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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2022.29)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2022.29: Verwaltungsgericht

Die Beschuldigte A.___ wurde angeklagt, weil sie gegen amtliche Verfügungen verstossen und Vermögenswerte eigenmächtig genutzt hatte, die amtlich gepfändet worden waren. Nach einem langwierigen Verfahren, das bis zum Obergericht ging, wurde sie letztendlich freigesprochen, da festgestellt wurde, dass sie während des Tatzeitraums kein Einkommen erzielte, das ihren Notbedarf überstieg. Das Gericht entschied, dass sie nicht schuldig war, die gepfändeten Beträge nicht abgeliefert zu haben. Die Gerichtskosten wurden teilweise von der Beschuldigten und teilweise vom Staat getragen. Die Beschuldigte erhielt eine Parteientschädigung und musste einen Teil der Verfahrenskosten tragen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2022.29

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2022.29
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2022.29 vom 28.07.2022 (SO)
Datum:28.07.2022
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Apos; Beschuldigten; Verfügung; Betreibungsamt; Urteil; Verfahren; Berufung; Betrag; Staat; Vermögenswert; Existenzminimum; Verfahrens; Anklageschrift; Mietzins; Pfändung; Beschlag; Vermögenswerte; Ungehorsam; Verfügungen; Thal-Gäu; Urteils; Parteientschädigung; Recht; Einkommen; Tatzeit; Verfahrenskosten; Quote
Rechtsnorm: Art. 169 StGB ;Art. 292 StGB ;Art. 356 StPO ;Art. 406 StPO ;Art. 442 StPO ;Art. 46 StGB ;
Referenz BGE:116 Ia 455; 120 IV 348; 126 I 19; 133 IV 235;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2022.29

 
Geschäftsnummer: STBER.2022.29
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 28.07.2022 
FindInfo-Nummer: O_ST.2022.53
Titel: Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen, Widerruf

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 28. Juli 2022   

Es wirken mit:

Präsident von Felten

Oberrichter Kiefer

Oberrichter Flückiger

Gerichtsschreiberin Schmid

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, vertreten durch Rechtsanwältin Sabrina Weisskopf,

Beschuldigte und Berufungsklägerin

 

betreffend     Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen, Widerruf


 

Das Verfahren wird gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO schriftlich geführt.

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I.          Prozessgeschichte

 

1. Am 6. Januar 2021 reichte das Betreibungsamt Thal-Gäu gegen A.___ (nachfolgend: Beschuldigte) eine Strafanzeige wegen Verfügung über mit Beschlag belegten Vermögenswerten (Art. 169 StGB) und Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen (Art. 292 StGB) ein (AS 1 ff.).

 

2. Die Staatanwaltschaft erliess am 23. März 2021 einen Strafbefehl, mit welchem die Beschuldigte in beiden angezeigten Punkten schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je CHF 50.00 sowie einer Busse von CHF 200.00 verurteilt wurde (AS 93 ff.).

 

3. Die anwaltlich vertretene Beschuldigte liess gegen diesen Strafbefehl am 25. März 2021 Einsprache erheben (AS 97), worauf die Staatsanwaltschaft am 24. August 2021 am Strafbefehl festhielt und die Akten dem Gerichtspräsidium von Thal-Gäu zum Entscheid überwies.

 

4. Am 31. Januar 2022 fällte der Gerichtspräsident von Thal-Gäu folgendes Urteil (AS 177 ff.):

 

1.      A.___ hat sich wie folgt schuldig gemacht:

a)    Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, begangen in der Zeit vom 6. Juli 2020 bis 6. Januar 2021,

b)    Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen, begangen in der Zeit vom 12. Dezember 2020 bis 21. Januar 2021.

 

2.      A.___ wird verurteilt zu:

a)    Einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je CHF 50.00,

b)    Einer Busse von CHF 200.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 2 Tagen.

 

3.      Der A.___ mit Urteil der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 20. März 2019 für eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je CHF 70.00 gewährte bedingte Vollzug wird nicht widerrufen, stattdessen wird die Probezeit um 1 Jahr verlängert.

 

4.      A.___ hat die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilgebühr von CHF 600.00, total CHF 800.00, zu bezahlen. Wird kein Rechtsmittel ergriffen und verlangt keine Partei ausdrücklich eine schriftliche Begründung des Urteils, so reduziert sich die Urteilsgebühr um CHF 300.00, womit die gesamten Kosten CHF 500.00 betragen.

