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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2021.54)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2021.54: Verwaltungsgericht

Zusammenfassung: In dem vorliegenden Fall kam es zu einer seitlichen Kollision zwischen einem Sattelmotorfahrzeug und einem anderen Fahrzeug auf der Autobahn. Der Beschuldigte wurde wegen mehrfacher Verletzung der Verkehrsregeln und pflichtwidrigen Verhaltens nach einem Unfall verurteilt. Er legte Berufung ein, die jedoch abgewiesen wurde. Das Gericht entschied, dass der Beschuldigte schuldig ist und eine Geldstrafe zahlen muss. Die Gerichtskosten wurden ihm auferlegt. Die Geschädigte wurde für die Kosten des Verfahrens verantwortlich gemacht. Der Richter entschied, dass der Beschuldigte die Kosten des Verfahrens tragen muss.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2021.54

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2021.54
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2021.54 vom 18.07.2022 (SO)
Datum:18.07.2022
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Beschuldigten; Urteil; Verkehr; Verkehrs; Vorinstanz; Anklage; Recht; Berufung; Lücke; Verfahren; Anhänger; Unfall; Kollision; Verkehrsregeln; Lastwagen; Verletzung; Urteils; Sachverhalt; Fahrzeug; Fahrstreifen; Verhalten; Aussage; Begründung; Verteidigung
Rechtsnorm: Art. 100 SVG ;Art. 106 StGB ;Art. 12 StGB ;Art. 3 VRV ;Art. 31 SVG ;Art. 34 SVG ;Art. 356 StPO ;Art. 398 StPO ;Art. 4 BV ;Art. 416 StPO ;Art. 44 SVG ;Art. 51 SVG ;Art. 82 StPO ;Art. 9 BV ;Art. 9 StPO ;Art. 90 SVG ;Art. 92 SVG ;
Referenz BGE:118 Ia 144; 120 IV 348; 127 I 54; 129 I 173; 131 IV 100; 133 IV 235; 141 IV 437; 143 IV 483; 143 IV 500; 146 IV 358;
Kommentar:
Niklaus Schmid, Schweizer, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxis, 3. Auflage, Zürich, 2018

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2021.54

 
Geschäftsnummer: STBER.2021.54
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 18.07.2022 
FindInfo-Nummer: O_ST.2022.48
Titel: mehrfache einfache Verletzung der Verkehrsregeln, pflichtwidriges Verhalten bei Unfall

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 18. Juli 2022

Es wirken mit:

Präsident von Felten    

Oberrichter Kiefer   

Oberrichter Marti

Gerichtsschreiberin Schmid

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Anklägerin

 

gegen

 

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Figi,

Beschuldigter und Berufungskläger

 

betreffend     mehrfache einfache Verletzung der Verkehrsregeln, pflichtwidriges Verhalten bei Unfall


 

Die Berufung wird in Anwendung von Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO im schriftlichen Verfahren behandelt.

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I.       Prozessgeschichte

 

1.   Am 26. November 2018 um ca. 07:15 Uhr kam es in [Ort 1] auf der Autobahn A1, Fahrtrichtung Bern, zu einer seitlichen Kollision zwischen einem von A.___ (nachfolgend Beschuldigter) gefahrenen Sattelmotorfahrzeug [...], [CH-Nummernschild 1], mit Anhänger [...], [CH-Nummernschild 2], und einem von B.___ gefahrenen Sattelmotorfahrzeug [...], [deutsches Kontrollschild 1], mit Anhänger [...], [deutsches Kontrollschild 2]. Konkret kollidierte die linke Anhängerseite des Beschuldigten mit dem rechten Aussenspiegel von B.___. An letzterem entstand ein Sachschaden von ca. CHF 1'000.00.

 

2.   Mit Strafbefehl vom 1. Oktober 2019 wurde der Beschuldigte wegen mehrfacher einfacher Verletzung der Verkehrsregeln durch Unterlassen der Richtungsanzeige und ungenügende Rücksicht beim Fahrstreifenwechsel sowie wegen pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall zu einer Busse von CHF 500.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu 5 Tagen Freiheitsstrafe, sowie zur Tragung der Verfahrenskosten von CHF 400.00 verurteilt (AS 6 f.).

 

3.   Der Beschuldigte erhob mit Schreiben vom 11. Oktober 2019 Einsprache gegen den Strafbefehl und teilte mit, seine Rechtsschutzversicherung beauftragt zu haben, ihn in dieser Sache zu beraten (AS 44).

