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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2022.103)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2022.103: Verwaltungsgericht

Das Obergericht hat am 20. September 2023 in einem Fall von schwerer Körperverletzung, Angriff, Raub und anderen Delikten entschieden. Die Staatsanwaltschaft hat die Verurteilung des Beschuldigten A.___ beantragt, darunter eine Landesverweisung für sieben Jahre. Die Verteidigerin des Beschuldigten hat dagegen Einspruch erhoben und eine Aufhebung der Landesverweisung gefordert. Der Beschuldigte und die Ankläger traten vor Gericht auf, um ihre Argumente vorzubringen. Das Gericht hat entschieden, dass die Landesverweisung aufrechterhalten bleibt und die Kosten dem Beschuldigten auferlegt werden.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2022.103

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2022.103
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2022.103 vom 20.09.2023 (SO)
Datum:20.09.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Berufung; Berufungskläger; Urteil; Landes; Geschädigte; Landesverweis; Landesverweisung; Geschädigten; Recht; Vollzug; Apos; Staat; Schweiz; Person; Urteils; Flüchtling; Eritrea; Härte; Härtefall; Vollzugs; Berufungsklägers; MISA-AS; Rechtsanwältin; Beschuldigte; Kanton; Interesse; Verfahren; Hinweis
Rechtsnorm: Art. 13 BV ;Art. 135 StPO ;Art. 19a BetmG;Art. 25 BV ;Art. 3 EMRK ;Art. 4 EMRK ;Art. 426 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 5 BV ;Art. 66a StGB ;Art. 66c StGB ;Art. 66d StGB ;Art. 8 EMRK ;Art. 83 AIG ;Art. 84 AIG ;Art. 86 StGB ;
Referenz BGE:144 II 1; 144 IV 168; 144 IV 332; 145 IV 161; 145 IV 455; 146 IV 105; 147 IV 453;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2022.103

 
Geschäftsnummer: STBER.2022.103
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 20.09.2023 
FindInfo-Nummer: O_ST.2023.91
Titel: vers. schwere Körperverletzung, Angriff, Raub, mehrf. Beschimpfung, mehrf. Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, evtl. mehrf. Hinderung einer Amtshandlung, mehrf. Beschimpfung, Weigerung der Namensabgabe, Irreführung von Behörden und Beamten, mehrf. Übertretung nach Art. 19a des Betäubungsmi

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 20. September 2023

Es wirken mit:

Vizepräsident Marti, Vorsitz

Oberrichter von Felten   

Ersatzrichterin Laffranchi

Gerichtsschreiberin Lupi De Bruycker

 

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, amtlich verteidigt durch Rechtsanwältin Clivia Wullimann

Beschuldigter und Berufungskläger

 

betreffend     vers. schwere Körperverletzung, Angriff, Raub, mehrf. Übertretung nach Art. 19a des Betäubungsmittelgesetzes, Widerruf


Es erscheinen zur Berufungsverhandlung vor Obergericht vom 20. September 2023:

 

1.    Staatsanwalt B.___, für die Staatsanwaltschaft als Anklägerin;

2.    A.___, Beschuldigter und Berufungskläger, zugeführt von zwei Polizisten der Kantonspolizei Solothurn;

3.    Rechtsanwältin Clivia Wullimann, amtliche Verteidigerin des Beschuldigten;

4.    Dolmetscher.

 

Staatsanwalt B.___ stellt und begründet für die Staatsanwaltschaft als Anklägerin folgende Schlussanträge (vgl. Plädoyernotizen, Aktenseiten Berufungsverfahren [ASB] 218 ff.):

 

« 1.    Es sei festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 8. Juni 2022 mit Ausnahme von Ziff. II.7. in Rechtskraft erwachsen ist.

2.    Der Beschuldigte sei für die Dauer von sieben Jahren des Landes zu verweisen (Art. 66a Abs. 1 lit. b und c StPO).

3.    Die Landesverweisung sei im Schengener Informationssystem (SIS) auszuschreiben (Art. 21 ff. N-SIS-Verordnung).

4.    Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens seien dem Beschuldigten (anteilmässig) aufzuerlegen (Art. 428 Abs. 3 i.V.m. Art. 426 Abs. 1 StPO).

5.    Die Kosten des Berufungsverfahrens seien vollumfänglich dem Beschuldigten aufzuerlegen (Art. 428 Abs. 1 StPO).

6.    Das Honorar der amtlichen Verteidigerin sei nach gerichtlichem Ermessen festzusetzen, unter dem gesetzlichen Rückforderungsvorbehalt (Art. 135 Abs. 1 und 4 StPO).»

 

Rechtsanwältin Clivia Wullimann stellt und begründet im Namen und Auftrag des Berufungsklägers folgende Schlussanträge (vgl. auch Plädoyernotizen, ASB 223 ff.):

 

« 1.    Die Ziff. II Nr. 7 vom Schuldspruch des Urteils vom 8. Juni 2022 sei aufzuheben und es sei vom einem Landesverweis gegen den Beschuldigten abzusehen.

2.    Eventualiter sei die Landesverweisung gemäss Art. 66d StGB aufzuschieben.

3.    Es sei die Unterzeichnende für das Berufungsverfahren als amtliche Verteidigerin einzusetzen.

4.    Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Staates.»

 

Im Weiteren wird für die an der Berufungsverhandlung vorgenommenen Verfahrenshandlungen auf folgende Dokumente verwiesen:

 

-       Verhandlungsprotokoll: ASB 208 ff.;

-       Protokoll der Einvernahme des Beschuldigten: ASB 212 ff.

-       Audiodokument der Einvernahme des Beschuldigten: ASB 217.


 

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I. Prozessgeschichte

 

1. Am 28. April 2021 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (nachfolgend Staatsanwaltschaft) beim Richteramt Olten-Gösgen Anklage gegen A.___, C.___, D.___ und E.___ wegen versuchter schwerer Körperverletzung, Angriffs, Raubes, mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes und weiterer Delikte (Richteramt Olten-Gösgen, Aktenseiten [O-G AS] 1 ff.).

 

2. Die erstinstanzliche Hauptverhandlung fand am 2. und 3. Juni 2022 statt (vgl. Protokoll der Hauptverhandlung: O-G AS 211 ff.) und am 8. Juni 2022 erging – soweit A.___ betreffend – folgendes Urteil des Richteramtes Olten-Gösgen:

 

«I. (…)

II.

1.   Das Strafverfahren gegen A.___ wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, angeblich begangen in der Zeit vor dem 8. Juni 2019 (Vorhalt Ziff. I.B.2.2) wird zufolge Verjährung eingestellt.

2.   A.___ hat sich wie folgt schuldig gemacht:

a)  versuchte schwere Körperverletzung, begangen am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.1),

b)  Raub, begangen am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.1),

c)   mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, begangen in der Zeit vom 8. Juni 2019 bis am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.2).

3.   Die A.___ mit Verfügung des Justizvollzugs des Kantons Zürich vom 13. August 2019 für eine Reststrafe von 49 Tagen gewährte bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug wird widerrufen.

4.   A.___ wird verurteilt zu:

a)  einer Freiheitsstrafe von 45 Monaten (als Gesamtstrafe unter Einbezug der Verfügung des Justizvollzugs des Kantons Zürich vom 13. August 2019),

b)  einer Busse von CHF 300.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 3 Tagen, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau vom 29. Juli 2019.

5.   Der A.___ mit Urteil der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 22. Oktober 2017 für eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je CHF 30.00 gewährte bedingte Vollzug wird widerrufen.

6.   A.___ wird die Haft seit 9. April 2020 an die Freiheitsstrafe angerechnet.

7.   A.___ wird für die Dauer von 7 Jahren des Landes verwiesen. Die Landesverweisung wird im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.

III. (…)

IV. (…)

V.

1. Die sichergestellte Gurtschnalle (aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) ist zu vernichten.

2. (…)

3. Folgende sichergestellten Gegenstände (alle aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) werden A.___ herausgegeben:

i)    (recte a)      1 Herrenjacke, Snipes

j)    (recte b)     1 T-Shirt, Royal Class

k)   (recte c)      1 Trägershirt, Clockhouse

l)    (recte d)      1 Pullover, Champion

m) (recte e)      1 Trainerhose, Adidas

n)  (recte f)      1 Trainerhose, New Look

o)  (recte g)      1 Paar Herrensocken

p)  (recte h)      1 Paar Schuhe, Nike

4. (…)

5. (…)

VI.

1.   Auf die Schadenersatzforderung des Privatklägers F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, wird im Umfang von CHF 85.95 nicht eingetreten.

2.   C.___, A.___, D.___ und E.___ werden unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 645.90 als Schadenersatz zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5 % auf CHF 120.00 ab 28. März 2020, auf CHF 317.80 ab 25. Mai 2020 und auf CHF 208.10 ab 25. Juni 2020.

3.   A.___ und D.___ werden unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 1'160.15 als Schadenersatz zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5% seit 28. März 2020.

4.   C.___, A.___, D.___ und E.___ werden unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 7'000.00 als Genugtuung zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5% seit 28. März 2020.

5.   (…)

6.   A.___ hat dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, eine Parteientschädigung von CHF 4'990.65 zu bezahlen.

7.   (…)

8.   (…)

VII.

1.   (…)

2.   (…)

3.   Die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, wird auf CHF 29'735.75 (inkl. 7.7% MwSt und Auslagen) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu zahlen. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

4.   (…)

5.   (…)

6.   (…)

7.   Die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 20'000.00, total CHF 23'686.80, sind wie folgt durch die Beschuldigten zu bezahlen:

a)  C.___: CHF 6'066.70,

b)  A.___: CHF 5'786.70,

c)   D.___: CHF 6'166.70,

d)  E.___: 5'666.70.»

 

3. Gegen dieses Urteil liess A.___ (nachfolgend Berufungskläger) durch seine amtliche Verteidigerin, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, am 20. Juni 2022 die Berufung anmelden (O-G AS 421).

 

4. D.___, der ebenfalls gegen das erstinstanzliche Urteil die Berufung hatte anmelden lassen, reichte in der Folge innert Frist keine Berufungserklärung ein, so dass dessen Berufung mit Beschluss vom 15. Februar 2023 zufolge Verzichts auf die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens als erledigt von der Geschäftskontrolle abgeschrieben wurde (ASB 108).

 

5. Mit Berufungserklärung vom 20. Dezember 2022 werden vom Berufungskläger folgende Abänderungsanträge gestellt (ASB 3 ff.):

 

« 1.  Die Ziff. II Nr. 7 [vom Schuldspruch] des Urteils vom 8. Juni 2022 sei aufzuheben und es sei von einem Landesverweis gegen den Beschuldigten abzusehen.

  2.  Eventualiter sei die Landesverweisung gemäss Art. 66d StGB aufzuschieben.

  3.  Es sei die Unterzeichnende für das Berufungsverfahren als amtliche Verteidigerin einzusetzen.

  4.  Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Staates.»

 

6. Alle weiteren Parteien verzichteten darauf, Anschlussberufung zu erklären.

 

7. Demzufolge ist das erstinstanzliche Urteil mit den beiden nachfolgenden Ausnahmen in Rechtskraft erwachsen.

 

Gegenstand des Berufungsverfahrens bilden:

 

-        Dispositivziff. II.7.:                  Landesverweisung für die Dauer von sieben Jahren und SIS-Ausschreibung der Landesverweisung;

 

-        Dispositivziff. VII.3. und 7:     erstinstanzliche Kostenverlegung inkl. Rückforderungsanspruch des Staates betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigerin, auch wenn dies nicht explizit angefochten wird (vgl. Art. 428 Abs. 3 StPO: Fällt die Rechtsmittelinstanz – wie vorliegend – einen neuen Entscheid, so befindet sie darin zwingend auch über die von der Vorinstanz getroffene Kostenregelung).