 

5. Am 14. Februar 2022 liess die Beschuldigte gegen dieses Urteil die Berufung anmelden (AS 183).

 

6. Gemäss Berufungserklärung vom 14. März 2022 richtet sich die Berufung gegen das ganze erstinstanzliche Urteil.

 

7. Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 21. März 2022 auf die Einreichung eines Rechtsmittels sowie auf die weitere Teilnahme am Berufungsverfahren.

 

8. Am 8. April 2022 ordnete der Instruktionsrichter im Einverständnis der Beschuldigten das schriftliche Verfahren an.

 

9. Die Beschuldigte liess die schriftliche Berufungsbegründung am 3. Juni 2022 einreichen. Sie zog dabei die Berufung gegen den Schuldspruch wegen Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen sowie die ausgefällte Busse von CHF 200.00 zurück. Sie beantragt die Zusprechung einer Parteientschädigung für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren sowie die Übernahme der Verfahrenskosten durch den Staat.

 

10. In Rechtskraft erwachsen und nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens sind damit die Ziffern 1 lit. b und 2 lit. b des erstinstanzlichen Urteils.

 

 

II.         Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen (Art. 292 StGB)

 

Die Beschuldigte liess die Berufung gegen diesen Schuldspruch sowie die dafür ausgesprochene Busse von CHF 200.00 in der schriftlichen Urteilsbegründung zurückziehen. Der Schuldspruch wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen und die Sanktion (Busse CHF 200.00) sind damit in Rechtskraft erwachsen.

 

 

III.        Rüge der Verletzung des Anklagegrundsatzes

 

1. Der Anklagegrundsatz verteilt die Aufgaben zwischen den Untersuchungs- bzw. Anklagebehörden einerseits und den Gerichten andererseits. Er bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens und bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 126 I 19 E. 2a S. 21; BGE 120 IV 348 E. 2b S. 353 f. mit Hinweisen). Konkretisiert wird der Anklagegrundsatz zur Hauptsache durch die Anforderungen, welche an die Anklageschrift gestellt werden. Diese hat eine doppelte Bedeutung. Sie dient einerseits der Bestimmung des Prozessgegenstandes (Umgrenzungsfunktion) und sie vermittelt andererseits dem Angeschuldigten die für die Durchführung des Verfahrens und die Verteidigung notwendigen Informationen (Informationsfunktion), wobei die beiden Funktionen von gleichwertiger Bedeutung sind (BGE 133 IV 235 E. 6.2 S. 244 f. mit Hinweis auf BGE 120 IV 348 E. 2c S. 354 und  BGE 116 Ia 455 E. 3a/cc). Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK hat der Beschuldigte im Zeitpunkt der Anklageerhebung das Recht darauf, in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt zu werden. Dadurch soll der Angeklagte vor Überraschung und Überrumpelung geschützt und ihm eine effektive Verteidigung ermöglicht werden (Urteil des Bundesgerichts 6P.183/2006 vom 19.3.2007 E. 4.2).

 

2. Die Beschuldigte lässt geltend machen, dass sich aus dem Strafbefehl vom 23. März 2021, der vorliegend als Anklageschrift gilt (Art. 356 Abs. 1 StPO), nicht ergebe, welcher Vorwurf ihr konkret gemacht werde. Unklar sei der Tatzeitpunkt. Es sei ihr nicht klar, in welchem Zeitraum sie sich nun strafbar gemacht haben soll bzw. für welche Monate ihr vorgeworfen werde, die pfändbare Quote nicht abgeliefert zu haben.

 

3. Es ist einzuräumen, dass die Anklageschrift bezüglich des der Beschuldigten vorgehaltenen Tatzeitraumes präziser formuliert sein könnte. So wird der Tatzeitraum eingangs von Ziff. 1.1 der Anklageschrift eingegrenzt auf die Zeit vom 6. Juli 2020 bis 6. Januar 2021. Im nächsten Abschnitt, der mit dem Wort «Konkret» beginnt, wird der Beschuldigten vorgehalten, sie habe in den Monaten September, Oktober und November 2020 die Pfändungsquote von jeweils CHF 1'400.00, total CHF 4'200.00, dem Betreibungsamt nicht abgeliefert. Im nächsten Absatz wird diese Aussage aber sogleich wieder zurückgenommen und ausgeführt, dass eine Neuberechnung des Betreibungsamtes ergeben habe, dass die Beschuldigte im Jahr 2020 insgesamt CHF 2'993.20 an das Betreibungsamt hätte abliefern müssen. In der entsprechenden Auflistung werden mehrere Monate des Jahres 2020, auch solche vor Juli 2020 aufgeführt, in welchen von der Beschuldigten eine Pfändungsquote hätte abgeliefert werden sollen.

