E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2022.4)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2022.4: Verwaltungsgericht

In dem vorliegenden Gerichtsverfahren vor dem Obergericht in Solothurn geht es um den Fall einer versuchten vorsätzlichen Tötung, möglicherweise schweren Körperverletzung und groben Verletzungen der Verkehrsregeln. Der Beschuldigte A.___ wurde beschuldigt, mit einem Sportwagen in einer Kurve auf der Gegenspur gefahren zu sein und mit einem Radfahrer kollidiert zu sein. Es wird diskutiert, ob er den Tod des Radfahrers billigend in Kauf genommen hat. Zeugenaussagen bestätigen die riskante Fahrweise des Beschuldigten. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 8 Monaten, während der amtliche Verteidiger einen Freispruch für den Beschuldigten beantragt. Das Gericht zieht sich zur Urteilsberatung zurück.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2022.4

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2022.4
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2022.4 vom 30.01.2023 (SO)
Datum:30.01.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Kurve; Fahrzeug; Recht; Geschwindigkeit; Überholmanöver; Beschuldigten; Kollision; Urteil; Unfall; Täter; Meter; Rechtskurve; Verkehr; Verletzung; Strasse; Überholen; Tötung; Urteils; Beruf; Berufung; ässige
Rechtsnorm: Art. 111 StGB ;Art. 117 StGB ;Art. 12 StGB ;Art. 122 StGB ;Art. 125 StGB ;Art. 129 StGB ;Art. 135 StPO ;Art. 22 StGB ;Art. 307 StGB ;Art. 31 SVG ;Art. 32 SVG ;Art. 320 StGB ;Art. 416 StPO ;Art. 42 StGB ;Art. 426 StPO ;Art. 43 StGB ;Art. 47 StGB ;Art. 4a VRV ;Art. 50 StGB ;Art. 51 StGB ;Art. 73 StPO ;Art. 90 SVG ;
Referenz BGE:105 IV 225; 109 IV 140; 117 IV 7; 130 IV 58; 133 IV 1; 133 IV 9; 134 IV 17; 134 IV 1; 136 IV 55; 136 IV 76; 137 IV 1; 144 IV 363; 69 IV 75;
Kommentar:
Stefan Trechsel, Mark Pieth, Schweizer, Praxis, 3. Auflage, Art. 42 StGB, 2018

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2022.4

 
Geschäftsnummer: STBER.2022.4
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 30.01.2023 
FindInfo-Nummer: O_ST.2023.20
Titel: versuchte vorsätzliche Tötung, evtl. schwere Körperverletzung in echter Idealkonkurrenz zu Gefährdung des Lebens; Gefährdung des Lebens; qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln (mehrfache Begehung)

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 30. Januar 2023   

Es wirken mit:

Präsident von Felten

Oberrichter Marti

a.o. Ersatzrichter Kiefer  

Gerichtsschreiber Wiedmer

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn

 

Anschlussberufungsklägerin

 

gegen

 

A.___, amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Jeremy Huart

 

Beschuldigter und Berufungskläger

 

betreffend     versuchte vorsätzliche Tötung, evtl. schwere Körperverletzung in echter Idealkonkurrenz zu Gefährdung des Lebens; Gefährdung des Lebens; qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln (mehrfache Begehung)


 

Es erscheinen zur Hauptverhandlung vor Obergericht vom 30. Januar 2023:

1.      Staatsanwalt B.___, für die Staatsanwaltschaft als Anschlussberufungsklägerin, in Begleitung eines Untersuchungsbeamten;

2.      A.___, Beschuldigter und Berufungskläger;

3.      Rechtsanwalt Bernhard Isenring, amtlicher Verteidiger des Beschuldigten, in Begleitung eines Kanzleimitarbeitenden;

4.      Privatkläger C.___;

5.      Advokat Andreas H. Brodbeck als Vertreter des Privatklägers;

6.      Dolmetscherin.

 

Zudem erscheinen:

 

-        eine Schulklasse;

-        diverse Medienvertreter.

 

Der Vorsitzende eröffnet um 08:30 Uhr die Verhandlung, stellt die Anwesenden fest und gibt die Besetzung des Berufungsgerichts bekannt.

 

Die übersetzende Person wird auf die Pflicht zur wahrheitsgemässen Übersetzung, auf die Straffolgen bei falscher Übersetzung gemäss Art. 307 StGB und auf die Straffolgen bei Verletzung der Geheimhaltungspflicht gemäss Art. 73 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 320 StGB hingewiesen.

 

In der Folge weist der Vorsitzende auf das angefochtene Urteil des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 hin und fasst dieses zusammen. Er nennt die vom Beschuldigten und Berufungskläger angefochtenen Urteilsziffern 1 (Schuldsprüche wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und qualifizierter grober Verletzung von Verkehrsregeln), 2 (Sanktion) und 8 (Kostenentscheid). Er hält weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung gegen Ziffer 2 des erstinstanzlichen Urteils erhoben habe. Er stellt fest, dass das erstinstanzliche Urteil demnach wie folgt in Rechtskraft erwachsen sei:

 

-        Ziff. 4: Herausgabe Fahrradhelm;

-        Ziff. 5: Festlegung Haftungsquote auf 100%;

-        Ziff. 6: Parteientschädigung an das Opfer;

-        Ziff. 7: Höhe der Entschädigung des amtlichen Verteidigers.

 

Er weist darauf hin, dass den Parteien mit Verfügung vom 26. August 2022 mitgeteilt wurde, dass das Berufungsgericht den Sachverhalt gemäss Anklageschrift Ziffer 1 auch unter dem Aspekt von Art. 125 Abs. 2 StGB prüfen werde. Er teilt ihnen zudem mit, dass das Berufungsgericht den Sachverhalt auch unter dem Aspekt der schweren Körperverletzung nach Art. 122 Abs. 1 und Abs. 3 StGB überprüfen werde. Angeklagt sei lediglich die Würdigung gemäss Art. 122 Abs. 2 StGB.

 

Der Vorsitzende skizziert den vorgesehenen weiteren Verhandlungsablauf wie folgt:

 

1.      Vorfragen, Vorbemerkungen und Anträge der Parteivertreter;

2.      Befragung des Beschuldigten;

3.      weitere Beweisanträge und Abschluss des Beweisverfahrens;

4.      Parteivorträge;

5.      letztes Wort des Beschuldigten;

6.      geheime Urteilsberatung;

7.      Urteilseröffnung, vorgesehen am 31. Januar 2023 um 17:30 Uhr.

 

Der amtliche Verteidiger und der Vertreter des Privatklägers legen ihre Honorarnoten dem Staatsanwalt und dem Gericht zur Einsicht vor.

 

 

Vorfragen

 

Keine Vorfragen seitens der Parteien.

 

 

Beweisabnahme

 

Der Beschuldigte wird, nachdem er von a.o. Ersatzrichter Kiefer auf sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen sowie die Aussage und Mitwirkung verweigern zu dürfen, hingewiesen worden ist, zur Sache und zur Person befragt.

 

Rechtsanwalt Brodbeck reicht als weitere Urkunde die Bestätigung ein, wonach sein Klient mittlerweile eine SUVA-Rente beziehe. Das Dokument wird zu den Akten genommen.

 

Die Parteivertreter stellen keine weiteren Beweisanträge, so dass das Beweisverfahren vom Vorsitzenden geschlossen wird.

 

 

Parteivorträge

 

Staatsanwalt B.___ stellt und begründet (OG 182 ff.) für die Anklägerin die folgenden Anträge:

 

1.      A.___ sei schuldig zu sprechen im Sinne der Anklage wegen

 

-        versuchter vorsätzlicher Tötung (Art. 111 StGB i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) gemäss AZ 1;

-        qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 3 SVG) gemäss AZ 3.

 

2.      A.___ sei deshalb zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 8 Monaten zu verurteilen.

3.      Nach Rechtskraft des Urteils sei das département des finances, office des véhicules, des Kantons Jura über den Ausgang des Verfahrens zu orientieren.

4.      Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers sei gestützt auf die Honorarnote nach richterlichem Ermessen festzusetzen und zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn zu bezahlen.

5.      A.___ habe dem Staat Solothurn die geleistete Entschädigung für den amtlichen Verteidiger über die Verfahrenskosten zurückzuzahlen. Er habe ausserdem dem amtlichen Verteidiger, Rechtsanwalt Isenring, die Differenz von der amtlichen Entschädigung zu dessen vollem Honorar zu bezahlen.

6.      Die nach richterlichem Ermessen festzusetzenden Verfahrenskosten (inklusive die vom Staat bezahlte Entschädigung des amtlichen Verteidigers) habe A.___ zu bezahlen.

7.      Der Beschuldigte sei zur Entschädigung des Privatklägers für die Vertretung vor Obergericht zu verpflichten.

 

Advokat Andreas H. Brodbeck stellt und begründet (OG 198 ff.) im Namen und Auftrag des Privatklägers die folgenden Anträge:

 

1.      Es sei die Berufung in allen Punkten abzuweisen und das Urteil des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 zu bestätigen.

2.      Es sei der Beschuldigte zu verurteilen, dem Privatkläger eine Parteientschädigung für das zweitinstanzliche Verfahren von CHF 5'803.75 zzgl. CHF 300.00 pro Stunde für die Dauer der Berufungsverhandlung und der Urteilseröffnung zu bezahlen.

3.      Alles unter o/e Kostenfolge.

 

Der amtliche Verteidiger Bernhard Isenring stellt und begründet (OG 204 ff.) im Namen und Auftrag des Beschuldigten und Berufungsklägers die folgenden Anträge:

 

1.      Das Urteil des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 (DTSAG.2020.00007-ADTMAG) sei in Gutheissung der Berufung aufzuheben und A.___ sei vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung freizusprechen;

2.      Das Urteil des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 (DTSAG.2020.00007-ADTMAG) sei in Gutheissung der Berufung aufzuheben und A.___ sei vom Vorwurf der qualifizierten groben Verkehrsregelverletzung betreffend Geschwindigkeitsüberschreitung (Überholmanöver 1 und 2) sowie betreffend waghalsiges Überholen (Überholmanöver 3) freizusprechen;

3.      A.___ sei mit der Vorinstanz vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens freizusprechen;

4.      A.___ sei der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig zu sprechen. In diesem Zusammenhang sei A.___ zu einer unter Ansetzung einer Probezeit von 2 Jahren bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 18 Monaten zu verurteilen, wobei 1 Tag Untersuchungshaft an die Freiheitsstrafe anzurechnen sei;

5.      A.___ sei überdies der groben Verkehrsregelverletzung wegen Nichtbeherrschen des Fahrzeugs (Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG) schuldig zu sprechen. In diesem Zusammenhang sei A.___ zu einer unter Ansetzung einer Probezeit von 2 Jahren bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu verurteilen;

6.      A.___ sei wegen Übertretung gegen das Strassenverkehrsgesetz wegen überhöhter Geschwindigkeit (Überholmanöver 3) zu verurteilen. In diesem Zusammenhang sei A.___ zu einer Busse in Höhe von CHF 240.00 zu verurteilen;

7.      Die Zivilforderungen des Geschädigten seien mit der Vorinstanz auf den Zivilweg zu verweisen;

8.      Das Urteil des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 (DTSAG.2020.00007-ADTMAG) sei in Gutheissung der Berufung auch betreffend Verfahrenskosten und Urteilsgebühr aufzuheben. Ausgangsgemäss seien die Verfahrenskosten und die Urteilsgebühr der Vorinstanz zur Hälfte A.___ aufzuerlegen und zur Hälfte auf die Staatskasse zu nehmen;

9.      Die Kosten der amtlichen Verteidigung für das erstinstanzliche Verfahren seien zur Hälfte definitiv auf die Staatskasse zu nehmen;

10.   Die Kosten des Berufungsverfahrens seien vollumfänglich dem Staat aufzuerlegen;

11.   RA Dr. Bernhard Isenring sei für seinen Aufwand als amtlicher Verteidiger (ab 28. November 2022) gemäss einzureichender Honorarnote aus der Staatskasse zu entschädigen. Die Kosten der amtlichen Verteidigung für das Berufungsverfahren seien definitiv auf die Staatskasse zu nehmen.

 

Hierauf halten der Staatsanwalt, der Vertreter des Privatklägers und der amtliche Verteidiger einen zweiten Parteivortrag.

 

 

Letztes Wort des Beschuldigten

 

Der Beschuldigte macht von seinem Recht auf das letzte Wort Gebrauch und führt aus, dass der Nachmittag vom 19. Juni 2019 immer Teil des Lebens von C.___ und auch Teil seines Lebens bleiben werde. Leider könne er die Zeit nicht zurückdrehen, obschon er dies so gerne würde. Er habe die Kurve unterschätzt und habe deshalb nicht genug abgebremst. Es sei ihm absolut bewusst, dass er alleine Schuld sei an diesem schrecklichen Unfall. Der Schmerz, den er C.___ und seiner Familie zugefügt habe, sei unverzeihlich. Er sei dankbar, dass das Gericht ihm heute die Möglichkeit gegeben habe, seine Sichtweise darzulegen. Er bedanke sich und wünsche C.___ alles Gute.

 

Damit endet der öffentliche Teil der Hauptverhandlung um 12:15 Uhr und das Gericht zieht sich zur geheimen Urteilsberatung zurück.

 

 

Es erscheinen zur mündlichen Urteilseröffnung vom 31. Januar 2023 um 17:30 Uhr:

 

1.      Staatsanwalt B.___, für die Staatsanwaltschaft als Anschlussberufungsklägerin, in Begleitung eines Untersuchungsbeamten;

2.      A.___, Beschuldigter und Berufungskläger;

3.      Rechtsanwalt Bernhard Isenring, amtlicher Verteidiger des Beschuldigten, in Begleitung eines Kanzleimitarbeitenden;

4.      Privatkläger C.___;

5.      Advokat Andreas H. Brodbeck als Vertreter des Privatklägers;

6.      Dolmetscherin.

 

Zudem erscheinen:

 

-        diverse Medienvertreter.

 

Der Vorsitzende weist vorab darauf hin, dass das Urteil des Berufungsgerichts im Rahmen der mündlichen Eröffnung nur summarisch begründet werde. Massgeblich sei die schriftliche Begründung des Urteils, welche den Parteien später eröffnet werde und ab deren Zustellung auch die Rechtsmittelfrist zu laufen beginne.

 

Anschliessend verliest a.o. Ersatzrichter Kiefer den Urteilsspruch. Er fasst die Beweiswürdigung zusammen, nimmt die rechtliche Würdigung vor und äussert sich zur Strafzumessung. Mit den Angaben zur Kostenverteilung schliesst der Referent die summarische Urteilsbegründung.

 

Um 17:50 Uhr erklärt der Vorsitzende die mündliche Urteilseröffnung für geschlossen.

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

 

I. Prozessgeschichte

 

1. Am 19. Juni 2019, 17:03 Uhr, meldete sich D.___ telefonisch bei der Alarmzentrale der Polizei Kanton Solothurn und teilte mit, dass es auf der Gempenstrasse in Dornach zu einem Verkehrsunfall zwischen einem PW und einem Radfahrer gekommen und der Radfahrer dabei schwer verletzt sei. Durch die Polizei wurden umgehend die Ambulanz und die Rega aufgeboten.

 

2. Am 20. Juni 2019 eröffnete die Staatsanwaltschaft gegen den PW-Lenker A.___ (nachfolgend: Beschuldigter) eine Strafuntersuchung wegen schwerer fahrlässiger Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB) und qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 3 SVG; AS 355). Am 27. Mai / 24. August 2020 erfolgten ausführliche und ergänzte Eröffnungsverfügungen wegen versuchter vorsätzlicher Tötung (Art. 111 StGB i.V. mit Art. 22 Abs. 1 StGB), evtl. schwerer Körperverletzung (122 Abs. 2 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) sowie qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 3 SVG; AS 356 ff.; 361 ff.).

 

3. Mit Verfügung vom 28. Juni 2019 wurde dem Beschuldigten ein amtlicher Verteidiger bestellt (AS 413).

 

4. Der Radfahrer C.___ (nachfolgend: Opfer) konstituierte sich am 4. Juli 2019 als Privatkläger im Zivil- und Strafpunkt (AS 17).

 

5. Am 27. August 2019 beauftragte die Staatsanwaltschaft das DTC Dynamic Test Center AG, Vauffelin, mit der Erstellung eines verkehrstechnischen Gutachtens zum Unfallhergang vom 19. Juni 2019 (AS 437 ff.). Das Gutachten wurde am 29. Oktober 2019 vorgelegt (AS 228 ff.).

 

6. Die Anklageschrift datiert vom 1. Dezember 2020 (AS 508 ff.).

 

7. Am 21. Oktober 2021 fällte das Amtsgericht Dorneck-Thierstein folgendes Urteil (AS 695 ff.):

1.      A.___ hat sich wie folgt schuldig gemacht:

a)     der versuchten vorsätzlichen Tötung, begangen am 19. Juni 2019,

b)     der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln durch waghalsiges Überholen und Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts, begangen am 19. Juni 2019.

2.      A.___ wird zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten verurteilt.

3.      A.___ wird 1 Tag Haft an die Freiheitsstrafe angerechnet.

4.      Der beschlagnahmte Fahrradhelm (aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) wird C.___ nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils herausgegeben.

5.      Die Zivilforderungen von C.___ gegenüber A.___, resultierend aus dem Unfallereignis vom 19. Juni 2019, werden bei einer Haftungsquote von 100 % dem Grundsatz nach gutgeheissen. Zur Ausmittlung der Schadens- und Genugtuungshöhe wird C.___ auf den Zivilweg verwiesen.

6.      A.___ hat dem Privatkläger C.___, vertreten durch Advokat Andreas Brodbeck, eine Parteientschädigung von CHF 15'467.00 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu bezahlen.

7.      Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers von A.___, Advokat Jeremy Huart, wird auf CHF 18'476.20 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu zahlen. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

8.      A.___ hat die Kosten des Verfahrens von CHF 22'644.65 (inkl. Gutachterkosten, jedoch ohne Dolmetscherkosten), mit einer Urteilsgebühr von CHF 10'000.00, total CHF 32'644.65, zu bezahlen.

 

8. Der Beschuldigte liess am 25. Oktober 2021 gegen dieses Urteil die Berufung anmelden (AS 704).

 

9. Gemäss Berufungserklärung vom 25. Januar 2022 (Akten Obergericht [OG] 4 ff.) richtet sich die Berufung gegen folgende Ziffern des erstinstanzlichen Urteils:

 

-        Ziff. 1: Schuldsprüche wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und qualifizierter grober Verletzung von Verkehrsregeln;

-        Ziff. 2: Sanktion;

-        Ziff. 8: Kostenentscheid.

 

Der Beschuldigte lässt eine Verurteilung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung sowie die Ausfällung einer Freiheitsstrafe von maximal zwölf Monaten, unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs, beantragen.

 

10. Am 2. Februar 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung (OG 52). Das Rechtsmittel richtet sich gegen Ziff. 2 des erstinstanzlichen Urteils; beantragt wird die Ausfällung einer höheren Freiheitsstrafe.

 

11. In Rechtskraft erwachsen und nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens sind somit folgende Ziffern des erstinstanzlichen Urteils:

 

-        Ziff. 4: Herausgabe Fahrradhelm;

-        Ziff. 5: Festlegung Haftungsquote auf 100%;

-        Ziff. 6: Parteientschädigung an das Opfer;

-        Ziff. 7: Höhe der Entschädigung des amtlichen Verteidigers.

 

12. Den Parteien wurde mit Verfügung vom 26. August 2022 mitgeteilt, dass das Berufungsgericht den Sachverhalt gemäss Anklageschrift Ziffer 1 auch unter dem Aspekt von Art. 125 Abs. 2 StGB prüfen werde.

 

13. Mit Verfügung vom 12. Januar 2023 holte das Berufungsgericht bei der DTC Dynamic Test Center AG, Vauffelin, ein Ergänzungsgutachten ein. Dieses wurde am 20. Januar 2023 vorgelegt (OG 158 ff.).

 

14. Die Berufungsverhandlung fand am 30. Januar 2023 statt. Den Parteien wurde anlässlich der Verhandlung eröffnet, dass das Berufungsgericht den Sachverhalt auch unter dem Aspekt der schweren Körperverletzung nach Art. 122 Abs. 1 und Abs. 3 StGB überprüfen werde. Angeklagt sei lediglich die Würdigung gemäss Art. 122 Abs. 2 StGB.

 

 

II. Sachverhalt

 

1. Vorhalte

 

1.1 Versuchte vorsätzliche Tötung (Vorhalt AZ Ziffer 1)

 

Der Beschuldigte habe sich der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig gemacht, begangen am 19.06.2019, um ca. 17:03 Uhr, in Dornach, Gempenstrasse, Strecke von Dornach in Fahrtrichtung Gempen, zum Nachteil von C.___, indem der Beschuldigte wissentlich und willentlich mit übersetzter Geschwindigkeit mit dem Personenwagen McLaren 570 S Coupé, 570 PS, Kontrollschild […], im Anschluss an ein Überholmanöver, welches er vor einer unübersichtlichen Kurve vorgenommen habe, und nach dem geschwindigkeitsbedingten nicht korrekten Befahren der Kurve auf der Gegenfahrbahn mit dem Opfer kollidiert sei, wobei er dessen Tod zumindest billigend in Kauf genommen habe. Da der Erfolg – der Tod des Opfers – nicht eingetreten sei, sei es beim Versuch geblieben. Durch seine waghalsige Fahrweise und aufgrund überhöhter Geschwindigkeit während der Autofahrt habe der Beschuldigte das Opfer C.___ in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr gebracht.

 

Konkret sei der Beschuldigte mit dem Personenwagen McLaren 570 S Coupé, 570 PS, Kontrollschild […], welchen er zuvor bei der [Autogarage] in [...] als Kaufinteressent für eine Testfahrt ausgeliehen habe, auf der kurvenreichen Gempenstrasse (Bergstrasse), welche als Hauptverbindung zwischen Dornach und Gempen diene, ausserorts in einem Waldstück bergaufwärts in Richtung Gempen gefahren, wobei die Höchstgeschwindigkeit auf diesem Strassenabschnitt 80 km/h betrage. Vor einer unübersichtlichen Rechtskurve habe der Beschuldigte die zwei Personenwagen Mercedes Benz GLE 250, Kontrollschild […] und Mercedes Benz C350, Kontrollschild […], welche bergaufwärts mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 – 60 km/h fuhren, überholt, wobei der Beschuldigte beim Überholmanöver den Personenwagen auf eine Geschwindigkeit von mindestens 100 km/h beschleunigt habe.