 

8. Der Berufungskläger befindet sich aktuell in der JVA Solothurn. Er ist seit dem 9. April 2020 inhaftiert (Untersuchungshaft bis 5.10.2020, ab 6.10.2020: vorzeitiger Strafvollzug, ab 8.6.2021: Normallvollzug der rechtskräftigen Freiheitsstrafe, vgl. ASB 117). Mit Verfügung vom 18. April 2023 wurde dem Berufungskläger die bedingte Entlassung nach Art. 86 StGB verweigert (vgl. MISA-AS 49 ff.). Die ausgefällte Freiheitsstrafe von 45 Monaten zuzüglich 97 Tage Ersatzfreiheitsstrafe (zufolge Uneinbringlichkeit der ausgefällten Bussen) wird der Berufungskläger am 14. April 2024 verbüsst haben (vgl. Berechnung AJUV, ASB 116).

 

9. Im Hinblick auf die gerichtliche Beurteilung wurden vom Instruktionsrichter beim Migrationsamt des Kantons Solothurn (MISA) sowie beim Staatssekretariat für Migration (SEM) die Akten betreffend A.___ eingeholt, welche am 3. und 7. Juli 2023 beim Gericht eingingen. Am 23. August 2023 legte das Amt für Justizvollzug den Vollzugsverlaufsbericht (ASB 198 ff.) vor und am 29. August 2023 ging der beim SEM angeforderte Bericht zur Landesverweisung ein (ASB 203 ff.).

 

10. Die Berufungsverhandlung fand am 20. September 2023 statt (vgl. hierzu das separate Verhandlungsprotokoll: ASB 208 ff.).

 

 

II. Rechtskräftige Schuldsprüche und Strafen

 

1. Der Berufungskläger wurde erstinstanzlich rechtskräftig wegen versuchter schwerer Körperverletzung sowie Raubes, beides begangen am 28. März 2020, und wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, begangen in der Zeit vom 8. Juni 2019 bis am 28. März 2020, schuldig gesprochen und mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 45 Monaten sowie mit einer Busse von CHF 300.00 (ersatzweise drei Tage Freiheitsstrafe) bestraft. Im Weiteren wurde der mit Urteil der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 22. Oktober 2017 für eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je CHF 30.00 gewährte bedingte Vollzug widerrufen.

 

2.1 Den beiden Schuldsprüchen wegen versuchter schwerer Körperverletzung und wegen Raubes liegt folgender Vorhalt gemäss Anklageschrift (Ziff. I.B.1.) zugrunde (OG AS 7 - 10):

 

«begangen am 28. März 2020, zwischen 22:40 Uhr und 22:50 Uhr, in [Ort 1], [Unterführung], zum Nachteil von F.___, indem sich der Beschuldigte [= Berufungskläger A.___] und dessen Mittäter wie folgt verhielten:

 

Am 28. März 2020, ca. 22:40 Uhr, begaben sich C.___, A.___, D.___, E.___, G.___ und eine weitere unbekannte Person gemeinsam in die [Unterführung]. Während C.___, A.___, E.___, D.___ sowie die weitere unbekannte Person in der Unterführung anhielten, lief der telefonierende G.___ weiter und entfernte sich von der Gruppe. Kurz darauf kreuzte die nun aus C.___, A.___, E.___, D.___ sowie einer weiteren unbekannten Person bestehende Gruppe den Geschädigten, der dabei war, die [Unterführung] vom [...]-Quartier herkommend in Richtung Aare zu durchqueren. Als sich der Geschädigte auf der Höhe der Gruppe befand, begab sich C.___ zu ihm hin, sprach ihn an und hielt ihn im Bereich des rechten Oberarmes an der Jacke fest. Zu dieser Zeit entfernte sich die weitere anwesende unbekannte Person in Richtung [...]-Quartier. Als sich der Geschädigte gegen das Festhalten durch C.___ zur Wehr zu setzen und sich von diesem wegzureissen versuchte, stolperte C.___ und kam zu Fall. Da sich der Geschädigte vor allfälligen Repressalien fürchtete, ergriff er sofort die Flucht in Richtung Aare. C.___, A.___, E.___ und D.___ nahmen sofort die Verfolgung auf und rannten dem Geschädigten hinterher. Dabei warf A.___ einen unbekannten Gegenstand, vermutlich eine Getränkedose, nach dem Geschädigten, mit welchem er ihn jedoch nicht traf. Nach mehreren Versuchen, den Geschädigten an der Jacke festzuhalten und diesem das Bein zu stellen, wobei der Geschädigte seinen linken Schuh verlor, gelang es A.___ schliesslich, den Geschädigten festzuhalten und zu Boden zu reissen. Anschliessend verpasste A.___ dem am Boden liegenden Geschädigten einen Fusstritt gegen den Oberkörper und mindestens zwei Fusstritte gegen den Kopf. Kurz darauf stiess C.___ hinzu und verpasste dem Geschädigten aus dem Lauf einen Fusstritt gegen den Kopf/Oberkörper, wobei er stürzte und auf dem Geschädigten zu liegen kam. In der Folge beugte sich C.___ über den Geschädigten und verpasste diesem mehrere Faustschläge gegen den Kopf. Anschliessend verpasste A.___ dem Geschädigten mindestens zwei Fusstritte gegen das Gesäss bzw. den Rücken, woraufhin C.___ dem Geschädigten mehrfach mit der Faust gegen den Hinterkopf schlug. Gleichzeitig griff A.___ in der Absicht, sich die darin befindlichen Gegenstände anzueignen und sich dadurch unrechtmässig zu bereichern, in die hinteren Hosentaschen des mittlerweile knienden Geschädigten und durchsuchte diese. D.___, der sich bereits zuvor in unmittelbarer Nähe aufgehalten und das Geschehen beobachtet hatte, begab sich nun ebenfalls zum Opfer hin und verpasste diesem zwei Fusstritte gegen das Gesicht. Nachdem der Geschädigte aufgrund der vorangegangenen Schläge und Tritte wieder seitlich zu Boden gestürzt war, trat C.___ mindestens viermal mit dem Fuss auf dessen Kopf ein. Während A.___ zur gleichen Zeit immer noch damit beschäftigt war, die Hosentaschen des Geschädigten zu durchsuchen, ergriff D.___ in der Absicht, sich dieses anzueignen und sich dadurch unrechtmässig zu bereichern, das mittlerweile am Boden liegende Mobiltelefon des Geschädigten, nahm dieses an sich und entfernte sich in Richtung des [...]-Quartiers, wobei er bloss wenige Meter vom nach wie vor am Boden liegenden Geschädigten anhielt und sich anschliessend weiterhin in unmittelbarer Nähe zum Geschehen aufhielt und dieses beobachtete. Da C.___ während des Eintretens auf den Geschädigten über diesen stolperte und dadurch zu Fall kam, liess er ebenfalls kurzzeitig vom Geschädigten ab. Zwischenzeitlich konnte A.___ das Portemonnaie des Geschädigten an sich nehmen, woraufhin er sich mit D.___ in Richtung des [...]-Quartiers entfernte. Zu diesem Zeitpunkt begab sich E.___, der das ganze Geschehen zuvor aus naher Distanz beobachtet hatte, zum Geschädigten und sprach diesen an. Währenddessen kam der mittlerweile wieder aufgestandene C.___ wieder hinzu, schubste E.___ weg und trat dem Geschädigten erneut mit dem Fuss gegen den Kopf. Um sich gegen weitere Schläge zu wehren, hielt der Geschädigte nun das rechte Bein von C.___ fest. Während sich C.___ loszureissen versuchte, griff E.___ in der Absicht, darin Deliktsgut zu finden, sich dieses anzueignen und sich dadurch unrechtmässig zu bereichern, in die Hosentaschen des Geschädigten und entnahm von dort einen unbekannten Gegenstand. In der Folge verpasste E.___ dem Geschädigten einen Fusstritt gegen den Gesässbereich, woraufhin er sich unverzüglich vom Geschehen entfernte und in Richtung [...]-Quartier davonrannte. C.___ trat ein weiteres Mal gegen den Kopf des Geschädigten und verpasste diesem mehrere Faustschläge gegen den Hinterkopf. In der Folge kamen Drittpersonen hinzu und intervenierten verbal, weshalb auch C.___ vom Geschädigten abliess und sich in Richtung des [...]-Quartiers entfernte.

 

Nachdem die Drittpersonen den Tatort kurze Zeit später wieder verlassen hatten, begaben sich C.___, A.___, E.___ und D.___ erneut zum Geschädigten hin, wobei E.___ und A.___ je einen Gürtel in der Hand hielten. In der Folge verpasste C.___ dem am Boden knienden und seine Sachen zusammenpackenden Geschädigten mit voller Wucht aus dem Lauf einen Fusstritt gegen den Rücken bzw. in die Nackengegend, woraufhin dieser wieder zu Boden stürzte. Unmittelbar danach sprang auch A.___ den Geschädigten aus dem Lauf an und trat ihn dabei mit beiden Beinen gegen den Oberkörper bzw. mit dem linken Bein ins Gesicht. Als der Geschädigte sich wieder erheben wollte, schlug A.___ mehrfach mit seinem Gürtel von vorne gegen den Kopf des Geschädigten, während C.___ den Kopf des Geschädigten von hinten mit mehreren Fusstritten und Faustschlägen traktierte und E.___ und D.___ das Ganze aus der Nähe beobachteten.

 

In der Folge liessen C.___, A.___, E.___ und D.___ kurzzeitig vom Geschädigten ab. C.___ blieb aber weiter in unmittelbarer Nähe und sprach mit dem Geschädigten. Inzwischen entfernten sich E.___ und D.___ vom Tatort und versuchten A.___ verbal daran zu hindern, sich erneut zum Geschädigten zu begeben. Dieser liess sich aber nicht von einem weiteren Angriff abhalten und schlug – nach einem kurzen Gerangel mit C.___ – erneut mit dem Gürtel gegen den Kopf des Geschädigten, welcher bei seinem Rucksack kniend seine auf dem Boden verstreuten Gegenstände wieder einzupacken versuchte, woraufhin C.___ dem Geschädigten je einen weiteren Fusstritt und Faustschlag gegen den Kopf verpasste. Als sich der Geschädigte dagegen zur Wehr zu setzen versuchte, aufstand und auf C.___ zuging, verpasste dieser dem Geschädigten drei weitere Faustschläge gegen den Kopf, weshalb der Geschädigte wieder zu Boden stürzte. In der Folge verpassten A.___ und C.___ dem Geschädigten je mehrere Fusstritte und Schläge gegen die Beine, den Oberkörper und den Kopf. In der Folge stiess auch D.___ wieder dazu, wobei er zunächst nur aus nächster Nähe zuschaute, später aber ebenfalls eingriff und den Geschädigten von hinten in Richtung der Mauer schubste. Anschliessend versuchte D.___, den rechten Schuh des Geschädigten zu entwenden. Um dies zu verhindern, packte der Geschädigte D.___, woraufhin C.___ und A.___ dem Geschädigten insgesamt mindestens fünf weitere Schläge gegen den Kopf verpassten, wobei A.___ einmal mit dem Gürtel zuschlug. Danach ergriff A.___ in der Absicht, sich dadurch unrechtmässig zu bereichern, einen unbekannten auf dem Boden liegenden Gegenstand, der dem Geschädigten aus dem Rucksack gefallen war, und nahm diesen an sich. In der Folge kamen mehrere unbeteiligte Drittpersonen hinzu und konnten C.___, A.___ und D.___ dazu bewegen, sich in Richtung [...]-Quartier zu entfernen.

 

C.___, A.___, E.___ und D.___ fügten dem Geschädigten mit dem oben beschriebenen Verhalten insbesondere eine Kopfkontusion, mehrere Blutergüsse und Schürfwunden am Kopf sowie eine Prellung an der rechten Hand zu. Zudem war der Geschädigte in der Folge bis Juni 2020 mindestens teilweise arbeitsunfähig. Weiter leidet der Geschädigte seit dem Ereignis an chronischen Kopfschmerzen und einer akuten Belastungsreaktion und befindet sich deshalb nach wie vor in ärztlicher Behandlung.