 

4. In der Anklageschrift wird explizit die Verfügung des Betreibungsamtes Thal-Gäu vom 22. Juni 2020 erwähnt, mit welcher der Beschuldigten eine monatliche Lohnpfändung von CHF 1'400.00 angezeigt wurde (AS 16 f.). Der Beschuldigten wird in der Anklageschrift ein Verstoss gegen diese Verfügung vorgehalten; es ist somit klar, dass der vorgehaltene Tatzeitpunkt nicht vor dem 22. Juni 2020 liegen kann. Entsprechend wird denn im ersten Absatz von Ziff. 1.1 der Anklageschrift auch der 6. Juli 2020 als Beginn des Tatzeitraumes erwähnt, weil die monatliche Pfändungsquote jeweils bis am 5. Tag des Monats beim Betreibungsamt abzuliefern war. Strafrechtlich irrelevant ist deshalb, ob die Beschuldigte vor dem 22. Juni 2020 dem Betreibungsamt einen Teil ihres Erwerbseinkommens hätte abliefern müssen nicht. Die im dritten Absatz von Ziff. 1.1 der Anklageschrift aufgelisteten Beträge für die Monate Februar – Mai 2020 sind deshalb nicht beachtlich.

 

5. Insgesamt erfüllt die Anklageschrift die Anforderungen, um ihrer Umgrenzungs- und Informationsfunktion genügen zu können. Der Vorhalt an die Beschuldigte ist eng mit der Verfügung des Betreibungsamtes Thal-Gäu vom 22. Juni 2020 verknüpft, so dass sich daraus klar der Beginn des Tatzeitraumes (6. Juli 2020; Fälligkeit der ersten Rate, die an das Betreibungsamt abzuliefern war) ergibt. Das Ende des vorgehaltenen Tatzeitraumes wird in der Anklageschrift ebenfalls genannt (6. Januar 2021, Datum der Strafanzeige des Betreibungsamtes). Der Beschuldigten war gestützt auf diese Angaben klar, dass ihr vorgehalten wird, in diesem Zeitraum dem Betreibungsamt gepfändete Lohnanteile nicht abgeliefert zu haben. Eine Einschränkung ihrer Verteidigungsmöglichkeiten ist deshalb nicht erkennbar. Der Anklagegrundsatz ist nicht verletzt.

 

 

IV.       Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB)

 

1.         Vorhalt

 

Der Beschuldigten wird vorgeworfen, in der Zeit vom 6. Juli 2020 bis 6. Januar 2021, im Betreibungsamt Thal-Gäu in Balsthal, über mit Beschlag belegte Verfügungswerte verfügt zu haben, indem sie eigenmächtig und zum Schaden ihrer Gläubiger über einen Vermögenswert verfügt habe, der amtlich gepfändet worden sei. Konkret habe die Beschuldigte die Pfändungsquoten von je CHF 1'400.00 für die Monate September, Oktober und November 2020, total CHF 4'200.00, nicht abgeliefert. Nach einer durch das Betreibungsamt erstellten Berechnung der effektiv ausstehenden Pfändungsquote für das Jahr 2020, habe sich eine neue effektiv fällige Quote von total CHF 2'993.30 ergeben.

 

2. Am 22. Juni 2020 erliess das Betreibungsamt Thal-Gäu eine Verfügung betreffend Verdienstpfändung gegenüber der Beschuldigten. Gemäss dieser Verfügung wurden mit sofortiger Wirkung die das monatliche Existenzminimum von CHF 1'600.00 übersteigenden Einkünfte gepfändet. Das Betreibungsamt ging von einem monatlichen Einkommen von CHF 3'000.00 aus, so dass sich ein monatlich gepfändeter Betrag von CHF 1'400.00 ergab. Die Beschuldigte wurde aufgefordert, die gepfändete Quote jeweils bis am 5. Tag des Monats beim Betreibungsamt abzuliefern (AS 16 f.).

 

Es ist von Seiten der Beschuldigten unbestritten, dass ihr diese Verfügung rechtsgültig zugestellt wurde (Berufungsbegründung vom 3. Juni 2022, Ziff. 5) und diese in Rechtskraft erwachsen ist. Ebenso unbestritten ist, dass die Beschuldigte die gepfändete Quote beim Betreibungsamt nicht abgeliefert hat.

