt als amtlicher Verteidiger einzusetzen.

5.      Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Staates.

 

8.   Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Stellungnahme vom 30. Mai 2022 auf eine Anschlussberufung und eine weitere Teilnahme am Berufungsverfahren.

 

9.   Mit Verfügung vom 12. Juli 2022 wurde die amtliche Verteidigung der Beschuldigten durch Rechtsanwalt Boris Banga im Berufungsverfahren weitergeführt.

 

10.   Die Berufungsbegründung datiert vom 8. September 2022.

 

11.   Nicht angefochten und damit in Rechtskraft erwachsen sind somit die in Ziffer 1 des erstinstanzlichen Urteils ergangenen Freisprüche.

 

 

II.            Vorhalt und Gegenstand des Berufungsverfahrens

 

1.1 Der Beschuldigten wurden mit Strafbefehl vom 28. Juli 2021 folgende Vorhalte gemacht:

 

Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 SVG), begangen am 4. März 2021, ca. 05:25 Uhr, in Bettlach, Kreisverkehrsplatz Solothurnstrasse/Bielstrasse. Die Beschuldigte habe plötzlich und ohne ersichtlichen Grund die Fahrbahn des Kreisverkehrsplatzes betreten, sich einem sich nähernden Fahrzeug in den Weg gestellt und diesem die Weiterfahrt blockiert.

 

Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB), begangen am 4. März 2021, ca. 05:25 Uhr, in Bettlach, Kreisverkehrsplatz Solothurnstrasse/Bielstrasse, zum Nachteil von B.___. Die Beschuldigte habe mit einem Stein auf das von ihr blockierte Fahrzeug eingeschlagen, was zu Kratzern auf der Motorhaube und zu einem geschätzten Schaden in der Höhe von ca. CHF 1'000.00 geführt habe. Sie habe damit vorsätzlich an erkennbar fremdem Eigentum einen Sachschaden verursacht.

 

1.2 Die Vorinstanz führte betreffend die Verletzung der Verkehrsregeln aus, dass der Sachverhalt gemäss Strafbefehl von der Beschuldigten anerkannt bzw. eingestanden sei. Der Strafbefehl nenne aber einzig Art. 90 Abs. 1 SVG und keine konkrete Verkehrsvorschrift, gegen welche die Beschuldigte verstossen haben soll. Angesichts dessen sei nicht klar, welche Verkehrsregelverletzung ihr vorgeworfen werde. Eine Verurteilung allein gestützt auf Art. 90 Abs. 1 SVG sei ausgeschlossen. Deshalb sei die Beschuldigte von diesem Vorhalt freizusprechen. Aufgrund der «ne bis in idem»-Problematik werde der Freispruch jedoch nicht ins Urteilsdispositiv aufgenommen, da gleichzeitig eine Sachbeschädigung zu beurteilen sei.

 

2. Aufgrund der angefochtenen Ziffern des Urteils der Vorinstanz sowie deren Ausführungen zum Freispruch vom Vorhalt der Verletzung der Verkehrsregeln bildet ausschliesslich der Vorhalt der Sachbeschädigung gemäss Strafbefehl vom 28. Juli 2021 Gegenstand des Berufungsverfahrens.

 

 

III.           Sachverhalt und rechtliche Würdigung

 

1.1   Der Verteidiger bringt in der Berufungsbegründung betreffend den erstellten Sachverhalt vor, dieser sei nicht rechtsgenüglich nachgewiesen. Die Beschuldigte habe den Vorfall keineswegs eingestanden. Es stehe Aussage des Privatklägers gegen Aussage der Beschuldigten, wobei auf diese nicht abgestützt werden könne, da sie sich in einem psychotischen Erregungszustand befunden habe.

 

1.2   Diese Behauptung widerspricht den eigenen Ausführungen des Verteidigers anlässlich seines Parteivortrages bei der ersten Instanz. Dort führte er gemäss den Plädoyernotizen aus: «Der Sachverhalt ist unbestritten» (Aktenseiten Solothurn-Lebern [AS-SL] 40 und 104).

 