 

Dem Geschädigten wurden anlässlich des Vorfalls durch C.___, A.___, E.___ und D.___ die folgenden Gegenstände im Wert von total rund CHF 700.00 entwendet:

-     1 Mobiltelefon Samsung Galaxy 510 Plus (inkl. Hülle), ca. CHF 400.00

-     1 SIM-Karte [Tel.-Nr.] (eingelegt im Mobiltelefon), ca. CHF 50.00

-     1 Postfinance-Karte, ca. CHF 20.00

-     1 Migros Cumulus Karte, ca. CHF 10.00

-     1 Coop Super Card, ca. CHF 10.00

-     1 Identitätskarte (Schweiz) Nr. […] (CH), ca. CHF 20.00

-     1 Identitätskarte (Bosnien), ca. CHF 20.00

-     Bargeld, ca. CHF 90.00

-     Bargeld, ca. EUR 5.00

-     Portemonnaie Hugo Boss schwarz, ca. CHF 20.00

-     Swisspass, ca. CHF 20.00

-     Mastercard-Kredikarte, ca. CHF 20.00

-     Führerausweis, ca. CHF 20.00

 

Mit ihrem Verhalten, namentlich mit den mehrfachen Tritten und Schlägen gegen den Kopf des am Boden liegenden Geschädigten, dessen Kopf dabei teilweise gegen den harten Betonboden prallte, sowie mit Gürtelhieben u.a. gegen das Gesicht und damit in unmittelbarer Nähe der Augen des Geschädigten, nahmen C.___, A.___, E.___ und D.___ mindestens in Kauf, den Geschädigten schwer bzw. lebensgefährlich zu verletzen und/oder dessen Gesicht arg und bleibend zu entstellen. Dass der Geschädigte nicht schwerer verletzt wurde, ist nur dem Zufall und dem Eingreifen von Drittpersonen zu verdanken.

 

C.___, A.___, E.___ und D.___ handelten in Mittäterschaft aufgrund eines mindestens konkludent gefassten und gemeinsam getragenen Tatentschlusses in gemeinsamer Tatausführung. A.___ leistete einen wesentlichen Tatbeitrag, indem er gemeinsam mit den Mitbeschuldigten unvermittelt die Verfolgung des Geschädigten aufnahm, diesen zu Fall brachte, dessen Hosentaschen nach Deliktsgut durchsuchte und schliesslich ein Portemonnaie entwendete sowie dem Geschädigten insbesondere zahlreiche Fusstritte, Faustschläge und Gürtelhiebe, davon mindestens 4 Fusstritte und 9 Gürtelhiebe gegen den Kopf, verpasste und mehrere Male, nachdem er und die anderen Beschuldigten bereits vom Geschädigten abgelassen hatten, zu diesem zurückkehrte und abermals gemäss obigen Ausführungen gewalttätig auf diesen einwirkte. Soweit A.___ die Tatbestandsmerkmale nicht durch eigenes Handeln erfüllt, hat er sich als Mittäter auch sämtliche Handlungen seiner Mittäter anrechnen zu lassen.»

 

2.2 Diesen vorgehaltenen Lebenssachverhalt erhob die Vorinstanz – mit Ausnahme eines Tatbeitrages des Mittäters E.___ (es sei nicht erstellt, dass dieser in Aneignungs- und Bereicherungssicht in die Hosentaschen des Geschädigten gegriffen und von dort einen unbekannten Gegenstand entnommen habe) – zum Beweisergebnis.

 

2.3 Der Tatort ([Unterführung]) wurde zur Tatzeit videoüberwacht und das Videomaterial wurde sichergestellt (vgl. AS 119 ff. und AS 129 ff.). Im Unterschied zur rein verbalen Beschreibung des Tatherganges (vgl. hierzu Ziff. II.2.1) verdeutlicht das Medium Video das mittäterschaftliche Zusammenwirken und die damit einhergehende Intensität der Gewalt, der das Opfer über mehrere Minuten schutzlos ausgesetzt war. Das Video offenbart, wie hemmungslos, hartnäckig und brutal der Berufungskläger zusammen mit den Mittätern vorging.

 

 

III. Landesverweisung und SIS-Ausschreibung

 

1. Allgemeines zur Landesverweisung

 

1.1 Nach Art. 66a Abs. 1 StGB hat das Gericht eine Person ausländischer Staatsangehörigkeit aus der Schweiz zu verweisen, wenn diese wegen einer der in den lit. a bis lit. o abschliessend aufgezählten strafbaren Handlungen (sog. Katalogtaten) verurteilt wird; dies unabhängig von der verhängten Strafhöhe. Ausländer sind alle Personen, die im Zeitpunkt der Tat nicht über das schweizerische Bürgerrecht verfügen. Die Dauer der obligatorischen Landesverweisung beträgt – mit Ausnahme des Wiederholungsfalls, den Art. 66b StGB regelt – mindestens fünf und maximal 15 Jahre. Die obligatorische Landesverweisung wegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.1.3).

 

1.2 Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur «ausnahmsweise» unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel). Sind die Voraussetzungen von Art. 66a Abs. 2 StGB erfüllt, muss das Gericht nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit von einer Landesverweisung absehen (BGE 144 IV 332 E. 3.3).  

 

1.3 Die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.1.2 und E. 3.3.1). Die Härtefallklausel ist gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung restriktiv («in modo restrittivo») anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.1 mit Hinweis).

 

Von einem schweren persönlichen Härtefall ist in der Regel bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen (Urteile 6B_1144/2021 vom 24.4.2023 E. 1.2.3; 6B_244/2021, 6B_254/2021 vom 17.4.2023 E. 6.3.3; je mit Hinweis). Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB hat sich daher an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren (BGE 145 IV 161 E. 3.4; Urteile 6B_1144/2021 vom 24.4.2023 E. 1.2.5; 6B_244/2021, 6B_254/2021 vom 17.4.2023 E. 6.3.5; 6B_207/2022 vom 27.3.2023 E. 1.2.4; je mit Hinweisen).  

 

Ob ein Härtefall vorliegt, entscheidet sich nicht anhand von starren Altersvorgaben. Ebenso wenig ist nach einer gewissen (legalen) Aufenthaltsdauer eine Verwurzelung in der Schweiz anzunehmen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4). Es ist vielmehr eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1 f.; 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteil 6B_739/2020 vom 14.10.2020 E. 1.1.1; je mit Hinweisen), bei welcher die gängigen Integrationskriterien heranzuziehen sind (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2 und 3.4.4; 144 IV 332 E. 3.3.2). Erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher gesellschaftlicher Natur (vgl. BGE 144 II 1 E. 6.1; Urteil 6B_33/2022 vom 9.12.2022 E. 3.2.3; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der persönlichen und wirtschaftlichen Integration, familiäre Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand und die Resozialisierungschancen (vgl. Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24.10.2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]; BGE 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteile 6B_1077/2020 vom 2.6.2021 E. 1.2.2; 6B_1178/2019 vom 10.3.2021 E. 3.2.4; je mit Hinweisen). Der besonderen Situation von in der Schweiz geborenen aufgewachsenen Ausländern wird Rechnung getragen, indem eine längere Aufenthaltsdauer zusammen mit einer guten Integration in aller Regel als starke Indizien für ein gewichtiges Interesse an einem Verbleib in der Schweiz und damit für das Vorliegen eines Härtefalls zu werten sind (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4). Ebenso ist der Rückfallgefahr und wiederholter Delinquenz Rechnung zu tragen. Das Gericht darf auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteil 6B_149/2021 vom 3.2.2022 E. 2.3.2 mit Hinweis).

 

1.4 Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der «öffentlichen Interessen an der Landesverweisung». Die obligatorische Landesverweisung ist anzuordnen, wenn die Katalogtat -taten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (so Urteile 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.3.2; 6B_748/2021 vom 8.9.2021 E. 1.1.1; 6B_1428/2020 vom 19.4.2021 E. 2.4.2; je mit Hinweisen). Ausgangspunkt und Massstab für die ausländerrechtliche Interessenabwägung ist die Schwere des Verschuldens, die sich in der Dauer der verfahrensauslösenden Freiheitsstrafe niederschlägt; auch eine einmalige Straftat kann eine aufenthaltsbeendende Massnahme rechtfertigen, wenn die Rechtsgutverletzung schwer wiegt (Urteil des Bundesgerichts 2C_31/2018 vom 7.12.2018 E. 3.3).

 

Überwiegen die öffentlichen Interessen, so ist selbst bei Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls eine Landesverweisung auszusprechen, wobei die vorgängige Bejahung eines Härtefalls stets ein erhebliches privates Interesse impliziert. Sind die privaten Interessen jedoch höher zumindest gleich hoch einzustufen wie das öffentliche Interesse, ist von einer Landesverweisung abzusehen.

 

2. Vollzugshindernisse

 

2.1. Allgemeine Vollzugshindernisse

 

In rechtlicher Hinsicht werden bei der Weg-/Ausweisung einer ausländischen Person grundsätzlich drei Vollzugshindernisse unterschieden: Bei der sog. völkerrechtliche Vollzugsschranke (Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs) stehen völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Wegweisung der ausländischen Person in den Heimat-, den Herkunfts- in einen Drittstaat entgegen (Art. 83 Abs. 3 AIG). Der Vollzug der Wegweisung kann sich im Weiteren als unzumutbar erweisen, wenn die ausländische Person in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- Herkunftsstaat individuell-konkret gefährdet ist (sog. humanitäre Vollzugsschranke; Art. 83 Abs. 4 AIG). Die technische Vollzugsschranke bedeutet, dass es der ausländischen Person nicht möglich ist, in den Heimat-, den Herkunfts- in einen Drittstaat auszureisen dorthin gebracht zu werden (Art. 83 Abs. 2 AIG). Ist der Vollzug der Wegweisung unzulässig, unzumutbar unmöglich, wird die ausländische Person vorläufig aufgenommen (Art. 84 Abs. 4 AIG). Die vorläufige Aufnahme ist vom Gesetzgeber als Ersatzmassnahme und nicht als selbständiger Aufenthaltsstatus konzipiert worden (BBl 1990 II 647), weshalb sie grundsätzlich kein gefestigtes Anwesenheitsrecht darstellt. Die Begriffe Flüchtlings- und Asylstatus sind nicht deckungsgleich. Im Rahmen der Flüchtlingskonvention besteht kein völkerrechtlicher Anspruch auf Asyl. Die Flüchtlingseigenschaft wird nach den Bestimmungen der Flüchtlingskonvention gewährt. Der Asylstatus richtet sich demgegenüber nach den Kriterien des nationalen Rechts. Der vorläufig aufgenommene Flüchtling ist ein anerkannter Flüchtling, der jedoch von der Asylgewährung ausgeschlossen ist (Vorliegen von Asylausschlussgründen nach Artikel 53 und 54 AsylG). Gemäss Artikel 83 Absatz 9 AIG erlischt die vorläufige Aufnahme von Gesetzes wegen, wenn eine Landesverweisung nach Artikel 66a StGB rechtskräftig wird. Dies unbesehen der Gründe, die vormals zur Anordnung der vorläufigen Aufnahme geführt haben.

 

2.2 Spezifische Regelung im Zusammenhang mit der Landesverweisung

 

Art. 66d StGB regelt die spezifische Frage, aus welchen Gründen der Vollzug der Landesverweisung aufzuschieben ist. Es sind dies ausschliesslich Gründe, welche sich aus dem zwingenden Völkerrecht ergeben. Ein Vollzugsaufschub kommt nur in Fragen, wenn:

 

-       Abs. 1 lit. a: der Betroffene ein von der Schweiz anerkannter Flüchtling ist und durch die Landesverweisung sein Leben seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe seiner politischen Anschauungen gefährdet wäre. Wenn jedoch erhebliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betroffene Person die Sicherheit der Schweiz gefährdet, wenn sie als gemeingefährlich einzustufen ist, weil sie wegen eines besonders schweren Verbrechens Vergehens rechtskräftig verurteilt worden ist, kann sie sich nicht auf das Rückschiebungsverbot berufen (zweiter Teilsatz von Abs. 1 lit. a unter Hinweis auf Art. 5 Abs. 2 AsylG).