 

4.   Die Staatsanwaltschaft setzte dem Beschuldigten mit Schreiben vom 5. Dezember 2019 Frist zur schriftlichen Begründung der Einsprache, mit dem Hinweis, dass er gegebenenfalls zu einer Einvernahme vorgeladen werde, wenn innert Frist kein Bericht einginge (AS 50).

 

5.   Am 11. Dezember 2019 teilte der vom Beschuldigten mandatierte Rechtsvertreter mit, dass an der Einsprache festgehalten werde und beantragte die Einstellung des Verfahrens (AS 51 ff.). Der Antrag wurde begründet.

 

6.   Am 16. Dezember 2019 (Eingang am 7. Januar 2020) überwies die Staatsanwaltschaft die Einsprache mit den Akten dem Gerichtspräsidium Thal-Gäu zum Entscheid (AS 2). Am angefochtenen Strafbefehl wurde festgehalten.

 

7.   Die Amtsgerichtsstatthalterin von Thal-Gäu verfügte am 21. Januar 2020 eine Frist zur Einreichung von Beweisanträgen (AS 55).

 

8.   Die Verteidigung beantragte mit Eingabe vom 24. Januar 2020, es seien B.___ als Auskunftsperson und C.___ als Zeuge zu befragen sowie es sei eine Unfallrekonstruktion durch fahrzeugähnliche Lastwagen durchzuführen.

 

9.   Mit Verfügung vom 2. März 2020 hiess die Amtsgerichtsstatthalterin von Thal-Gäu den Beweisantrag, es seien die beiden anderen Unfallbeteiligten zu befragen, insofern gut, dass diese durch die deutschen Behörden requisitorisch einvernommen würden. Den anderen Beweisantrag wies sie ab.

 

10.   C.___ und B.___ wurden in der Folge am 21. April 2020 (C.___) und am 4. Dezember 2020 (B.___) von den Deutschen Behörden befragt (AS 74 ff. und 80 ff.).

 

11.   Die Amtsgerichtsstatthalterin von Thal-Gäu erliess nach durchgeführter Hauptverhandlung vom 11. März 2021 das folgende Urteil:

 

1.    A.___ hat sich

-     der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln durch ungenügende Rücksicht beim Fahrstreifenwechsel (Anklageziffer 1.1.) und

-     des pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall (Anklageziffer 1.2.),

beides begangen am 26. November 2018 um ca. 07:15 Uhr, schuldig gemacht.

 

2.    A.___ wird – als Zusatzstrafe zum Urteil der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten vom 24. September 2020 – verurteilt zu einer Busse von CHF 300.00, bei Nichtbezahlung ersatzweise zu 3 Tagen Freiheitsstrafe, welche bei Nichtbezahlung der Busse vollzogen wird.

 

3.    Die Kosten des Verfahrens mit einer Urteilsgebühr von CHF 600.00, total CHF 800.00, hat A.___ zu bezahlen.

Auf eine nachfolgende schriftliche Begründung des Urteils wird verzichtet, wenn keine Partei gegen das Urteil ein Rechtsmittel ergreift innert 10 Tagen seit der Zustellung des Dispositivs eine schriftliche Begründung ausdrücklich verlangt (Art. 82 StPO). In diesem Fall reduziert sich die Urteilsgebühr auf CHF 300.00 und A.___ hat noch CHF 500.00 zu bezahlen.

 

12.   Mit Eingabe vom 15. März 2021 meldete die Verteidigung die Berufung schriftlich an, nachdem diese anlässlich der Hauptverhandlung bereits mündlich angekündigt worden war (AS 130).

 

13.   Am 8. Juni 2021 wurde das begründete Urteil vom 11. März 2021 der Verteidigung zugestellt (AS 159).

 

14.   Am 21. Juni 2021 überwies das Richteramt Thal-Gäu die Berufungsmeldung inkl. der Akten an das Berufungsgericht (AS 161).

 

15.   Am 23. Juni 2021 reichte die Verteidigung die Berufungserklärung ein und beantragte, es seien die Ziffern 1, 2 und 3 des Urteils vom 11. März 2021 aufzuheben und der Beschuldigte von Schuld und Strafe freizusprechen; die Kosten seien auf die Staatskasse zu nehmen; der Beschuldigte sei für die Kosten seiner Verteidigung zu entschädigen; der im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Beweisantrag betreffend Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens werde erneut gestellt; das Berufungsverfahren sei im schriftlichen Verfahren durchzuführen.