1.3   Im Übrigen bestritt die Beschuldigte zu keinem Zeitpunkt, die ihr vorgeworfene Tat begangen zu haben. Anlässlich der Einvernahme vor der Vorinstanz bestritt die Beschuldigte die Vorhalte des Strafbefehls vom 10. März 2021 und gab zum zweiten Vorfall (Strafbefehl vom 28. Juli 2021) Folgendes an (AS-SL 92, Zeile 176 ff.): «Beim zweiten Vorfall weiss ich gemäss Arzt, dass wenn man eine Psychose hat, kann man für das eigentlich nicht bestraft werden. Ich bin natürlich jederzeit bereit, diesem Herrn den Schaden, der entstanden ist, zu bezahlen. Ich habe immer, wenn ich Psychosen hatte, alles wieder in Ordnung gebracht.» Bei der polizeilichen Einvernahme vom 24. Mai 2021 (nicht paginierte Akten der Staatsanwaltschaft) sagte die Beschuldigte aus, sie könne nicht sagen, warum sie das gemacht habe wie es dazu gekommen sei (Seite 2, Frage 1). Sie wisse nur noch, dass sie mit dem Herrn gestürmt habe. Sie wisse auch noch, dass sie den Stein in der Hand gehalten habe (Seite 3, Frage 3). Gefragt nach dem Grund für das Schlagen mit dem Stein auf die Motorhaube, gab sie an, sie wisse es auch nicht. Normalerweise mache man solche Sachen ja auch nicht (Seite 3, Frage 8). Dass sich die Beschuldigte – wie der Verteidiger behauptet – an nichts habe erinnern können, ist aktenwidrig. Sie konnte sich offenbar nicht mehr genau an den Vorfall erinnern, diejenigen Erinnerungen, die sie aber schilderte, stimmen mit den Aussagen des Geschädigten überein. Mangels Bestreitung von Seiten der Beschuldigten kann ohne Weiteres auf die schlüssigen Aussagen des Geschädigten abgestellt werden.

 

1.4   Der Sachverhalt, wie er im Strafbefehl vom 28. Juli 2021 vorgehalten wird, ist demnach erstellt.

 

2.    Zur rechtlichen Würdigung kann auf die Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (Urteilsseiten [US] 9 f.). Die Vorinstanz stellte zu Recht fest, die Beschuldigte habe sich der Sachbeschädigung nach Art. 144 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Die diesbezüglichen Ausführungen des Verteidigers in der Berufungsbegründung gehen an der Sache vorbei und zielen letztlich auf die Frage der Schuldfähigkeit der Beschuldigten ab. Die Frage, ob der Täter mit Wissen und Willen i. S. v. Art. 12 Abs. 2 StGB gehandelt hat, ist von der Frage der Schuldfähigkeit zu unterscheiden. Schuldunfähigkeit bedeutet nicht, dass der Täter keinen tatbestandsmässigen Vorsatz bilden könnte; vielmehr kann auch der völlig Schuldunfähige vorsätzlich handeln (Felix Bommer/Volker Dittmann in: Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019 [BSK StGB], Art. 19 StGB N 19).

 

 

IV.          Schuldfähigkeit

 

1.    Allgemeines

 

1.1   War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar (Art. 19 Abs. 1 StGB).

 

Das Bundesgericht hält zur Schuldfähigkeit Folgendes fest (6B_1363/2019 vom 19. November 2020 E. 1.2.2): «Schuldfähigkeit setzt gemäss Art. 19 Abs. 1 StGB Einsichts- und Steuerungsfähigkeit voraus. Die Steuerungsfähigkeit (auch Bestimmungsfähigkeit) betrifft damit das Vermögen, Handlungsimpulse zu hemmen (Thommen/Habermeyer/Graf, tatenlose Massnahmen?, sui generis 2020, N. 15 S. 332). Die im Gesetz ausdrücklich erwähnte Steuerungsfähigkeit ermöglicht es, Fällen mangelnden Hemmungsvermögens gerecht zu werden (Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4. Aufl. 2011, § 11 N. 8 und 23). Art. 19 Abs. 1 StGB schweigt sich – anders als aArt. 10 StGB – zu den Gründen für die Beeinträchtigung der Einsichts- Steuerungsfähigkeit aus. Dennoch kommen auch unter geltendem Recht nur Fälle psychischer Anomalien als Schuldausschlussgründe im Sinne von Art. 19 StGB in Betracht (Stratenwerth, a.a.O., § 11 N. 15; Felix Bommer, in: BSK StGB, vor Art. 19 StGB N. 11 f.).»

 

Die verminderte Schuldfähigkeit betrifft wie die Schuldunfähigkeit einen Zustand des Täters (BGE 134 IV 132 E. 6.1 S. 136). In welchem Zustand sich dieser zur Tatzeit befand, ist Tatfrage (Urteil 6B_1029/2019 vom 10. Februar 2020 E. 1.3.2). Ob das Gericht die im Gutachten (vgl. Art. 20 StGB) enthaltenen Erörterungen für überzeugend hält nicht und ob es dementsprechend den Schlussfolgerungen der Experten folgen will, ist mithin eine Frage der Beweiswürdigung, welche das Bundesgericht nur unter Willkürgesichtspunkten prüft (Urteile 6B_1028/2019 vom 19. Dezember 2019 E. 2.3.1; 6B_428/2018 vom 31. Juli 2019 E. 2.3.2; 6B_1323/2018 vom 12. Juni 2019 E. 3.3). Rechtsfrage ist hingegen, ob die Vorinstanz die Begriffe der verminderten Schuldfähigkeit bzw. der Schuldunfähigkeit richtig ausgelegt und angewendet hat (BGE 107 IV 3 E. 1a S. 4; Urteile 6B_202/2017 vom 23. August 2017 E. 2.2.1; 6B_450/2016 vom 19. Januar 2017 E. 2.2).