 

In der auf das Überholmanöver folgenden Rechtskurve habe der Beschuldigte aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren und sei ausgangs Kurve auf die Gegenfahrbahn geraten. Mangels Kontrolle über das Fahrzeug sei er schleudernd links teilweise auf den an die Gegenfahrbahn angrenzenden Kiesplatz gekommen. Dabei habe das Auto leicht zu übersteuern begonnen, das Heck des Autos sei ausgebrochen und es sei zu einer Spurenzeichnung der Reifen gekommen. Mit der Hinterachse und dem Rad vorne links neben und dem rechten Vorderrad auf der Fahrbahn sei das Fahrzeug des Beschuldigten weiter der Fahrbahn entlang bergwärts gerutscht. Eingangs der Rechtskurve habe die Geschwindigkeit des bergwärts fahrenden Autos des Beschuldigten zwischen 93 km/h und 95 km/h betragen.

 

Zur gleichen Zeit habe das Opfer, C.___, die Gempenstrasse talwärts in Richtung Dornach mit dem Rennrad BMC Teammachine SLR02 (unter anderem ausgerüstet mit einem Helm, Renndress sowie einer Kamera Go Pro sowie einem Fahrradcomputer Garmin) korrekt auf seiner Fahrbahn befahren. Unmittelbar nachdem das Opfer aus seiner Fahrtrichtung herkommend eine starke Rechtskurve (Haarnadelkurve) passiert habe, habe es den auf seiner Fahrbahnhälfte schleudernd und mit übersetzter und nicht an die Strassenverhältnisse angepassten Geschwindigkeit entgegenkommenden Personenwagen des Beschuldigten bemerkt, worauf das Opfer noch versucht habe zu bremsen. Wenige Sekunden nach dem ersten Sichtkontakt zwischen dem Opfer und dem heranschleudernden Auto des Beschuldigten sei es zu einer Frontalkollision zwischen dem Personenwagen und dem Opfer auf dem talwärts führenden Fahrstreifen gekommen. Dabei sei der Personenwagen des Beschuldigten im Bereich zwischen dem linken Scheinwerfer und dem Kennzeichen gegen das Vorderrad des Fahrrades geprallt. Das Opfer sei frontal mit dem Personenwagen des Beschuldigte kollidiert, der Kollisionspunkt befinde sich rund 0.7 m vom Fahrbahnrand entfernt auf der Fahrspur des Opfers. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Personenwagens habe zwischen 50 km/h und 58 km/h betragen, diejenige des Fahrrades zwischen 24 km/h und 28 km/h. C.___ sei zunächst in die Luft bergaufwärts geschleudert worden und sei schliesslich auf der Fahrbahn, 4 Meter entgegen seiner ursprünglichen Fahrtrichtung, aufgeprallt. Der McLaren des Beschuldigten sei nach der Kollision mit dem Opfer gegen einen Randstein am linken Fahrbahnrand geprallt. Der Beschuldigte habe das Unfallauto nach der Kollision auf der rechten Fahrspur abgestellt.

 

Durch die Kollision habe das Opfer C.___ lebensbedrohliche Verletzungen erlitten. Gemäss Arztbericht des Universitätsspitals Basel vom 23.03.2020, habe das Opfer zusammengefasst folgende Verletzungen erlitten und sich seit dem Verkehrsunfall bis am 04.07.2019 sowie vom 26.07.2019 bis 03.08.2019 in stationärer (und anschliessend in ambulanter) Behandlung befunden:

 

-        eine schwere offene Schädel-Hirn-Verletzung mit Luft- und Bluteinschluss im knöchernen Schädel,

-        Verdacht auf eine Schärverletzung,

-        infolge dessen ein eingeschränktes Bewusstsein,

-        komplexe Brüche des Schädels inkl. Mittelgesicht und Schädelbasis,

-        Austritt von Hirnwasser über das linke Nasenloch,

-        grosse Weichteilverletzung der linken Flanke und des linken Oberschenkels mit einem drittgradig offenen Bruch des Beckens (Beckenschaufel und Hüftgelenkpfanne),

-        Bruch des Oberschenkelknochens links,

-        Bruch des Oberarmknochens links,

-        Bruch des Schlüsselbeins links,

-        schwere Verletzungen des Brustkorbs mit Serienbrüchen der Rippen beidseits und Lungenkollaps (Pneumothorax),

-        mehrere Weichteilverletzungen im Sinne von etwa Hautabschürfungen.

 

Die Verletzungen hätten eine dauernde und irreversible Beeinträchtigung der Gesundheit des Opfers zur Folge. Konkret sei es beim Opfer aufgrund der Schädel-Hirn-Verletzung zu Wesensveränderungen gekommen. Zudem müsse aufgrund der schweren Hüftpfannenverletzung mit einer Arthrose einer entsprechenden Bewegungseinschränkung gerechnet werden.

 

Der unfallbeteiligte Personenwagen des Beschuldigten habe nach dem Unfall Beschädigungen an der Front und am Dach aufgewiesen. An der Stossfängerverkleidung und am linken Scheinwerfer seien diverse Kratz- und Reifenabriebspuren ersichtlich gewesen, in der Mitte habe sie einen Bruch aufgewiesen. Weiter habe die Motorhaube diverse Kratz- und Kunststoffabriebspuren aufgewiesen, welche in Richtung Frontscheibe verlaufen. Die Frontscheibe sei im rechten Bereich eingedrückt bzw. zersplittert gewesen. Am Übergang zur rechten A-Säule und dem Dachrahmen sei zudem Gewebe des Opfers ersichtlich gewesen. Die Felge des linken Vorderrades und der linke Seitenschweller sei aufgrund des Aufpralls am Randstein beschädigt worden. Das Fahrrad des Opfers habe nach dem Unfall einen komplett gebrochenen Karbonrahmen aufgewiesen, alle Rohre des Rahmens hätten Bruchstellen aufgewiesen. Das Vorderrad sei verbogen worden.

 

Der Beschuldigte habe auf besagter Strecke die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mehrfach (überholte die besagten Motorfahrzeuge mit ca. 100 km/h) missachtet und die Geschwindigkeit auch nicht an die Strassen- und Sichtverhältnisse angepasst (unübersichtliche Strassenführung mit Kurven und erhöhtes Verkehrsaufkommen aufgrund Hauptverkehrsverbindung zwischen Dornach und Gempen, schönem Wetter und Sperrung der [alternativen] Hauptverkehrsachse zwischen Dornach und Hochwald wegen Unterhaltsarbeiten). Durch das waghalsige Überholmanöver und die übersetzte und nicht angepasste Geschwindigkeit an die Strassen- und Sichtverhältnisse habe der Beschuldigte den Tod des Opfers bzw. eine schwere Körperverletzung zumindest billigend in Kauf genommen und habe das Opfer C.___ in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr gebracht. Der Beschuldigte habe gewusst, dass sein waghalsiger Fahrstil mit diversen Überholmanövern auf der kurvenreichen und unübersichtlichen Strecke (lebens-)gefährlich sei und habe trotzdem kurz vor einer Rechtskurve überholt, so dass er aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit die anschliessende Kurve nicht mehr korrekt habe befahren können. Hätte der Beschuldigte nicht mit übersetzter Geschwindigkeit ein Überholmanöver vor einer Rechtskurve vorgenommen und wäre deshalb nicht viel zu schnell in die Kurve gefahren, so hätte er in der Kurve nicht die Kontrolle über das Auto verloren, wäre nicht auf der Gegenfahrbahn unkontrolliert bergwärts gerutscht und mit dem korrekt entgegenkommenden Opfer auf der Gegenfahrbahn kollidiert. Die Kollision wäre bei angepasster und zulässiger Fahrweise ausgeblieben. Dem Beschuldigten werde vorgehalten, die möglichen Folgen seiner unverantwortlichen Fahrweise (massiv übersetzte Geschwindigkeit, waghalsiges Überholen, Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die die Strassen- und Sichtverhältnisse) zumindest in groben Zügen vorhergesehen und den Tod des Opfers in Kauf genommen zu haben.

 

1.2 Qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln durch waghalsiges Überholen und Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts (Vorhalt AZ Ziffer 3)

 

Weiter wird dem Beschuldigten vorgeworfen, sich der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln durch waghalsiges Überholen und Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts schuldig gemacht zu haben, begangen am 19.06.2019, um ca. 17:03 Uhr, in Dornach, Gempenstrasse, Strecke von Dornach in Fahrtrichtung Gempen, indem der Beschuldigte wissentlich und willentlich mehrere elementare Verkehrsregeln auf schwerwiegende Weise verletzt habe und damit ein hohes Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten Todesopfern eingegangen sei.

 

Konkret sei der Beschuldigte mit dem Personenwagen McLaren 570 S Coupé, 570 PS, Kontrollschild […], welchen er zuvor bei der [Autogarage] in [...] als Kaufinteressent für eine Testfahrt ausgeliehen habe, auf der kurvenreichen Bergstrasse, welche als Hauptverbindung zwischen Dornach und Gempen dient, ausserorts bergaufwärts in Richtung Gempen gefahren, wobei die Höchstgeschwindigkeit auf diesem Strassenabschnitt 80 km/h betrage. Dabei habe er zunächst den Personenwagen Mercedes E220, Kontrollschild […] (Taxi), welcher mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 - 60 km/h gefahren sei, und kurz danach den Personenwagen Daihatsu Terios, Kontrollschild […], überholt. Die Fahrzeuglenkerin des Personenwagens Daihatsu Terios sei mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 – 65 km/h gefahren, als der Beschuldigte sie mit übersetzter Geschwindigkeit und heulendem Motor überholt habe.

 

Im weiteren Verlauf der Fahrstrecke, unmittelbar vor dem Verkehrsunfall, sei der Beschuldigte dem Personenwagen Mercedes Benz GLE 250, Kontrollschild [...] sehr nahe aufgefahren, habe immer wieder das Gas betätigt, wobei der Personenwagen jeweils aufgeheult habe und habe sodann vor einer unübersichtlichen Rechtskurve gleichzeitig den Personenwagen Mercedes Benz GLE 250, Kontrollschild [...] sowie den vorausfahrenden Mercedes Benz C350, Kontrollschild [...], welche bergaufwärts mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 – 60 km/h fuhren, überholt, wobei der Beschuldigte beim Überholmanöver seinen Personenwagen auf eine Geschwindigkeit von mindestens 100 km/h beschleunigt habe.

Der Beschuldigte habe die Personenwagen, obwohl er nicht die Gewissheit haben konnte, das Manöver ohne Behinderung Gefährdung des Gegenverkehrs abschliessen zu können, überholt. Die besondere Gefährlichkeit des Überholmanövers ergebe sich aus den besonders ungünstigen Sicht- und Verkehrsverhältnissen (erhöhtes Verkehrsaufkommen aufgrund Hauptverkehrsverbindung zwischen Dornach und Gempen, schönem Wetter und Sperrung der [alternativen] Hauptverkehrsachse zwischen Dornach und Hochwald wegen Unterhaltsarbeiten), indem der Beschuldigte auf einer steilen Waldstrasse, vor einer unübersichtlichen Kurve zwei Motorfahrzeuge gleichzeitig überholt habe, sowie aus der hohen Geschwindigkeit von mindestens 100 km/h, mit welcher der Beschuldigte die Fahrzeuge kurz vor der Kurve überholte habe.

 

 

2. Die Aussagen

 

2.1.1 E.___ fuhr als Lenkerin des PW Mercedes Benz GLE 250d, schwarz (vgl. AS 6; […]) mit ihrem 5jährigen Sohn von Dornach Richtung Gempen. Anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 19. Juni 2019 (AS 38 ff.) führte sie aus, dass sie gehört habe, wie sich ein Fahrzeug mit auffällig lautem Ton genähert habe. Sie habe dann im Rückspiegel gesehen, wie dieses Auto sehr schnell von hinten herangefahren sei. Sie habe sich gedacht: «Hoffentlich fährt er nicht in mich hinein». Er habe dann wegen ihr abbremsen müssen und danach sei er ziemlich nah auf sie aufgefahren. Sein Abstand sei nicht gross gewesen, aber sie könne im Moment nicht sagen, wie gross dieser genau gewesen sei. Sie sei aber der Meinung, wenn sie gebremst hätte, so hätte er sicher nicht anhalten können. Sie selbst sei hinter einem anderen Mercedes in normaler Geschwindigkeit gefahren. Da es eine kurvenreiche Strasse sei, habe sie die Höchstgeschwindigkeit nicht ausgenutzt. Der Beschuldigte sei dann einige Zeit hinter ihr hergefahren und habe immer wieder Gas gegeben. Vor einer unübersichtlichen Rechtskurve habe sie der laute Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit überholt. Sie habe sich zu dieser Zeit vor der Kurve befunden. Sie habe sich einfach gedacht: «Warum überholst du in dieser Kurve und hoffentlich kommt niemand entgegen». Einen kurzen Augenblick später habe sie eine Rauchwolke gesehen und ein lautes Quietschen gehört. Gefühlt sei sie etwa 50-60 km/h gefahren. Es sei ja dann gerade die Kurve gekommen. Der Sportwagen sei massiv zu schnell gefahren, aber die Geschwindigkeit könne sie nicht schätzen.

 

2.1.2 Am 24. September 2020 wurde E.___ unter Wahrung der Teilnahmerechte des Beschuldigten als Zeugin befragt (AS 110 ff.). Sie bestätigte ihre bisherigen Aussagen und führte aus, sie sei ab Dornach hinter dem anderen Auto gefahren. Vor der Rechtskurve habe der McLaren sie überholt, zusammen mit dem vor ihr fahrenden Auto. In der Kurve habe sie nur noch eine Staubwolke gesehen. Es sei Feierabendverkehr gewesen, zufolge Sperrung der Strasse Dornach-Hochwald noch mehr als sonst. Es sei schwierig zu schätzen, sie seien 60 bis 70 km/h gefahren. Er habe sie vor der Kurve überholt. Sie fahre diese Strecke regelmässig. Man sehe nicht um die Kurve. Sie habe sich noch gedacht: «Wer überholt in dieser Kurve, hoffentlich kommt kein Auto entgegen». Sie habe nicht gesehen, ob er wieder auf die rechte Spur gekommen sei. Sie selber habe sich nicht in Gefahr gespürt. E.___ zeichnete den Überholvorgang unmittelbar vor Kurvenbeginn und den Abstand zwischen ihr und dem Kombi mit rund einer Wagenlänge ein (AS 115).

 

2.2 F.___ war Beifahrer des PW Mercedes Kombi, der vor dem PW von E.___ auf der Gempenstrasse Richtung Gempen fuhr. Lenkerin war seine Tochter D.___, hinten im Auto sassen deren drei Kinder. Anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 19. Juni 2019 (AS 41 ff.) führte er aus, dass ein grauer Sportwagen an einer unübersichtlichen Stelle mit hoher Geschwindigkeit («in einem Affenzahn») plötzlich überholt habe. Der Sportwagen sei ins Schleudern gekommen. Der Sportwagen habe unmittelbar vor der Kurve überholt. Sie selbst seien im Bereich zwischen 40 und 60 km/h gefahren. Der Unterschied zwischen der Geschwindigkeit des Sportwagens und ihrer Geschwindigkeit sei gross gewesen. Der Sportwagen habe die Rechtskurve auf der linken Fahrbahn befahren. Sie seien ca. am Kurvenende gewesen, als die Kollision stattgefunden habe. Er sei ihrem Fahrzeug nicht nahegekommen. (AF: Auf welcher Fahrbahn der Beschuldigte die Kurve befahren habe?) Auf der linken. Er habe die Kurve vor der Unfallstelle auf der Gegenfahrbahn befahren. Der Zeuge zeichnete das Überholmanöver unmittelbar vor Beginn der Rechtskurve ein, seinen Standort zum Unfallzeitpunkt genau in der Mitte der Kurve (AS 46).

 

2.3.1 D.___ war die Lenkerin des PW Mercedes C 350e Kombi schwarz (vgl. AS 5; […]). Anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 19. Juni 2019 (AS 47 ff.) führte sie aus, dass vor ihr niemand gefahren sei, hinter ihr sei ein anderer Mercedes gefahren. Plötzlich habe sie ein lautes Motorengeräusch gehört und es sei ein Sportwagen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit neben ihnen vorbeigefahren und habe sie überholt. Sie hätten sich noch gesagt: «Hey, was ist denn das für einer, was ist denn das für ein Vollidiot, vor so einer Kurve mit so einem Tempo zu überholen». Nach der Kurve habe sie gesehen, wie ein Velofahrer mit dem Auto kollidiert und durch die Luft geflogen sei.

 

Sie seien unmittelbar im Bereich der Rechtskurve viel zu schnell überholt worden. Aussergewöhnlich sei für sie gewesen, dass er viel zu schnell und unmittelbar vor der Kurve überholt habe. Dies sei sicher nicht normal gewesen. Der Sportwagen sei beim Überholmanöver und unmittelbar danach auf der linken Fahrbahn gefahren. Ihrer Erinnerung nach sei der Beschuldigte nach dem Überholmanöver nicht ins Schleudern von der Strasse abgekommen. Die Rechtskurve habe er auf der linken Fahrspur befahren. Die Kollision habe sich auf der Fahrbahn des Radfahrers ereignet. Sie selbst schätze ihre Geschwindigkeit auf ca. 40 km/h. Sie habe vor der Kurve sicher abgebremst. Die Zeugin zeichnet das Überholmanöver leicht nach der Mitte der Rechtskurve ein, ca. 50 Meter vor der Kollisionsstelle (AS 53).

2.3.2 Am 24. September 2020 wurde D.___ unter Wahrung der Teilnahmerechte des Beschuldigten als Zeugin befragt (AS 116 ff.). Sie führte aus, dass der PW zum Überholen angesetzt habe, als sie ca. 50 Meter vor der Kurve gewesen sei. Überholt habe er evtl. ca. 20 Meter vor der Kurve. Evtl. sei es aber falsch, was sie sage. D.___ bestätigte im Übrigen ihre Aussagen vom 19. Juni 2019. Die Strasse sei relativ befahren gewesen, mehr als normalerweise. Die Kurve sei sehr unübersichtlich gewesen. Man könne nicht sehen, wer von oben komme. Im Moment der Kollision sei sie noch vor der Kurve gewesen. Auf Frage, wie sie dann den Unfall habe sehen können: «Ich glaube, dass der Unfall passiert ist, als der Unfallverursacher etwa auf meiner Höhe auf der Gegenfahrbahn war, evtl. ein bisschen weiter vorne. Der Unfall ereignete sich für uns vor der Kurve». Die Zeugin wurde darauf hingewiesen, dass es im Unfallbereich mehrere Kurven gebe. Sie zeichnete den Überholvorgang auf, wobei sich dieser ausgangs Rechtskurve kurz vor dem Kollisionspunkt befinde. Sie habe sich zu keinem Zeitpunkt selbst in Gefahr gefühlt.

 

2.4.1 Zur Tatzeit war auch G.___ in Begleitung von H.___ auf der Gempenstrasse Richtung Gempen unterwegs. Aus ihrer Einvernahme vom 24. Juli 2019 ergibt sich, dass sie nach dem Schiessstand in Dornach vom PW des Beschuldigten überholt worden sei (AS 68 ff.). Sie habe einen Daihatsu Terios, rot, gefahren (AS 6). Direkt hinter ihr sei in einem ausreichenden Abstand ein Taxi gefahren. Als sie dann später wieder einmal in den Rückspiegel geschaut habe, sei da plötzlich nicht mehr dieses Taxi gewesen, sondern ganz dicht hinter ihr ein Sportwagen. Sie habe sich gedacht: «Der hat es wohl eilig». Dann, das sei ungefähr bei der ersten Kurve gewesen, wo es in den Wald hineingehe, habe der Sportwagen sie so überholt, dass sie sich für den die Fahrerin dieses Sportwagens gedacht habe: «Na, wenn dir nicht mal was passiert», weil er so unvernünftig überholt habe. So wie der gerast sei, habe sie gedacht, vielleicht schaffe er die nächste nicht mehr. Das Taxi hinter ihr habe sie ca. 100 bis 150 m nach dem Schiessstand wahrgenommen (ca. 2 min.). Nachdem sie das Taxi im Rückspiegel festgestellt gehabt habe, sei sie vielleicht noch 50 Meter weitergefahren und dann habe sie im Rückspiegel gesehen, dass da plötzlich ein ganz anderer, der Sportwagen, hinter ihr sei. Dann sei sie noch 250 – 300 Meter gefahren, bis sie überholt worden sei. Nach dem Überholen sei der Beschuldigte ziemlich rasant weitergefahren.

 

Zum Überholmanöver führte G.___ aus, dass es an der Stelle, wo der Sportwagen überholt habe, eigentlich frei gewesen sei, da habe man überholen können. Überholt habe er sie vorschriftsmässig, halt einfach in einem Wahnsinnstempo.  Sie selbst sei, als der Sportwagen überholt habe, ca. 60 – 65 km/h gefahren. Dann sei er wieder zur Seite und dann sei auch schon die nächste Kurve gekommen. Vor ihnen sei kein anderes Fahrzeug gewesen, der Sportwagen habe nicht mehrere Fahrzeuge gleichzeitig überholt. Als er ausgeschert sei, sei es ein sehr lautes Geräusch gewesen.

 

2.4.2 Der Beifahrer im PW G.___, H.___, führte am 24. Juli 2019 aus (AS 74 ff.), der Sportwagen habe gleichzeitig mit ihrem PW drei vier Fahrzeuge, die vor ihnen gefahren seien, ebenfalls überholt. Dies sei am Anfang der Gempenstrasse gewesen und es sei frei gewesen. Er habe den Sportwagen erstmals realisiert wegen dem Motorengeräusch, als er überholt habe. Er habe nach dem Militärgebäude in Dornach unten in der Kurve auf der nachfolgenden Geraden überholt. Sie seien 50 – 55 km/h gefahren.