 

3.1 Das Betreibungsamt Thal-Gäu setzte das Existenzminimum der Beschuldigten am 22. Juni 2020 auf CHF 1'600.00 fest und berücksichtigte dabei folgende Positionen (AS 77):

 

-       Grundbetrag alleinstehender Schuldner                   CHF 1'200.00

-       Krankenkasse                                                           CHF    392.85

 

Total (gerundet)                                                         CHF 1'600.00

 

Ein Betrag für den Mietzins wurde nicht eingerechnet. In der Berechnung des Existenzminimums ist ausgeführt, dass der aktuelle Mietzinsanteil CHF 550.00 betrage, jedoch per 1. November 2020 auf den ortsüblichen Betrag von CHF 412.50 (1/4 Anteil von CHF 1'650.00) herabgesetzt werde. Der Anteil von CHF 550.00 gehe «retour gg. Vertrag und Quittung». Der Mietzinsanteil sollte der Beschuldigten somit jeweils zurückerstattet werden, wenn sie die Mietzinszahlung gegenüber dem Betreibungsamt nachgewiesen hatte.

 

3.2 Die Akten enthalten zwei frühere Berechnungen des Existenzminimums der Beschuldigten. Diese enthielten folgende Positionen:

 

3.2.1    Existenzminimum 26. Februar 2019 (AS 71):

 

-       Grundbetrag                                                              CHF 1'200.00

-       Mietzins inkl. NK                                                       CHF    462.50

-       Krankenkasse                                                           CHF    366.90

 

Total (gerundet)                                                         CHF 2'030.00

 

3.2.2    Existenzminimum 17. Januar 2020 (AS 76):

 

-       Grundbetrag                                                              CHF 1'200.00

-       Mietzins inkl. NK                                                       CHF    462.50

-       Krankenkasse                                                           CHF    392.85

 

Total (gerundet)                                                         CHF 2'060.00

 

3.3 Die Ausgangslage für die Berechnung des Existenzminimums der Beschuldigten war in allen Fällen die gleiche: Die Beschuldigte lebte zusammen mit ihrem Partner im Konkubinat. Im gleichen Haushalt lebten zudem [Familienmitglieder] des Partners. Der Partner verfügte über kein Einkommen (AS 63, 64; 10, 11).

 

4. Kommt der Schuldner seiner Pflicht zur Ablieferung der gepfändeten Monatsbeiträge trotz rechtskräftiger Verdienstpfändung in der Folge nicht nach und wird deshalb ein Strafverfahren gegen ihn durchgeführt, so hat der Strafrichter den Verdienstumfang und den Notbedarf des Schuldners sowie die allfällige pfändbare Quote selbst zu ermitteln, um festzustellen, ob eine strafbare Handlung vorliege nicht (96 IV 111 E.2).

 

4.1 Das Existenzminimum der Beschuldigten ist aus strafrechtlicher Sicht wie folgt festzulegen:

 

-       Als Grundbetrag ist entsprechend der Vorgehensweise des Betreibungsamtes der Betrag von CHF 1'200.00 einzusetzen. Gemäss Richtlinien der Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs vom 13. Oktober 2014 für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums ist dies der Betrag für einen alleinstehenden Schuldner. Eine Senkung dieses Betrages ist nur angezeigt, wenn der Schuldner in einer kinderlosen Wohngemeinschaft lebt und der Partner ebenfalls über Einkommen verfügt. Dies ist vorliegend nicht der Fall; in den Protokollen des Betreibungsamtes ist jeweils ausgeführt «Partner hat kein Einkommen» (AS 11, 64). Entgegen dem erstinstanzlichen Urteil ist der Grundbetrag von CHF 1'200.00 deshalb nicht auf die Hälfte des Betrages für Ehepaare (CHF 850.00) zu senken.

 

-       Für den Mietzins ergibt sich aus dem Empfangsscheinbuch bis zum 30. Juni 2020 ein Mietzins von CHF 1'900.00 und ab Juli 2020 ein solcher von CHF 2'200.00 (AS 176). Davon ist der Beschuldigten ein Viertel anzurechnen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum in der Verfügung vom 22. Juni 2020 kein Mietzins berücksichtigt war, ergibt sich doch aus dem Empfangsscheinbuch, dass die Mietzinse Mai bis Oktober 2020 bezahlt worden sind und deshalb kein Anlass bestand, den Anteil der Beschuldigten nur gegen Vorlage von Quittungen zu berücksichtigen.

 

-       Entsprechend der Vorgehensweise des Betreibungsamtes ist für die Krankenkasse ein Betrag von monatlich CHF 392.85 zu berücksichtigen.