 

16.   Die Staatsanwaltschaft verzichtete mit Eingabe vom 28. Juni 2021 auf eine Anschlussberufung sowie weitere Teilnahme am Verfahren.

 

17.   Mit Verfügung vom 12. Juli 2021 wies der Instruktionsrichter den Antrag des Beschuldigten auf Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens ab und ordnete das schriftliche Verfahren an.

 

18.   Mit Eingabe vom 12. August 2021 begründete die Verteidigung die Berufung und stellte folgende Anträge: Der Beschuldigte sei vollumfänglich freizusprechen; es seien sämtliche Kosten auf die Staatskasse zu nehmen; der Beschuldigte sei für die Kosten der Verteidigung angemessen zu entschädigen; eventualiter werde der Beweisantrag auf Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens erneuert; subeventualiter sei der Fall an die Vorinstanz zurückzuweisen.

 

 

II.      Kognition des Berufungsgerichts bei Übertretungen

 

1.   Bildeten – wie vorliegend – ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils, so kann mit der Berufung nur geltend gemacht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO):

       das Urteil sei rechtsfehlerhaft oder

       die Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig beruhe auf einer Rechtsverletzung.

 

Bei Übertretungen sind die Rügemöglichkeiten somit limitiert, allerdings nur dann, wenn – wie vorliegend – ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bildeten. Die Rügemöglichkeiten lassen sich mit den früheren kantonalen Nichtigkeitsbeschwerden bzw. der heutigen Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vergleichen. Sämtliche Rechtsfragen sind mit freier Kognition zu prüfen, und zwar nicht nur materiellrechtliche, sondern auch prozessuale. Soweit die Beweiswürdigung bzw. die Feststellung des (rechtmässig erhobenen) Sachverhalts gerügt werden, beschränkt sich die Überprüfung auf offensichtliche Unrichtigkeit, also auf Willkür. Die Regelung entspricht somit derjenigen nach Art. 97 BGG. Auch bei der Überprüfung der Strafzumessung entspricht die Kognition des Berufungsgerichts derjenigen des Bundesgerichts. Solange die vom erstinstanzlichen Richter ausgesprochene Strafe als vertretbar erscheint, besteht kein Anlass, eine Korrektur am Strafmass vorzunehmen (Markus Hug in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Hrsg. Donatsch/Hansjakob/Lieber, 3. Auflage, Zürich/ Basel/Genf 2020, Art. 398 StPO N 23 mit Verweisen). Eine qualifizierte Rügepflicht ist eher zu verneinen, da es dazu an einer hinreichend klaren Rechtsnorm fehlt (Hug, a.a.O., Art. 398 StPO N 24).

 

Gerügt werden können wegen Rechtsverletzung Sachverhaltsfeststellungen, welche auf einer Verletzung von Bundesrecht, in erster Linie von Verfahrensvorschriften der StPO, beruhen, welche unter offensichtlich ungenügendem Ausschöpfen zur Verfügung stehender Beweismittel erfolgten und bei welchen der Sachverhalt daher unvollständig festgestellt worden und mithin in Missachtung des Grundsatzes der Wahrheitsforschung von Amtes wegen (Untersuchungsgrundsatz) erfolgt ist (Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Auflage, Zürich/St. Gallen 2018, Art. 398 StPO N 13).

 

Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung einzig vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht bzw. im Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 129 I 173 E. 3.1, BGE 6B_811/2007 E. 3.2). Dass auch eine andere Beweiswürdigung in Betracht kommt sogar naheliegender ist, genügt praxisgemäss für die Begründung von Willkür nicht (BGE 131 IV 100 E. 4.1; 127 I 54 E. 2b mit Hinweisen). Willkür liegt sodann nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 127 I 54 E. 2b, 60 E. 5a, je mit Hinweisen; BGE 1P.232/2003 vom 14. Juli 2003, BGE 6B_811/2007 vom 25. Februar 2008, E. 3.2 mit weiteren Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann das Abstellen auf eine nicht-schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen einen Verstoss gegen Art. 4 BV (Verbot willkürlicher Beweiswürdigung) nach sich ziehen (BGE 118 Ia 144).