 

2.5 Auf der Gempenstrasse Richtung Gempen fuhr ebenfalls I.___, der mit seinem Taxi, einem PW Mercedes Benz E220, unterwegs war. Der Sportwagen habe ihn ausserorts überholt. Die Strecke sei frei und ein Überholen problemlos möglich gewesen. Er sei nach dem Schiessstand ausgangs Dornach überholt worden. Er selbst sei 50-60 km/h gefahren, als er überholt worden sei (Einvernahme vom 24. Juli 2019, AS 78 ff.). Hernach präzisierte er, er sei nach dem Munitionsmagazin resp. der folgenden Kurve (eine Kurve danach) auf der Geraden überholt worden. Er habe 100 Meter vor sich keine weiteren Fahrzeuge gesehen. Ein rotes Fahrzeug sei ihm erst an der Unfallstelle aufgefallen. Auf der Fahrt habe er kein anderes Fahrzeug vor sich in Sichtweite gehabt. Es seien sehr wenige Fahrzeuge unterwegs gewesen an diesem Tag. Auf der Karte (AS 84) zeichnet der Zeuge den Ort, wo er überholt wurde nach der auf die Gerade nach dem Magazin folgenden Kurve ein (also nach dem Waldeingang).

 

2.6.1 Der Privatkläger wurde am 29. August 2019 polizeilich befragt (AS 89 ff.). Aus gesundheitlichen Gründen war eine frühere Einvernahme nicht möglich.

 

Der Privatkläger führte aus, es fehle ihm die Erinnerung von einem Monat seines Lebens. Vom Unfall selbst habe er keine Erinnerung. Er könne sich auch nicht an die Operationen erinnern.

 

2.6.2 Der Privatkläger konnte auch anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 20. Oktober 2021 (AS 671 ff.) keine Aussagen zum Unfall machen. Er führte aus, in seiner Bewegung und Flexibilität zu Folge des Unfalls gestört zu sein. Die Hirnverletzung habe einen Teil seiner Persönlichkeit verändert. Dies sei eine riesige Herausforderung in seinem Leben. Mit seiner Ehefrau mache er seit mehr als einem Jahr eine Paartherapie. Er sei aktuell 30% arbeitsfähig.

 

2.7.1 Der Beschuldigte wurde erstmals am 20. Juni 2019 polizeilich befragt (AS 54 ff.). Er führte aus, er sei der Lenker des am Unfall beteiligten PW gewesen. Er habe auf einer geraden Strecke vor der Kurve die Autos, die vor ihm gefahren seien, überholt. Als er wieder rechts habe einfahren wollen, habe er den Radfahrer gesehen und Angst gekriegt. Danach habe er gebremst und den Wagen nach links gelenkt, um einen schweren Unfall zu vermeiden.

 

Er sei einen McLaren gefahren, den er zur Probe von der Garage bekommen habe. Er habe zwei Fahrzeuge überholt, die seien mit ca. 60-65 km/h gefahren. Es seien ein schwarzer Mercedes SUV und ein rotes Auto gewesen, vor ihm in erster Position sei das rote Auto gefahren, danach der Mercedes SUV in zweiter Position, die er überholt habe. Hinter ihm sei ein Taxi gewesen, ca. 200 m. An bestimmten Orten habe es ziemlich Verkehr gehabt, an anderen weniger. Er habe zuerst das Taxi überholt und dann die zwei anderen. Das Taxi sei beim Überholen etwa 50 km/h gefahren. Etwa 100 Meter vor ihm sei dann das rote Auto gekommen. Er habe mit 80 – 85 km/h auf das rote Auto aufgeschlossen. Der Beschuldigte markierte den Ort mit Z, wo er auf das rote Auto aufschloss.

 

Er selbst kenne die Strecke, er sei die Route schon mehrmals gefahren. Er habe die beiden Autos gleichzeitig überholt, diese hätten «aneinandergeklebt». Er habe etwas Distanz gehalten, um sicherer überholen zu können. Vielleicht 10 – 15 m. Das rote Auto habe etwa 2 – 5 m Abstand zum Mercedes gehabt. Bevor er mit dem Überholmanöver angefangen habe, habe er 60 – 65 km/h gehabt, das sei ja kurz nach der Kurve gewesen. Während dem Überholen sei er etwa 100 km/h gefahren. Den Radfahrer habe er gesehen, als er in die Kurve eingefahren sei. (AF: Ob er nach dem Überholen jemals auf den rechten Streifen zurück gewechselt habe?) Ja. Er habe nach dem Überholen nach rechts gewechselt und habe dann den Radfahrer gesehen und habe dann Angst bekommen und sei dann nach links ausgewichen. Er sei ja nicht fertig gewesen mit dem Fahrstreifenwechsel nach rechts und als er ihn gesehen habe, habe er dann nach links gelenkt. Als er den Radfahrer gesehen habe, sei er in der Mitte der Strasse gefahren. Er habe fest gebremst und dann nach links gesteuert. Als er mit dem Überholen begonnen habe, habe sich die nächste Kurve 200 – 250 m vor ihm befunden.

 

Der Beschuldigte markierte auf einem Kartenausschnitt den Punkt, wo er mit dem Überholen begonnen habe (AS 66). Am Ausgang der scharfen Rechtskurve. Er sagte nun aus, er habe das Überholmanöver nach der Kurve begonnen. Mit «vor der Kurve» eingangs der Einvernahme habe er die spätere Kurve gemeint, wo sich dann die Kollision ereignet habe (AS 59, Fragen 34 und 35). (AF: Zu Anfang sei er zum Unfallhergang und wie es genau dazu gekommen sei, befragt worden. Da habe er angegeben, dass er die Autos vor einer Kurve überholt habe. Gemäss der Markierung auf dem Kartenausschnitt 1 und den vorhergehenden Antworten solle es nun nach in der Kurve gewesen sein. Wo er denn nun überholt habe?) Der Punkt, welchen er auf dem Kartenausschnitt 1 markiert habe, wonach er mit dem Überholen begonnen habe, sei korrekt. Mit seiner Aussage «vor der Kurve» am Anfang habe er die Kurve gemeint, wo dann die Kollision passiert sei. Während des Überholmanövers habe die Geschwindigkeit ca. 100 km/h betragen. Er habe im Zeitpunkt, als er mit dem Überholmanöver begonnen habe, Sicht bis zum Kurveneingang gehabt, wo die Kollision dann passiert sei (vgl. Kartenausschnitte AS 66 und 67; anlässlich der Einvernahme vom 29. August 2019 wurden die handschriftlichen Bemerkungen auf dem Kartenausschnitt AS 66 präzisiert: mit «j’ai entammé un dépassement à cet endroit là» bezeichnete der Beschuldigte den Beginn des Überholens des roten PW). (AF: Er habe angegeben, nach vorne geblickt zu haben. Wie weit habe seine Sicht zum Zeitpunkt gereicht, als er mit dem Überholen des roten Autos begonnen habe?) Er habe bis zum Kurveneingang der Kurve sehen können, wo die Kollision passiert sei. (AF: Wann er den Radfahrer gesehen habe?) Als er in die Kurve eingefahren sei. (AF: Welche Kurve er jetzt meine; ob er das auf der Karte markieren könne?) Auf Kartenausschnitt 2 markierte der Beschuldigte seinen Standort genau in der Rechtskurve.

 

Er habe sich, als er den Radfahrer erstmals gesehen habe, ungefähr in der Mitte der Strasse befunden und sei im Begriff gewesen, das Überholen zu beenden. Der Radfahrer sei in der Mitte seiner (derjenigen des Radfahrers) Fahrbahn gefahren. Als er den Radfahrer gesehen habe, habe er Angst bekommen und habe nach links gelenkt. Zur Kollision sei es auf der linken Fahrbahn gekommen. Er habe nach dem Überholen auf den rechten Fahrstreifen gewechselt und dann den Radfahrer gesehen. Er sei in diesem Zeitpunkt mit dem Fahrstreifenwechsel nach rechts noch nicht fertig gewesen. Er sei in der Mitte der Strasse gefahren. Da habe er nach links gelenkt. Er habe aus Angst nach links gewechselt.

 

Er kenne den McLaren nicht so gut. Es sei aber nicht das erste Mal, dass er einen Sportwagen fahre. Er habe den McLaren von einer Garage für eine Probefahrt bekommen.

 

2.7.2 Am 29. August 2019 erfolgte eine zweite polizeiliche Einvernahme des Beschuldigten (AS 93 ff.). Er führte aus, dass er den roten Kleinwagen und den Mercedes SUV gleichzeitig überholt habe. Diese beiden Fahrzeuge seien noch nicht ausgangs der letzten Rechtskurve vor dem Unfallort gewesen, als er sich bereits eingangs der nächsten Linkskurve nach dem Unfallort befunden habe.

 

Auf Vorhalt, ob er nicht auch einen Mercedes Benz C350e überholt habe, führte der Beschuldigte aus, er könne sich an dieses Auto nicht erinnern. Er wisse, dass er zwei Fahrzeuge überholt habe, dies seien das rote Auto und der SUV gewesen. Er habe vor der Kurve überholt. Er habe gewusst, dass er mit diesem Auto auf dieser Distanz überholen könne.

 

Der Beschuldigte verwies auf den Kartenausschnitt (AS 67,107): Er habe an der Stelle, die er mit «j’ai commenc.à revernir sur ma voie…» bezeichnet habe, das Überholmanöver beendet. Jetzt, wo er das reflektiere, glaube er, dass er das sogar vorher beendet habe. Er habe in der Kurve eine Vollbremsung gemacht, weil er den Radfahrer gesehen und Angst bekommen habe. Ja und bremsen in einer Kurve sei nicht eine gute Idee, normalerweise. (AF: Wieso er in der Kurve habe bremsen müssen?) Weil er ihn in dem Moment gesehen habe. Er sei vor der Rechtskurve wieder auf seinen Fahrstreifen zurückgekommen. Vor der Kollision sei er ins Schleudern gekommen, als er gebremst habe.

 

Er sei im dritten Modus gefahren, der Garagist habe ihm gesagt, er fahre auch immer in diesem Modus. Nicht Sport Normal. Die Fahrassistenzsysteme habe er nicht manuell verändert. Er habe zwei Mal aus den Lautsprechern ein «Beep» gehört, alle 5 10 Minuten.

 

Der Beschuldigte konnte nicht erklären, wieso er gebremst habe, als er den Radfahrer gesehen habe, wenn er doch nach dem Überholen wieder auf den rechten Streifen gewechselt habe. Er habe einfach Angst bekommen. Er habe gebremst und dann sei das Auto ausgebrochen. Er habe Angst gehabt, deshalb habe er das Bremspedal gedrückt. Er sei ja vorher um die 100 km/h gefahren und er habe seine Geschwindigkeit heruntersetzen wollen und dann habe er den Radfahrer gesehen und dann habe er Angst bekommen und zu stark gebremst. (AF: Wovor er Angst gehabt habe?) Ihn dort zu sehen, habe ihm Angst gemacht. Er habe gedacht, da sei niemand. Er sei auch in schwarz gekleidet gewesen, wenn er sich richtig erinnere.

 

Es gebe keine Sicherheitslinie an dieser Stelle und aufgrund dessen dürfe man überholen. Klar im Winter würde er so nicht überholen. Es gebe kein Verbot, dass man nicht überholen dürfe an dieser Stelle. Er habe die Verhältnisse so eingeschätzt, dass es für ihn möglich gewesen sei, zu überholen, deshalb habe er überholt.

 

2.7.3 Am 25. Juni 2020 erfolgte eine Einvernahme des Beschuldigten durch den Staatsanwalt (AS 308 ff.). Der Beschuldigte bestätigte, zwei Autos überholt zu haben. Er habe das Überholmanöver abgeschlossen. (AF) Er habe nach dem Überholmanöver wieder auf die rechte Fahrbahn gewechselt. Das habe ja der Bericht gezeigt. Sie seien weit hinter ihm gewesen, dann sei die Kurve gekommen. Das Auto habe begonnen sich zu bewegen. Er habe vor sich auf der Mitte der Strasse einen Radfahrer gesehen, darauf sei er in Panik und auf die linke Seite geraten. Er habe versucht, so gut als möglich wieder auf die normale Spur zu kommen. Er sei dann erschrocken, als der Aufprall gekommen sei. Er habe gedacht, er sei genügend auf der Seite, da er ja auch auf dem Kies gewesen sei. Er sei sehr überrascht gewesen.

 

Der Garagist habe ihm erklärt, wie man die Modi ändere und welche Auswirkungen das haben könne. Er habe auf dieser Strecke schon viele Autos getestet. Das Verkehrsaufkommen sei wellenartig gewesen.

 

Er sei sicher gewesen, dass er das Überholmanöver machen könne, sonst hätte er nicht überholt. Er habe nicht mit Gegenverkehr gerechnet. Die Distanz zum Überholen habe ihm die Sicherheit gegeben, das Überholmanöver abschliessen zu können. Auf diese Distanz habe er auch nichts gesehen.

 

Das Auto habe bereits zuvor gezittert und bewegt. Er habe das in beide Richtungen gespürt. Dann sei es ganz ausgebrochen. Das Auto sei in der Kurve ausgebrochen. Das Überholmanöver habe er aber vor der Kurve abgeschlossen. Die Autos seien weit hinter ihm gewesen. Das Auto habe Zeit gehabt auszubrechen. Mit diesem Fahrzeug könne man schneller in die Kurve.

 

Er habe nie jemanden in Gefahr bringen wollen. Wenn diese Fahrzeuge 50 km/h fahren und er 100 km/h, dann hätte er sie ja in einer halben Sekunde überholt.

 

Auf Frage des Vertreters des Geschädigten führte der Beschuldigte aus, dass er sicher gewesen sei, mit der gefahrenen Geschwindigkeit die Kurve auf seiner Fahrbahn fahren zu können.

 

2.7.4 Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 20. Oktober 2021 (AS 678 ff.) führte der Beschuldigte aus, er habe beim Überholen gedacht, alles sei gut. Erst als er gebremst habe, sei ihm klargeworden, dass es nicht gut sei. Er habe aber überhaupt nicht gedacht, dass ihm in der Kurve etwas passieren könnte, weil er sicher gewesen sei, überholen zu können. Er habe weder jemanden anders noch sich in Gefahr bringen wollen. Er wisse nicht, warum er die Gewalt über das Fahrzeug verloren habe. Als er das Überholmanöver beendet gehabt habe, sei er auf die Bremse und das Fahrzeug habe irgendetwas gemacht und er habe die Gewalt über das Fahrzeug verloren.

 

Es habe zwischen den beiden Autos keinen Platz gehabt, um reinzufahren. Er habe gedacht, alles sei gut. Gebremst habe er, als ihm klargeworden sei, dass es nicht gut gewesen sei. Er habe niemals gedacht, dass etwas passieren könnte. Er habe das Überholmanöver beendet gehabt und sei auf die rechten Seite zurückgekehrt. Erst als er gebremst habe, habe das Auto die Spur gewechselt. Als er den Radfahrer gesehen habe, habe er Angst bekommen. Er sei in Panik geraten und habe noch fester gebremst und versucht, das Auto wieder zurückzugewinnen.

 

Auf Vorhalt, woher er die Sicherheit genommen habe, dass nichts passiere. Er habe ja nicht gewusst, was hinter der Kurve komme. Er glaube, dass eine Überholung nicht eine Minute gehe, es müsse etwas Schnelles sein. Da er vorausgeschaut und gesehen habe, dass er gehen könne, sei er gegangen. Es sei keine Nadelöhrkurve.

 

Auf Vorhalt, es seien etwa 100 Meter von dem Orte, den er als Beginn des Überholmanövers eingezeichnet habe; der Überholweg sei aber 230 Meter, noch ohne Einrechnung des Weges des Gegenverkehrs, sagte er aus, er verstehe nicht, wie man diese Berechnung machen könne. Wenn gestrichelt sei, dürfe man überholen.

 

Auf Aufforderung der Gerichtspräsidentin setzte er auf dem Kartenausschnitt auf AS 53 ein Kreuz an der Stelle, wo er das Überholmanöver begann. Die Distanz von diesem Kreuz bis zur Kurve beträgt ca. 120 Meter (Distanz bis zur Kurve 9,5 cm, Massstab 1:1243; AS 684 Ziff. 262 ff.).

 

2.7.5 Vor Obergericht (OG 171 ff.) führte der Beschuldigte aus, dass er die Strecke gekannt habe. Er habe sie zwischen vier und zehn Mal gefahren. Als er auf dem Weg Richtung Gempen vor dem Unfall zweimal andere PW überholt habe, sei er nicht so schnell gefahren, maximal 80 km/h. Die anderen Autos seien langsam unterwegs gewesen. Die beiden Mercedes, die er unmittelbar vor dem Unfall überholt habe, hätten zueinander nicht genug Abstand gehabt, damit ein Auto hätte dazwischenkommen können. Diese seien mit 40 km/h unterwegs gewesen. Er habe die Autos mit rund 90 km/h überholt. Zu Beginn des Überholmanövers habe er Sicht gehabt bis zum Ende der Kurve. Ihm sei zu keinem Zeitpunkt bewusst gewesen, dass ein Überholen in dieser Situation – Sicht nach vorne ca. 120 Meter mit anschliessender Kurve – sehr gefährlich sei. Er könne nicht sagen, was geschehen wäre, wenn während des Überholmanövers ein Auto aus der Gegenrichtung gekommen wäre. Er habe das Überholmanöver vor der Kurve ja abgeschlossen. Das Überholmanöver habe keine zwei Minuten gedauert. Er habe das Manöver abgeschlossen und danach die Kurve unterschätzt. Er hätte mehr bremsen müssen. Als er das Überholmanöver begonnen habe, sei er sich sicher gewesen, es abschliessen zu können. Er sei vor der Kurve auch wieder auf seine Spur gekommen. Auf Frage, warum er gedacht habe, er könne das Manöver abschliessen, antwortete er, weil die Fahrzeuge 40 km/h gefahren seien und er mit 90 km/h überholt habe. Es stimme, dass er gemäss dem verkehrstechnischen Gutachten eine Geschwindigkeit von 93 – 98 km/h im Kurvenbereich gehabt habe. Er habe die Kurve unterschätzt und nicht genug gebremst. So sei das Auto ins Schleudern geraten. Er habe zu keinem Zeitpunkt gedacht, dass er die Kurve nicht werde fahren können. (AV: Was geschehe, wenn ein Auto in einer Kurve ausbreche? Ob ihm nicht bewusst sei, dass man die Kontrolle über das Auto verlieren könne?) Doch. Aber er habe in diesem Moment nicht daran gedacht, weil er nicht zu schnell unterwegs gewesen sei und er die Kurve unterschätzt habe. Sein Verhalten sei falsch gewesen. (AV: Wenn jemand aus der Kurve entgegengekommen wäre, dann hätte er keine Zeit gehabt, das Überholmanöver abzuschliessen. Er habe Glück gehabt, dass niemand gekommen sei. Das sei doch ein sehr risikobehaftetes Überholmanöver gewesen?) Nein, er habe das Überholmanöver abschliessen können. Er habe die Kurve unterschätzt und nicht genug abgebremst. Als er am Überholen gewesen sei, habe er nicht gedacht, dass er sich selber in Gefahr bringen würde. (AV: Erstaunlich, dass er das immer noch so sage. Man könne auch die Meinung vertreten, er habe zu riskant überholt und habe deshalb die Kurve nicht nehmen können?) Er habe das Manöver abschliessen können. Die Linie sei nicht durchgezogen. Es sei erlaubt gewesen, zu überholen. Er sei konzentriert gewesen. Es sei ja schliesslich nicht sein Auto gewesen. Deshalb habe er nicht einfach irgendwas gemacht. Für ihn sei klar gewesen, dass es gut gehe. (AF: Er habe ausgesagt, er habe bei Beginn des Überholmanövers bis zum Ende der Kurve gesehen. Ob er durch die Kurve habe sehen können?) Er habe den Anfang der Kurve gesehen. So habe er sehen können, ob Gegenverkehr komme. Den Ausgang der Kurve habe er nicht gesehen. (AV: Beendet habe er das Manöver vor der Kurve. Der Überholweg von Beginn bis Ende habe rund 111 Meter betragen. Ob er das so etwa bestätigen könne?) Nein, er habe es nicht gemessen. Das wisse er nicht. (AV: Aber er wisse doch, wie lange etwa die Überholstrecke gewesen sei?) Das wisse er nicht. Er habe das Überholmanöver beendet. Er denke nicht, dass man messe, wenn man ein Überholmanöver beginne. Man schaue einfach, ob es abgeschlossen werden könne nicht. Als er das Überholmanöver begonnen habe, habe er gewusst, dass er es beenden könne. (AV: Er habe damals ausgesagt, er sei im dritten Modus (Rennstrecke, sog. «Track») gefahren. Ob das korrekt sei?) Der McLaren sei kein Rennwagen und es sei auch nicht der Rennmodus eingestellt gewesen. Der Garagist habe den Modus eingestellt. Der Modus ändere nichts an der Fahrweise. Er wisse nicht mehr, in welchem Modus er gefahren sei.

 

 

3. Die objektiven Beweismittel

 

3.1 Die Polizei Kanton Solothurn erstellte am Unfalltag eine Fotodokumentation (AS 213 ff.).

 

3.2 Gemäss Polizeiprotokoll bei Verdacht auf Fahrunfähigkeit vom 19. Juni 2019 betrug beim Beschuldigten die Messung bei der durchgeführten Atemalkoholkontrolle 0,00 mg/l (AS 371). Am 18. Juli 2019 legte das Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel ein rechtsmedizinisches Gutachten betreffend den Beschuldigten vor, gemäss dem keine Hinweise auf eine Aufnahme von toxikologisch relevanten Substanzen (Betäubungsmittel, Benzodiazepine, Ethanol) vorlagen. Im Ereigniszeitpunkt sei deshalb die Fahrfähigkeit des Beschuldigten substanzbedingt nicht eingeschränkt gewesen (AS 198 ff.).

 

3.3 Das Universitätsspital Basel, Chirurgie, beantwortete der Staatsanwaltschaft am 23. März 2020 (AS 271 ff.) diverse Fragen zu den Unfallfolgen und den Verletzungen des Opfers. Demnach erlitt das Opfer bei der Kollision vom 19. Juni 2019 folgende Verletzungen:

 

-        Schwere offene Schädel-Hirn-Verletzung mit Luft- und Bluteinschluss im knöchernen Schädel sowie Verdacht auf eine Schärverletzung;

-        Infolge dessen eingeschränktes Bewusstsein;

-        Komplexe Brüche des Schädels inklusive Mittelgesicht und Schädelbasis;

-        Austritt von Hirnwasser über das linke Nasenloch;

-        Grosse Weichteilverletzung der linken Flanke und des linken Oberschenkels mit einem drittgradig offenen Bruch des Beckens (Beckenschaufel und Hüftgelenkspfanne);

-        Bruch des Oberschenkelknochens links;

-        Bruch des Oberarmknochens links;

-        Bruch des Schlüsselbeins links;

-        Schwere Verletzung des Brustkorbs mit Serienbrüchen der Rippen beidseits und Lungenkollaps (Pneumothorax)

-        Mehrere Weichteilverletzungen im Sinne von etwa Hautabschürfungen.