 

4.2 Damit ergibt sich für die erste Jahreshälfte 2020 bis zum 30. Juni 2020 ein Existenzminimum der Beschuldigten von CHF 2'075.00 und ab dem 1. Juli 2020 ein solches von CHF 2'150.00 (jeweils gerundet).

 

Der Notbedarf der Beschuldigten im Jahr 2020 betrug damit total CHF 25'350.00.

 

5. Das Einkommen der Beschuldigten im Jahr 2020 ist unbestritten. Das Betreibungsamt hat die Nettoeinkommen 2020 der Beschuldigten in ihrer Eingabe vom 25. Februar 2021 zusammengestellt (AS 42 f.). Dabei hat es die Zahlen der Beschuldigten für die Monate Januar bis Juni (vgl. AS 36 - 41) übernommen. Die vom Betreibungsamt berechneten Zahlen ab Juli 2020 wurden von der Vertreterin der Beschuldigten in der Berufungsbegründung vom 3. Juni 2022, Ziff. 9, ausdrücklich anerkannt.

 

Für das Jahr 2020 ergibt sich somit für die Beschuldigte ein Nettoeinkommen von total CHF 25'304.85.

 

Dieses Ergebnis wird gestützt durch die Jahresrechnung 2020 des Treuhandbüros F.___, welche die Beschuldigte im Berufungsverfahren einreichte. Gemäss Jahresrechnung 2020 erzielte die Beschuldigte in diesem Jahr einen Reingewinn von CHF 24'108.20.

 

6.1 Das Bundesgericht führte im Entscheid 6S.454/2005 vom 11. Januar 2006, E. 1, aus, dass die Strafbarkeit der eigenmächtigen Verfügung über künftige Erwerbseinkommen voraussetze, dass der Schuldner das Einkommen während der Pfändungsperiode auch tatsächlich erzielte und unter Berücksichtigung seines Notbedarfs die Pfändung hätte respektieren können, sich aber dafür entschied, die Vermögenswerte anderweitig zu verwenden. Dabei sei nicht jeder Monat isoliert für sich zu betrachten, sondern aufgrund des Durchschnittseinkommens während der Pfändungsperiode zu bestimmen, ob das Erwerbseinkommen das Existenzminimum überstieg, so dass eine pfändbare Quote verblieb.

 

6.2 Im vorliegenden Fall begann die Pfändungsperiode am 22. Juni 2020 und dauerte längstens bis zum 21. Juni 2021. Da die Strafanzeige vom Betreibungsamt am 6. Januar 2021 eingereicht wurde, kann die vom Bundesgericht geforderte Vorgehensweise nicht über die gesamte Pfändungsperiode erfolgen. Da aber bei der Beschuldigten schon vor dem 22. Juni 2020 eine Lohnpfändung verfügt worden war, kann der entsprechenden Berechnung das ganze Jahr 2020 zu Grunde gelegt und damit eine isolierte Betrachtung einzelner Monate vermieden werden.

 

7. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Beschuldigte im Jahr 2020 einen Notbedarf von CHF 25'350.00 aufwies und in der gleichen Zeit ein Nettoeinkommen von CHF 25'304.85 erzielte. Eine pfändbare Quote ihres Einkommens bestand somit in dieser Zeit nicht.

 

8. Gemäss Art. 169 StGB ist strafbar, wer u.a. eigenmächtig zum Schaden der Gläubiger über einen Vermögenswert verfügt, der amtlich gepfändet ist.

 

Gestützt auf die vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass die Beschuldigte während der vorgehaltenen Tatzeit nicht ein Einkommen erzielte, welches ihren Notbedarf überstieg. Entsprechend kann ihr nicht vorgehalten werden, die Verfügung betreffend Verdienstpfändung vom 22. Juni 2020 nicht eingehalten und dem Betreibungsamt den verfügten Betrag von CHF 1'400.00 pro Monat und auch einen tieferen Betrag nicht abgeliefert zu haben. Die Beschuldigte muss deshalb vom Vorhalt der Verfügung über mit Beschlag belegten Vermögenswerten gemäss Art. 169 StGB freigesprochen werden.

 

 

V.        Widerruf

 

Zu Folge des Freispruchs beging die Beschuldigte während der Probezeit des Strafbefehls der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 20. März 2019 weder ein Vergehen noch ein Verbrechen. Ein Widerruf des in diesem Strafbefehl gewährten bedingten Strafvollzugs kommt deshalb nicht in Frage (Art. 46 StGB).