 

2.   Neue Behauptungen und Beweise können nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO). Neu im Sinne dieser Bestimmung sind Tatsachen und Beweise, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgebracht wurden. Nicht darunter fallen demgegenüber Beweise, die beantragt, erstinstanzlich jedoch abgewiesen wurden. Der Berufungskläger kann im Berufungsverfahren namentlich rügen, die erstinstanzlich angebotenen Beweise seien (in antizipierter Beweiswürdigung) willkürlich abgewiesen worden. Desgleichen kann auch der Berufungsgegner seine erstinstanzlichen Beweisanträge im Berufungsverfahren erneuern (Urteil des Bundesgerichts 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012).

 

3.   Der Beschuldigte ficht das vorinstanzliche Urteil vollumfänglich an. Damit bildet das ganze vorinstanzliche Urteil Berufungsgegenstand und damit ist es in keinem Punkt in Rechtskraft erwachsen.

 

 

III.    Anklagegrundsatz

 

1.      Allgemeine Ausführungen

 

Nach dem in Art. 9 Abs. 1 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 133 IV 235 E. 6.2 f.; 126 I 19 E. 2a; je mit Hinweisen). Diese muss aus der Anklage ersehen können, was ihr konkret vorgeworfen wird, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben kann. Sie darf nicht erst an der Gerichtsverhandlung mit neuen Anschuldigungen konfrontiert werden (vgl. Urteile 6B_492/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 141 IV 437; 6B_1079/2015 vom 29. Februar 2016 E. 1.1; 6B_1073/2014 vom 7. Mai 2015 E. 1.2; je mit Hinweisen). 

 

2.      Im Konkreten

 

2.1   Der Beschuldigte bringt vor, der Anklagegrundsatz sei durch die fehlende Umschreibung des subjektiven Tatbestands im Strafbefehl vom 1. Oktober 2019 verletzt. Es sei unklar, ob ihm eine vorsätzliche fahrlässige Vortrittsmissachtung vorgeworfen werde. Die Vorinstanz habe in ihrem Urteil vom 11. März 2021 bestätigt, dass der subjektive Tatbestand im Strafbefehl nicht umschrieben worden sei. Sie begründe den subjektiven Tatbestand sodann mit der fehlenden Erwähnung von Art. 100 Ziff. 1 SVG, was nicht zulässig sei. Die Fahrlässigkeit stelle kein Minus des Vorsatzes dar, sondern sei ein Aliud. Jedes Delikt bestehe aus einem objektiven und einem subjektiven Tatbestand. Fehle Letzterer in der Anklage, sei kein Straftatbestand umschrieben. Sei die Anklage mangelhaft und werde auf eine solche materiell eingetreten, so sei der Beschuldigte freizusprechen. Bei einer Vortrittsmissachtung zufolge Unaufmerksamkeit sei die Frage zu klären, ob die Unaufmerksamkeit auf Vorsatz Fahrlässigkeit beruhe. Die Akten gäben keinen Aufschluss darüber, welches in casu der Grund für die Unaufmerksamkeit des Beschuldigten gewesen sein könnte und ob diese als Fahrlässigkeit vorsätzliche Missachtung von Art. 44 Abs. 1 SVG zu werten sei.

 