 

Weiter wird ausgeführt, dass sich das Opfer in Lebensgefahr befunden habe. Er sei nach der Kollision zu Folge der Schädel-Hirn-Verletzung bewusstseinsgetrübt gewesen. Der Atemweg sei unsicher und die Sauerstoffzufuhr durch die Verletzung des Brustkorbes gemindert gewesen. Es sei als unmittelbar lebensrettende Massnahme eine Schutzintubation und die Verbringung des Opfers mit der Rega in das Universitätsspital Basel vorgenommen worden. Das Opfer habe infolge des Unfalls mehrfach operiert werden müssen (Operationsberichte AS 289 -307). Nach Angaben der Angehörigen sei es zu einer Wesensveränderung des Opfers gekommen, was angesichts der Schädelverletzung denkbar und nachvollziehbar sei. Es müsse nach der schweren Hüftpfannenverletzung mit einer Arthrose einer Bewegungseinschränkung gerechnet werden. Das Opfer sei vom 19. Juni 2019 bis zum 4. Juli 2019 im Universitätsspital Basel stationär behandelt und anschliessend im REHAB Basel therapiert worden. Vom 26. Juli 2019 bis zum 3. August 2019 sei ein weiterer stationärer Spitalaufenthalt erforderlich gewesen. Eine Arbeitsfähigkeit lag im Zeitpunkt der Erstellung des Arztberichts (23. März 2020) noch nicht vor.

 

Gemäss E-Mail von […] vom 18. Oktober 2021 an den Vertreter des Opfers litt das Opfer unter diversen neuropsychologischen Problemen (Schwierigkeiten im Zeitmanagement und der Prioritätensetzung, verminderte kognitive Belastbarkeit, Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, AS 602).

 

Anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung schilderte der Geschädigte eindrücklich die gesundheitlichen Folgen der Kollision. Er habe 24 Brüche erlitten und habe sieben Mal operiert werden müssen. Er schilderte die langen Spital- und Reha-Aufenthalte ab dem 19. Juni 2019 bis Ende 2019 sowie die diversen Therapien, die er seither regelmässig besuche (Physiotherapie, neurologische Therapie, Psychologische Therapie, Paartherapie). Er schilderte auch die Schwierigkeiten, die sich auf Grund der Persönlichkeitsveränderung in der Beziehung zu seinen Freunden und vor allem zu seiner Ehefrau ergeben hätten (AS 674 ff.)

 

3.4.1 Das verkehrstechnische Gutachten der DTC Dynamic Test Center AG vom 29. Oktober 2019 (AS 228 ff.) hält einleitend die äusseren Verhältnisse zur Unfallzeit fest: Die Strasse war trocken, es herrschte Tageslicht, die Strasse, auf welcher sich die Kollision ereignete, lag in einem Waldstück und wies eine Breite von 8,5 Metern auf. Der Strassenabschnitt mit der Unfallstelle lag zwischen zwei Kurven und wies (in der Fahrtrichtung des Beschuldigten) eine Steigung von 6% auf.

 

Die Gutachterin dokumentierte Reifenspuren, welche auf der Gegenfahrbahn des Beschuldigten beginnen, über den linksseitigen Kiesplatz hinaus ins angrenzende Wiesland und zurück auf die Fahrbahn führen (AS 232 f.). Der PW des Beschuldigten wies Beschädigungen an der Front und am Dach auf. Die Frontscheibe des PW war im rechten Bereich eingedrückt bzw. zersplittert. Das Dach wies eine Eindellung auf (AS 234). Der Karbonrahmen des Fahrrads des Geschädigten war komplett gebrochen (AS 235).

 

Der Geschädigte trug eine GoPro Hero 5 auf sich. Es handelt sich dabei um eine Kamera, die der Geschädigte offenbar am Oberkörper trug und seine Fahrt Richtung Dornach zeigt. Die Kamera stellte pro Sekunde 23,976 Bilder her. Der Videoausschnitt wurde von dem Punkt an, wo der PW des Beschuldigten erstmals sichtbar wurde, bis zur Kollision in Einzelbilder zerlegt. Dies ergab 47 Bilder und entspricht einer Zeitdauer von 1,92 – 2 Sekunden. Die sechs für die Rekonstruktion verwendeten Bilder finden sich auf AS 238 f., vgl. auch AS 261 ff.

 

Die Gutachterin führte eine Kollisionsanalyse mit Berechnung der Kollisionsgeschwindigkeit unter Verwendung von zwei Berechnungsmethoden durch (AS 244 ff.). Sie stellte weiter fest, dass der Kurvenradius der Rechtskurve, die der Beschuldigte vor der Kollision befuhr, im engsten Bereich 27 m betrug und die Kurvengrenzgeschwindigkeit bei trockenem Asphalt und einem Haftwert von 0,9 bei ca. 59 km/h lag (AS 247, 270). (Die Kurvengrenzgeschwindigkeit ist die bei stabilem Durchfahren einer Kurve maximal mögliche konstante Geschwindigkeit; de.m.wikipedia.org, besucht am 3.1.2023).

 

Gestützt auf das Spurenbild, die Videoaufzeichnungen der GoPro Hero 5-Kamera des Geschädigten sowie die angestellten Berechnungen lauten die wesentlichen Aussagen der Gutachterin zum Unfallhergang wie folgt:

-       Das Fahrzeug des Beschuldigten geriet in der Rechtskurve mit Radius 27 Meter nach links über die Gegenfahrbahn bis auf den angrenzenden Kiesplatz;

-       Das Fahrzeug begann leicht zu übersteuern, d.h. das Heck brach aus;

-       Das Fahrzeug rutschte mit der Hinterachse sowie dem linken Vorderrad neben und dem rechten Vorderrad auf der Gegenfahrbahn weiter bergwärts;

-       Der talwärts fahrende Radfahrer wurde vom PW frontal erfasst. Der Kollisionspunkt befindet sich 0,7 Meter vom Fahrbahnrand entfernt auf der Fahrspur des Radfahrers;

-       Der Radfahrer prallte bei der Kollision auf die Frontscheibe des PW und in der Folge ca. 4 Meter entgegen seiner Fahrrichtung auf die Strasse;

-       Die Geschwindigkeit des PW betrug beim ersten Sichtkontakt der Kamera des Radfahrers eingangs der Rechtskurve (d.h. 1,92 sec vor der Kollision) zwischen 93 km/h und 98 km/h. Die linken Räder des PW befanden sich in diesem Zeitpunkt auf der Mittellinie;

-       Die Kollisionsgeschwindigkeit des PW betrug zwischen 50 km/h und 58 km/h, diejenige des Fahrrads zwischen 24 km/h und 28 km/h;

-       Die Unfallursache war eine nicht an die Verhältnisse angepasste Geschwindigkeit des PW. Die Kurvengrenzgeschwindigkeit betrug 60 km/h, die ermittelte Geschwindigkeit beim Kurveneingang betrug zwischen 93 km/h und 98 km/h;

-       Aufgrund der ermittelten Positionen des PW während der Kurvenfahrt und der Auswertung des Bildmaterials ist kein Ausweichmanöver des Beschuldigten nach links erkennbar.

 

3.4.2 Durch das Berufungsgericht wurden Zusatzfragen zum resultierenden Haftwert und zur Kurvengrenzgeschwindigkeit gestellt, welche im Rahmen des Ergänzungsgutachtens beantwortet wurden.

 

Das Ergänzungsgutachten vom 20. Januar 2023 (OG 159 ff.) hält fest, dass der in Ziffer 2.10 des Gutachtens vom 29. Oktober 2019 erwähnte Haftwert von 0.9 auch für das Sportfahrzeug McLaren 570S Coupé gilt. Der errechnete Haftwert ist als resultierender Haftwert zu verstehen. Auch die in Ziffer 2.10 des Gutachtens angegebene Kurvengrenzgeschwindigkeit von 59 km/h wurde anhand einer Simulation überprüft und gilt auch für den vorliegenden Fall, in dem ein McLaren 570S Coupé verwendet wurde. Mit einer Kurvengrenzgeschwindigkeit von 59 km/h kann das Fahrzeug die Kurve noch passieren. Die beim McLaren 570S Coupé vorhandenen Fahrdynamikprogramme (Fahrmodi) beeinflussen die Kurvengrenzgeschwindigkeit nicht. Der resultierende Haftwert zwischen Reifen und Fahrbahn wird nicht verändert. Die Wahl des Fahrmodus beeinflusst vor allem die Beherrschbarkeit des Fahrzeugs: Je «schärfer» der Fahrmodus, desto grössere Anforderungen stellt das Fahrzeug an das fahrerische Können des Fahrers. In welchem Fahrmodus sich der McLaren 570S Coupé bei der Kollision befand, kann nicht mehr festgestellt werden. Ebenfalls ist nicht mehr nachvollziehbar, welcher Modus des ESC (Elektronische Stabilitätskontrolle) aktiviert war bzw. ob das ESC gar abgeschaltet war.

 


 

4. Das Beweisergebnis

 

4.1 In der Anklageschrift werden dem Beschuldigten unter Ziff. 3 (qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG) auch die zwei Überholmanöver der PW I.___ (Taxi Mercedes Benz) und PW G.___ (PW Daihatsu) nach dem Schiesstand in Dornach vorgehalten.

 

Im Zusammenhang mit diesen Überholmanövern ist erstellt, dass die beiden überholten Fahrzeuge bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit ca. 50-60 km/h (PW I.___) bzw. 60-65 km/h (PW G.___) unterwegs waren. I.___ machte im Zusammenhang mit dem Überholmanöver seines PW’s keine Aussagen, welche auf ein verkehrswidriges Verhalten des Beschuldigten hinweisen würden. Der Sachverhalt im Zusammenhang mit dem Überholmanöver des PW G.___ ist unklar: Während die PW-Lenkerin G.___ aussagte, der Beschuldigte habe einzig ihren PW überholt, führte ihr Beifahrer H.___ aus, der Beschuldigte habe gleichzeitig drei vier Fahrzeuge überholt. Beide PW-Insassen erwähnten das laute Motorengeräusch des Sportwagens beim Überholen und führten aus, es sei zum Überholen «frei» gewesen. G.___ erwähnte, der Sportwagen habe in einem «Wahnsinnstempo» überholt.

 

Es ist kein verkehrswidriges Verhalten des Beschuldigten auszumachen. Der einzige Hinweis ergibt sich aus der Aussage von G.___, der Sportwagen habe in einem Wahnsinnstempo überholt. Der Beschuldigte habe unvorsichtig überholt. In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, dass das sowohl von G.___ als auch H.___ erwähnte laute Motorengeräusch des Sportwagens auch die Wahrnehmung des Tempos eines PW beeinflusst. Eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausserorts ist bei diesen Überholmanövern deshalb nicht erstellt.

 

4.2 Es ist unbestritten, dass der Beschuldigte der Lenker des an der Kollision beteiligten PW McLaren 570 war. Unbestritten ist auch, dass der Beschuldigte die Strecke von Dornach nach Gempen gut kannte, weil er dort nach eigenen Aussagen bereits viele Autos getestet hatte. Unbestritten ist schliesslich, dass die Höchstgeschwindigkeit am Unfallort 80 km/h betrug.

 

4.3 Bei der Festlegung des rechtsrelevanten Sachverhalts des Unfallereignisses kann vollumfänglich auf die überzeugenden Ausführungen und Schlussfolgerungen des verkehrstechnischen Gutachtens der DTC Dynamic Test Center AG vom 29. Oktober 2019 inkl. Ergänzungsgutachten vom 20. Januar 2023 abgestellt werden. Es kann deshalb zum eigentlichen Unfallhergang auf die Ziffern 3.4.1 und 3.4.2 hiervor verwiesen werden.

 

4.4 Zum Fahrverhalten des Beschuldigten vor dem Befahren der Rechtskurve ist festzuhalten, dass das Überholmanöver von zwei PW von seiner Seite unbestritten ist. Dabei ist offensichtlich, dass es sich entgegen den Aussagen des Beschuldigten nicht um den roten PW G.___ und einen Mercedes, sondern um die beiden PW Mercedes E.___ und D.___ handelte, die der Beschuldigte vor der Rechtskurve überholt hat. Der Beschuldigte sagte aus, er habe das Überholmanöver mit ca. 100 km/h ausgeführt. Diese Aussage korrespondiert mit der Feststellung im Gutachten, wonach die Geschwindigkeit des PW eingangs der Rechtskurve zwischen 93 km/h und 98 km/h betrug. Zu Gunsten des Beschuldigten ist vom tieferen Wert auszugehen. Der Beschuldigte überholte somit die beiden PW E.___ und D.___ vor der Rechtskurve mit ca. 100 km/h und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 93 km/h in die Rechtskurve hinein.

 

4.5 Zum Punkt, wo der Beschuldigte zum Überholmanöver ansetzte, ist folgendes festzuhalten:

 

Vor der Rechtskurve, in welcher das Heck des PW McLaren ausbrach, verläuft die Gempenstrasse während ca. 130 Metern gerade (vgl. AS 53: Kartenausschnitt mit Massstab 1:1243; gerade Strecke vor der Kurve 10.5 cm). Gestützt auf die Videoaufnahmen der Kamera des Geschädigten ist erstellt, dass der Beschuldigte das Überholmanöver eingangs der Rechtskurve bereits abgeschlossen hatte, befand sich doch der PW McLaren eingangs der Rechtskurve gerade noch auf der eigenen Fahrspur (AS 264-271). Gemäss Feststellungen der Gutachterin befanden sich die beiden linken Räder des PW auf der Mittellinie, der PW im Übrigen somit auf der eigenen Fahrspur. Die Aussagen der PW-Insassen in den beiden überholten PW Mercedes C 350e Kombi (D.___) und Mercedes Benz GLE 250d (E.___), wonach der Beschuldigte «unmittelbar vor der Kurve» bzw. «im Bereich der Kurve» überholt habe, können nicht zutreffen. Der Beschuldigte muss das Überholmanöver früher begonnen haben. Allerdings trifft es entgegen den Aussagen des Beschuldigten auch nicht zu, dass die beiden überholten PW «weit hinter ihm» gewesen seien, als er das Überholmanöver vor der Kurve beendet habe, wie die folgende Berechnung zeigt:

 

Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung setzte der Beschuldigte auf entsprechende Aufforderung der Gerichtspräsidentin auf einen Kartenausschnitt an die Stelle, wo er zum Überholen ansetzte, ein Kreuz (AS 53). Gemäss dieser Angabe begann der Beschuldigte das Überholmanöver ca. 120 Meter vor der Rechtskurve (Distanz bis zur Kurve 9,5 cm bei einem Massstab 1:1243). Diese Distanz entspricht der für den Beschuldigten überblickbaren Strecke.

 

Der Beschuldigte überholte mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h (28 Meter/sec) die beiden PW Mercedes, welche mit ca. 60 km/h (16.66 Meter/sec, Angabe Beschuldigter) fuhren. Er führte aus, vor dem Überholen genug Abstand gelassen zu haben, um bessere Sicht zu haben und sicher überholen zu können (AS 59).

 

Die zwei überholten PW wiesen eine Gesamtlänge von ca. 10 Metern auf. Bei dem vom Beschuldigen angegebenen genügenden Abstand zum hinteren PW, den er überholte, ist von 10 Metern auszugehen. Der Abstand zwischen den beiden überholten PW war offenbar sehr klein, es ist von zwei Wagenlängen, somit 10 Metern, auszugehen. Nach dem Überholmanöver musste der Beschuldigte noch einen Sicherheitsabstand von ebenfalls ca. 10 Metern einhalten, bevor er wieder auf die rechte Fahrbahn einbiegen konnte.

 

Der Beschuldigte fuhr mit 100 km/h 28 Meter pro Sekunde, die beiden überholten PW Mercedes 60 km/h 16.66 Meter pro Sekunde. Dies ergibt einen benötigten Überholweg von 115 Metern innert 4.1 Sekunden. Somit konnte er vor dem Beginn der Rechtskurve sein Überholmanöver gerade noch abschliessen. Im verkehrstechnischen Gutachten ist entsprechend festgehalten, dass sich die linken Räder des Fahrzeugs des Beschuldigten eingangs der Rechtskurve auf der Mittellinie befunden hätten (AS 248; Bild AS 238 Position A). 1 – 1,5 sec später befand er sich im Kurvenbereich; zu diesem Zeitpunkt, d.h. nach 4 – 4,5 sec nach Beginn des Überholmanövers, befand sich der vordere PW Mercedes, ca. 40 Meter vor der Kurve und damit nicht «weit hinter» dem PW des Beschuldigten.

 

Der vom Beschuldigten angegebene Ort des Beginns des Überholmanövers erscheint unter Berücksichtigung der Angaben der involvierten Personen zu den gefahrenen Geschwindigkeiten sowie den Ergebnissen des verkehrstechnischen Gutachtens, wonach die Geschwindigkeit des Beschuldigten eingangs der Rechtskurve (noch) 93 km/h betrug, als plausibel. Es ist deshalb von diesem Sachverhalt auszugehen.

 

4.6 In der Rechtskurve brach das Heck des PW des Beschuldigten aus und der PW geriet auf die linke Fahrspur. Ursache dafür war die übersetzte Geschwindigkeit des PW. Die Rechtskurve wies einen Radius von 27 Meter auf, was bei einem Haftwert von 0,9 eine Kurvengrenzgeschwindigkeit von ca. 59 km/h bedeutete. Das Ergänzungsgutachten vom 20. Januar 2023 bestätigte explizit diese Werte in Bezug auf den vom Beschuldigten gefahrenen McLaren. Die beim McLaren 570S Coupé vorhandenen Fahrdynamikprogramme (Fahrmodi) beeinflussen die Kurvengrenzgeschwindigkeit gemäss Ergänzungsgutachten nicht. Ebenso wird der resultierende Haftwert zwischen Reifen und Fahrbahn dadurch nicht verändert. Es gibt mithin keine Gründe, den in der Expertise errechneten Haftwert bzw. die Kurvengrenzgeschwindigkeit in Frage zu ziehen; es ist davon auszugehen. Bei der vom Beschuldigten gefahrenen Geschwindigkeit von 93 km/h hätte es eines Haftwertes von 2,1 bedurft, um das Ausbrechen des PW zu verhindern.

 

In Bezug auf den Fahrmodus ist festzuhalten, dass gemäss Gutachten bzw. Ergänzungsgutachten nicht mehr eruiert werden kann, in welchem Fahrmodus sich der McLaren 570S Coupé bei der Kollision befand. Ebenfalls ist nicht mehr nachvollziehbar, welcher Modus des ESC (Elektronische Stabilitätskontrolle) aktiviert war bzw. ob das ESC gar abgeschaltet war.

 

4.7 Der Beschuldigte bremste in der Rechtskurve das Fahrzeug ab, zu seinen Gunsten ist von der gemäss Gutachten tieferen gefahrenen Kollisionsgeschwindigkeit von 50 km/h auszugehen. Die Kollision ereignete sich auf der Fahrspur des Radfahrers, 0,7 Meter entfernt vom rechten Fahrbahnrand. Entgegen den Aussagen des Beschuldigten besteht kein Hinweis auf ein von ihm vor der Kollision vorgenommenes Ausweichmanöver nach links. Gemäss Gutachten (S. 5, 6, 13, 17) bremste der Radfahrer und steuerte nach rechts.

 

4.8 Der talwärts fahrende Radfahrer wurde bei der Kollision schwer verletzt und leidet unter bleibenden gesundheitlichen Schädigungen. Es kann diesbezüglich vollumfänglich auf Ziff. 3.3 hiervor verwiesen werden. Gemäss Bericht des Unispitals Basel vom 23. März 2020 (AS 271 ff.) bestand unmittelbare Lebensgefahr. Das Gesicht ist nicht wesentlich entstellt. Es muss zufolge der Hüftverletzung mit einer Arthrose einer entsprechenden Bewegungseinschränkung gerechnet werden. Als Folge des Schlüsselbeinbruches bestehe noch eine eingeschränkte Beweglichkeit in der linken Schulter. Die Heilung daure noch an. Arbeitsfähigkeit sei noch nicht gegeben. Es lasse sich nicht sagen, inwiefern sich die Schädelverletzungen dauerhaft kognitiv auswirkten. Die Bewegungseinschränkung der Schulter könne sich noch verbessern. Eine abschliessende Beurteilung sei noch nicht möglich.

 

Der Geschädigte sagte am 20. Oktober 2021 anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung aus, er könne sich nicht wie vorher bewegen. Er sei nicht so flexibel und stark wie vorher. Die Hirnverletzung habe seine Persönlichkeit verändert. Im Moment sei er 30 % arbeitsfähig. Er besuche immer noch diverse Therapien.

 

Aufgrund der anlässlich der Berufungsverhandlung eingereichten Bestätigung der SUVA, wonach der Privatkläger mittlerweile eine Rente bezieht (OG 203), ist damit eine dauernde gesundheitliche Einschränkung und eine bleibende Erwerbseinschränkung erstellt.

 

 

III. Rechtliche Subsumtion

 

1. Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB; AKS Ziffer 2)

 

1.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, dass sich der Beschuldigte der Gefährdung des Lebens zum Nachteil von E.___, […], D.___ und F.___ nicht schuldig gemacht habe (Urteil S. 19). Ein ausdrücklicher Freispruch von diesem Vorhalt ist jedoch nicht erfolgt, wobei sich dafür im Urteil keine Begründung findet.

 

1.2 Mit Blick auf die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Grundsatz «ne bis in idem» (vgl. BGE 144 IV 363) hat bezüglich AKS Ziff. 2 aber tatsächlich ein Freispruch zu unterbleiben. Massgebend ist das Vorliegen identischer im Wesentlichen gleicher Tatsachen, während das Konkurrenzverhältnis zwischen den anwendbaren Strafnormen ohne Bedeutung bleibt (Urteil 6B_1053/2017 vom 17.5.2018 E. 4 mit Hinweisen). Da es sich vorliegend um den identischen Lebenssachverhalt wie in AKS Ziff. 1 und 3 handelt, bleibt für einen formellen Freispruch vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens kein Raum.

 

2. Versuchte vorsätzliche Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB; AKS Ziffer 1)

 

2.1 Allgemeine Ausführungen

 

2.1.1 Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (Art. 111 StGB).

 

Im vorliegenden Fall ist der Tod des Geschädigten nicht eingetreten. Der objektive Tatbestand von Art. 111 StGB ist damit nicht erfüllt.