 

-       Abs. 1 lit. b: andere zwingende Bestimmungen des Völkerrechts dem Vollzug der Landesverweisung entgegenstehen.

 

Das (flüchtlingsrechtliche) Non-refoulement-Gebot im Sinne von Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB stellt ein relatives Vollzugshindernis dar, welches an die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen anknüpft (Urteil des Bundesgerichts 6B_1042 vom 24.5.2023 E. 5.3.3 mit weiteren Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung). Die Ausnahme vom Non-refoulement-Gebot im Sinne von Art. 66d Abs. 1 lit. a (zweiter Teilsatz) StGB ist restriktiv anzuwenden. Voraussetzung ist, dass vom Täter für die Allgemeinheit des Zufluchtsstaates eine schwerwiegende Gefährdung ausgeht (Urteil 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.3.4 mit Hinweis). Das (menschenrechtliche) Non-refoulement-Gebot im Sinne von Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB gilt demgegenüber absolut und verhindert – unabhängig des ausländerrechtlichen Status, der begangenen Straftaten des Gefährdungspotentials des Betroffenen – eine Ausschaffung (Urteile 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.3.4; 6B_38/2021 vom 14.2.2022 E. 5.5.4; je mit Hinweisen). 

 

2.3 Methodisches Vorgehen (Zeitpunkt der Prüfung von Vollzugshindernissen bei der Landesverweisung)

 

Die Gesetzessystematik, welche die Anordnung der Landesverweisung in Art. 66a StGB und den Aufschub des Vollzuges dieser Massnahme in Art. 66d StGB regelt, veranlasste die kantonalen Strafgerichte vielfach zur Annahme, sie dürften als Sachgerichte die Frage des Non-refoulement-Gebotes (Art. 25 Abs. 2 BV) nicht beurteilen. Der Grundsatz der Nichtabschiebung stehe nicht der Landesverweisung als solcher, sondern nur ihrer Vollstreckung entgegen. Ein solcher Hinderungsgrund sei allein von der Vollzugsbehörde zu prüfen, zumal die Durchführung der Landesverweisung von den dannzumal aktuellen Verhältnissen abhänge.

 

Diese Rechtsauffassung ist durch die zwischenzeitlich ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung überholt (vgl. insbesondere Urteil 6B_747/2019 vom 24.6.2020 E. 2.1.2). Vollzugshindernisse, die sich u.a. aus der Flüchtlingseigenschaft ergeben – darunter auch solche, die eine Garantie des zwingenden Völkerrechts beschlagen – spielen schon bei der strafgerichtlichen Anordnung der Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 2 StGB, d.h. bei der dort vorgesehenen Interessenabwägung (BGE 144 IV 332 E. 3.3 S. 339), eine Rolle (Urteil 6B_651/2018 vom 17.10.2018 E. 8.3.3 mit Hinweisen auf die Lehre). Das Gesetz greift den Flüchtlingsstatus einer obligatorisch des Landes verwiesenen Person zwar erst im Zusammenhang mit dem asyl- völkerrechtlich allenfalls gebotenen Aufschub des Vollzugs auf (Art. 66d StGB; Urteil 6B_423/2019 vom 17.3.2020 E. 2.1.2). Gleich wie bei einer ausländerrechtlichen Aus- und Wegweisung resp. einem Entzug des laufenden Aufenthaltstitels (vgl. BGE 135 II 110 E. 4.2 S. 119) erfasse die Interessenabwägung aber sämtliche wesentlichen Aspekte, so auch die Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland. Eine abschliessende Beurteilung sei freilich nur möglich, wenn die unter Verhältnismässigkeitsaspekten erheblichen Verhältnisse stabil seien; bis zum späteren Vollzug (vgl. Art. 66c Abs. 2 StGB) eingetretene Tatsachenänderungen blieben stets vorbehalten (BGE 145 IV 455 E. 9.4 S. 461 betreffend einen gesundheitlichen Härtefall). Diese im vorgenannten Fall auf die medizinische Gesundheit bezogenen Erwägungen beanspruchen allgemeine Gültigkeit (Urteil 6B_1024/2019 vom 29.1.2020 E. 1.3.5 sowie 6B_1042/2021 vom 24.5.2023 E. 5.4.2). Demzufolge hat das Sachgericht bereits bei der Anordnung der Landesverweisung – sowohl für die Frage des Härtefalls als auch für die Interessenabwägung – allfällige Vollzugshindernisse zu berücksichtigen, soweit solche definitiv bestimmbar sind (Urteil 6B_555/2020 vom 12.8.2021 E. 1.4; 6B_747/2019 vom 24.6.2020 E. 2.1.2; demgegenüber mit Hinweis auf die volatilen Verhältnisse: Urteil des Bundesgerichts 6B_1024/2019 vom 29.1.2020 E. 1.3.6: «Dass die Vorinstanz die Frage des tatsächlichen Vollzugs der Landesverweisung angesichts der zurzeit volatilen Situation in Syrien letztlich weder terminieren noch prognostisch definitiv entscheiden kann und offen lässt, hat die verurteilte und verwiesene Person hinzunehmen.»).  Dabei ist insbesondere der zeitliche Aspekt (bzw. die zeitliche Nähe zwischen Anordnung und Vollzug der Landesverweisung) ein wesentliches Kriterium, wie sich aus dem Urteil 6B_1042/2021 vom 24.5.2023 (E. 5.4.3) erschliesst: Kann für die Zeitspanne zwischen der allfälligen Ausfällung der Landesverweisung und deren Vollzug nicht von einer relativ bedeutenden Zeit gesprochen werden, während der sich die für den Beschwerdeführer massgeblichen Umstände ändern könnten, dürfe der Sachrichter die Prüfung des Rückweisungsverbotes nicht auf die Vollzugsbehörde abschieben. Liegt ein definitives Vollzugshindernis vor, so hat der Sachrichter auf die Anordnung der Landesverweisung zu verzichten (BGE 147 IV 453 E. 1.4.5; 155 IV 455 E. 9.4; 144 IV 332 E. 3.3; Urteile 6B_33/2022 vom 9.12.2022 E.3.2.5; 6B_38/2021 vom 14.2.2022 E. 5.5.3; je mit Hinweisen).

 

3. Konkrete Einzelfallprüfung

 

3.1 Katalogtaten/Anlasstaten für die Landesverweisung

 

Der Berufungskläger hat sich der versuchten schweren Körperverletzung und des Raubes schuldig gemacht. Beide strafbare Handlungen bilden Anlasstaten für die obligatorische Landesverweisung (vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. b und c StGB) und beging der Berufungskläger am 28. März 2020, mithin nach Inkrafttreten der Art. 66a ff. StGB am 1. Oktober 2016. Dass der tatbestandmässige Erfolg in Bezug auf die schwere Körperverletzung nicht eingetreten ist, ändert nichts hinsichtlich der Qualifikation, da Art. 66a Abs. 1 StGB gemäss ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung auch den Versuch einer Katalogtat erfasst (BGE 144 IV 168 E. 1.4.1 S. 171).

 

3.2 Prüfung des schweren persönlichen Härtefalls

 

Zu prüfen bleibt, ob die Landesverweisung im konkreten Einzelfall einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde. Bei dieser Prüfung sind die nachfolgenden Aspekte massgeblich:

 

3.2.1 Der Berufungskläger, geboren in Eritrea am 16. Mai 1996, reichte am 5. Mai 2014, demnach im Alter von noch nicht ganz 18 Jahren, nach illegaler Einreise in die Schweiz im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) in Basel ein Asylgesuch ein. Mit Entscheid des vormaligen Bundesamtes für Migration (BFM, neu Staatssekretariat für Migration, SEM) vom 12. Juni 2014 wurde der Berufungskläger dem Kanton Aargau zugewiesen (MISA-AS 322). Mit Asylentscheid vom 29. Juli 2015 verfügte das SEM, der Berufungskläger erfülle die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 Abs. 1 und 2 AsylG. Sein Asylgesuch wurde hingegen abgelehnt und der Beschuldigte aus der Schweiz weggewiesen. Diese Wegweisung wurde zufolge Unzulässigkeit zu Gunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben (ASB 181 - 188).

 

3.2.2 Obwohl dem vorläufig aufgenommenen Berufungskläger gestützt auf Art. 61 AsylG die Erwerbstätigkeit sowie der Stellen- und Berufswechsel bewilligt wurde und dieser gemäss dem aktuellen Vollzugsverlaufsbericht der JVA Solothurn normal intelligent und bildungsfähig ist und über das Potential für den Abschluss einer Berufslehre verfügen würde, ist die berufliche und wirtschaftliche Integration bislang deutlich gescheitert: Aus dem Bericht des Amtes für Migration und Integration des Kantons Aargau vom 25. Juni 2020 (AS 2049 ff.) geht hervor, dass der Berufungskläger keine Ausbildung absolviert hat und in der Schweiz nie offiziell erwerbstätig war. Die Aus- bzw. Weiterbildung des Berufungsklägers geriet im Februar 2017 ins Stocken: Gemäss den Schilderungen einer Caritas-Mitarbeiterin (MISA-AS 236) wurde damals entschieden, dass der Berufungskläger aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse und stressbedingter Schlafstörungen den Besuch der kantonalen Schule für Berufungsbildung des Kantons Aargau (KSB) unterbrechen und nach einem Besuch von Deutschkursen und der Aufnahme einer ärztlichen Behandlung im August 2017 wieder aufnehmen sollte. Mit Schreiben vom 7. Juni 2017 wies die KSB die Anmeldung des Berufungsklägers für ein Bildungsangebot im Integrationsbereich jedoch ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Angebote für Spätimmigrierte richteten sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die das 21. Altersjahr noch nicht erreicht hätten (MISA-AS 229). Diese Voraussetzung erfüllte der Berufungskläger damals knapp nicht mehr. In der Folge konnte für den Berufungskläger mit dem «Arbeitsintegrationsprogramm für Spätmigrierte» eine Anschlusslösung gefunden werden. Es handelt sich hierbei um den Einsatz bei der Firma […] in [Ort] (MISA AS 236). Gemäss den Angaben des Berufungsklägers in seinem Lebenslauf (AS 2054) habe er sich dort mit dem Recycling von elektronischen Geräten befasst. Dem Bericht des Amtes für Migration und Integration des Kantons Aargau lässt sich entnehmen, dass dieses Programm bereits nach wenigen Monaten wieder habe abgebrochen werden müssen. In der Folge habe der Berufungskläger den Integrationskurs «Grundkompetenzen» im Jahre 2019 zwar belegt, die erforderliche Präsenzzeit, welche bei 80 % lag (vgl. AS 2055), habe er jedoch bei Weitem nicht erreicht; er sei nicht sonderlich motiviert gewesen. Aus dem aktenkundigen Schlussbericht geht hervor, dass der Berufungskläger in vielen Fachgebieten aufgrund zu häufiger Absenzen gar nicht habe eingeschätzt werden können (AS 2055 f.).

 

3.2.3 Der Berufungskläger war auf die Unterstützung des Sozialdienstes angewiesen: Vor seiner Inhaftierung (ab 9.4.2020) wurde die Wohnungsmiete vom Sozialdienst der Gemeinde [Ort 2] bezahlt, Gleiches gilt für die Krankenkassenbeiträge. Gemäss Einschätzung des Sozialdienstes [Ort 2] vom 28. Februar 2020 handelt es sich beim Berufungskläger um eine Person, die weder fassbar noch in irgendeiner Weise kooperationsbereit sei (AS 2050). Der Berufungskläger weist Schulden im fünfstelligen Bereich auf: Im Betreibungsregister (Betreibungsregisteramtes [Ort 2]) vom 25. Juni 2020 sind nicht getilgte Verlustscheine im Gesamtbetrag von CHF 18'773.25 verzeichnet. Gläubigerinnen sind diverse Staatsanwaltschaften verschiedener Kantone sowie die Schweizer Bundesbahnen im Umfang von über CHF 7'000.00 (AS 2051 - 1053).