2.2   Im Urteil 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 hielt das Bundesgericht folgendes fest (E. 1.5.2): «Weiter muss klar sein, ob dem Angeklagten Fahrlässigkeit Vorsatz vorgeworfen wird (BGE 120 IV 348 E. 3c). Dies gilt grundsätzlich auch für die Anklage von Verkehrsregelverletzungen (vgl. Urteile 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.2.1; 6B_1452/2019 vom 25. September 2020 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 146 IV 358), die sowohl bei vorsätzlicher als auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sind (vgl. Art. 90 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 100 Ziff. 1 SVG; oben E. 1.4.2). Hinweise auf eine fehlende Aufmerksamkeit in der Anklage beinhalten in der Regel einen Vorwurf der Fahrlässigkeit (vgl. Urteile 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.3; 6B_1452/2019 vom 25. September 2020 E. 1.3, nicht publ. in: BGE 146 IV 358; 6B_1401/2016 vom 24. August 2017 E. 1.4), während die Formulierungen "mit Wissen und Willen" bzw. "in Kauf genommen" auf Vorsatz bzw. Eventualvorsatz hindeuten (vgl. Art. 12 Abs. 2 StGB; Urteile 6B_1090/2017 vom 15. Februar 2018 E. 1.4; 6B_1401/2016 vom 24. August 2017 E. 1.4). Bei einer Anklage wegen Verletzung der Verkehrsregeln ist nach der Rechtsprechung zumindest von einer angeklagten fahrlässigen Tatbegehung auszugehen, es sei denn, die Anklage beinhalte einen darüber hinausgehenden Vorwurf eines vorsätzlichen Handelns (Urteile 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.3; 6B_267/2019 vom 11. Dezember 2019 E. 3.3; 6B_1401/2016 vom 24. August 2017 E. 1.4; 6B_270/2012 vom 30. November 2012 E. 3.2). Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass die vorsätzliche und fahrlässige Verkehrsregelverletzung gleichermassen strafbar sind (vgl. Urteile 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.3; 6B_267/2019 vom 11. Dezember 2019 E. 3.3). Die für die Annahme von Fahrlässigkeit erforderliche Pflichtverletzung ergibt sich dabei, auch wenn in der Anklage nicht explizit erwähnt, aus der im Strassenverkehr allgemein geltenden Pflicht zur Aufmerksamkeit (vgl. Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV) und der als bekannt vorausgesetzten Kenntnis der Verkehrsregeln (vgl. Art. 14 Abs. 1 und 3 lit. a SVG). Schildert die Anklage kein bewusstes Verhalten, ist daher von einer fahrlässigen Verletzung der Verkehrsregeln auszugehen, dies insbesondere bei Verkehrsregelverletzungen, die - wie beispielsweise Geschwindigkeitsüberschreitungen die Missachtung des Vortrittsrechts - unter den angeklagten Umständen typischerweise durch fehlende Aufmerksamkeit im Strassenverkehr begangen werden. Die Schilderung des objektiven Tatgeschehens reicht nach der Rechtsprechung für eine Anklage wegen vorsätzlicher Tatbegehung aus, wenn sich daraus die Umstände ergeben, aus denen auf einen vorhandenen Vorsatz geschlossen werden kann (Urteil 6B_692/2020 vom 27. September 2021 E. 1.2.1; vgl. auch Urteile 6B_654/2019 vom 12. März 2020 E. 1.3; 6B_638/2019 vom 17. Oktober 2019 E. 1.4.2; 6B_266/2018 vom 18. März 2019 E. 1.2; 6B_510/2016 vom 13. Juli 2017 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 143 IV 483). Nicht zwingend ist daher, dass sich die Anklage explizit dazu äussert, ob der beschuldigten Person eine fahrlässige (eventual-) vorsätzliche Verletzung der Verkehrsregeln vorgeworfen wird.»

 

2.3   Dem Schluss der Vorinstanz, aus der Anklageschrift heraus werde dem Beschuldigten ein vorsätzliches Verhalten vorgeworfen, kann im Lichte dieser bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht gefolgt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass die Anklage dem Beschuldigten eine fahrlässige Tatbegehung vorwirft. Der Strafbefehl, der als Anklageschrift gemäss Art. 356 Abs. 1 StPO gilt, genügt den sich aus der Umgrenzungs- und Informationsfunktion ergebenden Anforderungen. Der der Anklage zugrunde gelegte Sachverhalt ist im Strafbefehl konkret umschrieben und klar umrissen. Der anwaltlich vertretene Beschuldigte konnte seine Verteidigungsrechte angemessen ausüben.

 

 

IV.    Sachverhalt und Beweiswürdigung

 

1.      Mehrfache einfache Verletzung der Verkehrsregeln (AnklS. 1.1)

 

1.1   Im Strafbefehl vom 1. Oktober 2019 wird dem Beschuldigten vorgeworfen, sich am 26. November 2018, um ca 07:15 Uhr, auf der Autobahn A1 in [Ort 1], Fahrtrichtung Bern, der mehrfachen einfachen Verletzung der Verkehrsregeln durch Unterlassen der Richtungsanzeige sowie ungenügender Rücksicht beim Fahrstreifenwechsel schuldig gemacht zu haben, indem er als Lenker des Sattelmotorfahrzeuges [...], [CH-Nummernschild 1], mit Anhänger [...], [CH-Nummernschild 2], ohne die Richtungsänderung anzuzeigen vom rechten auf den mittleren Fahrstreifen gewechselt habe, obwohl sich auf diesem Fahrstreifen auf fast gleicher Höhe das Sattelmotorfahrzeug [...], [deutsches Kontrollschild 1], mit Anhänger [...], [deutsches Kontrollschild 2], Lenker B.___, befunden habe. In der Folge sei die linke Anhängerseite des Beschuldigten mit dem rechten Aussenspiegel des anderen Sattelfahrzeuges kollidiert, wobei ein Sachschaden von ca. CHF 1'000.00 entstanden sei.