 

2.1.2 Vorsätzlich begeht ein Verbrechen Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Vorsätzlich handelt bereits, wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt (Art. 12 Abs. 2 StGB). Nach ständiger Rechtsprechung ist Eventualvorsatz gegeben, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs bzw. die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf nimmt und sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3).

 

2.1.3 Die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit kann im Einzelfall schwierig sein. Sowohl der eventualvorsätzlich als auch der bewusst fahrlässig handelnde Täter weiss um die Möglichkeit des Erfolgseintritts bzw. um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung. Hinsichtlich der Wissensseite stimmen somit beide Erscheinungsformen des subjektiven Tatbestands überein. Unterschiede bestehen beim Willensmoment. Der bewusst fahrlässig handelnde Täter vertraut (aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit) darauf, dass der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg nicht eintreten, das Risiko der Tatbestandserfüllung sich mithin nicht verwirklichen werde. Demgegenüber nimmt der eventualvorsätzlich handelnde Täter den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Wer den Erfolg dergestalt in Kauf nimmt, «will» ihn im Sinne von Art. 12 Abs. 2 StGB. Nicht erforderlich ist, dass der Täter den Erfolg «billigt». Ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung im Sinne des Eventualvorsatzes in Kauf genommen hat, muss das Gericht – bei Fehlen eines Geständnisses des Beschuldigten – aufgrund der Umstände entscheiden. Dazu gehören die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung, die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung, die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Das Gericht darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann.

 

Ein Fahrzeuglenker droht durch sein gewagtes Fahrverhalten meistens selbst zum Opfer zu werden. Die Annahme, er habe sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden und nicht im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf deshalb nicht leichthin angenommen werden. Bei Unfällen im Strassenverkehr kann nicht ohne Weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr nur mit Zurückhaltung und in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass der Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat (6B_1050/2017 E. 1.3.2).

 


 

2.2 Die Rechtsprechung

 

2.2.1 Das Bundesgericht hat im Entscheid BGE 130 IV 58 (Corrado-Fall), der als eigentlicher Leading-Case anzusehen ist, folgenden Sachverhalt beurteilt:

 

Zwei Autolenker mit je einem VW Corrado machten 1999 ein spontanes Rennen: Nr. 2 überholte Nr. 1, sie fuhren danach knapp hintereinander und überholten so weitere unbeteiligte Personenwagen, vor einem Ortseingang (Gelfingen) versuchte Nr. 1 die Nr. 2 wieder zu überholen, die beiden rasten mit 120 km/h nebeneinander in das Dorf, wo Nr. 1 etwa 150 m nach der Ortstafel die Herrschaft über das Fahrzeug verlor, ins Schleudern kam und 2 Jugendliche auf dem Trottoir erfasste und tötete. Nr. 2 war beim Ortseingang vom Gas gegangen.

 

Beide Fahrer, Nr. 1 und Nr. 2, wurden vom Kriminalgericht Luzern wegen eventualvorsätzlicher Tötung zu je 6 ½ Jahren Zuchthaus verurteilt, was vom Bundesgericht geschützt wurde.

 

Das Bundesgericht begründete das Vorliegen des Eventualvorsatzes im Wesentlichen wie folgt:

 

-       Schwierige Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz. Für den Nachweis des (Eventual-) Vorsatzes kann sich der Richter regelmässig nur auf äusserlich feststellbare Indizien und Erfahrungsregeln stützen, die ihm Rückschlüsse von den äusseren Tatumständen auf die innere Einstellung des Täters erlauben. Zu diesen Umständen zählt vor allem die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung: „Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolges ausgelegt werden kann (BGE 109 IV 140 mit Hinweisen; so schon BGE 69 IV 75). - Zu den äusseren Umständen, aus denen der Schluss gezogen werden kann, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen, zählt die Rechtsprechung unter anderem auch die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die tatsächliche Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Zu den relevanten Umständen können aber auch die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung gehören. Der Schluss, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen, darf aber jedenfalls nicht allein aus der Tatsache gezogen werden, dass sich dieser des Risikos der Tatbestandsverwirklichung bewusst war und dennoch handelte. Denn dieses Wissen um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung wird auch bei der bewussten Fahrlässigkeit vorausgesetzt“ (E. 8.4.).

-       Das kantonale Gericht hat, wenn es um die Frage des Eventualdolus geht, die in diesem Zusammenhang relevanten Tatsachen so erschöpfend wie möglich festzustellen, damit erkennbar wird, aus welchen Umständen die Inkaufnahme der Tatbestandsverwirklichung abgeleitet wurde (E. 8.5.).

-       Wer im Rahmen eines fahrerischen Kräftemessens kurz vor einem Dorfeingang mit einem Tempo von 120 - 140 km/h zu einem Überholmanöver ansetzt und sich nicht davon abbringen lässt, obwohl er voraussieht, dass es sich bis in den Innerortsbereich hinziehen wird, wo er die höchstzulässige Geschwindigkeit mithin um bis zu 90 km/h überschreitet, kann gar nicht anders, als den Deliktserfolg ernstlich in Rechnung zu stellen. Er lässt es offensichtlich „Drauf ankommen“. Der Beschwerdeführer 1 hat sich daher mit seiner Fahrweise für die mögliche Rechtsgüterverletzung entschieden (…) Seine Fahrweise hat ihm mit anderen Worten nunmehr die Hoffnung erlaubt, die Sache werde glimpflich ausgehen. Er musste es letztlich Glück und Zufall überlassen, ob sich die Gefahr verwirklichen werde nicht. Die blosse Hoffnung auf das Ausbleiben des tatbestandsmässigen Erfolgs schliesst eine Inkaufnahme im Sinne eventualvorsätzlicher Tatbegehung anders als das - auch bloss leichtsinnige - Vertrauen jedoch nicht aus. Es bedeutet lediglich, dass der Erfolgseintritt als solcher unerwünscht ist (E. 9.1.1.).

-       Man wird einem Autofahrer bei einer riskanten Fahrweise in der Regel zugestehen, dass er - wenn auch oftmals rational nicht begründbar - leichtfertig darauf vertrauen wird, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen. Die Annahme, der Fahrzeuglenker habe sich gegen das Rechtsgut entschieden und nicht mehr im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf daher nicht leichthin getroffen werden (E. 9.1.1.).

-       Im vorliegenden Fall war das primäre Ziel des Beschwerdeführers 1, dem Rivalen die eigene fahrerische Überlegenheit zu beweisen und um keinen Preis das Gesicht zu verlieren. Dieses Ziel hat er höher bewertet als die drohenden Folgen, mithin als den Tod der beiden Opfer. Diesem hat er selbst die eigene Sicherheit und diejenige seiner Mitfahrer untergeordnet. Dadurch, dass er sich durch nichts davon abbringen liess, das Überholmanöver bis zuletzt durchzuziehen, hat er zum Ausdruck gebracht, dass ihm der als möglich erkannte Erfolg völlig gleichgültig war (E. 9.1.1.a.E.).

 

2.2.2 Im Entscheid 6S.114/2005 vom 28. März 2006 ging es um folgenden Sachverhalt:

 

Zwei junge Kollegen X und Y beschlossen gemeinsam, mit ihren schnellen Autos zu einer Raststätte zu fahren. Sie fuhren mit zum Teil erheblich übersetzter Geschwindigkeit dicht hintereinander und versuchten, sich gegenseitig zu überholen. Bei der Raststätte angekommen, forderte X den Y mit dem Einschalten der Warnblinkanlage zu einem Rennen heraus, worauf die beiden auf die Autobahn fuhren und auf mindestens 160 km/h beschleunigten. Y überholte X, reduzierte dann aber vor einer Ausfahrt die Geschwindigkeit auf das zulässige Mass und reihte sich hinter einem anderen PW zur Ausfahrt ein. X fuhr mit einer Geschwindigkeit von mindestens 170 km/h in knappem seitlichem Abstand an den Ausfahrenden vorbei, über die Sperrfläche in die Ausfahrt, worauf er infolge der massiv übersetzten Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und mit mindestens noch 167 km/h in die Leitplanken und einen Kandelaber fuhr. Infolge dieses Unfalls erlitt der Beifahrer des X tödliche Verletzungen.

 

X wurde wegen vorsätzlicher Tötung und grober Verkehrsregelverletzung zu 5 Jahren und 3 Monaten Zuchthaus bestraft. Das Bundesgericht wies seine Beschwerde ab.

 

Die Urteilsgründe:

 

-       X hat in der Ausfahrt mit mind. 170 km/h und über die Sperrfläche den Y und den vor ihm fahrenden PW überholt. Ihm waren die örtlichen Verhältnisse bekannt. Es war für ihn ohne weiteres erkennbar, dass er mit diesem Manöver die naheliegende Möglichkeit schaffte, die Herrschaft über das Fahrzeug zu verlieren. Die Wahrscheinlichkeit eines Verkehrsunfalles mit schwerst möglichen Folgen war aufgrund der gegebenen Verhältnisse derart hoch, dass der Beschwerdeführer diese bei seinem Entschluss, die vor ihm fahrenden Personenwagen noch zu überholen und in die Ausfahrt einzubiegen, erkannt haben musste.

-       Er konnte aufgrund der konkreten Umstände nicht mehr ernsthaft darauf vertrauen, er werde den als möglich erkannten Erfolg durch sein Fahrgeschick vermeiden können (gemäss verkehrstechnischem Gutachten war der Unfall bei dieser Geschwindigkeit unvermeidlich).

-       Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängt, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolges ausgelegt werden kann. 

-       X hat es im eigentlichen Sinn „darauf ankommen lassen“. Aufgrund der Situation konnte er gar nicht anders, als mit der Tatbestandsverwirklichung rechnen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er sich bei diesem Manöver auch selbst gefährdet hat.

-       X hat sein Ziel, dem Kontrahenten seine eigene fahrerische Überlegenheit zu beweisen, höher bewertet als die eigene Sicherheit und diejenige seines Beifahrers. Der drohende Unfall mit seinen Folgen war ihm offensichtlich gleichgültig. Wenn X geltend machte, er habe darauf vertraut, er werde die Situation meistern, lag darin die blosse Hoffnung darauf, dass sich der Tatbestand dank glücklicher Fügung doch nicht verwirklichen werde, welche die Inkaufnahme des Erfolgs nicht ausschliesst.

 

2.2.3 Im Entscheid 6B_168/2010 vom 4. Juni 2010 beurteilte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt:

 

Der 18 ½-jährige X liess sich trotz Warnungen und Bitten seiner Freundin durch einen ihn überholenden PW provozieren und setzte diesem mit seinem VW Corrado ungeachtet des sonntäglichen Ausflugsverkehrs auf der relativ kurvenreichen Strasse mit massiv überhöhter Geschwindigkeit (um mind. 48 km/h zu schnell) in krass ungenügendem Abstand nach. Er verlor daraufhin in einer leichten Linkskurve die Herrschaft über sein Auto und kollidierte mit dem korrekt entgegenkommenden Fahrzeug frontal. Sowohl dessen Fahrer als auch seine Freundin wurden getötet.

 

X wurde wegen mehrfacher eventualvorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt. Das Bundesgericht wies seine Beschwerde ab.

 

Die Urteilsgründe:

 

-       Dass eine derartig halsbrecherische Fahrweise beim Befahren einer kurvenreichen Strecke zum Verlust der Herrschaft über das Fahrzeug führen kann, war für X - zumal nach den Warnungen seiner Freundin - erkennbar. Er verfügte kaum über Fahrpraxis, hatte den Führerausweis zum Unfallzeitpunkt erst seit 40 Tagen, konnte also nicht davon ausgehen, kritische Situationen mit Fahrgeschick ausgleichen zu können.

-       Auch das Willensmoment war erfüllt. Es handelt sich um einen besonders krassen Fall, bei welchem der Schluss auf ein eventualvorsätzliches Handeln mit Bundesrecht im Einklang steht. X ist mit seiner Fahrweise an der Grenze der Fahrstabilität seines Fahrzeuges unter Berücksichtigung seiner Unerfahrenheit ein äusserst hohes Risiko eingegangen. Die konkreten Umstände erlaubten ihm nicht mehr, ernsthaft darauf zu vertrauen, den als möglich erkannten Erfolg durch fahrerische Fähigkeit vermeiden zu können (…) Sich als Neulenker mit fehlender Fahrpraxis auf die festgestellte Verfolgungsjagd einzulassen, sprach für und nicht gegen die Inkaufnahme der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung. (…) Der Lenker des entgegenkommenden Fahrzeuges hatte anders als in BGE 133 IV 1 keinerlei Abwehrchancen, keine reelle Möglichkeit, einen Unfall mit schwerwiegenden Konsequenzen, einschliesslich Todesfolge, durch eine zweckmässige Reaktion zu vermeiden. Der Eintritt des Erfolges hing überwiegend gar ausschliesslich von Glück und Zufall ab.

 

2.2.4 Im Entscheid 6B_463/2012 vom 6. Mai 2013 (Fall Schönenwerd) beurteilte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt:

 

Am 8. November 2008, um 01:40 Uhr, ereignete sich auf der Aarauerstrasse in Schönenwerd ein Verkehrsunfall. Das von X mit stark übersetzter Geschwindigkeit gelenkte Fahrzeug prallte innerorts in das aus der Gegenrichtung kommende, nach links abbiegende Automobil von F. Dieser wurde leicht, seine Beifahrerin schwer verletzt, während die auf dem Rücksitz mitfahrende C tödliche Verletzungen erlitt. Beim Aufprall wies das Fahrzeug von X eine Geschwindigkeit von 101-116 km/h auf.

 

X, Y und Z wurde vorgeworfen, am 8. November 2008 durch konkludentes Handeln – schnelles Hintereinanderfahren mit ungenügenden Abständen, gegenseitiges Überholen und Überholen von unbeteiligten Fahrzeugen – gemeinsam den Entschluss gefällt zu haben, mit ihren Fahrzeugen so schnell wie möglich von Aarau nach Schönenwerd zu fahren. Auf dieser Strecke sollten sie mehrfach die allgemeine Höchstgeschwindigkeit missachtet haben (im Bereich Schachen in Aarau 100-120 km/h statt der erlaubten 50 km/h, auf der Haupt- bzw. Aarauerstrasse zwischen Wöschnau und Schönenwerd mindestens 117-135 km/h statt der erlaubten 80 km/h sowie bei der Ortseinfahrt Schönenwerd mindestens 116-129 km/h statt der erlaubten 50 km/h). Sie hätten auch die aufgrund der Geschwindigkeit, der Strassen- sowie der Sicht- und Witterungsverhältnisse erforderlichen Abstände nicht eingehalten.

 

X wurde vom Obergericht des Kantons Solothurn u.a. wegen eventualvorsätzlicher Tötung zu einer (Gesamt)Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Verurteilten ab.

 

Die Urteilsgründe:

 

-        Nach den tatsächlichen Feststellungen kannte der Beschwerdeführer die örtlichen Verhältnisse bei der Dorfeinfahrt Schönenwerd. Er wusste um die besondere Gefährlichkeit dieser Ortseinfahrt, bei welcher der Strassenverlauf nach der Innerortstafel bei der Einmündung der Stiftshalden- in die Hauptstrasse durch verkehrsberuhigende Massnahmen (Verkehrsinseln, Leuchtpfosten und einen leichten Kurvenverlauf) gesichert wird. In der kanalförmigen Verengung der Fahrspur konnte der Beschwerdeführer einem Hindernis auf der Strasse nicht ausweichen. Gleichwohl passierte er diese Ortseinfahrt mit einer Geschwindigkeit von 116-129 km/h, mithin mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 66 km/h. Obwohl er bereits beim Beginn der Innerortszone – also 130 Meter vor der Kollisionsstelle – den Personenwagen gesehen und auch wahrgenommen hatte, dass dieser zum Abbiegen einspurte, bremste er nicht, sondern liess lediglich das Gaspedal los. Die Aufprallgeschwindigkeit mitten in den abbiegenden Personenwagen betrug noch immer 101-116 km/h. Die Vorinstanz erwog zu Recht, bereits aufgrund dieser massiv übersetzten Geschwindigkeit des Beschwerdeführers innerorts in Kombination mit dem als Kurve angelegten, mit baulichen Massnahmen kanalisierten und dem Beschwerdeführer bestens vertrauten Abbiegebereich, sei das Risiko der Tatbestandsverwirklichung derart hoch gewesen, dass ihm das sehr hohe Risiko eines Verkehrsunfalls mit schwerst möglichen Auswirkungen bewusst gewesen sei. Die Folgen einer derartigen Fahrweise bei solchen Umständen stünden ohne Zweifel jedem Verkehrsteilnehmer vor Augen.

-        Als wahrscheinlicheres Motiv kam Gleichgültigkeit in Frage, indem es der Beschwerdeführer darauf ankommen liess und sich innerlich mit der vorhersehbaren Möglichkeit des Erfolgseintritts gar nicht auseinandersetzte. Seine Aussagen liessen darauf schliessen. Die Vorinstanz ging zutreffend davon aus, es liege einer jener krasser Fälle vor, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass sich der Fahrzeugführer gegen die geschützten Rechtsgüter entschieden hat.

-        Der abbiegende Autolenker hatte keine Chance, seinerseits den Unfall mit einer zweckmässigen Reaktion zu vermeiden.

 

2.2.5 Im Entscheid 6B_863/2017 vom 27. November 2017 ging es um folgenden Sachverhalt:

 

Die Kollegen X und Y waren mit ihren PW BMW und VW Polo unterwegs. Wiederholt überschritten die beiden die zulässige Höchstgeschwindigkeit. X fuhr Y mehrmals nahe auf und versuchte, ihn zu überholen. Dies verhinderte Y, indem er auf die Fahrbahnmitte lenkte und X dadurch die Durchfahrt versperrte. Im Dorfkern von L überholte X seinen Kollegen und wollte im Bereich einer unübersichtlichen Rechtskurve wieder auf die rechte Fahrbahn einlenken. Mit einer Geschwindigkeit zwischen 93 km/h und 100 km/h kam X ins Schleudern und kollidierte mit dem aus der Gegenrichtung kommenden Fahrzeug von A. In der Folge erfasste das Fahrzeug von X den Fussgänger B, der sich nach dem Überqueren des Fussgängerstreifens auf dem Trottoir befand. B. erlag den schweren Verletzungen. X wurde (u.a.) der vorsätzlichen Tötung schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren verurteilt.

 

Das Bundesgericht hielt in sachverhaltsmässiger Hinsicht fest, dass X drei Fahrzeuge in einem Zug überholt habe. X habe innerorts überholt und die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h massiv überschritten. Er habe auch gewusst, dass auf die Rechtskurve ein Fussgängerstreifen folgte und es sei für ihn erkennbar gewesen, dass eine derartige Fahrweise zum Verlust der Herrschaft über das Fahrzeug führen könne. Es sei ihm bewusst gewesen, dass unter diesen Umständen die erhöhte Gefahr eines Verkehrsunfalls mit schwerstmöglichen Folgen bestanden habe. Die sichtbare Strecke sei völlig ungenügend gewesen, um bei Gegenverkehr rechtzeitig reagieren zu können. Das Bundesgericht bejahte deshalb das Wissenselement des Vorsatzes.

 

Das Bundesgericht führte weiter aus, die Querbeschleunigung des Fahrzeugs von X beim Schleuderbeginn sei derart hoch gewesen, dass nur ein professioneller Testfahrer ein unkontrolliertes Schleudern hätte verhindern können. Er habe sich auch durch die Beschleunigung von Y nicht davon abbringen lassen, das riskante Überholmanöver durchzuziehen. Damit habe er seine übersteigerte Risikobereitschaft manifestiert. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern X unter Berücksichtigung der ihm bekannten Umstände vernünftigerweise habe darauf vertrauen können, dass sich die Gefahr einer tödlichen Kollision nicht verwirklichen würde. X sei damit willentlich ein äusserst hohes Risiko eingegangen. Aus dem Ablauf des Geschehens, insbesondere der gegenseitigen Anstachelung, der massiv überschrittenen Höchstgeschwindigkeit und des im Dorf vor einem Fussgängerstreifen stattfindenden Überholmanövers ergebe sich, dass es das primäre Ziel von X war, Y die eigene fahrerische Überlegenheit zu beweisen. Dieses Ziel habe er höher bewertet als die drohenden Folgen. Damit bejahte das Bundesgericht auch das Willensmoment des Vorsatzes.

 

Das Bundesgericht hat den Schuldspruch wegen eventualvorsätzlichen Tötung bestätigt.

 

2.2.6 Im Entscheid 6B_1050/2017 vom 20. Dezember 2017 hatte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt zu beurteilen:

 

X fuhr am frühen Morgen ausserorts auf einer geraden Strecke. Vor ihm fuhren D und E bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 km/h. Es herrschten dichter Nebel und schwierige Lichtverhältnisse (dunkel, keine Strassenbeleuchtung), Temperaturen um den Gefrierpunkt, die Fahrbahn war nass. Die Sichtweite betrug 50 Meter. X beschleunigte auf 70 km/h und setzte zum Überholen der beiden PW an. Zur gleichen Zeit fuhr auf der linken Seite die Seetalbahn in derselben Fahrtrichtung wie X. Während des Überholmanövers kollidierte X auf der Höhe des PW E frontal mit einem entgegenkommenden Motorrad, welches er erst unmittelbar vor der Kollision gesehen hatte. Der Motorradfahrer verstarb an den Folgen der erlittenen Verletzungen.

 

Die Vorinstanz sprach X (u.a.) der vorsätzlichen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 5 ½ Jahren.

 

Das Bundesgericht führte aus, dass der Eintritt des Erfolges überwiegend gar ausschliesslich von Glück und Zufall abgehängt habe. Entscheidend sei, ob X im Moment, als er zum Überholen auf die Gegenfahrbahn wechselte, ernsthaft darauf vertrauen konnte, er werde den als möglich erkannten Erfolg durch sein Fahrgeschick vermeiden können. Dies sei vorliegend zu verneinen. Auf Grund der völlig ungenügenden Sichtverhältnisse habe die Möglichkeit einer rechtzeitigen Reaktion nicht bestanden. Sowohl X als auch der Motorradfahrer hätten die Gefahr durch eigenes Geschick nicht mehr abwehren können. Der Eintritt einer Frontalkollision habe einzig vom Auftauchen von Gegenverkehr abgehängt. Das Risiko einer Kollision mit Todesfolge erscheine unter den vorliegenden Umständen derart gross, dass das Verhalten von X nur als krass sorgfaltswidrig bezeichnet werden könne. Indem sich X weder von den prekären Wetter- und Sichtverhältnissen noch von dem auf dem linksseitigen Bahntrassee fahrenden Zug habe davon abhalten lassen, zwei Personenwagen zu überholen, habe er zum Ausdruck gebracht, dass er sich mit dem als möglich erkannten Erfolg abgefunden und ihn in Kauf genommen habe.