 

3.2.4 Die Deutschkenntnisse des Berufungsklägers korrelieren nicht mit der Anwesenheitsdauer in der Schweiz von nun annähernd 9 ½ Jahren: Dieser hat zwar mehrere Deutschkurse besucht und nutzt seit Juni 2023 auch in der JVA in Solothurn die Bildung im Strafvollzug (BiSt) während vier Lektionen zu je 45 Minuten pro Woche. Seine Sprachkompetenz ist aber noch deutlich ausbaufähig: So musste er für die Befragungen in diesem Strafverfahren wie auch in diversen weiteren Strafverfahren auf die Unterstützung eines Dolmetschers zurückgreifen. Im Führungsbericht der JVA Thorberg vom 21. April 2022 (O-G AS 125) wurde konstatiert, der Berufungskläger sei zwar in der Lage, Deutsch zu verstehen und sich auch auf Deutsch auszudrücken, man sei sich aber nicht sicher, inwiefern der Berufungskläger alles richtig verstehe und sich auch richtig ausdrücken könne. Für komplexe Gesprächsthemen sei deshalb eine Übersetzungsperson angezeigt. Gemäss dem Vollzugsbericht der JVA Solothurn vom 23. August 2023 bewegt sich die Sprachkompetenz des Berufungsklägers schriftlich auf GER-Niveau A2 (= elementare Sprachanwendung: Der Anwender kann Sätze und häufig gebrauchte Aus-
drücke verstehen, die mit Bereichen von ganz unmittelbarer Bedeutung zusammenhängen, beispielsweise Informationen zur Person und zur Familie, Einkaufen, Arbeit, nähere Umgebung.  Ebenso kann er sich in einfachen, routinemäßigen Situationen verständigen, in denen es um einen einfachen und direkten Austausch von Informationen über vertraute und geläufige Dinge geht.). Mündlich wird ihm eine Sprachkompetenz auf dem GER-Niveau B1 attestiert (= selbständige Sprachanwendung: Der Anwender ist in der Lage, die Hauptpunkte zu verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht. Er kann die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet, und sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete äussern).

 

3.2.5 Der nun 27-jährige Berufungskläger ist mehrfach vorbestraft. Aus dem für das Berufungsverfahren eingeholten Strafregisterauszug (ASB 193 ff.) gehen folgende drei Verurteilungen hervor:

 

-           Urteil vom 29. Juli 2019 der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau: einfacher Diebstahl, geringfügiges Vermögensdelikt, Beschimpfung; unbedingt vollziehbare Geldstrafe von 90 TS zu je CHF 30.00 sowie Busse von CHF 100.00

 

Der Berufungskläger begab sich am 20. Januar 2019 morgens um 5:30 Uhr zum
Kiosk am […] in […] und behändigte zwei Sandwiches und ein Rivella im Gesamtbetrag von CHF 16.90. Anschliessend verliess er den Kiosk, ohne diese Artikel zu bezahlen, und äusserte gegenüber der Geschäftsführerin «Fuck you» (MISA-AS 136).

 

-        Urteil der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 10. Dezember 2018: einfacher Diebstahl und Hausfriedensbruch; unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafe von 120 Tagen

 

Dem Schuldspruch lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Berufungskläger betrat am 3. November 2018 morgens um ca. 9:30 Uhr mit E.___ und C. unbefugt und kurz vor deren Öffnungszeit die Boutique der […] AG in der Innenstadt von Zürich. In der Folge nahmen E.___ und C.___ je ein paar Schuhe im Gesamtwert von CHF 1'817.00 an sich. Die Täter verliessen die Boutique wieder, ohne die Schuhe zu bezahlen (MISA-AS 170).

 

-        Urteil der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 22. Oktober 2017: Gewalt Drohung gegen Behörden Beamte; Geldstrafe von 120 TS zu je CHF 30.00, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren. Diese Probezeit wurde mit dem vorgenannten Entscheid vom 10. Dezember 2018 um ein weiteres Jahr (23.10.2019 - 23.10.2020) verlängert.

 

Der Berufungskläger lief am 21. Oktober 2017 morgens ca. um 5:10 Uhr anlässlich einer polizeilichen Personenkontrolle an der [Strasse] in Zürich mit einem Messer in der Hand auf zwei uniformierte Polizisten zu und missachtete die mehrfache Aufforderung der Polizisten, stehen zu bleiben und das Messer weg zu legen. Schliesslich mussten die Polizisten einige Meter zurück weichen. Sie fühlten sich durch das Vorgehen des Berufungsklägers massiv bedroht, weshalb sie ihre Schusswaffen zogen. Als der Berufungskläger noch eine Distanz von ungefähr vier Metern zum einen Polizeibeamten hatte, warf er das Messer in die Richtung eines Polizisten weg (MISA-AS 217).

 

3.2.6 Neben den im Strafregister verzeichneten Taten beging der Berufungskläger auch diverse Übertretungen. Aktenkundig ist eine Vielzahl von Widerhandlungen gegen das Personenbeförderungsgesetz. Es kann hierzu auf die Strafbefehle vom 10.12.2015, 10.1.2017, 16.2.2017, 3.4.2017, 4.5.2017, 2.11.2017,14.3.2018, 6.6.2018, 2.8.2018 und 10.1.2019 verwiesen werden (vgl. MISA-AS 213 f. 239 f., 267 f., 271 f., 286 f., 207 f., 200 f., 103 f., 154 f.). Zudem machte sich der Berufungskläger strafbar wegen geringfügigen Diebstahls (Strafbefehl vom 22.3.2016: MISA-AS 202 f.), wegen einer BetmG-Widerhandlung im Sinne von Art. 19a Ziff. 1 BetmG (unbefugter Betäubungsmittelkonsum; Strafbefehl vom 27.6.2018: MISA-AS 1885 f.), wegen mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen (Missachtung der gegen ihn verfügten Wegweisung aus dem Stadtgebiet Aarau; Strafbefehl vom 12.10.2018: MISA AS 182), Widerhandlung gegen das Eisenbahngesetz durch widerrechtliches Betreten der Geleise (Strafbefehl vom 2.5.2019: MISA-AS 141 f.), wegen Nichteinhalten des Mindestabstands zwischen einzelnen Personen im öffentlichen Raum , begangen am 26.3.2020, sowie wegen Teilnahme an einer Menschenansammlung von mehr als fünf Personen im öffentlichen Raum, begangen am 1.4.2020 (beides Verstösse gegen die COVID-19-Verordnung 2, Strafbefehle vom 20.4.2020 und 15.7.2020: MISA-AS 127 f., 110 f.).

 

3.2.7 Auffällig häufig geriet der Berufungskläger auch mit der Anstaltsordnung in der JVA Thorberg in Konflikt. Gemäss dem Führungsbericht vom 21. April 2022 (O-G AS 123 ff.) wurde der Berufungskläger allein in der Zeit vom 10. September 2021 bis 2. März 2022 sechsmal diszipliniert, dies wegen Ein- und Ausfuhr sowie Besitz von und Handel mit Betäubungsmitteln, Widersetzlichkeit gegenüber dem Personal, Angriffs auf die körperliche Integrität von Miteingewiesenen, Arbeitsverweigerung, Nichteinhalten der Maskenpflicht, respektlosen Verhaltens gegenüber Mitarbeitenden. Während der gesamten Inhaftierung in der JVA Thorberg, welche insgesamt 20 Monate umfasste (8.6.2021 - 6.2.2023), musste der Berufungskläger gar 18 Mal diszipliniert werden (vgl. ASB 199). Der Berufungskläger fiel in der JVA Thorberg durch aggressives Verhalten und erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber seinem Umfeld negativ auf. Diese Schwierigkeiten gaben Anlass für die Versetzung des Berufungsklägers in die JVA Solothurn, wobei er in dieser Institution in den Integrationsvollzug eingewiesen wurde, da er die Voraussetzungen für den Normalvollzug (im Einzelnen: angepasstes Verhalten im Vollzugsalltag, Bereitschaft zur regelmässigen Arbeit, Absprachefähigkeit sowie Verzicht auf Widerhandlungen gegen die Anstaltsordnung) nicht erfüllte. In der JVA Solothurn kam es schliesslich zu zwei Disziplinierungen: Am 15. Juni 2023 verfolgte der Berufungskläger nach einem verbalen Konflikt in der Wohngruppenküche einen Mitinsassen und griff diesen im Zellengang tätlich an, verfehlte ihn aber glücklicherweise. Die Vehemenz des Angriffs, dem nach der Schilderung des Berufungsklägers eine verbale Provokation vorausgegangen sein soll, zog einen Arrest von vier Tagen nach sich. Ein weiteres Mal wurde der Berufungskläger diszipliniert, weil er sich lautstark gegenüber einer Mitarbeiterin beschwerte und gegen die Zellentüre schlug, nachdem die Mitarbeiterin auf die Forderung des Berufungsklägers, ihn von der Arbeit zu dispensieren, nicht eingegangen war. Die Bilanz des bisherigen Vollzuges in der JVA Solothurn fällt durchzogen aus: Dem Berufungskläger wird attestiert, dass er sich gegenüber Mitarbeitenden der JVA und der Wohngruppenbetreuung mehrheitlich angepasst und korrekt verhalte. Im Vollzugsalltag und insbesondere in der Wohngruppe Integration habe er sich rasch eingelebt und seinen Platz im Insassenkollektiv gefunden, er imponiere aber zuweilen mit einem rebellischen und uneinsichtigen Verhalten, insbesondere wenn er Anweisungen befolgen sollte. Der ursprünglich beabsichtigte Wechsel in die Abteilung Normalvollzug habe deshalb noch nicht umgesetzt werden können. Zumindest habe der Berufungskläger seiner Aussage anlässlich des Eintrittsgespräches, er werde sich korrekt verhalten, weitgehend entsprechen können.

 

3.2.8 In sozialer Hinsicht ist ebenfalls nicht erkennbar, dass sich der Berufungskläger in der Schweiz integriert hat. Auf die Frage vor erster Instanz, ob ihn etwas speziell mit der Schweiz verbinde, nannte dieser seine beiden Onkel, welche im [Kanton 1] bzw. [Kanton 2] wohnhaft sind. Sie sind indessen wie der Berufungskläger Teil der eritreischen Diaspora hier in der Schweiz und diese Kontakte wurden zumindest in jüngster Vergangenheit nicht intensiv gepflegt (vgl. MISA-AS 52: im Berichtszeitraum vom 8.8.2022 bis 7.2.2023 [JVA Thorberg] habe der Berufungskläger einen privaten Besuch von seinen beiden Onkeln und seiner Tante, welche in [Ort 3] lebten, erhalten; ASB 201: In der JVA Solothurn erhielt er in der Zeit vom Februar 2023 bis August 2023 dreimal privaten Besuch). Vor seiner Verhaftung pflegte der Berufungskläger hauptsächlich Umgang mit eritreischen Landsleuten (vgl. hierzu seine Aussage anlässlich der polizeilichen Befragung zur Person vom 22.7.2020, AS 2047: «Ich habe Freunde, die ich ab und zu treffe. (…) In den meisten Fällen sind dies schon Leute aus Eritrea. Ich habe jedoch auch ein paar Freunde von anderen Ländern»). Aktenkundig ist auch, dass er diverse Delikte im mittäterschaftlichen Zusammenwirken mit anderen Eritreern beging, so auch das schwerste Delikt (versuchte schwere Körperverletzung), welches die Anlasstat für die zu prüfende Landesverweisung bildet. Nähere Beziehungen zu Schweizer Bürgerinnen und Bürger machte der Berufungskläger nie geltend. Auch den nun vor Obergericht erstmals erwähnten neuen Freund, der gemäss dem Berufungskläger im Gegensatz zu seinem früheren Freundeskreis einen guten Einfluss auf ihn habe, kenne er aus Eritrea (ASB 215 und 216, oben). Der Berufungskläger engagiert sich in der Schweiz auch nicht in Vereinen (O-G AS 258). Die Behauptung der Verteidigung (vgl. Berufungserklärung vom 20.12.2022, ASB 7), wonach die Vorinstanz die soziale Situation des Berufungsklägers falsch dargelegt habe, entbehrt einer Grundlage.