 

1.2   Zu den detaillierten Aussagen der Beteiligten kann gestützt auf Art. 82 Abs. 4 StPO auf die umfassenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (Urteil der Vorinstanz IV./1.2.).

 

1.3   Der Beschuldigte bringt in seiner Berufung unter dem Titel der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhaltes durch die Vorinstanz im Wesentlichen vor, dass diese vom grob falschen Beweisergebnis ausgegangen sei, wonach der Beschuldigte im dichten Berufsverkehr und «Stop-and-go» bei einer Geschwindigkeit von 10 – 40 km/h vom Normalstreifen unvermittelt und bei einer nur kleinen Lücke vor dem Fahrzeug von B.___ von ca. 5 – 6 m nach links auf den ersten Überholstreifen gewechselt habe, worauf dieser habe bremsen müssen.

 

1.4   Er macht geltend, «Stop-and-go» bedeute, dass die Fahrzeuge auch stillgestanden seien. C.___ habe sodann selber ausgesagt, dass die Geschwindigkeit ca. zwischen 10 – 30 km/h betragen habe. Der Lastwagen des Beschuldigten habe eine Länge von 9.4 m und der Anhänger 8.6 m, total somit 18 m. Wäre die Lücke tatsächlich bloss 5 – 6 m gross gewesen, so hätte die Kollision zwingend mit dem Zugfahrzeug und nicht erst mit der Mitte des Anhängers stattgefunden, die Aussagen von B.___ und C.___ seien unhaltbar und damit willkürlich. Wenn das Fahrzeug von B.___ und C.___ stillgestanden wäre, wäre es nie zur Kollision gekommen, folge doch ein Anhänger mit Drehachse «spurtreu» dem Zugfahrzeug.

 