Das Bundesgericht hat den Schuldspruch wegen vorsätzlicher Tötung bestätigt.

 

2.2.7 Im Entscheid 6B_567/2017 vom 22. Mai 2018 hatte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt zu beurteilen:

 

X überholte ausserorts trotz eingeschränkter Sicht zu Folge starken Nebels und bevorstehender Rechtskurve mit stark überhöhter Geschwindigkeit zwei Autos, ohne nach dem Überholen des ersten Fahrzeugs auf die Normalspur zurückzukehren. In der Folge kam es ca. 200 Meter nach Beginn der durchgezogenen Sicherheitslinie bei einer Geschwindigkeit von mindestens 133 km/h zur Frontalkollision mit einem korrekt entgegenkommenden Fahrzeug. Zwei Insassen dieses Fahrzeugs wurden getötet. Die Vorinstanz sprach X (u.a.) wegen mehrfacher vorsätzlicher Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren.

 

Das Bundesgericht führte aus, es sei nicht entscheidend, dass X sich kein Rennen mit einem anderen Strassenbenützer geliefert habe und niemanden habe beeindrucken wollen. Zu beachten sei, dass die Fahrer der überholten Fahrzeuge aufgrund der eingeschränkten Sicht nicht mit den erlaubten 80 km/h, sondern mit bloss 60-70 km/h unterwegs gewesen seien, wogegen das bei Y ermittelte Tempo zwischen 120 km/h und 133 km/h als höchst unangemessen und gefährlich erscheine.

 

Die sichtbare Strecke bei Beginn des Überholmanövers habe lediglich 150 Meter betragen. Diese Strecke sei angesichts des Strassenverlaufs sowie der Witterungsverhältnisse bei Feuchtigkeit, Dunkelheit und Nebel für ein Überholmanöver ungenügend gewesen, um auf Gegenverkehr reagieren zu können. X habe deshalb um die grosse Gefahr einer Frontalkollision mit dem Gegenverkehr sowie um deren potenziell tödlichen Folgen gewusst. Die blosse Hoffnung, der Tatbestand werde sich dank glücklicher Fügung nicht verwirklichen, schliesse Eventualvorsatz nicht aus. Der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs habe sich unter den gegebenen Umständen als derart wahrscheinlich aufgedrängt, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden könne.

 

Das Bundesgericht hat den Schuldspruch wegen mehrfacher vorsätzlicher Tötung bestätigt.

 

2.2.8 Die Strafkammer des Obergerichts hatte am 2. März 2015 folgenden Sachverhalt zu beurteilen (STBER.2015.34):

 

Dem Beschuldigten wurde vorgehalten, er habe mit seinem Personenwagen trotz widrigster Sichtverhältnisse (konkret habe die Sichtweite aufgrund von Nebel und Morgendämmerung lediglich ca. 50 bis 100 Meter betragen und am Tatort mache die Strasse eine langgezogene Rechtskurve) zu einem Überholmanöver auf der Gegenfahrbahn angesetzt und versucht, nicht nur den vor ihm fahrenden Personenwagen, sondern auch das vor diesem fahrende Sattelmotorfahrzeug zu überholen. Dabei habe der Beschuldigte gemäss dem verkehrstechnischen Gutachten des Dynamic Test Center, Vauffelin, eine Geschwindigkeit zwischen 115 und 124 km/h erreicht. Auf der Höhe des Sattelmotorfahrzeugs sei der Beschuldigte frontal mit dem korrekt entgegenkommenden Fahrzeug der Geschädigten, welches mit einer Geschwindigkeit zwischen 73 und 79 km/h unterwegs gewesen sei, kollidiert. Die Kollision ereignete sich auf der Höhe des Aufliegers des Sattelschleppers, der PW des Beschuldigten wurde nach der Kollision an den Auflieger geschleudert.

 

Die Strafkammer legte ihrer Beurteilung folgende relevante Tatumstände zu Grunde:

 

-        Der Beschuldigte war mit den örtlichen Verhältnissen bestens vertraut, er hatte seit einigen Wochen die Strecke täglich als Arbeitsweg zurückgelegt. An der Unfallstelle hatte er bereits früher mehrfach andere Personenwagen überholt.

-        Der Beschuldigte war als Automechaniker besonders gut mit dem Funktionieren von Autos vertraut.

-        Der Beschuldigte war bei seiner Fahrt nicht in Eile und hätte den Arbeitsbeginn um 07:30 problemlos einhalten können. Er war vor dem Unfall auf der Fahrt ausser einem deutlich zu nahen Aufschliessen auf dem Hauensteinpass nicht aufgefallen.

-        Die Fahrt um 07:00 Uhr erfolgte mitten in der morgendlichen Hauptverkehrszeit, es musste also mit regelmässigem Gegenverkehr gerechnet werden, auch wenn der Beschuldigte, wie von der Verteidigung betont, in der Hauptverkehrsrichtung unterwegs war.

-        Zur Veranschaulichung der benötigten freien Überholstrecke wurden folgende rudimentäre Berechnungen angestellt: Um einen Sattelschlepper von 16,5 Metern, der mit 60 km/h fährt, zu überholen, sind bei einer eigenen Geschwindigkeit von (erlaubten) 80 km/h und einem Abstand von 30 Metern (Abstand PW zum LKW) und einem Einbiegen 10 Meter vor dem Lastwagen gut 10 Sekunden 222 Meter nötig (benötigte Mehrstrecke: 56,5 m, Geschwindigkeitsdifferenz 20 km/h), wobei fast das Doppelte dieser Strecke frei und übersichtlich sein muss, da ja ein anderes Fahrzeug mit der nahezu gleichen Geschwindigkeit entgegen kommen kann. Bei einer Überholgeschwindigkeit von durchschnittlich 100 km/h beträgt die Überholstrecke 139 Meter in 5 Sekunden. Ein mit 80 km/h entgegenkommendes Fahrzeug würde in dieser Zeit 111 Meter zurücklegen. Übersichtlich und frei müsste daher eine Strecke von mindestens 250 Metern sein. Dabei noch nicht eingerechnet ist die Zeit/Strecke, die der Beschuldigte zum Beschleunigen und Aufschliessen auf die Position des PW zusätzlich benötigt hätte.

-        Die Sichtweite des Beschuldigten zu Beginn des Überholmanövers betrug wegen des Nebels maximal 100 Meter, dies bei einem Abstand der beiden Fahrzeuge zu Beginn des Manövers von rund 240 Metern. Dazu kam die Unübersichtlichkeit der Überholstrecke wegen der folgenden leichten Rechtskurve und der vor ihm fahrenden Fahrzeuge, wobei ihm der Sattelschlepper – bis nach der leichten Rechtskurve, also kurz vor der Kollision – praktisch jede Sicht nach vorne nahm. Er konnte allfälligen, korrekt entgegenkommenden Verkehr schlicht nicht sehen.

-        Der Beschuldigte zog nicht in Betracht, nur den PW zu überholen, sondern entschloss sich, beide vor ihm fahrenden Fahrzeuge in einem Zug unter schwerwiegender Missachtung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit (Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 115 und 124 km/h) zu überholen.

-        Mit dem Erreichen des Sattelschleppers ergab sich eine Situation, die im Falle eines entgegenkommenden Fahrzeugs keinerlei Ausweg mehr zuliess: die rechte Fahrspur war blockiert und neben der Gegenfahrbahn stieg das Bord steil an. Auch ein rechtzeitiges Bremsmanöver war angesichts der äusserst beschränkten Sichtweite sowie der eigenen und der vom Gegenverkehr zu erwartenden Geschwindigkeit völlig undenkbar. Beide Unfallfahrzeuglenker kamen denn auch gar nicht mehr zum Bremsen vor der Kollision.

 

Alle diese Umstände waren dem Beschuldigten bekannt. Ein erkennbares Motiv für das Verhalten des Beschuldigten liess sich nicht mehr eruieren, da er sich nicht mehr an den Unfall zu erinnern vermag. Das Fahrmanöver zeichnete sich jedoch aus durch eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern. Es war als völlig unbegreiflich zu taxieren: Der Beschuldigte wollte mit einer weit überhöhten Geschwindigkeit an unübersichtlicher Stelle und bei Nebel zwei Fahrzeuge, darunter einen Sattelschlepper, in einem Zug überholen, ohne nur die geringste Chance zu haben, allfälligen Gegenverkehr rechtzeitig erkennen und einem entgegenkommenden Auto ausweichen zu können. Das Überholmanöver führte auf der Höhe des Sattelschleppers durch einen eigentlichen Kanal, der rechts begrenzt war durch den Lastwagen und links durch das steil ansteigende Strassenbord, und der ein Kreuzen verunmöglichte. Die entgegenfahrende Geschädigte hatte damit keinerlei Abwehrchance, sie konnte der Frontalkollision nicht ausweichen. Dies galt ebenso für den Beschuldigten selbst. Diese Umstände liessen die in E. 4.4 von BGE 133 IV 9 vertretene Annahme, dem Täter sei das Risiko der Tatbestandsverwirklichung gar nicht bewusst gewesen, nicht mehr zu. Bei einer Frontalkollision mit den vorliegenden Geschwindigkeiten (zwischen 115 und 124 km/h auf Seiten des Beschuldigten und 73 – 79 km/h auf Seiten der Geschädigten) war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Toten zu rechnen. Die Fahrweise des Beschuldigten war derart krass, dass er nicht nur das Risiko einer Frontalkollision mit einem allfällig entgegenkommenden Automobilisten, sondern auch die tödlichen Folgen einer solchen Situation erkennen musste und solche damit auch in Kauf genommen hat. Die konkreten Umstände – die völlig unzureichende Sicht und die gefährliche Überholsituation ohne Ausweichmöglichkeit – erlaubten es dem Beschuldigten nicht mehr, darauf zu vertrauen, er der allenfalls entgegenkommende Automobilist könnten die Kollision mit fahrerischem Können irgendwie vermeiden. Dass beide Unfallopfer diese Kollision (wenn auch schwer verletzt) überlebt hatten, grenzte nachgerade an ein Wunder. Der Beschuldigte liess es schlicht «drauf ankommen» und hat es dem Glück dem Zufall überlassen, ob sich die Gefahr verwirklichen werde nicht. Im Gegensatz zu den nachfolgend zitierten Fällen, bei denen es nicht zu einer Verurteilung wegen (versuchter) Tötung gekommen ist, hatte hier keiner der Beteiligten eine Abwehrchance. Mit der gezeigten absoluten Gleichgültigkeit gegenüber den auf der Hand liegenden Folgen seines Verhaltens hatte der Beschuldigte einen tödlich verlaufenden Verkehrsunfall und damit die Tötung eines entgegenkommenden Automobilisten in Kauf genommen. Es handelte sich vorliegend um einen der wenigen, besonders krassen Fälle, bei denen Eventualvorsatz der Tötung angenommen werden musste.

 

2.2.9 Freisprüche vom Vorhalt der vorsätzlichen Tötung nahm das Bundesgericht in folgenden Fällen vor:

 

BGE 133 IV 1 vom 28. Dezember 2006

 

Auf der Autobahn A5 kam es zwischen Grenchen und Solothurn zwischen dem überholenden Renault des X und dem Golf des A zu einer seitlichen Kollision, die von X absichtlich herbeigeführt worden war. Infolge der Kollision gerieten beide Fahrzeuge ins Schleudern, doch konnten ihre Lenker sie auffangen. Verletzt wurde niemand, es entstand Sachschaden.

 

Das Obergericht (BE) verurteilte X wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Zuchthausstrafe von 4 ½ Jahren. Das Bundesgericht hiess die Nichtigkeitsbeschwerde des X gut.

 

Die Urteilsgründe:

 

-        Bei der von X herbeigeführten seitlichen Kollision mit einer Geschwindigkeit von über 100 km/h lag es zweifellos nahe, dass der Golf irgendwie ins Schleudern geriet. Der weitere Verlauf des Geschehens war aber offen. Wohl war es möglich, dass der ins Schleudern geratene PW aus irgendwelchen Gründen nicht stabilisiert werden konnte und dass es daher zu einem Unfall mit schwerwiegenden Konsequenzen einschliesslich Todesfolgen kam. Es konnte indessen nicht gesagt werden, ein solcher Verlauf der Ereignisse habe sich X als so wahrscheinlich aufgedrängt, dass aus diesem Grund sein Verhalten, die Herbeiführung der seitlichen Kollision, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Tötungserfolges im Falle seines Eintritts gewertet werden kann (…) Es bestand die reelle Möglichkeit, dass das ins Schleudern geratene Fahrzeug, wie es tatsächlich geschah, etwa durch eine zweckmässige Reaktion beziehungsweise durch fahrerisches Geschick des Lenkers auf dem geraden und ebenen Streckenabschnitt der Autobahn stabilisiert und dadurch der Unfall mit schwerwiegenden Konsequenzen vermieden werden kann. - Der attackierte Lenker hatte damit eine reelle Abwehrchance, der tatbestandsmässige Erfolg, die Todesfolge, hing damit nicht ausschliesslich überwiegend von Glück und Zufall ab.

-        Die seitliche Kollision erfolgte von X aus Wut über den Beifahrer von A, da ihm dieser zuvor im Albaner-Club einen Faustschlag verabreicht hatte. Dies waren zwar relevante Umstände, die bei der Abgrenzung zwischen Eventual-Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit berücksichtigt werden können. Sie führten aber nicht zu einer anderen Einschätzung, da es dabei blieb, dass X darauf vertrauen durfte, dass die von ihm aus Wut und Rache absichtlich geschaffene Gefahr für das Leben der Insassen des Golfs sich nicht verwirklichen werde (E. 4.6.). X hatte in Bezug auf allfällige Todesfolgen nicht mit Eventualvorsatz gehandelt, weshalb seine Verurteilung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung gegen Bundesrecht verstiess.

-        X hatte aber mit seinem Verhalten den Tatbestand der Lebensgefährdung im Sinne von Art. 129 StGB offensichtlich erfüllt. Die Vorinstanz hatte ihn im Rahmen der prozessualen Möglichkeiten deswegen zu verurteilen.

 

BGE 133 IV 9 vom 21. Januar 2007

 

X war mit seinem VW Vento auf der rechten Seite der Aarauerstrasse unterwegs, als F ihn etwa 250 m nach dem Signal „Ende 50“ mit seinem Mercedes auf der linken Fahrbahnhälfte überholte. Aus der Gegenrichtung nahte G mit seinem Toyota, dessen Lichter in der Dunkelheit erkennbar waren. Die Fahrzeuge von X und F beschleunigten nun in geringem seitlichem Abstand parallel nebeneinander. Es kam auch zu einer seitlichen Streifkollision, weil F versuchte, wegen des nahenden Gegenverkehrs auf die rechte Fahrbahnhälfte zu gelangen. Dabei fuhren beide Fahrzeuge mit 102 - 116 km/h (bei zulässigen 80 km/h). F zog daraufhin sein Fahrzeug nach links und leitete eine Vollbremsung ein. Die Frontalkollision mit dem entgegenkommenden Toyota von G konnte er aber nicht mehr verhindern. F und G wurden getötet. X fuhr vorerst auch nach links, wich dann nach rechts aus und überschlug sich im angrenzenden Wiesland. Er blieb unverletzt. Es gab in den Fahrzeugen von F und G mehrere verletzte Personen.

 

Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte X unter anderem wegen mehrfacher eventualvorsätzlicher Tötung zu einer Zuchthausstrafe von 5 ½ Jahren. Das Bundesgericht hiess die Nichtigkeitsbeschwerde gut.

 

Die Urteilsgründe:

 

-        Das Verhalten des X führte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Frontalkollision zwischen dem überholenden und dem entgegenkommenden Fahrzeug und damit zum tatbestandsmässigen Erfolg, falls der überholende Fahrzeuglenker sein Überholmanöver nicht abbrach.

-        F konnte das Überholmanöver auch noch in einer späteren Phase des Geschehens durch Abbremsen und Einbiegen nach rechts hinter dem Fahrzeug von X abbrechen (…) Beim sog. „Kräftemessen“ zwischen den Beteiligten ging es gerade auch darum, wer angesichts des nahenden Gegenverkehrs als erster „aufgeben“ würde. Die von der Vorinstanz genannten Umstände liessen mithin nicht den Schluss auf Eventualvorsatz des X in Bezug auf den eingetretenen Tötungs- und Verletzungserfolg zu.

-        Im Gegenteil sprachen einige Umstände dafür, dass X - allenfalls pflichtwidrig unvorsichtig - davon ausging und darauf vertraute, dass F das Überholmanöver schon noch rechtzeitig abbrechen und dadurch die drohende Frontalkollision vermeiden würde.

-        Der vorliegende Sachverhalt unterschied sich wesentlich vom Corrado-Fall (130 IV 58). Dort war es ein Rennen unter massiver Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Aus dem Geschehen ergab sich, dass die Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hatten. Demgegenüber konnte im vorliegenden Fall, bei dem X auf einem geraden Streckenabschnitt sich nicht überholen lassen wollte und daher seine Geschwindigkeit beschleunigte, während der überholende Fahrzeuglenker trotz des nahenden Gegenverkehrs das Überholmanöver durchziehen wollte, nicht der Schluss gezogen werden, dass X sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hatte.

-        Es darf bei Unfällen im Strassenverkehr nicht ohne weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolges auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr daher nur mit Zurückhaltung in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass der Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat.

 

BGE 136 IV 76 vom 27. April 2010

 

X verunfallte als Lenker eines Subaru Impreza auf einer mit 100 km/h signalisierten Autostrasse, als er mit 188 km/h in eine Rechtskurve gefahren und auf die Gegenfahrbahn geraten war, wo ihm ein korrekt fahrendes Auto (Lenker B) entgegenkam. X konnte zwar eine Kollision vermeiden, geriet aber ins Schleudern und kam von der Strasse ab. Seine beiden Mitfahrer C und D starben.

 

Das Kriminalgericht Luzern verurteilte X wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens zum Nachteil von C und D, wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung und wegen grober Verkehrsregelverletzung zu einer Freiheitstrafe von 6 Jahren. Vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens gegenüber B wurde er freigesprochen. Das Bundesgericht schützte dieses Urteil.

 

Die Urteilsgründe:

 

-        Die Vorinstanz hatte erwogen, die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 88 km/h habe es X nicht erlaubt, auf mögliche Hindernisse Gefahren, mit welchen immer zu rechnen sei, zu reagieren. X habe um das sehr hohe Risiko eines Unfalles mit tödlichen Folgen für die Fahrzeuginsassen gewusst. Die Pflichtwidrigkeit sei als sehr schwer bzw. krass sorgfaltswidrig einzustufen. Es habe kein Rennen stattgefunden und insofern sei keine Situation entstanden, in welcher X alles andere dem Sieg untergeordnet hätte. Er habe in hohem Mass auch sich selbst gefährdet. Es bestünden keine Anzeichen, dass er dem Tod seiner beiden besten Freunde bzw. dem eigenen Tod gleichgültig gegenübergestanden wäre. Gestützt auf das verkehrstechnische Gutachten seien die eingetretenen Folgen nicht unvermeidbar gewesen. Die Möglichkeit des ortskundigen X, mit Fahrgeschick die Kurve unfallfrei zu passieren, sei nicht ausserhalb jeder Möglichkeit gelegen. Deshalb sei X der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB und nicht der eventualvorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen.

-        Das Bundesgericht hat diese Ausführungen unwidersprochen und ohne Kommentar wiedergegeben und geschützt. Es hat sich in der Folge umfassend mit der Frage der Konkurrenz zwischen Art. 117 (fahrlässige Tötung) und Art. 129 (Gefährdung des Lebens) auseinandergesetzt und eine echte Konkurrenz bejaht.

 

2.2.10 In Zusammenfassung der obigen Rechtsprechung ist nur in jenen (seltenen) Fällen auf Eventualvorsatz zu schliessen, in denen

 

-        das Risiko der Verwirklichung der Gefahr besonders gross ist und

-        die Sorgfaltspflichtverletzung besonders schwer wiegt,

 

so, dass man sagen muss, wer in dieser Art und Weise fährt, erkennt die enorme Gefahr, will diese Gefahr und nimmt damit auch deren Verwirklichung in Kauf, sei es, um «höhere Ziele» (Bsp. Rennen gewinnen) zu erreichen sei es auch nur aus purer Gleichgültigkeit. Wer mit seiner Fahrweise bewusst eine derart grosse Gefahr schafft, dass die Vermeidung einer Rechtsgüterverletzung ausschliesslich vom Zufall und Glück abhängt, der lässt es in der Tat «darauf ankommen», ob der Erfolg eintritt; dieser mag zwar unerwünscht sein, trotzdem ist er eine naheliegende Variante für den Ausgang seines Fahrmanövers, die der Täter dadurch, dass er im Wissen um diese grosse Verwirklichungsgefahr das Manöver trotzdem ausführt, eben auch in Kauf nimmt.

 

2.3. Im konkreten Fall ist zum subjektiven Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung folgendes auszuführen:

 

2.3.1 Der Beschuldigte kannte die Strecke auf der Gempenstrasse zwischen Dornach und Gempen; nach eigenen Aussagen ist er diese Strecke schon mehrmals gefahren. Der Beschuldigte führte aus, dass er bei Beginn des Überholmanövers Sicht bis zum Kurveneingang gehabt habe. Der Beschuldigte, der den Beginn des Überholmanövers auf einem Kartenausschnitt (AS 53) mit einem Kreuz bezeichnete, hatte somit in diesem Zeitpunkt eine Sichtweite von ca. 120 Meter und er wusste, dass anschliessend eine Kurve folgte. Er setzte in dieser Situation zum Überholen von zwei Fahrzeugen an, die gemäss seinen Aussagen «aneinanderklebten», also relativ nahe hintereinanderfuhren. Seine Geschwindigkeit betrug ca. 100 km/h. Die sichtbare Strecke war damit völlig ungenügend, um bei einem Fahrzeug, welches aus der Kurve auftauchte und dem Beschuldigten auf der Gegenfahrbahn entgegenfuhr, rechtzeitig reagieren zu können. Ein Ausweichen nach rechts wäre zu Folge der beiden überholten Fahrzeuge, die auf der rechten Fahrbahn fuhren, unmöglich gewesen; ebenso wäre aus topographischen Gründen (Wald) ein Ausweichen nach links nicht möglich gewesen. Der entgegenkommende Fahrzeugführer hätte keine Chance gehabt, dem PW des Beschuldigten auszuweichen. Es war Glück und Zufall, dass in diesem Moment kein Fahrzeug aus der Gegenrichtung gefahren kam.