 

3.2.9 Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass die Integration des Beschuldigten trotz einer Aufenthaltsdauer von nun annähernd 9 ½ Jahren als klar ungenügend bezeichnet werden muss. Als vorläufig Aufgenommener verfügt er über kein gefestigtes Anwesenheitsrecht für die Schweiz und er ist hier weder in wirtschaftlicher und beruflicher noch in kultureller, sozialer und sprachlicher Hinsicht verwurzelt. Er geriet im Weiteren immer wieder mit der Rechtsordnung in der Schweiz in Konflikt und war nicht in der Lage nicht gewillt, sich in die hier geltende Werte- und Rechtsordnung einzufügen.

 

3.2.10 Bei der Frage, ob ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt, ist auch die Situation des Berufungsklägers in seiner Heimat ein massgebender Gesichtspunkt und es in diesem Kontext insbesondere auf die Flüchtlingseigenschaft des Berufungsklägers einzugehen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt nicht, dass aufgrund der Flüchtlingseigenschaft eines Ausländers zwingend auf die Landesverweisung zu verzichten wäre. Die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen steht der Anordnung einer Landesverweisung folglich nicht per se entgegen (Urteil des Bundesgerichts 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.4.1). Massgeblich ist immer die Einzelfallprüfung.

 

Der ledige und kinderlose Berufungskläger kam in […] in Eritrea zur Welt, wo er auch die als prägend geltenden Kinder- und Jugendjahre verbrachte. Wenige Tage vor Erreichen der Mündigkeit kam er in die Schweiz. In Eritrea besuchte er nach seinen eigenen Angaben neun Jahre lang die Schule. Bei der Befragung zur Person (BzP) beim BFM, welche am 11. Juni 2014 stattfand, führte der Berufungskläger aus, nie in seinem Heimatstaat gearbeitet zu haben (MISA-AS 330). Anlässlich der polizeilichen Befragung vom 10. Dezember 2018 gab er demgegenüber zu Protokoll, er habe in Eritrea mit seinem Vater gearbeitet, der dort eine Reifenwerkstatt geführt habe (MISA-AS 176). Eritrea habe er im Alter von 16 Jahren verlassen (O-G AS 258), wobei er nach einer schlimmen Flucht über Äthiopien, Sudan, die Sahara, Libyen und Italien schliesslich in die Schweiz gelangt sei. Seine Muttersprache sei Tigrinya (Landessprache von Eritrea) und er fühle sich der othodoxen (koptischen) Konfession zugehörig (MISA-AS 244). Gemäss seinen eigenen Angaben leben beide Elternteile noch in Eritrea, wobei er zu seinem Vater seit längerem keinen Kontakt mehr habe und er nicht wisse, ob dieser tatsächlich noch lebe (O-G AS 257 und ASB 214). Im Rahmen der SEM-Anhörung vom 2. Februar 2015 (ASB 163) gab er zudem zu Protokoll, auch alle seine Geschwister (zwei Brüder und vier Schwerstern) lebten noch in Eritrea. Vor Obergericht berichtete der Berufungskläger, sein Bruder sei in Eritrea in der Schule von Soldaten entführt worden und gelte seither als verschwunden (ASB 215 und 216). In der Schweiz (im [Kanton 1] und [Kanton 2]) habe er zwei Onkel väterlicherseits (O-G AS 257). Aus all diesen Angaben erschliesst sich, dass der Beschuldigte in seinem Heimatstaat weitestgehend sozialisiert wurde, mit den dortigen kulturellen Gepflogenheiten vertraut ist und auch über diverse (auch nächste) verwandtschaftliche Verbindungen verfügt, die ihm – im Falle einer Reintegration in seinen Heimatstaat – dienlich wären. Gesundheitliche Beeinträchtigungen, die unter Umständen einen Härtefall begründen können, hat der noch junge Berufungskläger keine. Vor Obergericht führte er hierzu aus, es gehe ihm gut und er sei sportlich (ASB 216).

 

Am 29. Juli 2015 verfügte das SEM, dass der Berufungskläger die Flüchtlingseigenschaft erfülle. Sein Asylgesuch wurde demgegenüber abgelehnt, wobei der Vollzug seiner Wegweisung (zufolge Unzulässigkeit) zugunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben wurde. Diesem Entscheid lagen folgende Erwägungen zu Grunde:

 

Der Berufungskläger machte im Asylverfahren geltend, sein Vater, der Soldat gewesen sei, sei als Regimekritiker im Januar 2012 inhaftiert worden. Auch seine Mutter sei in der Folge inhaftiert und nach vier Monaten wieder freigelassen worden. Er selber sei wegen seines Versuches, illegal aus Eritrea auszureisen, im September 2012 in Haft genommen worden, wobei ihm in einem Gefängnis in […] beim Toilettengang die Flucht gelungen sei. Nach der Flucht aus der Haft habe ihm der Dorfvorsteher eine Vorladung zum Einrücken in den Militärdienst aushändigen wollen, deren Annahme er verweigert habe. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen sei ihm schliesslich im März 2013 im Alter von rund 16 Jahren die illegale Ausreise aus Eritrea nach Äthiopien gelungen (ASB 182).

 

Das SEM kam zum Schluss, die Aussagen des Berufungsklägers zu seiner Flucht aus der Haft seien äusserst unsubstanziiert sowie stereotyp ausgefallen und als unglaubhaft einzustufen. Seine Ausführungen im freien Bericht liessen jeglichen persönlichen Bezug und die erlebnisgeprägte Nacherzählung vermissen, die von ihm zu erwarten gewesen wäre, wenn er das Geschilderte tatsächlich erlebt hätte. In Anbetracht seiner unsubstanziierten Angaben, die sich zudem nicht mit der Handlungslogik vereinbaren liessen, könne ihm nicht geglaubt werden, dass er aus der Haft geflohen sei (ASB 183). Zum gleichen Schluss kommt das SEM hinsichtlich der von ihm geltend gemachten Refraktion (Flucht vor der Aushebung fürs Militär). Im eritreischen Kontext wäre zu erwarten, dass der Berufungskläger genaue Aussagen über die Umstände seine Refraktion machen könnte, wohingegen seine Aussagen sehr vage und unsubstanziiert geblieben seien, weshalb ihm nicht geglaubt werden könne. Im Weiteren handle es sich hierbei um ein nachgeschobenes Vorbringen, welches sogar im Widerspruch stehe zu seinen ursprünglichen Aussagen anlässlich der Befragung zur Person (ASB 184, zur BzP vom 11.6.2014 vgl. ASB 150 ff. insbesondere die Fragestellungen zu 7.01 «Gesuchsgründe», ASB 156: «Hatten Sie sonst jemals Probleme mit den Behörden in der Heimat?», Antwort: «Nein». «Hatten sie schon jemals eine Vorladung für den MD [Militärdienst]?» Antwort: «Nein»). Im Weiteren hielt das SEM fest, die vom Berufungskläger geltend gemachten Verfolgungsmassnahmen hätten sich ausschliesslich gegen seinen Vater gerichtet. Seine Mutter sei nach vier Monaten wieder freigekommen und seine Geschwister hätten keine Reflexverfolgung wegen des Vaters erlitten. Auch er habe keinen Anlass, eine allfällige Reflexverfolgung wegen seines Vaters zu befürchten. Bei offensichtlich fehlender Asylrelevanz erübrige sich eine Glaubhaftigkeitsprüfung dieses Vorbringens (ASB 185, oben).

 

Die Anerkennung als Flüchtling begründete das SEM ausschliesslich mit Nachfluchtgründen (ASB 185, Erw. II.4. des Asylentscheides):

 

« Aufgrund der Aktenlage ist nicht auszuschliessen, dass Sie Eritrea illegal verlassen haben. Die eritreischen Behörden unterstellen solchen Personen grundsätzlich eine regierungsfeindliche Haltung und bestrafen diese bei einer Rückkehr nach Eritrea sehr streng, wobei sich die Strafmassnahmen durch ein hohes Mass an Brutalität auszeichnen.

  Damit haben Sie begründete Furcht, bei einer Rückkehr nach Eritrea ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG ausgesetzt zu werden, womit Sie die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Flüchtlingen wird indessen kein Asyl gewährt, wenn sie erst durch ihre Ausreise aus dem Heimat- Herkunftsstaat wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise Flüchtlinge im Sinne von Art. 3 AsylG wurden (Art. 54 AsylG, subjektive Nachfluchtgründe). Im vorliegenden Fall sind die flüchtlingsrelevanten Elemente erst mit Ihrer illegalen Ausreise aus Eritrea entstanden. Sie sind daher von der Asylgewährung auszuschliessen.

 

  Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass sie einzig durch Ihre illegale Ausreise Flüchtling im Sinne von Art. 3 AsylG sind. Sie sind daher von der Asylgewährung auszuschliessen und als Flüchtling in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.»

 

3.2.11 Der Berufungskläger lässt hierzu durch seine Verteidigung ausführen, «es sei anzunehmen, dass ihm bei der Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der illegalen Flucht eine Strafe in Form von Folter[ung] drohen könnte» (schriftliche Berufungserklärung vom 20.12.2022, ASB 6, Hervorhebung hinzugefügt). Im Weiteren bringt die Verteidigung vor, wie im Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes vom 22. Juni 2017 (Applikationsnummer 41282/16) festgehalten werde, könnte der drohende Militär- und Nationaldienst in Eritrea unbefristet sein und dementsprechend gegen das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit nach Art. 4 EMRK verstossen. Im Parteivortrag vor Obergericht rügte die Verteidigung, die Vorinstanz habe die Bedrohungssituation im Herkunftsland gänzlich unberücksichtigt gelassen. Diese sei nicht in die Verhältnismässigkeitsprüfung beim Härtefall integriert worden. Der Berufungskläger habe ausgeführt, dass er wegen des Militärs geflohen sei. Er gelte als Deserteur. Ihm drohe Gefängnis der Einzug ins Militär. Hinzu komme, dass eine staatliche Behörde (SEM) ausdrücklich festgehalten habe, dass sich das eritreische Regime durch ein hohes Mass an Brutalität auszeichne. Dieses Regime sei in Eritrea nach wie vor an der Macht (ASB 225).