1.5   Dem Beschuldigten kann in seiner Argumentation nicht gefolgt werden. Stop-and-go bezeichnet nach allgemeiner Auffassung einen Wechsel von kurzen Stau- und Auflösungsphasen, verbunden mit Gasgeben und Abbremsen. Dass dabei aber ganz stillgestanden werden müsse, setzt der Begriff nicht voraus. B.___ gab anlässlich der polizeilichen Befragung am Unfalltag an, er sei im stockenden Kolonnenverkehr (Stop-and-go) mit ca. 30 – 40 km/h gefahren. C.___ wurde am 5. Dezember 2018 erstmals befragt und gab dazu an, es habe Stop-and-go-Verkehr geherrscht und die Geschwindigkeit habe ca. 10 – 30 km/h betragen. Es ist offensichtlich, dass die beiden damit ausdrücken wollten, dass sie im langsamen Kolonnenverkehr mit Geschwindigkeiten von 10 – 30/40 km/h fuhren. Sodann sagten die beiden übereinstimmend aus, dass sie schlussendlich ganz stillgestanden seien, als es zur Kollision kam. Auch an dieser Feststellung ist nichts Willkürliches. Was die Lückengrösse betrifft, so stellte die Vorinstanz auf die Angaben von C.___ und B.___ ab. In deren Aussagen finden sich diesbezüglich wenige konkrete Angaben. Am 21. April 2020 gab C.___ an, nicht einmal das Zugfahrzeug des Beschuldigten hätte in der Lücke Platz gehabt. Auf die Frage der Quantifizierung schätzte er 5 – 6 m. B.___ sagte am 4. Dezember 2020 aus, er könne es nicht genau sagen, verkehrsbedingt sei die Lücke aber sicherlich nicht zu gross gewesen. Anlässlich der Erstbefragung am 20. November 2018 hatte B.___ angegeben, dass der Beschuldige in die «kleine Lücke» vor ihm abgebogen sei. Der Beschuldigte sagte anlässlich der Hauptverhandlung aus, es seien sicher 13 - 14 m gewesen. Zwar wurden im ganzen Verfahren nur wenige genaue Meterangaben zur fraglichen Lücke gemacht. Jedoch gaben B.___ und C.___ übereinstimmend und mehrfach an, dass die Lücke «sehr klein» gewesen sei, zu klein für den Lastwagen des Beschuldigten. Auch wenn eine genaue Meterschätzung schwierig ist, so haben langjährige Chauffeure mit Sicherheit ein Auge für Abstände und insbesondere, ob ein Lastwagen hineinpasst. So kommt es denn auch nicht auf den einzelnen Meter an. Auch eine Lücke von 7 – 8 m wäre angesichts der Länge des Lastwagens inkl. Anhänger (ca. 18 m) des Beschuldigten viel zu klein gewesen. Die Feststellung der Vorinstanz, die Lücke habe 5 – 6 m betragen, ist damit ebenfalls nicht offensichtlich unrichtig. Auch die Argumentation des Beschuldigten, bei einer Lücke von nur 5 – 6 m hätte es zu einer Kollision an anderer Stelle kommen müssen, überzeugt nicht. Die Geschädigte bremste, als der Beschuldigte sich in die Lücke zu zwängen begann, der Verkehr bewegte sich vor dem Beschuldigten aber – wenn auch langsam – weiter, so dass sie Lücke naturgemäss nicht bei 5 – 6 m blieb, sie war nur am Anfang des Einbiegens so klein. So war es denn auch möglich, dass erst der Anhänger des Beschuldigten mit dem Fahrzeug der Geschädigten kollidierte. Dem Beschuldigten kann auch nicht gefolgt werden, wenn er behauptet, der Anhänger mit Drehachse folge dem Zugfahrzeug «spurneutral». Ein Anhänger mit Drehachse folgt aufgrund der Hebelwirkung eben gerade nicht einfach dem Zugfahrzeug, sondern schlägt im Vergleich zu diesem aus. Wenn der Beschuldigte also sein Zugfahrzeug nach links auf die Mittelspur lenkte, folgte ihm der Anhänger nicht sofort, sondern es kommt aufgrund der Hebelwirkung zu einem Knick zwischen Zugfahrzeug und Anhänger. Sodann beginnt sich auch der Anhänger zu drehen und ebenfalls auf die andere Spur zu rollen. Der Unfallhergang war somit ohne Weiteres technisch möglich, als das Fahrzeug der Geschädigten zum Stillstand gekommen war. Dies deckt sich auch mit dem Unfallprotokoll der Polizei. Soweit der Beschuldigte behauptet, es sei nur zur Kollision gekommen, weil B.___ aus dem Stillstand nochmals angefahren sei und die Lücke zum Beschuldigten verkleinert habe, handelt es sich um eine Schutzbehauptung, die durch die Akten in keiner Weise gestützt wird und damit um eine rein appellatorische Kritik.

 

1.6   Im Endergebnis ist die Vorinstanz mit ihrer Beweiswürdigung in keiner Weise in Willkür verfallen. Der Sachverhalt, wie er von der Vorinstanz wiedergegeben wurde, ist erstellt.

 

 

2.      Pflichtwidriges Verhalten nach Verkehrsunfall (AnklS. 1.2)

 

2.1   Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, sich am 26. November 2018 um ca. 07:15 Uhr in [Ort 1] auf der Autobahn A1 in Fahrtrichtung Bern des pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall schuldig gemacht zu haben, indem er als Lenker des Sattelmotorfahrzeugs [...], [CH-Nummernschild 1], mit Anhänger [...], [CH-Nummernschild 2], nach Verursachen des unter Anklageziffer 1.1. beschriebenen Verkehrsunfalles mit Sachschaden seine Pflichten nicht wahrgenommen habe, weil er die Unfallstelle verlassen habe, ohne der Geschädigten ([Firma D.___], v.d. B.___) sofort seinen Namen und seine Adresse anzugeben unverzüglich die Polizei zu verständigen.

 

2.2   Auch diesen Vorhalt betreffend kann grundsätzlich auf die umfassenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (Urteil der Vorinstanz IV./2.2.).