 

2.3.2 Im Unterschied zu mehreren der zitierten höchstrichterlichen Entscheide (Ziff. 2.2.1, 2.2.2, 2.2.3, 2.2.4 hiervor) lieferte sich der Beschuldigte mit keinem anderen Verkehrsteilnehmer ein Rennen ein fahrerisches Kräftemessen. Es ging ihm auch nicht darum, einem Rivalen die eigene fahrerische Überlegenheit zu beweisen. Der Strassenabschnitt, auf welchem der Beschuldigte überholte, verlief auf einer Distanz von ca. 120 Metern bis zur Rechtskurve relativ gerade und es war dem Beschuldigten – allerdings mit übersetzter Geschwindigkeit – möglich, knapp vor Beginn der Rechtskurve wieder auf die rechte Fahrbahn zu wechseln. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h überschritt der Beschuldigte, der mit 100 km/h überholte, zwar nicht massiv, die Geschwindigkeit war den Strassenverhältnissen aber in keiner Weise angepasst. Dies wird unterstrichen durch die Tatsache, dass die beiden überholten Fahrzeuge nicht mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fuhren, sondern deutlich langsamer (ca. 60 km/h) unterwegs waren. Dem Beschuldigten ist vorzuwerfen, mit dem Überholmanöver ein grosses Risiko einer Tatbestandsverwirklichung eingegangen zu sein und eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung begangen zu haben.

 

Von einer übersteigerten Risikobereitschaft, wie sie im Fall 6B_863/2017 (Ziff. 2.2.5 hiervor) vorlag, wo der Beschwerdeführer trotz Beschleunigung der Geschwindigkeit eines PW-Führers, der überholt wurde, das Überholmanöver von insgesamt drei Fahrzeugen nicht abbrach, kann aber nicht gesprochen werden. Die Risikobereitschaft des PW-Führers erscheint auch in den Fällen gemäss Ziff. 2.2.6 und 2.2.7 grösser als im vorliegenden Fall: Im Entscheid  6B_1050/2017 (Ziff. 2.2.6 hiervor) überholte der Beschwerdeführer zwei Fahrzeuge bei einer Sichtweite von nur 50 Metern (Nebel, Dunkelheit, schwierige Strassenverhältnisse), im Fall 6B_567/2017 (Ziff. 2.2.7 hiervor) betrug die Sichtweite zu Beginn des Überholmanövers zwar 150 Meter, es lagen jedoch schwierigere Sicht- und Strassenverhältnisse vor als im vorliegenden Fall (Dunkelheit, Feuchtigkeit, Strassenverlauf); zudem hätte der dortige Beschwerdeführer nach dem Überholen des ersten Fahrzeuges wieder auf die rechte Fahrbahn wechseln können, was er trotz beginnender Sicherheitslinie nicht tat.

 

2.3.3 Der Beschuldigte setzte 120 Meter vor der Rechtskurve zum Überholmanöver an und ging davon aus, dieses vor der Kurve abschliessen zu können, was ihm auch gelang. Er überholte mit übersetzter Geschwindigkeit und fuhr entsprechend auch mit übersetzter Geschwindigkeit in die Kurve hinein. Zu prüfen ist, ob sich aus diesem gesamten Geschehensablauf ergibt, der Beschuldigte habe in Kauf genommen,

dass der PW in der Kurve ausbrechen, auf die Gegenfahrbahn schlittern und es zu einer Kollision mit einem entgegenfahrenden Verkehrsteilnehmer mit tödlichem Ausgang kommen könnte.

 

Ein solcher Geschehensablauf ist aus der Sicht eines Laien – und damit auch in der Vorstellung des Beschuldigten – weniger eindeutig und klar erkennbar als die Folgen eines waghalsigen Überholmanövers mit der Gefahr einer Frontalkollision mit einem entgegenfahrenden Fahrzeug. Wohl musste dem Beschuldigten bewusst sein, dass bei einem Befahren einer Kurve mit übersetzter Geschwindigkeit die Gefahr eines Ausbrechens des PW besteht. Die Gefahrenlage ist aber nicht in gleichem Masse offensichtlich und damit erkennbar und voraussehbar wie bei einem Überholmanöver. Ob das Fahrzeug tatsächlich ausbrechen würde und falls ja, in welchem Mass, und ob es dem Fahrer gelingen würde, das Fahrzeug stabilisieren zu können, ist in der Vorstellung eines «Normalbürgers» ohne besondere physikalischen Kenntnisse viel offener als die Erkennbarkeit der Folgen eines waghalsigen Überholmanövers. Klar ist, dass das Verhalten des Fahrzeugs in der Kurve primär von der gefahrenen Geschwindigkeit, aber auch von anderen Faktoren wie den Strassenverhältnissen, dem konkreten Kurvenverlauf und der Beschaffenheit des Fahrzeugs abhängt. Insofern bestanden mehrere Faktoren, welche in der Vorstellung des Beschuldigten die Erwartung zuliessen, darauf zu vertrauen, das Fahrzeug in der Kurve stabil zu halten und diese unfallfrei befahren zu können.

 

2.3.4 In den zitierten höchstrichterlichen Urteilen, in welchen der Eventualvorsatz einer vorsätzlichen Tötung bejaht worden war (Ziff. 2.2.1 bis 2.2.8 hiervor), mussten die betreffenden Beschuldigten davon ausgehen, dass ihr Verhalten zu einer Verletzung der von Art. 111 StGB geschützten Rechtsgüter (Leben, körperliche Integrität) führen könnte, da die Folgen ihres Verhaltens im Falle eines entgegenkommenden Fahrzeugs offensichtlich waren, die Geschädigten keine Abwehrchance hatten und ausschliesslich Glück und Zufall darüber entschieden, ob der tatbestandsmässige Erfolg eintrat nicht.

 

Offensichtlich ging der Beschuldigte in concreto davon aus, dass das Fahrzeug «halten» und es ihm gelingen würde, die Kurve trotz überhöhter Geschwindigkeit unfallfrei befahren zu können. Damit nahm der Beschuldigte zwar eine klare Fehleinschätzung der physikalischen Verhältnisse und Überschätzung seiner eigenen Fahrfähigkeiten vor, was eine elementare Sorgfaltspflichtverletzung und ein leichtsinniges Verhalten darstellt. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Beschuldigte mit diesem Verhalten in gleichem Masse wie bei einem waghalsigen Überholmanöver gegen das geschützte Rechtsgut «Leben» «körperliche Unversehrtheit» eines anderen Verkehrsteilnehmers entschieden hat. Der Beschuldigte durfte angesichts der erwähnten «offenen» Faktoren (Geschwindigkeit, Strassenverhältnisse, Beschaffenheit des PW, eigene Fahrfähigkeiten) darauf vertrauen, die Kurve unfallfrei befahren zu können. Der Beschuldigte hat den Tod eine Verletzung eines anderen Verkehrsteilnehmers deshalb nicht in Kauf genommen. Das Wollenselement des Vorsatzes ist bei dieser Ausgangslage zu verneinen. Der Beschuldigte hat sich damit nicht der versuchten eventualvorsätzlichen Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) und auch nicht der eventualvorsätzlichen schweren Körperverletzung (Art. 122 Abs. 1 bis 3 StGB) schuldig gemacht.

 

2.4 Den Parteien wurde mit Verfügung vom 26. August 2022 mitgeteilt, dass der Sachverhalt gemäss Anklageschrift Ziff. 1 vom Berufungsgericht auch unter dem Aspekt von Art. 125 Abs. 2 StGB geprüft werde.

 

2.4.1 Gemäss Art. 125 Abs. 2 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren mit Geldstrafe bestraft, wer fahrlässig einen Menschen schwer am Körper an der Gesundheit schädigt.

 

Gemäss Art. 12 Abs. 3 StGB begeht ein Verbrechen Vergehen fahrlässig, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist.

 

2.4.2 Gemäss Arztbericht des Universitätsspitals Basel vom 23. März 2020 erlitt der Geschädigte zahlreiche und erhebliche Verletzungen (vgl. Ziff. 3.3 hiervor). Der Geschädigte befand sich auf Grund dieser Verletzungen in Lebensgefahr (Verletzung des Brustkorbes mit geminderter Sauerstoffzufuhr) und musste mehrfach operiert werden. Auf Grund einer Schädel-Hirn-Verletzung kam es beim Geschädigten zu einer Wesensveränderung und es folgte nach der Kollision eine langdauernde Arbeitsunfähigkeit. Aufgrund der anlässlich der Berufungsverhandlung eingereichten Bestätigung der SUVA, wonach der Privatkläger mittlerweile eine Rente bezieht (OG 203), ist von einer dauernden teilweisen Erwerbsunfähigkeit auszugehen.

 

In objektiver Hinsicht ist damit festzustellen, dass der Geschädigte durch die Kollision vom 19. Juni 2019 i.S. von Art. 122 Abs. 1, 2 und 3 StGB bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB schwer verletzt wurde. So hat denn der Verteidiger des Beschuldigten anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bzw. Berufungsverhandlung auch einen Schuldspruch gemäss Art. 125 Abs. 2 StGB beantragt.

 

2.4.3. Der Beschuldigte konnte, wie hiervor dargelegt, die Folgen seiner Fahrweise (Verlust der Herrschaft über das Fahrzeug, Kollision mit einem anderen Verkehrsteilnehmer) voraussehen und war sich dieser Gefahr bewusst. Der Beschuldigte überholte mit übersetzter Geschwindigkeit von 100 km/h, sein Fahrzeug wies eingangs der Rechtskurve noch eine Geschwindigkeit von 93 km/h auf. Damit hat er die Kurvengrenzgeschwindigkeit bei der Rechtskurve mit einem Radius von 27 Metern von 59 km/h massiv überschritten. Das Fahrzeug brach hinten aus, geriet ins Schleudern und auf die Gegenfahrbahn, wo es zur Kollision mit dem Geschädigten kam. Die pflichtwidrige Unvorsichtigkeit des Beschuldigten bestand im Überholmanöver bei ungenügenden Sichtverhältnissen sowie im Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die Strassen- und Sichtverhältnisse. Da sich der Beschuldigte der bestehenden Gefahrensituation bewusst war, aber auf das Ausbleiben einer Kollision vertraute, handelte er mit bewusster Fahrlässigkeit.

 

2.5 Eventualiter wurde in Anklageschrift Ziffer 1 Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB angeklagt. Hierzu hat sich die Vorinstanz nicht geäussert. Der Tatbestand der Gefährdung des Lebens scheitert hinsichtlich des Fahrradlenkers am direkten Vorsatz, könnte dieser doch nur bejaht werden, wenn der Beschuldigte den Fahrradfahrer bereits sah, als er noch Handlungsoptionen hatte, mithin zu Beginn des Überholmanövers. Gemäss Beweisergebnis sah der Beschuldigte den Radfahrer aber erst, als es zu spät war.

 

3. Qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 3 SVG) durch waghalsiges Überholen und Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts (Art. 32 Abs. 1 und 2 SVG; Art. 4a Abs. 5 VRV; AKS Ziffer 3)

 

3.1 Nach Art. 90 Abs. 3 SVG macht sich strafbar, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen.

 

Der Erfolgseintritt muss vergleichsweise naheliegen; gefordert ist ein «hohes» Risiko. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine höhere als die in Art. 90 Abs. 2 SVG geforderte «ernstliche» Gefahr handeln muss. Diese muss analog der Lebensgefährdung nach Art. 129 StGB unmittelbar, nicht jedoch unausweichlich sein. Es ist für die Erfüllung von Art. 90 Abs. 3 SVG die besonders naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung zu verlangen.

 

Der subjektive Tatbestand des Art. 90 Abs. 3 SVG erfordert Vorsatz bezüglich der Verletzung einer elementaren Verkehrsregel und der Risikoverwirklichung, wobei Eventualvorsatz genügt.

 

Art. 90 Abs. 3 SVG wird von den Tatbeständen der vorsätzlichen Tötung und vorsätzlichen schweren Körperverletzung konsumiert, sofern durch das Verkehrsdelikt keine weiteren Personen als das konkrete Opfer in erhöhtem Masse abstrakt gefährdet werden. Wurden weitere Personen gefährdet, wobei eine erhöhte abstrakte Gefährdung genügt, besteht zwischen Art. 90 Abs. 3 SVG und Art. 111 bzw. Art. 122 StGB echte Konkurrenz (6B_567/2017 E.3.1).

 

3.2 Der Beschuldigte hat willentlich und wissentlich und damit vorsätzlich ca. 120 Meter vor dem Beginn der Rechtskurve die Geschwindigkeit seines PW auf ca. 100 km/h erhöht. Er hat damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h deutlich überschritten und mit dieser Geschwindigkeit die konkreten Sicht- und Strassenverhältnisse in massiver Weise missachtet. Bezeichnenderweise fuhren die beiden überholten Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (rund 60 km/h). Der Beschuldigte verletzte angesichts der völlig unzureichenden Sichtverhältnisse beim Überholen sowie der gefahrenen Geschwindigkeit elementare Verkehrsregeln und sein Verhalten muss als «waghalsiges Überholen» i.S. von Art. 90 Abs. 3 SVG bezeichnet werden. Er ging damit vorsätzlich das hohe Risiko eines Unfalls mit Todesopfern Schwerverletzten ein. Im Fall eines entgegenkommenden anderen Verkehrsteilnehmers wäre es dem Beschuldigten unmöglich gewesen, eine Kollision zu verhindern; weder ein Ausweichen auf die rechte Fahrbahn noch nach links wäre – sofern der Beschuldigte auf ein Auftauchen eines anderen Verkehrsteilnehmers aus der Kurve überhaupt hätte reagieren können – möglich gewesen. Eine konkrete Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer – sowohl eines potentiell entgegenkommenden Verkehrsteilnehmers als auch der Insassen der beiden überholten Fahrzeuge – lag somit sehr nahe. Der Beschuldigte hat deshalb Art. 90 Abs. 3 SVG durch das Überholmanöver der beiden PW E.___ und F.___ objektiv und subjektiv erfüllt.

 

3.3 Dagegen ist im Zusammenhang mit den beiden vorgängigen Überholmanövern des Beschuldigten (PW I.___ und PW G.___) ein regelwidriges Verhalten nicht erstellt. G.___ sprach zwar von einem «Wahnsinnstempo», mit welchem der Beschuldigte überholt habe, eine ungefähre gar genaue Geschwindigkeit ist aber nicht bekannt. G.___ und ihr Begleiter sprachen auch von der Lautstärke des Motorengeräusches des McLaren, so dass davon auszugehen ist, dass der akustische Eindruck die optische Wahrnehmung der Geschwindigkeit mit beeinflusste. G.___ führte aus, der Beschuldigte habe sonst vorschriftsmässig überholt, auch der PW-Führer I.___ sagte aus, die Strecke, wo der Beschuldigte überholt habe, sei frei und das Überholen sei problemlos gewesen. Eine Strafbarkeit ist bei diesen ersten beiden Überholmanövern somit nicht gegeben.

 

3.4 Durch das waghalsige Überholmanöver des Beschuldigten wurden neben dem konkret Geschädigten die Insassen der beiden überholten Fahrzeuge in erhöhtem Masse abstrakt gefährdet. Es besteht deshalb zwischen Art. 90 Abs. 3 SVG und Art. 125 Abs. 2 StGB echte Konkurrenz.

 

 


 

IV. Strafzumessung

 

1. Allgemeine Ausführungen

 

1.1 Nach Art. 47 StGB misst das Gericht die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu. Es berücksichtigt das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters (Abs. 1). Das Verschulden wird nach der Schwere der Verletzung Gefährdung des betroffenen Rechtsguts, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters sowie danach bestimmt, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung Verletzung zu vermeiden (Abs. 2).

 

1.2 Bei der Tatkomponente können fünf verschiedene objektive und subjektive Momente unterschieden werden. Beim Aspekt der Schwere der Verletzung Gefährdung des betroffenen Rechtsgutes (Ausmass des verschuldeten Erfolgs) geht es sowohl um den Rang des beeinträchtigten Rechtsguts wie um das Ausmass seiner Beeinträchtigung, aber auch um das Mass der Abweichung von einer allgemeinen Verhaltensnorm. Auch die Verwerflichkeit des Handelns (Art und Weise der Herbeiführung des Erfolgs) ist als objektives Kriterium für das Mass des Verschuldens zu berücksichtigen. Auf der subjektiven Seite ist die Intensität des deliktischen Willens (Willensrichtung des Täters) zu beachten. Dabei sprechen für die Stärke des deliktischen Willens insbesondere Umstände wie die der Wiederholung Dauer des strafbaren Verhaltens auch der Hartnäckigkeit, die der Täter mit erneuter Delinquenz trotz mehrfacher Vorverurteilungen sogar während einer laufenden Strafuntersuchung bezeugt. Hier ist auch die Skrupellosigkeit, wie auch umgekehrt der strafmindernde Einfluss, den es haben kann, wenn ein V-Mann bei seiner Einwirkung auf den Verdächtigen die Schranken des zulässigen Verhaltens überschreitet, zu beachten. Hinsichtlich der Willensrichtung dürfte es richtig sein, dem direkten Vorsatz grösseres Gewicht beizumessen als dem Eventualdolus, während sich mit der Unterscheidung von bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit keine prinzipielle Differenz der Schwere des Unrechts der Schuld verbindet. Die Grösse des Verschuldens hängt weiter auch von den Beweggründen und Zielen des Täters ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Delinquenz umso schwerer wiegt, je grösser das Missverhältnis zwischen dem vom Täter verfolgten und dem von ihm dafür aufgeopferten Interesse ist. Schliesslich ist unter dem Aspekt der Tatkomponente die Frage zu stellen, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung Verletzung zu vermeiden. Hier geht es um den Freiheitsraum, welchen der Täter hatte. Je leichter es für ihn gewesen wäre, die Norm zu respektieren, desto schwerer wiegt die Entscheidung gegen sie und damit seine Schuld (BGE 117 IV 7 E. 3aa). Innere Umstände, die den Täter einengen können, sind unter anderem psychische Störungen mit einer Verminderung der Schuldfähigkeit, aber auch unterhalb dieser Schwelle, wie Affekte, die nicht entschuldbar, aber doch von Einfluss sind, Konflikte, die sich aus der Bindung an eine andere Kultur ergeben, Alkohol- Drogenabhängigkeit, subjektiv erlebte Ausweglosigkeit Verzweiflung usw. Auch äussere Umstände berühren die Schuld nur, wenn sie die psychische Befindlichkeit des Täters berühren.

 

1.3 Bei der Täterkomponente sind einerseits das Vorleben, bei dem vor allem Vor-strafen, auch über im Ausland begangene Straftaten (BGE 105 IV 225 E. 2), ins Gewicht fallen – Vorstrafenlosigkeit wird neutral behandelt und bei der Strafzumessung nur berücksichtigt, wenn die Straffreiheit auf aussergewöhnliche Gesetzestreue hinweist (BGE 136 IV 1) – und andererseits die persönlichen Verhältnisse (Lebensumstände des Täters im Zeitpunkt der Tat), wie Alter, Gesundheitszustand, Vorbildung, Stellung im Beruf und intellektuelle Fähigkeiten zu berücksichtigen. Des Weiteren zählen zur Täterkomponente auch das Verhalten des Täters nach der Tat und im Strafverfahren, also ob er einsichtig ist, Reue gezeigt, ein Geständnis abgelegt bei den behördlichen Ermittlungen mitgewirkt hat, wie auch die Strafempfindlichkeit des Täters.

 

1.4 Die tat- und täterangemessene Strafe ist grundsätzlich innerhalb des ordentlichen Strafrahmens der (schwersten) anzuwendenden Strafbestimmung festzusetzen. Dieser wird durch Strafschärfungs- Strafmilderungsgründe nicht automatisch erweitert, worauf innerhalb dieses neuen Rahmens die Strafe nach den üblichen Zumessungskriterien festzusetzen wäre. Vielmehr ist der ordentliche Strafrahmen nur zu verlassen, wenn aussergewöhnliche Umstände vorliegen und die für die betreffende Tat angedrohte Strafe im konkreten Fall zu hart bzw. zu milde erscheint. Die Frage einer Unterschreitung des ordentlichen Strafrahmens kann sich stellen, wenn verschuldens- bzw. strafreduzierende Faktoren zusammentreffen, die einen objektiv an sich leichten Tatvorwurf weiter relativieren, so dass eine Strafe innerhalb des ordentlichen Strafrahmens dem Rechtsempfinden widerspräche. Die verminderte Schuldfähigkeit allein führt deshalb grundsätzlich nicht dazu, den ordentlichen Strafrahmen zu verlassen. Dazu bedarf es weiterer, ins Gewicht fallender Umstände, die das Verschulden als besonders leicht erscheinen lassen (BGE 136 IV 55 E. 5.8, S. 63, mit Hinweisen).

 

1.5 Führt die Strafzumessung unter Würdigung aller wesentlichen Umstände zu einer Freiheitsstrafe, welche im Bereich eines Grenzwertes zur Gewährung des bedingten teilbedingten Strafvollzuges liegt, hat sich der Richter zu fragen, ob – zugunsten des Beschuldigten – eine Sanktion, welche diese Grenze nicht überschreitet, noch innerhalb des Ermessensspielraumes liegt. Bejaht er die Frage, hat er die Strafe in dieser Höhe festzulegen. Verneint er sie, ist es zulässig, auch eine nur unwesentlich über der Grenze liegende Freiheitsstrafe auszufällen. In jedem Fall hat der Richter diesen Entscheid im Urteil ausdrücklich zu begründen, andernfalls er seiner Begründungspflicht nach Art. 50 StGB nicht nachkommt (BGE 134 IV 17 E 3.6).