 

1.2   Grund für eine fehlende Schuldfähigkeit können in erster Linie sehr schwere psychische Störungen sein, wie folgende psychiatrische Diagnosen: schwere hirnorganische Störungen, exogen entstandene Psychosen, schizophrene und affektive Psychosen, in Ausnahmefällen auch sehr schwere andere psychische Störungen, wenn sie in ihren forensisch relevanten Auswirkungen einer Psychose gleichkommen (dazu und im Folgenden: Felix Bommer/Volker Dittmann in: BSK StGB, Art. 19 StGB N 29, 32 und 38 f.).

 

Die Beurteilung akuter Stadien von Schizophrenien und wahnhaften Störungen bereiten forensisch kaum Probleme. Menschen, die unter dem Einfluss eines Wahns handeln und diesen mehr minder hilflos ausgeliefert sind, deren Handeln von imperativen Stimmen vorgeschrieben wird, sind in der Regel schuldunfähig. Eine quasi reflektorisch-kurzschlüssige Begutachtung, wonach die Diagnose einer Psychose automatisch zu Schuldunfähigkeit führt, ist jedoch unzulässig, es muss immer auf die zugrunde liegende Symptomatik abgestellt werden, da es gerade auch bei schizophrenen Störungen Verlaufsformen und Stadien gibt, in denen keine schwere Beeinträchtigung vorliegt. Diagnostisch umstrittene Kategorien wie «latente» Schizophrenie sollten im Rahmen der Begutachtung ebenso vermieden werden wie die Ausweichdiagnose «Borderline». Diagnostik und forensisch-psychiatrische Beurteilung haben sich an den psychopathologischen Symptomen und den Kriterien der ICD-10 zu orientieren. Dann ist zunächst zu fragen, ob die feststellbare Symptomatik überhaupt einen Bezug zur Delinquenz aufweist. Schliesslich ist darzulegen, wie das Verhalten des Betreffenden ausserhalb des Delinquenzbereiches und in vergleichbaren Situationen gewesen ist. Sodann ist auf die Komorbidität mit anderen Störungen zu achten, insbesondere auf Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen, die das Risiko für delinquentes und gewalttätiges Verhalten bei Schizophrenen deutlich erhöhen. Aggressives und gewalttätiges Verhalten von Schizophrenen und Wahnkranken kann viele Ursachen haben, diese sind soweit als möglich im Gutachten herauszuarbeiten. Wesentlich schwieriger als die Beurteilung der Einsichtsfähigkeit ist die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit, die sich naturgemäss nicht direkt messen lässt. Eine Einschätzung kann sich aber ergeben aus dem Gesamtverhalten vor, während und nach der Tat. Dass der Täter «nicht anders hätte handeln können», ist keine überzeugende Argumentation, denn dies ist – abgesehen von der physischen Unmöglichkeit einer bestimmten Handlung – wissenschaftlich nie zu begründen. Ein überzeugendes Gutachten zur Schuldfähigkeit zeichnet sich auch dadurch aus, dass nicht ausschliesslich auf Psychopathologie und Verhaltensabnormität abgestellt wird, sondern dass für den fraglichen Zeitraum auch herausgearbeitet wird, welche Fähigkeiten dem Betreffenden noch zur Verfügung standen, um so das Ausmass der Beeinträchtigung quasi vom oberen und unteren Rand der Schwereskala her einzugrenzen. Die Schuldunfähigkeit ist in sachlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht relativ: Sie muss sich stets auf die konkrete Straftat beziehen, im Zeitpunkt der Tatbegehung vorliegen und beim konkreten Täter vorliegen.

 

1.3   Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an (Art. 20 StGB).

 

Die bundesgerichtliche Praxis lässt es in einem eng begrenzten Ausschnitt von drei Fällen zu, auf die Anordnung einer Untersuchung zu verzichten. Zwei dieser Fälle ergeben sich aus Art. 20, der die Anordnung der Begutachtung (nur) bei ernsthaften Zweifeln an der (vollen) Schuldfähigkeit verlangt. Zweifel lassen sich jedoch u. U. anders als durch ein von der mit der Sache befassten Behörde angeordnetes Gutachten ausräumen: Durch ein noch gültiges früheres Gutachten ein schlüssiges Privatgutachten. Schliesslich kann absehbar sein, dass sich Zweifel auch durch ein Gutachten nicht werden ausräumen lassen, was dessen Anordnung überflüssig macht (Felix Bommer in BSK StGB, Art. 20 N 15).