 

 

VI.       Kosten

 

1.         Erste Instanz

 

Die Beschuldigte wird vom Vorhalt der Verfügung über mit Beschlag belegten Vermögenswerten (Vergehen) und damit vom Hauptvorwurf freigesprochen. Es rechtfertigt sich damit, die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von total CHF 800.00 zu drei Vierteln (CHF 600.00) der Staatskasse zu auferlegen. Ein Anteil von CHF 200.00 hat die Beschuldigte zu tragen.

 

Entsprechend hat die Beschuldigte Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung im Umfang von 75%. Die vor erster Instanz eingereichte Kostennote (AS 175), mit welcher ein Aufwand von 13,17 h zu je CHF 250.00 geltend gemacht wurde, erweist sich als angemessen. Entsprechend ist der Beschuldigten 75% des (inkl. Auslagen und MWST) geltend gemachten Honorars von CHF 3'727.05, somit CHF 2'795.30, als Parteientschädigung für das erstinstanzliche Verfahren zuzusprechen.

 

2.         Zweite Instanz

 

Zu Folge des Ausgangs des Verfahrens sind die Verfahrenskosten vom Staat zu tragen. Die Beschuldigte hat Anspruch auf eine volle Parteientschädigung.

 

Die Vertreterin der Beschuldigten macht in der Honorarnote vom 24. Juni 2022 einen Zeitaufwand von 7,58 Stunden geltend, zu einem Stundenansatz von CHF 250.00 sowie bei zwei Positionen zu CHF 115.00 (14. März und 21. Juni 2022). Die Positionen vom 21./24. Juni 2022 («AktenE, Doks, Schreiben Oger, Abschlussarbeiten») sind teilweise nicht nachvollziehbar und als Kanzleiarbeit zu qualifizieren. Der geltend gemachte Aufwand vom 21. Juni 2022 ist daher komplett zu streichen und derjenige vom 24. Juni 2022 um 0.5 Stunden zu kürzen. Zu entschädigen sind somit 5.66 Stunden à CHF 250.00 und 0.5 Stunden à CHF 115.00:

 

-       Honorar: 5.66 x CHF 250.00             CHF 1'415.00

0.5 x CHF 115.00              CHF      57.50

-       Auslagen                                            CHF      58.10

-       MWST auf CHF 1'530.60                   CHF    117.90

 

Total                                                    CHF 1'648.50

 

3.         Verrechnung

 

Die Beschuldigte hat somit Anspruch auf Parteientschädigungen für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren von total CHF 4'443.80. Mit diesem Betrag ist der von der Beschuldigten zu tragende Anteil an den erstinstanzlichen Verfahrenskosten von CHF 200.00 zu verrechnen.

 

Damit ergibt sich ein Betrag von CHF 4'243.80, welcher der Beschuldigten auszubezahlen ist.

Demnach wird in Anwendung von Art. 47, Art. 106, Art. 292 StGB; Art. 406 Abs. 2, Art. 426, Art. 428 Abs. 1, Art. 429, Art. 442 Abs. 4 StPO erkannt:

1.    A.___ wird vom Vorhalt der Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerten, angeblich begangen in der Zeit vom 6. Juli 2020 bis 6. Januar 2021, freigesprochen.

 

2.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer 1 lit. b des erstinstanzlichen Urteils hat A.___ sich wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen, begangen in der Zeit vom 12. Dezember 2020 bis 21. Januar 2021, schuldig gemacht.

 

3.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer 2 lit. b des erstinstanzlichen Urteils wird A.___ zu einer Busse von CHF 200.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 2 Tagen, verurteilt.

 

4.    A.___ wird für das erstinstanzliche Verfahren eine reduzierte Parteientschädigung von CHF 2'795.30 und für das Berufungsverfahren eine Parteientschädigung von CHF 1'648.50 zugesprochen.

 

5.    A.___ hat an die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von CHF 800.00 einen Anteil von CHF 200.00 zu bezahlen. Den restlichen Betrag von CHF 600.00 trägt der Staat.

 

6.    Die Verfahrenskosten des Berufungsverfahrens trägt der Staat.

 

7.    Die A.___ zugesprochenen Parteientschädigungen von total CHF 4'443.80 werden mit dem von ihr zu tragenden Anteil an den Verfahrenskosten von CHF 200.00 verrechnet. A.___ ist somit noch ein Betrag von CHF 4'243.80 auszubezahlen.

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

von Felten                                                                         Schmid



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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