 

1.6 Das Bundesgericht drängt in seiner jüngeren Praxis vermehrt darauf, dass Formulierung des Verschuldens und Festsetzung des Strafmasses auch begrifflich im Einklang stehen (Urteile des Bundesgerichts vom 7. Juli 2011, 6B_1096/2010 E. 4.2; vom 6. Juni 2011, 6B_1048/2010 E. 3.2 und vom 26. April 2011, 6B_763/2010 E. 4.1). Um dieser Forderung gerecht zu werden, empfiehlt es sich, bereits zu Beginn der Strafzumessung die objektive Tatschwere ausdrücklich zu qualifizieren (etwa als leicht, mittel, schwer) um damit eine Grundlage für die spätere Gesamteinschät-zung des (subjektiven) Verschuldens zu schaffen. Auf diese Weise wird bereits am Anfang der Strafzumessung eine erste ungefähre und hypothetische Einstufung der möglichen Strafe vorgenommen, etwa im Falle einer vorsätzlichen Tötung bei mittlerer Tatschwere im Bereich von 10 – 15 Jahren (bei leichter Tat-schwere 5 – 10 Jahre und in schweren Fällen 15 – 20 Jahre). Diese hypothetische ungefähre Einsatzstrafe gilt es dann anhand der weiteren Strafzumessungskriterien zu verfeinern. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass Verschuldensgewichtung und Einbettung des Strafmasses innerhalb des Strafrahmens im gesamten «Strafzumessungsverlauf» in Einklang stehen (vgl. auch SJZ 100/2004, S.175 f.).

 

1.7 Gemäss Art 42 Abs. 1 StGB schiebt das Gericht den Vollzug einer Geldstrafe einer Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren in der Regel auf, wenn eine unbedingte Strafe nicht notwendig erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen Vergehen abzuhalten. In subjektiver Hinsicht relevantes Prognosekriterium ist insbesondere die strafrechtliche Vorbelastung (ausführlich BGE 134 IV 1 E. 4.2.1). Für den bedingten Vollzug genügt das Fehlen einer ungünstigen Prognose, d.h. die Abwesenheit der Befürchtung, der Täter werde sich nicht bewähren (BGE 134 IV 1 E. 4.2.2). Bereits in der bisherigen Praxis spielte die kriminelle Vorbelastung die grösste Rolle bei der Prognose künftigen Legalverhaltens (Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, Strafen und Massnahmen, 2. Auflage, Bern 2006, § 5 N 27). Allerdings schliessen einschlägige Vorstrafen den bedingten Vollzug nicht notwendigerweise aus (Roland M. Schneider/Roy Garré in: Niggli / Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Auflage, Basel 2019, Art. 42 StGB N 61).

 

Der Strafaufschub wird lediglich bei einer klaren Schlechtprognose verwehrt. Dabei kommt es auf die Persönlichkeit des Verurteilten an. Diese erschliesst sich aus den Tatumständen, dem Vorleben, insb. Vortaten und Leumund, wobei auch das Nachtatverhalten miteinzubeziehen ist, ebenso die vermutete Wirkung der Strafe auf den Täter. Das Gericht hat eine Gesamtwürdigung aller prognoserelevanten Kriterien vorzunehmen und deren einseitige Berücksichtigung zu vermeiden. Dies gilt auch für das Prognosekriterium Vorstrafen. Dieses dürfte zwar ein durchaus gewichtiges darstellen, was aber, wie erwähnt, nicht heisst, dass Vorstrafen die Gewährung des bedingten Strafvollzuges generell ausschliessen. Dies hat allerdings auch im Umkehrschluss zu gelten: das Fehlen von Vorstrafen führt nicht zwingend zur Gewährung des bedingten Strafvollzuges, wenn sämtliche übrigen Prognosekriterien das klare Bild einer Schlechtprognose zu begründen vermögen. Allerdings ist doch wohl davon auszugehen, dass Ersttätern im Allgemeinen der bedingte Strafvollzug zu gewähren ist.

 

Unter dem Aspekt des Nachtatverhaltens spricht etwa die weitere Delinquenz während laufendem Strafverfahren gegen die Gewährung des bedingten Strafvollzuges. Ungünstig wirkt sich auch ein weiteres gleichartiges Delikt aus, wenn zwar das Strafverfahren wegen des ersten Vorfalles noch nicht eröffnet wurde, der Täter jedoch weiss, dass er ein solches zu erwarten hat (sog. kriminologischer Rückfall). Grundsätzlich sind Einsicht und Reue Voraussetzung für eine gute Prognose. Die bedingte Strafe wird abgelehnt für Überzeugungstäter. Gegen eine günstige Prognose spricht ferner die Verdrängungs- und Bagatellisierungstendenz des Täters. Von besonderem Interesse ist das Verhalten im Strafverfahren, wobei blosses Bestreiten der Tat die Aussageverweigerung kein Grund zur Verweigerung des bedingten Strafvollzuges darstellen, da solches Verhalten andere Gründe als mangelnde Einsicht haben kann (Scham, Angst, Sorge um die Familie). Die Nutzung der Verteidigungsrechte darf nicht sanktioniert werden. Anders kann dies indessen beurteilt werden, wenn der Täter ein ganzes Lügengebäude auftischt. Bei der Prognosestellung ist die ganze Wirkung des Urteils zu berücksichtigen. Ein wesentlicher Faktor der Prognosebildung ist die Bewährung am Arbeitsplatz. Unzulässig ist die Verweigerung des bedingten Vollzuges allein wegen der Art Schwere der Tat (Stefan Trechsel/Mark Pieth, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. Auflage, Bern 2018, Art. 42 N 8 ff mit zahlreichen Hinweisen).

 

1.8 Nach Art. 43 Abs. 1 StGB kann das Gericht den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen. Der unbedingt vollziehbare Teil darf die Hälfte der Strafe nicht übersteigen (Art. 43 Abs. 2 StGB). Sowohl der aufgeschobene Teil wie auch der zu vollziehende Teil müssen mindestens sechs Monate betragen (Art. 43 Abs. 3 StGB). Als Bemessungsregel ist das Ausmass des Verschuldens zu beachten, dem in genügender Weise Rechnung zu tragen ist. Das Verhältnis der Strafteile ist so festzusetzen, dass darin die Wahrscheinlichkeit der Bewährung des Täters einerseits und dessen Einzeltatschuld anderseits hinreichend zum Ausdruck kommen. Je günstiger die Prognose und je kleiner die Vorwerfbarkeit der Tat, desto grösser muss der auf Bewährung ausgesetzte Strafteil sein. Der unbedingte Strafteil darf das unter Verschuldensgesichtspunkten gemäss Art. 47 StGB gebotene Mass nicht unterschreiten (BGE 134 IV 1 E. 5.6 S. 15; vgl. auch 134 IV 140 E. 4.2 S. 142 f. zur Beurteilung der Bewährungsaussichten). Auch die bloss teilbedingte Strafe gemäss Art. 43 StGB setzt indes das Fehlen einer ungünstigen Prognose voraus. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut, aber aus Sinn und Zweck der Bestimmung. Wenn und soweit die Legalprognose nicht schlecht ausfällt, muss der Vollzug zumindest eines Teils der Strafe bedingt aufgeschoben werden. Andererseits ist bei einer schlechten Prognose auch ein bloss teilweiser Aufschub der Strafe ausgeschlossen (BGE 134 IV 1 E. 5.3.1 mit Hinweisen). Indessen besteht die Möglichkeit, dass eine zwar grundsätzlich schlechte Prognose durch den Vollzug bloss eines Teiles der Strafe in Verbindung mit dem drohenden späteren Widerruf des aufgeschobenen Strafrests deutlich günstiger werden kann (vgl. hierzu etwa Roland M. Schneider/Roy Garré, a.a.O., Art. 43 StGB N 15).

 

 

2. Konkrete Strafzumessung

 

2.1 Schwerste Tat

 

Art. 90 Abs. 3 SVG stellt mit einem Strafrahmen zwischen 1 und 4 Jahren Freiheitsstrafe die schwerste Tat dar.

 

2.2 Tatkomponenten

 

Art. 90 Abs. 3 SVG schützt das ungestörte Funktionieren des Strassenverkehrs und damit auch Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer (Weissenberg, Kommentar SVG, 2. Auflage; 6B_698/2017 E. 6.2). Der Beschuldigte gefährdete mit dem waghalsigen Überholmanöver Leib und Leben von mehreren Verkehrsteilnehmern. Er hatte den PW McLaren von einer Garage ausgeliehen und machte eine Probefahrt. Der Beschuldigte war somit mit dem Fahrzeug nicht vertraut und wäre bereits aus diesem Grund verpflichtet gewesen, besonders vorsichtig zu fahren. Der Beschuldigte beachtete diese Vorsichtspflichten aber nicht und rückte im Gegenteil das eigene Fahrvergnügen in den Vordergrund. Offensichtlich wollte er die Stärke des ausgeliehenen Fahrzeugs ausprobieren und testen. Anders kann das hochriskante Überholmanöver der beiden PW E.___ und F.___ gleichzeitig vor einer Rechtskurve mit einer Sichtweite von 120 Metern nicht erklärt werden. Das Fahrzeug des Beschuldigten war zwar in der Lage, die beiden PW E.___ und F.___ vor der Kurve zu überholen; bei einem entgegenkommenden Fahrzeug in dieser Überholphase hätte der Beschuldigte aber weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, auszuweichen und eine Kollision zu verhindern. Sodann wies das Fahrzeug des Beschuldigten eingangs der Kurve eine Geschwindigkeit auf, welche die Kurvengrenzgeschwindigkeit und damit den erforderlichen Haftwert, um ein Ausbrechen des Hecks zu verhindern, deutlich überschritt. Der Beschuldigte erkannte das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten Todesopfern und führte dieses direktvorsätzlich herbei. Es wäre ihm ohne weiteres möglich gewesen, sich rechtskonform zu verhalten.

 

Das Tatverschulden ist unter Berücksichtigung dieser Faktoren als mittelschwer zu qualifizieren, die Einsatzstrafe ist entsprechend auf 30 Monate Freiheitsstrafe festzusetzen.

 

2.3 Asperation: Fahrlässige schwere Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB)

 

Der Beschuldigte handelte bewusst fahrlässig und damit mit der bei Fahrlässigkeitsdelikten schwersten vorwerfbaren Schuldform. Die Beweggründe des Beschuldigten waren nichtiger Natur: Er wollte sich mit einem leistungsstarken Personenwagen vergnügen und missachtete deshalb elementare Vorsichtspflichten. Als Folge seines pflichtwidrigen Verhaltens wurde der geschädigte Radfahrer schwer verletzt und hat bis zum heutigen Tag unter den Folgen der Kollision zu leiden.

 

Es ist von einem mittelschweren bis schweren Tatverschulden auszugehen, das mit einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten zu bestrafen wäre. Da der Unrechtsgehalt der fahrlässigen schweren Körperverletzung durch Art. 90 Abs. 3 SVG teilweise abgegolten ist, hat bei der Asperation eine verstärkte Reduktion zu erfolgen. Die Einsatzstrafe ist asperationsweise um sechs Monate auf nunmehr 36 Monate Freiheitsstrafe zu erhöhen.

 

2.4 Täterkomponenten

 

Hinsichtlich der Täterkomponenten kann grundsätzlich auf die diversen Einvernahmen des Beschuldigten verwiesen werden.

 

Der Beschuldigte ist nicht vorbestraft (AS 477, 549).

 

Der Beschuldigte ist 1996 in […] geboren. Er wuchs in geordneten Verhältnissen bei seinen Eltern und zwei Geschwistern auf. Er hat keine abgeschlossene Ausbildung im Bereich IT und arbeitete für drei Gesellschaften, die via eine Holding («[Firma 1 AG]») in seinem Eigentum standen. 2021 erzielte er ein monatliches Bruttoeinkommen von CHF 4'200.00 (AS 555). Gemäss Steuererklärung 2020 verfügte er per 31. Dezember 2020 über ein Vermögen von CHF 565'119.00, wobei CHF 560'000.00 in Form von Anteilen an einer Holding («[Firma 1 AG]», AS 571). Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung führte der Beschuldigte aus, dass er noch einen Aktienanteil von einem Drittel an der Holding habe (AS 680).

Vor Berufungsgericht (OG 178 ff.) führte er aus, dass er bei der [Firma 2] in […] arbeite und ein monatliches Einkommen von CHF 4'900.00 x 13 bei 80% erziele. Er sei zu einem Sechstel Miteigentümer einer Liegenschaft, in der seine Eltern lebten. Er habe seine Anteile an der Firma «[Firma 3 AG]» verkauft. Er habe CHF 470'000.00 Schulden gehabt und keine Lösung gesehen, wie er diese zurückbezahlen solle. Die Person, bei der er die Schulden gehabt habe, habe seine Anteile an der «[Firma 1 AG]» gekauft. Er lebe mit jemandem zusammen. Ihm sei auf Grund des Unfalls vom 19. Juni 2019 für sechs Monate der Führerausweis entzogen worden. Er sei aber fast ein ganzes Jahr nicht gefahren.

Die Täterkomponenten verhalten sich insgesamt neutral, womit es bei einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten bleibt.

2.5 Vollzugsform

2.5.1 Der Beschuldigte ist nicht vorbestraft, seine aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind stabil. Das Nachtatverhalten des Beschuldigten ist gut, weitere Strafverfahren Verurteilungen liegen nicht vor.

Das Fehlen einer ungünstigen Prognose ist deshalb gegeben. Dem Beschuldigten kann der teilbedingte Vollzug der Strafe gewährt werden.

2.5.2 Wenn das Gericht auf eine teilbedingte Strafe erkennt, muss es im Zeitpunkt des Urteils den aufgeschobenen und den zu vollziehenden Strafteil festsetzen und die beiden Teile in ein angemessenes Verhältnis bringen. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens liegt die Festsetzung im pflichtgemässen Ermessen des Gerichts. Als Bemessungsregel ist das «Verschulden» zu beachten, dem in genügender Weise Rechnung zu tragen ist (Art. 43 Abs. 1 StGB). Das Verhältnis der Strafteile ist so festzusetzen, dass darin die Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung des Täters einerseits und dessen Einzeltatschuld anderseits hinreichend zum Ausdruck kommen. Je günstiger die Prognose und je kleiner die Vorwerfbarkeit der Tat, desto grösser muss der auf Bewährung ausgesetzte Strafteil sein. Der unbedingte Strafteil darf dabei das unter Verschuldensgesichtspunkten (Art. 47 StGB) gebotene Mass nicht unterschreiten (BGE 134 IV 1 ff. E 5.6).

 

Hinsichtlich des Verschuldens ist zu beachten, dass es sich bei der Haupttat (Art. 90 Abs. 3 SVG) um ein schwerwiegendes Delikt mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe handelt, bei dem von einem mittelschweren Verschulden auszugehen ist. In Beachtung der doch bedeutenden Vorwerfbarkeit der Haupttat ist der unbedingte Teil nicht am untersten Rand (6 Monate) festzusetzen. Ein Verhältnis von 12 zu vollziehenden zu 24 bedingt zu vollziehenden Monaten Freiheitsstrafe erscheint unter den gegebenen Umständen angemessen.

 

2.5.3 Die Probezeit für den bedingt zu vollziehenden Strafteil wird auf zwei Jahre festgesetzt.

 

V. Kosten

 

1. Bei diesem Verfahrensausgang ist der erstinstanzliche Kosten- und Entschädigungsentscheid zu bestätigen.

2. Der Beschuldigte unterliegt teilweise. Er ist allerdings in zwei Punkten erfolgreich: Anstelle einer versuchten vorsätzlichen Tötung erfolgt ein Schuldspruch wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und die Freiheitsstrafe wird um 8 Monate reduziert. Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist erfolglos, diese verursachte allerdings zu Folge der Berufung des Beschuldigten keine zusätzlichen Kosten. Es rechtfertigt sich nach dem Gesagten, die Kosten für das Berufungsverfahren dem Beschuldigten und dem Staat je hälftig aufzuerlegen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 10'000.00, total CHF 14'000.00 (inkl. Kosten für das Ergänzungsgutachten, Auslagen des Gerichts), sind damit dem Beschuldigten im Umfang von CHF 7’000.00 aufzuerlegen. Die restlichen Kosten erliegen auf dem Staat.

 

3. Die Privatklägerschaft hat gegenüber der beschuldigten Person Anspruch auf angemessene Entschädigung für notwendige Aufwendungen auch im Berufungsverfahren, wenn sie obsiegt (Art 433 Abs. 1 lit. a StPO). Da der Privatkläger vollständig unterliegt, steht ihm keine Parteientschädigung zu. Das Gesuch wird entsprechend abgewiesen.

 

4. Nach Art. 135 Abs. 1 StPO wird die amtliche Verteidigung nach dem Anwaltstarif desjenigen Kantons entschädigt, in dem das Strafverfahren geführt wurde. Die Staatsanwaltschaft das urteilende Gericht legen die Entschädigung am Ende des Verfahrens fest (Art. 135 Abs. 2 StPO). Wird die beschuldigte Person zu den Verfahrenskosten verurteilt (Art. 426 Abs. 1 StPO), so ist diese, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben, nach Art. 135 Abs. 4 StPO verpflichtet, dem Kanton die Entschädigung zurückzuzahlen.

Gemäss § 158 Abs. 1 des kantonalen Gebührentarifs (GT) setzt der Richter die Entschädigung nach dem Aufwand fest, welcher für eine sorgfältige und pflichtgemässe Vertretung erforderlich ist. Der Stundenansatz für die Bestimmung der Entschädigung der amtlichen Verteidiger und der unentgeltlichen Rechtsbeistände betrug bis 31. Dezember 2022 CHF 180.00 und beträgt ab 1. Januar 2023 CHF 190.00 zuzüglich Mehrwertsteuer (§ 158 Abs. 3 GT).

 

Die vom ehemaligen amtlichen Verteidiger des Beschuldigten, Advokat Jeremy Huart, Delémont, mittels Honorarnote geltend gemachte Entschädigung von total CHF 1’231.70 (inkl. Auslagen und MwSt.) erweist sich als angemessen. Die Entschädigung wird in dieser Höhe festgesetzt. Vorzubehalten ist der Rückforderungsanspruch des Staates Solothurn während zehn Jahren im Umfang von 50%.

 

Der vom amtlichen Verteidiger des Beschuldigten, Rechtsanwalt Bernhard Isenring, Meilen, mittels Honorarnote geltend gemachte Aufwand von total 67.85 Stunden erweist sich grundsätzlich als angemessen; für die effektive Dauer der Hauptverhandlung (3.5 Stunden) bzw. Urteilseröffnung (0.5 Stunden) werden insgesamt sechs Stunden gekürzt (geltend gemacht wurden 8 Stunden für die Hauptverhandlung und 2 Stunden für die Urteilseröffnung). Nach Aufrechnung der geltend gemachten und angemessen erscheinenden Auslagen von total CHF 170.90 sowie der MwSt. zu 7.7 % resultieren CHF 12'668.65 (15.95 Stunden à CHF 180.00, 45.9 Stunden à CHF 190.00). Die Entschädigung von Rechtsanwalt Bernhard Isenring ist demgemäss in dieser Höhe festzusetzen und zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu zahlen. Vorzubehalten ist der Rückforderungsanspruch des Staates Solothurn während zehn Jahren im Umfang von 50%.


 

Demnach wird

in Anwendung von Art. 90 Abs. 3, Art. 32 Abs. 1 und 2 SVG, Art. 4a Abs. 3 VRV, Art. 125 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 3 StGB; Art. 40, Art. 43, Art. 44, Art. 47, Art. 49 Abs. 1, Art. 51 StGB; Art. 126 Abs. 3, Art. 135, Art. 267, Art. 335 ff., Art. 379 ff., Art. 398 ff., Art. 416 ff. StPO

erkannt:

1.    A.___ hat sich wie folgt schuldig gemacht:

a)      der fahrlässigen schweren Körperverletzung, begangen am 19. Juni 2019;

b)      der qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln durch waghalsiges Überholen und Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts, begangen am 19. Juni 2019.

2.    A.___ wird verurteilt zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten, unter Gewährung des bedingten Vollzugs für 24 Monate, bei einer Probezeit von 2 Jahren.

3.    A.___ wird ein Tag Haft an den unbedingt vollziehbaren Teil der Freiheitsstrafe angerechnet.

4.    Der beschlagnahmte Fahrradhelm (aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) wird C.___ gemäss rechtskräftiger Ziffer 4 des Urteils des Amtsgerichts von Dorneck-Thierstein vom 21. Oktober 2021 (nachfolgend: erstinstanzliches Urteil) nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils herausgegeben.

5.    Die Zivilforderungen von C.___ gegenüber A.___, resultierend aus dem Unfallereignis vom 19. Juni 2019, werden gemäss rechtskräftiger Ziffer 5 des erstinstanzlichen Urteils bei einer Haftungsquote von 100 % dem Grundsatz nach gutgeheissen. Zur Ausmittlung der Schadens- und Genugtuungshöhe wird C.___ auf den Zivilweg verwiesen.

6.    A.___ hat dem Privatkläger C.___, vertreten durch Advokat Andreas Brodbeck, gemäss rechtskräftiger Ziffer 6 des erstinstanzlichen Urteils für das erstinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung von CHF 15'467.00 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu bezahlen.

7.    Der Antrag des Privatklägers C.___ auf Ausrichtung einer vom Beschuldigten zu bezahlenden Parteientschädigung für das Berufungsverfahren wird abgewiesen.

8.    Die Entschädigung des ehemals amtlichen Verteidigers von A.___, Advokat Jeremy Huart, wurde gemäss teilweise rechtskräftiger Ziffer 7 des erstinstanzlichen Urteils für das erstinstanzliche Verfahren auf CHF 18'476.20 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat bezahlt. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

9.    Die Entschädigung des ehemals amtlichen Verteidigers von A.___, Advokat Jeremy Huart, wird für das Berufungsverfahren auf CHF 1'231.70 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu bezahlen. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates im Umfang von 50%, ausmachend CHF 615.85, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

10. Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers von A.___, Rechtsanwalt Bernhard Isenring, wird für das Berufungsverfahren auf CHF 12'668.65 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu bezahlen. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates im Umfang von 50%, ausmachend CHF 6'334.35, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

11. A.___ hat die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens von CHF 22'644.65 (inkl. Gutachterkosten, jedoch ohne Dolmetscherkosten), mit einer Urteilsgebühr von CHF 10'000.00, total CHF 32'644.65, zu bezahlen.

12. A.___ hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 10'000.00, total CHF 14'000.00, zur Hälfte, ausmachend CHF 7'000.00, zu bezahlen. Im Übrigen gehen sie zu Lasten des Staates.

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Gegen den Entscheid betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung (Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) und der unentgeltlichen Rechtsbeistandschaft im Rechtsmittelverfahren (Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) kann innert 10 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesstrafgericht Beschwerde eingereicht werden (Adresse: Postfach 2720, 6501 Bellinzona).

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Der Gerichtsschreiber

von Felten                                                                         Wiedmer



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.