 

Zum Teil wird in der Praxis, trotz eindeutigen Zweifeln an der Schuldfähigkeit, auf die Anordnung einer Begutachtung verzichtet, wenn es sich um geringfügige Delikte eines Ersttäters handelt (Bertschi, ZStrR 1980, 354 f.; Maier/Möller, Gutachten, 98), wobei dafür der Mangel an geeigneten Gutachtern bzw. deren Überlastung eine grosse Rolle spielt. Abgesehen davon wäre ein Begutachtungsverzicht nur unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismässigkeitsprinzips i. e. S. zulässig, wenn die Begutachtung in keinem Verhältnis zur Schwere des Tatvorwurfs stünde. Als leichter Eingriff in die persönliche Freiheit wird das nur selten der Fall sein (BGE 124 I 40, 47), ausser die Begutachtung lasse sich nicht ambulant, sondern nur stationär durch die vorübergehende Einweisung in eine psychiatrische Klinik durchführen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Interessenlage des Beschuldigten an der Untersuchung ambivalent sein kann: Zwar macht erst sie die Verhängung von Massnahmen nach Art. 59 f. Art. 64 Abs. 1 (lit. b) möglich, insofern wirkt sie sich, gerade in jüngerer Zeit, belastend aus. Aber im günstigen Fall führt sie zu einer Verringerung der Strafdauer; insofern hat der Beschuldigte ein Interesse an der Begutachtung, und wenn sie objektiv notwendig ist und er in sie einwilligt, lässt sich die Pflicht zur Begutachtung i. S. v. Art. 20 nicht mit dem Hinweis auf angeblich fehlende Verhältnismässigkeit überspielen (BGE 128 IV 241, 247 E. 3.4 betr. Aufhebung einer Massnahme stützte den Verzicht auf die Einholung eines neuen Gutachtens nicht auf den Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit i. e. S., sondern auf denjenigen der Erforderlichkeit, woran es i. c. fehlte). Wollte man trotz ernsthafter Zweifel an der Schuldfähigkeit auf eine Begutachtung verzichten, könnte dies nur unter Annahme des äusserstenfalls anzunehmenden verlangten Grades der Schuldfähigkeitsverminderung (im Extremfall des Schuldausschlusses) geschehen (ebenso Wiprächtiger, Strafrecht, 219), was jedoch auf eine unzulässige «Meistbegünstigung» des Beschuldigten hinausläuft. Soweit schliesslich der Verzicht auf die Begutachtung einzig aus finanziellen Gründen erfolgen sollte, widerspricht diese Praxis Art. 20 (so i. E. auch Bertschi, ZStrR 1980, 354 f.; vgl. auch BGE 91 II 159, 169) (Felix Bommer in BSK StGB, Art. 20 N 23).

 

1.4   Ein Freispruch hat mangels Schuldfähigkeit auch zu ergehen, wenn an der Schuldfähigkeit beweismässig nicht behebbare Zweifel bestehen und sich daher nicht (mehr) feststellen lässt, ob der Täter zur Tatzeit vermindert schuldfähig ganz schuldunfähig war (Urteil 6B_1363/2019 vom 19. November 2020 E. 1.9). Die Annahme bloss verminderter Schuldfähigkeit ist in diesem Fall unzulässig (Felix Bommer/Volker Dittmann, in: BSK StGB, Art. 19 StGB N 51 mit Hinweisen).

 

2.    Im Konkreten

 

2.1.  Im vorliegenden Fall wurde kein Gutachten eingeholt. Es liegen folgende Berichte vor:

 

2.1.1.    Arztbericht der Psychiatrischen Dienste vom 16. Juli 2021

 

Der Bericht verweist betreffend Behandlungsdauer und –verlauf sowie Diagnosen auf den Austrittsbericht vom 10. März 2021 und hält bezüglich Einsichtsfähigkeit fest, dass es sich dabei um eine gutachterliche Fragestellung handle, welche nicht in einem ärztlichen Bericht beantwortet werden könne. Von ihrer Krankengeschichte sei davon auszugehen, dass die Einsichtsfähigkeit stark beeinträchtigt bis nicht gegeben gewesen sei.

 

2.1.2.    Austrittsbericht der Psychiatrischen Dienste vom 10. März 2021

 

Der Bericht zum stationären Aufenthalt der Beschuldigten vom 4. März 2021 bis 10. März 2021 führt als Hauptdiagnose eine schizoaffektive Störung auf, gegenwärtig manisch-psychotisch (F25.0) sowie als Nebendiagnose eine Thalassämie minor. Die Patientin nehme aktuell zwei Mal täglich Orfiril und Seroquel sowie einmal Relaxane. Die Zuweisung sei durch die Polizei bei einem psychotischen Erregungszustand erfolgt. Ein Aufnahmegespräch sei nicht möglich gewesen. Sie habe sich im Gespräch agitiert, beschimpfend und beleidigend gezeigt, habe laut herumgeschrien, sei unkooperativ gewesen, habe ihre Hand so hochgeworfen, als wolle sie damit schlagen, so dass sie in einem Isolationszimmer untergebracht worden sei. Die vorbestehende Medikation sei unverändert fortgeführt und vorübergehend mit Benzodiazepinen und Clopixol ergänzt worden. Unter der Medikation und der Reizabschirmung sei es zu einer deutlichen Zustandsverbesserung gekommen und ein Übertritt in die normale Abteilung habe erfolgen können. Eine längere Hospitalisation habe sie abgelehnt. Im stationären Alltag habe sich die Beschuldigte sehr angepasst, freundlich zugewandt gezeigt und sich gut in das stationäre Setting integriert. Am 10. März 2021 habe sie in stabilisiertem Zustand und bei fehlender akuter Eigen- Fremdgefährdung entlassen werden können.