 

3.2.12 Diese Argumentation hält einer näheren Prüfung aus folgenden Gründen nicht stand:

 

Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter unmenschlicher erniedrigender Strafe Behandlung unterworfen werden. Gemäss der Rechtsprechung des EGMR sind, um ein solches reelles Risiko zu bejahen, restriktive Kriterien anzuwenden. Es gilt unter Betrachtung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu erörtern, ob das Risiko einer Behandlung Strafe i.S.v. Art. 3 EMRK für den Fall einer Landesverweisung mit stichhaltigen Gründen konkret und ernsthaft glaubhaft gemacht wird (Urteil des Bundesgerichts 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.3.5 mit Hinweis auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte [EGMR] F.G. gegen Schweden vom 23. März 2016, Nr. 43611/11, § 113; Saadi gegen Italien vom 28. Februar 2008, Nr. 37201/06], § 125 und 128; Chahal gegen Grossbritannien vom 15. November 1996, Nr. 22414/93, § 74 und 96; vgl. Urteil 6B_38/2021 vom 14. Februar 2022 E. 5.5.5). Ebenso betont das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung, dass den Betroffenen trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes bei der Feststellung von Umständen, die eine individuell-persönliche Gefährdung in seinem Heimatland begründeten, eine Mitwirkungspflicht treffe (Urteil des Bundesgerichts 6B_1367/2022 vom 7.8.2023 E. 1.4.3 mit Hinweis auf 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.4.1; 6B_1024/2019 vom 29.1.2020 E. 1.3). Es genügt demzufolge nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall durch die Verteidigung – die generelle Lage im Heimatland erörtert wird, ohne ausreichend individuell konkret gefährdende Umstände namhaft zu machen substanziieren zu können. Beim Berufungskläger sind keinerlei Hinweise auf ein herausragendes exilpolitisches Profil erkennbar, die auf eine Verfolgung in Eritrea schliessen lassen und es ist klarzustellen, dass es sich beim Berufungskläger nicht um einen Deserteur handelt. Er selber behauptete nie, ein Fahnenflüchtiger gewesen zu sein, d.h. im Militärdienst seine Truppe verlassen zu haben, sondern thematisierte im Asylverfahren die Refraktion (Flucht vor der Aushebung fürs Militär), ohne dies jedoch glaubhaft machen zu können (vgl. vorstehende Ziff. 3.2.10). Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall massgeblich vom Sachverhalt, der dem obergerichtlichen Urteil vom 22. Dezember 2022 (STBER.2021.76) zu Grunde lag: Der dort beurteilte eritreische Staatsbürger diente nachweislich mehrere Jahre in der eritreischen Armee und desertierte aus dem aktiven bewaffneten Dienst, so dass aufgrund seines Status als Deserteur ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht wurde (zu den weiteren Unterschieden vgl. auch nachfolgende Ziff. III.3.3). Im Weiteren lässt die Verteidigung unberücksichtigt, dass sich die Verhältnisse in Eritrea seit dem Asylentscheid verändert haben. Dem Berufungsgericht liegt eine aktuelle Einschätzung der Fachbehörde (SEM), datierend vom 25. August 2023, vor. Das SEM kommt darin zu folgendem Ergebnis (ASB 203 ff.):

 

«Zunächst ist zwar festzustellen, dass Herr A.___ mit Verfügung vom 29. Juli 2015 formell als Flüchtling anerkannt wurde. Gemäss damals gültiger Praxis gingen die Asylbehörden davon aus, dass Personen, welche illegal aus Eritrea ausreisen, bei einer allfälligen Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG rechnen müssen. Mit seinem Koordinationsurteil E-7898/2015 vom 30. Januar 2017 hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch eine Praxisänderung vorgenommen. Die illegale Ausreise für sich alleine führt seither nicht mehr zu einer begründeten Furcht vor ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG. Ein erhebliches Risiko einer Bestrafung bei einer Rückkehr gestützt auf flüchtlingsrechtlich relevante Motive ist nur dann anzunehmen, wenn nebst der illegalen Ausreise weitere Faktoren hinzutreten, die die asylsuchende Person in den Augen der eritreischen Behörden als missliebige Person erscheinen lassen. Solche sind vorliegend nicht auszumachen. Zum heutigen Zeitpunkt geht das SEM daher nicht davon aus, dass Herr A.___ bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat verfolgt werden würde unmenschlicher bzw. erniedrigender Strafe Behandlung gemäss Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die blosse Möglichkeit einer Rekrutierung in den Nationaldienst ist flüchtlingsrechtlich nicht relevant. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der Vollzug der Wegweisung nach Eritrea generell zumutbar ist. (…)»

 

Darauf ist abzustellen. Damit steht – mit Blick auf den konkreten Einzelfall – die Flüchtlingseigenschaft des Berufungsklägers der Anordnung der Landesverweisung nicht entgegen, was im Übrigen das Bundesgericht in einer Vielzahl von Entscheiden mit Bezug auf eritreische Flüchtlinge explizit festgestellt hat (vgl. Urteile 6B_507/2020 vom 17.8.2020 E. 3.2; 6B_348/2020 vom 14.8.2020 E. 1.2; 6B_423/2019 vom 17.3.2020 E. 2.2.2 und 2.3). Im Ergebnis ist deshalb weder dargetan noch zu erkennen, dass der Berufungskläger bei der Reintegration in sein Heimatland auf unüberwindbare Hindernisse stossen würde. Die Anordnung der Landesverweisung würde für ihn keine aussergewöhnliche und im Ergebnis nicht hinnehmbare Härte bedeuten.

 

3.3 Selbst wenn man – entgegen der soeben dargelegten Rechtsauffassung – zum Schluss käme, die Flüchtlingseigenschaft des Berufungsklägers impliziere immer auch einen schweren persönlichen Härtefall, würde dies im Ergebnis nicht dazu führen, dass von der Landesverweisung abzusehen wäre. Grund hierfür ist die Interessenabwägung, denn die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung des Berufungsklägers überwiegen dessen privaten Interessen an einem Verbleib in der Schweiz. Die vom Berufungskläger als Versuch begangene schweren Körperverletzung richtete sich gegen ein besonders hochwertiges Rechtsgut (körperliche Integrität). Die versuchte schwere Körperverletzung und der Raub wiegen – auch im Quervergleich mit anderen Delikten, die zu den sog. Katalogtaten nach Art. 66a Abs. 1 StGB zu zählen sind – schwer. Dass bei der schweren Körperverletzung der tatbestandsmässige Erfolg ausblieb, ist nicht auf den Berufungskläger zurückzuführen, sondern letztlich dem Zufall und der Zivilcourage von Drittpersonen zuzuschreiben. Es gilt als allgemein bekannt, dass es sich beim Kopf (des Opfers), der vom Berufungskläger und seinen Mittätern mit einer Vielzahl von Fusstritten und Faustschlägen sowie Gurthieben traktiert worden ist, um einen besonders sensiblen Bereich des menschlichen Körpers handelt, der vor allem in Anbetracht des unter der Schädeldecke liegenden Gehirns anfällig ist für schwere und bleibende neurologische Beeinträchtigungen. Das Tatverschulden wurde im mittleren Bereich angesiedelt und die beiden Straftaten wurden (unter Einbezug der angeordneten Rückversetzung für eine Reststrafe von 49 Tagen) mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 45 Monaten (3 Jahre und 9 Monate) geahndet. Im Weiteren ist zu berücksichtigen, dass beim Berufungskläger ein Bewährungsversagen vorliegt: Die beiden Anlasstaten für die obligatorische Landesverweisung beging er, während er in zweifacher Hinsicht einer Probezeit unterstand: Es liefen die (verlängerte) Probezeit hinsichtlich der Geldstrafe von 120 Tagessätzen sowie die Probezeit für eine Reststrafe von 49 Tagen, nachdem der Berufungskläger am 19. September 2019 aus dem Strafvollzug bedingt entlassen worden war. Die in der Vergangenheit gegen ihn ausgefällten Strafen konnten beim Berufungskläger keine Verhaltensänderung, keinen Sinneswandel bewirken. Selbst die Erfahrung eines Freiheitsentzuges und die ihm drohende Rückversetzung in den Strafvollzug vermochten den Berufungskläger nicht zu beeindrucken, glitt er doch ein halbes Jahr nach der bedingten Entlassung erneut in die Delinquenz ab. Er trat bislang mit einem breiten Spektrum von unterschiedlichen Delikten (Delikte gegen Leib und Leben, gegen das Vermögen, gegen die Freiheit, gegen die öffentliche Gewalt, gegen die Ehre, BetmG-Widerhandlungen, vgl. den Strafregisterauszug: ASB 194 ff.) in Erscheinung (sog. kriminelle Vielseitigkeit). Erschwerend wirkt sich aus, dass mit der nun zuletzt (in Mittäterschaft begangenen) versuchten schweren Körperverletzung eine deutliche Steigerung der Delinquenz und eine zunehmende Intensität der kriminellen Energie zu erkennen ist. Dem Berufungskläger muss vor diesem Hintergrund eine eigentliche Schlechtprognose ausgestellt werden. Auch darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum bereits zitierten Fall STBER.2021.76: Der dort beurteilte eritreische Beschuldigte lebte in wirtschaftlich und persönlich stabilen Verhältnissen, ihm gelang die berufliche Integration und er kümmerte sich regelmässig um seine minderjährige Tochter, für deren Unterhalt er auch aufkam. Für die wegen Angriffs und versuchter schwerer Körperverletzung ausgefällte (deutlich tiefere) Freiheitsstrafe von 24 Monaten konnte ihm im Umfang von 15 Monaten der bedingte Vollzug gewährt werden. Es durfte davon ausgegangen werden, dass die (erstmalige) Verbüssung einer Freiheitsstrafe einen nachhaltigen Eindruck auf den Beschuldigten haben wird und ihn künftig von strafbaren Handlungen abzuhalten vermag. Die demgegenüber im vorliegenden Fall vorliegende Schlechtprognose widerspiegelt sich auch in der Einschätzung des AJUV (vgl. Verfügung vom 18.4.2023; Verweigerung der bedingten Entlassung: MISA-AS 49 - 58) und der Risikoabklärung der Abteilung für forensisch-psychologische Abklärungen des Strafvollzugskonkordates der Nordwest- und Innerschweiz (AFA NWI) vom 21. September 2022. Die AFA NWI stuft das Risikopotenzial des Berufungsklägers als sehr hoch ein. Das Delinquenzrisiko gegenüber der Normalbevölkerung erachtet sie für hands-off Gewaltdelikte sowie für schwerwiegende Gewaltdelikte als deutlich erhöht (vgl. ASB 115 und MISA-AS 52). Die beim Berufungskläger festgestellten dissozialen Verhaltensbereitschaften und seine erhöhte Gewaltbereitschaft wiesen eine hohe Deliktrelevanz auf. Die Anwendung von Gewalt scheine für den Berufungskläger eine subjektiv legitime Strategie zu sein, um Konflikte zu lösen und um seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen (MISA-AS 51 und 54). Es müsse aufgrund der bisherigen Erfahrungen und der festgestellten tiefen Frustrationstoleranz davon ausgegangen werden, dass dysfunktionale Handlungsstrategien wie Gewaltandrohung -anwendung (speziell in Konfliktsituationen und zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse) weiterhin leicht getriggert werden könnten, dies vor allem ausserhalb eines eng strukturierten Settings (MISA-AS 51). Der aktuelle Vollzugsverlaufsbericht vom 23. August 2023 (ASB 200) hält fest, die bislang erfolgten Tataufarbeitungsgespräche hätten nicht genügt, um bei ihm ein deliktverhinderndes Verhalten ausreichend zu konsolidieren und alternative Handlungsstrategien zu erarbeiten. Eine vertiefte Deliktaufarbeitung bzw. -bearbeitung mittels (freiwilliger) Psychotherapie, welche der Interventionsempfehlung der Risikoabklärung vom 21. September 2022 entspricht (vgl. hierzu MISA-AS 50), lehnt der Berufungskläger jedoch ab. Dies sei nicht notwendig, er habe genügend gelernt und werde nie wieder ein solche Tat begehen (vgl. ASB 200). Auch vor Obergericht bestätigte der Berufungskläger diese Haltung (ASB 214): Er bekomme insbesondere von seinem in der Schweiz wohnhaften Onkel viel Beratung, dies reiche aus. Der Berufungskläger scheint nach wie vor die Bereitschaft zu fehlen, sich eingehend mit seiner Gewaltproblematik und den Tatmechanismen auseinanderzusetzen Die beharrliche Missachtung der hier geltenden Rechtsordnung durch den Berufungskläger, die von ihm begangene Gewaltdelinquenz, das Bewährungsversagen und damit einhergehend die ausgeprägt schlechte Legalprognose lassen ein weiteres Abgleiten in schwere Formen der Delinquenz befürchten. Vom Berufungskläger geht eine reale und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in der Schweiz aus, weshalb eine schwerwiegende Gefährdung der «Grundlagen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens» zu bejahen ist. Demzufolge hält die Landesverweisung im vorliegenden Fall auch vor Art. 32 Ziff. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention [FK]; SR 0.142.30) stand, die besagt, dass ein Flüchtling «nur aus Gründen der Staatsicherheit der öffentlichen Ordnung» ausgewiesen werden darf, was nach der ausländerrechtlichen Praxis des Bundesgerichts zumindest eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung voraussetzt. Selbst wenn man – entgegen der klar anderslautenden aktuellen Einschätzung des SEM vom 25.8.2023 – davon ausginge, der Berufungskläger hätte im Falle seiner Wegweisung aus der Schweiz ernsthafte Nachteile im Sinne von Art. 3 AsylG zu befürchten, könnte sich dieser nicht auf das flüchtlingsrechtliche Non-refoulement Gebot berufen, da die Ausnahmebestimmung von Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB (2. Teilsatz) greift. Ein konkretes Sicherheits- bzw. Rückfallrisiko im Sinne von Art. 5 Abs. 2 AsylG ist vorliegend zu bejahen (vgl. hierzu auch Urteile des Bundesgerichts 6B_551/2021 vom 17.9.2021 E. 3.4, 6B_45/2020 vom 14.3.2022 E. 3.3.4).