 

2.1.3.    Bericht von Dr. med. C.___ vom 20. Dezember 2021

 

Die Erstkonsultation der Beschuldigten habe am 30. September 2019 stattgefunden. Sie habe damals berichtet, seit 30 Jahren die Diagnose einer bipolaren Störung zu haben und deshalb mehrmals hospitalisiert gewesen zu sein. Im März 2020 sei die Beschuldigte in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Es seien regelmässige Therapiesitzungen gefolgt, in denen sie eher depressiv gewesen sei. Am 7. Dezember 2020 sei eine Hospitalisation in die psychiatrische Klinik erfolgt, wo die Medikation angepasst worden sei. Während sie vorher zwei verschiedene Neuroleptika erhalten habe, habe sie ab dann ein Antiepileptikum (Orfiril) und ein Neuroleptikum (Seroquel) erhalten. Diese Medikation sei bis zu ihrer Absage für weitere Termine am 18. Mai 2021 beibehalten worden. Die Beschuldigte leide seit über 30 Jahren an einer bipolaren Psychose, sie sei deswegen wiederholt hospitalisiert worden, beide erwachsenen Kinder seien in diesen Verlauf involviert, in den antriebsarmen Phasen falle sie in einen depressiven Zustand, sie sei dann psychopathologisch wenig auffällig.

 

Es folgt ein Auszug aus der Krankengeschichte der Beschuldigten anfangs des Jahres 2021, wonach die erste Sitzung nach der Entlassung aus der Klinik am 11. Januar 2021 erfolgt sei. Sie habe sich über die Behandlung beklagt, habe wenig kohärent gewirkt, aber sei bereit gewesen, die vorgeschriebene Medikation einzunehmen. Am 25. Januar 2021 sei sie zu ihrem Bruder und ihrer Mutter umgezogen. Am 1. Februar 2021 habe eine angetriebene, aber steuerbare Beschuldigte berichtet, dass sie die Medikation wöchentlich in einer Apotheke abhole. Am 15. Februar 2021 habe eine weiter angetriebene und euphorische Beschuldigte berichtet, dass sie die Medikation zur Zeit nicht einnehmen wolle. Am 22. März 2021 sei das Seroquel erhöht worden, nach einem etwas kohärenten Monolog, aber gereizter Stimmung. Am 19. April 2021 sei die Beschuldigte besonnener und ruhiger gewesen und habe eine eigene Wohnung gesucht, die Medikation sei unverändert geblieben.

 

In manischen Phasen sei die Einsichtsfähigkeit der Beschuldigten fluktuierend und sehr abhängig von der Grundstimmung. Gelinge es, diese zu beruhigen, könne die Einsichtsfähigkeit verbessert werden. Ein latentes Bedrohungsgefühl bleibe allerdings und könne schnell aggressive Reaktionen auslösen. In einer akuten Anspannung könne die Compliance der Beschuldigten abnehmen ganz abbrechen. Das Absetzen der Medikation könne die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beeinträchtigen. Die bipolare Störung der Beschuldigten sei eine Psychose, die zwischen zwei Polen schwanke, einerseits dem depressiven Pol mit Zurückgezogenheit, fehlender Motivation und Blockierung, andererseits die Manie mit Angetriebenheit und reduzierter Einsichtsfähigkeit. Die Wechsel in der Manie hätten zu wiederholten unfreiwilligen Einweisungen geführt, was die Beschuldigte misstrauischer gegenüber ihren behandelnden Ärzten gemacht habe. Zu keinem Zeitpunkt sei seinerseits während seiner Behandlung die Rede von einer medikamentösen Reduktion gewesen. Das Absetzen Reduzieren der Medikation erhöhe die Wahrscheinlichkeit einer Zunahme der pathologischen Symptome mit entsprechendem Einfluss auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

 

2.2.  In der Strafanzeige vom 14. Juni 2021 finden sich diverse Anhaltspunkte zum Zustand der Beschuldigten während des Ereignisses. So gab der Geschädigte bei seinem Anruf an die Polizei an, sie «spinne», ein unbeteiligter Dritter bezeichnete sie als «komische» Frau, welche umherschreie und Fahrzeuge anhalte. Nach ihrer Anhaltung habe die Beschuldigte fortlaufend wirr, zusammenhangslos und in verschiedenen Lautstärken kommuniziert. Eine Befragung sei aufgrund ihres psychischen Zustandes nicht möglich gewesen und sie sei in die Psychiatrischen Dienste überführt worden.

 

2.3.  Bei ihrer Befragung am 24. Mai 2021 sagte die Beschuldigte zu ihrem Gesundheitszustand zusammengefasst das Folgende: Sie habe in der Vergangenheit schon mehrfach Psychosen gehabt. Sie habe ein enormes «Gnusch» und Probleme mit dem Denken. Sie sei wie neben den Schuhen gewesen. Wenn sie die Medikamente nicht gleichmässig einnehme, komme schnell alles durcheinander bei ihr. Wenn sie psychotisch sei, nehme sie äussere Eindrücke anders wahr. Sie habe viele starke Psychosen gehabt. Dann falle sie jeweils in eine starke Depression. Sie habe dann auch Ängste. Sie sei bei Dr. C.___ in Therapie gewesen. Nun habe sie sich für eine andere Therapie entschieden und sei dort auf der Warteliste. Sie nehme seit mehreren Jahren Medikamente. Im Zeitpunkt des Vorfalles habe sie Sequase und Orfiril eingenommen. Ihr Sohn habe bemerkt, dass sie zwei, drei Tage nicht geschlafen habe und auch die Medikamente nicht mehr korrekt eingenommen habe. Das mache sie nicht mit Absicht. Dann kämen die Psychosen.

 

2.4.  Anlässlich der Einvernahme vor der ersten Instanz am 14. März 2022 gab die Beschuldigte Folgendes an: Es gehe ihr gesundheitlich sehr gut. Sie habe den Psychiater gewechselt. Der neue Psychiater sage ihr immer, sie sei gesund, d.h. die schizoaffektive Störung trete nur auf, wenn gewisse Komponenten nicht stimmen würden. Über all die Jahre habe sie gelernt, damit umzugehen. In der letzten Psychose sei das Problem gewesen, dass man ihr ihr Medikament weggenommen und ein anderes gegeben habe. Sie habe Dr. C.___ dann wieder um das alte gebeten. Von da an sei es ihr besser gegangen. Im Moment nehme sie einfach das Seroquel. Das Orfiril habe sie noch mit Dr. C.___ abgesetzt, das sei ein ganz schlimmes Medikament. Das Seroquel, das sie über Jahre nehme, habe ihr Gehirn auch angenommen. Wenn man zurückfahre, wie das bei ihr gewesen sei, könne das Störungen geben. Mit diesen Medikamenten zu leben sei nicht einfach, man müsse sehr diszipliniert leben. Sie verneinte, ihre Medikamentendosis Ende 2020 und anfangs 2021 reduziert zu haben. Wenige Fragen später gab sie dagegen an, das Orfiril abgebaut und das Seroquel zurückgefahren zu haben, so sei es zu dieser Psychose gekommen. Es sei ihr nicht bewusst gewesen, dass durch die Reduktion der Medikamente die Gefahr einer Zunahme pathologischer Symptome bestehe. Es sei ihr sehr gut gegangen. Heute wisse sie, dass sie ohne Medikamente nicht sein könne. Sie wünsche sich, von 600 mg wieder auf 300 mg hinunterzukommen, weil sie Probleme mit der Konzentration habe. Sie habe die Medikamente immer genommen. Sie bejahte die Frage, ob es bereits früher zu solchen Vorfällen im Rahmen einer Psychose gekommen sei. Beim Vorfall vom 4. März 2021 sei sie psychotisch gewesen. Sie könne heute nicht mehr sagen, weshalb sie auf die Strasse gegangen sei und Autos angehalten habe. Sie sei diesem Herrn dankbar, dass er reagiert und die Polizei gerufen habe, so sei sie in die Klinik gekommen. Dort werde man heruntergespritzt und müsse warten, bis es einem besser gehe. Die Psychose vor zwei Jahren habe sie wegen des Abbaus von Orfiril und Seroquel gehabt. Eine Psychose sei nicht von einem Tag auf den anderen da, das sei ein laufender Prozess.

 

2.5.  Die psychische Erkrankung der Beschuldigten ist unbestritten. Ein Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit wurde aber nicht eingeholt. Die Vorinstanz begründete den Verzicht auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens damit, dass aufgrund des vorliegend im Raum stehenden Tatvorwurfs ein solches unverhältnismässig wäre. Umso mehr, da mit dem Austrittsbericht vom 10. März 2021 und dem Arztbericht vom 20. Dezember 2021 zwei Berichte von Psychiatern vorlägen. Beide Berichte würden der Beschuldigten keine vollständige Schuldunfähigkeit attestieren, sondern lediglich eine Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

 