 

3.4 Zusammengefasst ist festzuhalten, dass der Berufungskläger mit seinen Rügen gegen die Landesverweisung nicht durchdringt. Ein schwerer persönlicher Härtefall ist zu verneinen. Wie sich aus der Eventualbegründung unter vorstehender Ziffer III.3.3 erschliesst, überwiegen im Weiteren die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Berufungsklägers am Verbleib in der Schweiz. In Anwendung von Art. 66a Abs. 1 lit. b und c StGB ist deshalb die Landesverweisung anzuordnen.

 

4. Dauer der Landesverweisung

 

Die Landesverweisung ist für 5 - 15 Jahre auszusprechen (Art. 66a Abs. 1 StGB). Mit Blick auf die Schwere der Delinquenz, das betroffene hochwertige Rechtsgut (körperliche Integrität), die Anzahl der Vorstrafen, die stark belastete Legalprognose des Berufungsklägers und in Anbetracht der Tatsache, dass ein Härtefall zu verneinen ist, erweist sich eine Landesverweisung für die Dauer von sieben Jahren als verhältnismässig. Eine Reduktion auf sechs auch nur fünf Jahre hat zu unterbleiben. Die Frage einer höheren Dauer stellt sich in Anbetracht des Verschlechterungsverbotes von vornherein nicht. Das vorinstanzliche Urteil ist folglich auch in diesem Punkt zu bestätigen.

 

5. SIS-Ausschreibung

 

Die SIS-Ausschreibung der Landesverweisung hat zu erfolgen, wenn die nationale Entscheidung mit der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung die nationale Sicherheit begründet wird, welche die Anwesenheit der betreffenden Person in einem Mitgliedstaat darstellt (Art. 24 Ziff. 2 SIS-II-Verordnung). Dies ist insbesondere der Fall bei einem Drittstaatenangehörigen, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt wurde, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (lit. a). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Die Ausschreibung im SIS hält auch einer Verhältnismässigkeitsprüfung stand: Die Schwere des konkreten Falles rechtfertigt zweifellos eine Aufnahme im SIS. Der Berufungskläger macht denn auch keine Rügen geltend, die sich spezifisch gegen diese SIS-Ausschreibung richten. Demzufolge ist das vorinstanzliche Urteil auch in diesem Punkt zu bestätigen.

 

 

IV. Kosten- und Entschädigungsfolgen

 

1. Verfahrenskosten

 

1.1 Bei diesem Verfahrensausgang ist die erstinstanzliche Kostenverlegung, soweit den Berufungskläger betreffend, zu bestätigen (Art. 426 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 428 Abs. 3 StPO). Dem Berufungskläger ist demzufolge ein Kostenanteil von CHF 5'786.70 aufzuerlegen.

 

1.2 Die Kosten für das Berufungsverfahren, welche mit einer Urteilsgebühr von CHF 2'000.00 total CHF 2'100.00 ausmachen, sind vom unterliegenden Berufungskläger zu tragen (Art. 428 Abs. 1 StPO).

 

2. Entschädigung der amtlichen Verteidigung

 

2.1 Die Entschädigung für die amtliche Verteidigerin des Berufungsklägers, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, wurde für das erstinstanzliche Verfahren rechtskräftig auf CHF28'735.75 festgesetzt. Vorzubehalten ist der Rückforderungsanspruch des Staates im Sinne von Art. 135 Abs. 4 lit. a StPO im selben Umfang.

 

2.2 Die von Rechtsanwältin Clivia Wullimann ins Recht gelegte Honorarnote für das Berufungsverfahren setzt sich aus einem Aufwand von 16,68 Stunden zu je CHF 190.00, Auslagen von CHF 186.60 sowie 7,7 % MWST zusammen (ASB 229 ff.). Die Teilnahme an der Berufungsverhandlung nahm 1,25 Stunden (8:30 - 9:45 Uhr) in Anspruch. Der geschätzte Aufwand hierfür wurde in der Honorarnote mit 3,50 Stunden veranschlagt (Kürzung um 2,25 Stunden). Da die Parteien auf eine mündliche Urteilseröffnung verzichtet haben, ist der hierfür geltend gemachte Zeitaufwand (Teilnahme an der Urteilseröffnung: 0,50 Stunden; Hin- und Rückweg zur Urteilseröffnung: 0,83 Stunden) in Abzug zu bringen, so dass schliesslich ein Stundentotal von 16,68 Stunden resultiert, wovon 3,67 Stunden (Positionen vom 20.12.2022) zu je CHF 180.00 (= CHF 660.60) und 9,43 Stunden (sämtliche Positionen der Honorarnote ab 1.1.2023) zu je CHF 190.00 (= CHF 1'791.70) zu entschädigen sind. Bei den Auslagen entfallen zufolge des Verzichts auf die mündliche Urteilseröffnung die Kosten eines weiteren Zugtickets (= CHF 24.00), so dass CHF 162.60 zu entschädigen sind.

 

Demzufolge ist die Entschädigung für die amtliche Verteidigerin des Beschuldigten, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, für das Berufungsverfahren auf CHF 2'816.25 (Aufwand: CHF 2'452.30; Auslagen: CHF 162.60; 7.7% MWST: CHF 201.35) festzusetzen und zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat Solothurn, vertreten durch die Zentrale Gerichtskasse, zu zahlen.

 

Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren im Umfang von CHF 2'816.25, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten erlauben (Art. 135 Abs. 4 lit. a und Abs. 5 StPO). Einen Nachforderungsanspruch hat Rechtsanwältin Clivia Wullimann nicht geltend gemacht.

 


 

Demnach wird in Anwendung von Art. 46 Abs. 1, Art. 47, Art. 49 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 51, Art. 66a Abs. 1 lit. b und c, Art. 89 Abs. 1 und Abs. 6, Art. 106, Art. 122 Alinea 2 StGB i.V.m. Art. 22 Abs. 1 und Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB; Art. 19a BetmG; Art. 122 Abs. 1, Art. 123, Art. 126 Abs. 1 lit. a, Art. 135, Art. 379 ff., Art. 398 ff., Art. 426 Abs. 1 sowie Art. 428 Abs. 1 und 3 StPO festgestellt und erkannt:

 

1.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.1. des Urteils des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 8. Juni 2022 (nachfolgend erstinstanzliches Urteil) wird das Strafverfahren gegen A.___ wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, angeblich begangen in der Zeit vor dem 8. Juni 2019 (Vorhalt Ziff. I.B.2.2), zufolge Verjährung eingestellt.

2.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.2. des erstinstanzlichen Urteils hat sich A.___ wie folgt schuldig gemacht:

a)      versuchte schwere Körperverletzung, begangen am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.1),

b)      Raub, begangen am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.1),

c)      mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, begangen in der Zeit vom 8. Juni 2019 bis am 28. März 2020 (Vorhalt Ziff. I.B.2).

3.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.3. des erstinstanzlichen Urteils wird die A.___ mit Verfügung des Justizvollzugs des Kantons Zürich vom 13. August 2019 für eine Reststrafe von 49 Tagen gewährte bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug widerrufen.

4.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.4. des erstinstanzlichen Urteils wird A.___ verurteilt zu:

a)      einer Freiheitsstrafe von 45 Monaten (als Gesamtstrafe unter Einbezug der Verfügung des Justizvollzugs des Kantons Zürich vom 13. August 2019),

b)      einer Busse von CHF 300.00, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 3 Tagen, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau vom 29. Juli 2019.

5.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.5. des erstinstanzlichen Urteils wird der A.___ mit Urteil der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 22. Oktober 2017 für eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je CHF 30.00 gewährte bedingte Vollzug widerrufen.

6.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer II.6. des erstinstanzlichen Urteils wird A.___ die Haft seit 9. April 2020 an die Freiheitsstrafe angerechnet.

7.    A.___ wird für die Dauer von 7 Jahren des Landes verwiesen.

8.    Die Landesverweisung wird im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.

9.    Gemäss rechtskräftiger Ziffer V.1. des erstinstanzlichen Urteils ist die sichergestellte Gurtschnalle (aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) zu vernichten.

10.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer V.3. des erstinstanzlichen Urteils werden folgende sichergestellten Gegenstände (alle aufbewahrt bei der Polizei Kanton Solothurn) A.___ herausgegeben:

i)    (recte a)      1 Herrenjacke, Snipes

j)    (recte b)     1 T-Shirt, Royal Class

k)   (recte c)      1 Trägershirt, Clockhouse

l)    (recte d)      1 Pullover, Champion

m) (recte e)      1 Trainerhose, Adidas

n)  (recte f)      1 Trainerhose, New Look

o)  (recte g)      1 Paar Herrensocken

p)  (recte h)      1 Paar Schuhe, Nike

11.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer VI.1. des erstinstanzlichen Urteils wird auf die Schadenersatzforderung des Privatklägers F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, im Umfang von CHF 85.95 nicht eingetreten.

12.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer VI.2. des erstinstanzlichen Urteils werden C.___, A.___, D.___ und E.___ unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 645.90 als Schadenersatz zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5% auf CHF 120.00 ab 28. März 2020, auf CHF 317.80 ab 25. Mai 2020 und auf CHF 208.10 ab 25. Juni 2020.

13.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer VI.3. des erstinstanzlichen Urteils werden A.___ und D.___ unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 1'160.15 als Schadenersatz zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5% seit 28. März 2020.

14.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer VI.4. des erstinstanzlichen Urteils werden C.___, A.___, D.___ und E.___ unter solidarischer Haftung verurteilt, dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanwältin Corina Gugger, CHF 7'000.00 als Genugtuung zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5% seit 28. März 2020.

15.  Gemäss rechtskräftiger Ziffer VI.6. des erstinstanzlichen Urteils hat A.___ dem Privatkläger F.___, vertreten durch Rechtsanw.tin Corina Gugger, eine Parteientschädigung von CHF 4'990.65 zu bezahlen.

16.  Gemäss der diesbezüglich rechtskräftigen Ziffer VII.3. des erstinstanzlichen Urteils wird die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, für das erstinstanzliche Verfahren auf CHF 29'735.75 (inkl. 7.7% MWST und Auslagen) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu zahlen.

Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

17.  Die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Clivia Wullimann, wird für das Berufungsverfahren auf CHF 2'816.25 (inkl. 7.7% MWST und Auslagen) festgesetzt und ist zufolge amtlicher Verteidigung vom Staat zu zahlen.

Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

18.  Gemäss der diesbezüglich rechtskräftigen Ziffer VII.7. des erstinstanzlichen Urteils sind die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 20'000.00, total CHF 23'686.80 wie folgt zu bezahlen:

a)    C.___: CHF 6'066.70,

b)    D.___: CHF 6'166.70,

c)    E.___: CHF 5'666.70.

A.___ hat CHF 5'786.70 zu bezahlen.

19.   Die Kosten des Berufungsverfahrens mit ein Urteilsgebühr von CHF 2'000.00, total CHF 2'100.00, hat A.___ zu bezahlen.

 

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Gegen den Entscheid betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung (Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) kann innert 10 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesstrafgericht Beschwerde eingereicht werden (Adresse: Postfach 2720, 6501 Bellinzona).

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Vizepräsident                                                             Die Gerichtsschreiberin

Marti                                                                                  Lupi De Bruycker



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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