2.6.  Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Das Schreiben der Psychiatrischen Dienste vom 16. Juli 2021 hält klar fest, dass es sich bezüglich der Einsichtsfähigkeit um eine gutachterliche Fragestellung handle, die in einem ärztlichen Bericht nicht beantwortet werden könne. Im Weiteren wurde festgehalten, dass die Einsichtsfähigkeit stark beeinträchtigt bis nicht gegeben gewesen sei. Der Beschuldigten wird damit keineswegs «nur» eine verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Der Austrittsbericht vom 10. März 2021 beschreibt klar, dass die Beschuldigte am 4. März 2021 in ihrer schizoaffektiven Störung manisch-psychotisch (F25.0) gewesen sei. Die Ausführungen zum Zustand und Verhalten der Beschuldigten bei Einlieferung zeichnen ein Bild einer stark psychotischen Patientin. Gleiches gilt für die Schilderungen im Polizeibericht. Der Bericht von Dr. med. C.___ vom 20. Dezember 2021 beantwortet die Frage nach der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sodann unklar. Er hält fest, dass die Einsichtsfähigkeit in manischen Phasen fluktuierend sei und sehr abhängig von der Grundstimmung. Wie diese Grundstimmung der Beschuldigten und damit letztlich ihre Einsichtsfähigkeit im tatrelevanten Zeitraum zu beurteilen war, beantwortet er aber nicht. Nach seinen Ausführungen kann die Einsichtsfähigkeit durch eine beruhigte Grundstimmung verbessert werden. Ob dies zur Tatzeit gelungen war nicht, geht aber nicht aus dem Bericht hervor. Aus den allgemeinen Ausführungen von Dr. med. C.___ zur Einsichtsfähigkeit der Beschuldigten während manischen Phasen ihrer Psychose kann daher nicht auf den konkreten Fall geschlossen werden. Dr. med. C.___ führt sodann bei der Frage von Nebenwirkungen einer Reduktion der Medikamente Orfiril und Seroquel aus, dass die Beschuldigte zwischen dem depressiven Pol mit Zurückgezogenheit, fehlender Motivation und Blockierung und der Manie mit Angetriebenheit und reduzierter Einsichtsfähigkeit schwanke. Aus dieser wiederum sehr allgemeinen Aussage schliesst die Vorinstanz sodann, Dr. med. C.___ habe der Beschuldigten eine lediglich verminderte Schuldfähigkeit im Zeitraum des Vorfalles attestiert.

 

Die Beschuldigte machte widersprüchliche Aussagen zur Medikamenteneinnahme und deren Reduktion. Einmal gab sie an, sie habe die verschriebene Medikation reduziert Medikamente nicht mehr korrekt eingenommen. Sodann gab sie aber auch an, ihre Medikamente immer zu nehmen. Während Dr. med. C.___ angibt, eine Reduktion sei nie Thema gewesen, führte die Beschuldigte aus, durch den Abbau und das Zurückfahren der Medikamente sei es zur Psychose gekommen. Es blieb letztlich unklar, ob die Beschuldigte vor dem Tattag ihre Medikamente gemäss Verschreibung eingenommen hat. Gemäss dem Bericht von Dr. med. C.___ könne eine Reduktion die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beeinträchtigen. Es kann vorliegend daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschuldigte durch eine Reduktion Nichteinnahme der Medikamente in eine Psychose geriet und es ist unklar, wie sich diese zu anderen Psychosen (mit korrekter Medikation) verhält.

 

Die Zweifel, die die Vorinstanz an der Schuldfähigkeit der Beschuldigten hatte, hätten im vorliegenden Fall nur durch eine Begutachtung ausgeräumt werden können. Dass die Vorinstanz darauf verzichtete, widerspricht Art. 20 StGB.

 

2.7.  Eine Rückweisung an die Vorinstanz zur Durchführung einer Begutachtung und zur Ausfällung eines neuen Entscheides erweist sich vorliegend als nicht mehr zielführend. Seit dem Vorfall sind mittlerweile über zwei Jahre vergangen, in denen auch die Therapie und Medikation der Beschuldigten verändert wurden. Eine möglichst zeitnahe Begutachtung wäre in diesem Fall wichtig gewesen. Eine Beurteilung der damaligen manischen Episode, die die bestehenden Zweifel an der Schuldfähigkeit ausräumen könnte, ist in Anbetracht dessen nicht mehr zu erwarten. Somit bestehen nicht mehr behebbare Zweifel an der Schuldfähigkeit der Beschuldigten und sie ist mangels solcher vom Vorhalt freizusprechen.

 

 

V.            Kosten und Entschädigung

 

1. Bei diesem Verfahrensausgang gehen die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens (mit einer Urteilsgebühr von CHF 1'200.00 total CHF 1'900.00) sowie des Berufungsverfahrens (mit einer Urteilsgebühr von CHF 2'000.00 total CHF 2'150.00) zu Lasten des Kantons Solothurn.

 

2.1 Die bis am 6. Dezember 2021 privat verteidigte Beschuldigte hat infolge des nun vollumfänglichen Freispruches Anspruch auf volle Parteientschädigung. Diese beträgt CHF 2'991.35 (10.38 Std. à CHF 250.00, ausmachend CHF 2'592.00, Auslagen von CHF 182.50 und MwSt. von CHF 213.85).

 

2.2 Ab Beginn der amtlichen Verteidigung ist dem amtlichen Verteidiger der Beschuldigten, Rechtsanwalt Boris Banga, der geltend gemachte Aufwand zu entschädigen. Die Entschädigung wird demnach auf CHF 1'813.15 (Honorar 8.92 Std. à CHF 180.00, ausmachend CHF 1'605.60, Auslagen CHF 77.90 und 7.7% MwSt. CHF 129.65) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu zahlen.

 

2.3 Der Aufwand, den der amtliche Verteidiger für das Berufungsverfahren geltend macht, ist angemessen. Für die Aufwände bis 31. Dezember 2022 ist er dafür mit einem Stundenansatz von CHF 180.00 zu entschädigen, für die Aufwände ab 1. Januar 2023 mit dem neuen Ansatz von CHF 190.00 (0.5 Std. für Sichtung Urteil Obergericht). Für das Berufungsverfahren wird die Entschädigung somit auf CHF 2'243.15 (11.18 Std. à CHF 180.00 bzw. 190.00, Auslagen CHF 65.40 und MwSt. CHF 160.35) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu zahlen.

 

 

 

 

 


 

Demnach wird in Anwendung von Art. 19 Abs. 1, Art. 144 Abs. 1 StGB, Art. 132, Art. 135, Art. 398 ff., Art. 406 Abs. 2, Art. 423 Abs. 1, Art. 428 Abs. 1 und 3, Art. 429 StPO erkannt:

1.    Die Beschuldigte A.___ wird gemäss rechtskräftiger Ziffer 1 des Urteils der Amtsgerichtsstatthalterin von Solothurn-Lebern vom 14. März 2022 (Urteil der Vorinstanz) wie folgt freigesprochen:

a)    Geringfügiger Diebstahl, angeblich begangen annahmeweise am 18. Dezember 2020 bzw. zu einem nicht näher als zwischen dem 7. Dezember 2020 bis am 23. Dezember 2020 eingrenzbaren Zeitraum;

b)    geringfügige Sachbeschädigung, angeblich begangen annahmeweise am 18. Dezember 2020 bzw. zu einem nicht näher als zwischen dem 7. Dezember 2020 bis am 23. Dezember 2020 eingrenzbaren Zeitraum.

 

2.    Die Beschuldigte wird überdies von folgenden Vorhalten freigesprochen:

a)    Verletzung der Verkehrsregeln, angeblich begangen am 4. März 2021, ca. 05:25 Uhr;

b)    Sachbeschädigung, angeblich begangen am 4. März 2021, ca. 05:25 Uhr.

 

3.    Der Beschuldigten, bis am 6. Dezember 2021 privat verteidigt durch Rechtsanwalt Boris Banga, wird eine Parteientschädigung von CHF 2'991.35 (Honorar 10.38 Std. à CHF 250.00, ausmachend CHF 2'595.00, Auslagen CHF 182.50 und MwSt. CHF 213.85) zugesprochen, zahlbar durch den Staat Solothurn, vertreten durch die Zentrale Gerichtskasse.

 

4.    Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers (ab 7. Dezember 2021) der Beschuldigten, Rechtsanwalt Boris Banga, wird für das erstinstanzliche Verfahren auf CHF 1'813.15 (Honorar 8.92 Std. à CHF 180.00, ausmachend CHF 1'605.60, Auslagen CHF 77.90 und 7.7% MwSt. CHF 129.65) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu zahlen. Die Entschädigung geht definitiv zu Lasten des Staates Solothurn.

 

5.    Für das Berufungsverfahren wird die Entschädigung des amtlichen Verteidigers (ab 7. Dezember 2021) der Beschuldigten, Rechtsanwalt Boris Banga, auf CHF 2'243.15 (11.18 Std. à CHF 180.00 bzw. 190.00, Auslagen CHF 65.40 und MwSt. CHF 160.35) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu zahlen. Die Entschädigung geht definitiv zu Lasten des Staates Solothurn.

 

6.    Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens (mit einer Urteilsgebühr von CHF 1'200.00 total CHF 1'900.00) sowie des Berufungsverfahrens (mit einer Urteilsgebühr von CHF 2'000.00 total CHF 2'150.00) gehen zu Lasten des Kantons Solothurn.

 

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Gegen den Entscheid betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung (Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) und der unentgeltlichen Rechtsbeistandschaft im Rechtsmittelverfahren (Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) kann innert 10 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesstrafgericht Beschwerde eingereicht werden (Adresse: Postfach 2720, 6501 Bellinzona).

 

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

von Felten                                                                         Schmid



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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