 

2.3   Der Beschuldigte bringt in seiner Berufungsbegründung im Wesentlichen vor, die Aussagen der beiden Unfallbeteiligten B.___ und C.___ seien unglaubwürdig und die Strafuntersuchung einseitig. C.___ sei der Firmenchef. Als solcher habe er ein grosses Interesse an der Verurteilung des Beschuldigten. Durch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen B.___ als Mitarbeiter von C.___ sei es gerichtsnotorisch, dass B.___ seinen Chef nur sehr zurückhaltend belaste. Die Aussage, die Lücke sei nur 5 – 6 Meter gross gewesen, lasse C.___ absolut unglaubwürdig erscheinen. Auch die unterschiedlichen Geschwindigkeitsangaben seien alles andere als kongruent und stimmig. Die Aussagen des Beschuldigten dagegen seien absolut widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Im Weiteren führt der Beschuldigte aus, er habe keinerlei Grund gehabt, einfach wegzufahren, habe er sich doch korrekt verhalten und keine Schuld an der Kollision getragen. Wenn er hätte davonfahren wollen, hätte er das unmittelbar getan, nachdem B.___ ihn auf der Autobahn mündlich angegangen hatte. Man habe sich auf die Raststätte E.___ geeinigt, da dies die einzige sei, die zu dieser Zeit genügend Platz für zwei Lastwagen biete. Da ein Lastwagen in der Schweiz nicht schneller als 90 km/h fahren könne, hätte der Beschuldigte sodann gar nicht davonfahren können. Entgegen der Unterstellung der Vorinstanz habe zwischen den Fahrzeugen der Unfallbeteiligten klar Sichtdistanz bestanden. Der Beschuldigte habe von Anfang an auf dem Rastplatz E.___ die «Unfallaufnahme» vornehmen wollen. Ansonsten hätte er auch nicht nach dem Fahrziel des deutschen Sattelschleppers zu fragen brauchen.

 

Der Beschuldigte macht des Weiteren weitschweifende Ausführungen dazu, dass die Amtsgerichtsstatthalterin von Thal-Gäu anlässlich der mündlichen Urteilseröffnung fälschlicherweise gesagt hatte, der Beschuldigte habe der Polizei gegenüber die Raststätte «E.___» nicht erwähnt und wirft ihr mangelnde Aktenkenntnis vor. Sie habe eine Vorverurteilung vorgenommen. Die Vorinstanz habe nachweislich den Sachverhalt ungenügend festgestellt und den Grundsatz der Wahrheitsfindung von Amtes wegen missachtet.

 

2.4   Dem Beschuldigten kann auch in diesen Punkten nicht gefolgt werden. Die Argumentation der Vorinstanz ist nachvollziehbar und begründet. Sie würdigte die vorhandenen Beweismittel und die Aussagen der Beteiligten sehr umfassend. Während die Aussagen von B.___ und C.___ stringent sind und den jeweils anderen im Wesentlichen bestätigen, machte der Beschuldigte vor der Vorinstanz andere Angaben als bei der Erstbefragung durch die Polizei. Die Vorinstanz stellte zu Recht fest, dass die Aussagen des Beschuldigten nicht glaubhaft sind und stützte auf die Aussagen der beiden anderen Unfallbeteiligten ab. Auch die restlichen Akten untermauern den von diesen beiden wiedergegebenen Ablauf und nicht die Behauptungen des Beschuldigten. Es kann auf die ausführliche Würdigung der Vorinstanz verwiesen werden.

 

Soweit der Beschuldigte vorbringt, die Vorinstanz habe die Akten nicht gekannt und eine Vorverurteilung vorgenommen, verkennt er, dass die Äusserung des Beschuldigten, er habe vorgeschlagen, sich auf dem Rastplatz E.___ zu treffen, nichts ändert, wie bereits von der Vorinstanz ausgeführt. Aufgrund der Glaubhaftigkeit der Aussagen von B.___ und C.___ ist von ihrer Darstellung auszugehen, wonach der Beschuldigte sich gar nicht zu einem späteren Anhalten äusserte und keinerlei diesbezügliche Angaben machte, sondern dies als Schutzbehauptung gegenüber der Polizei zu werten ist. Ob er dabei nun explizit «E.___» sagte nicht, spielt folglich keine Rolle. Dass die Amtsgerichtsstatthalterin diesen Fehler in der mündlichen Urteilseröffnung machte, ist zwar etwas unglücklich, letztlich aber ein irrelevanter Fehler. Schlussendlich stellt die mündliche Urteilsbegründung eine summarische Begründung dar. Massgeblich ist die schriftliche Begründung des Urteils, ab deren Zustellung auch die Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt. In der Begründung wurde sodann sogar ausführlich zu diesem Fehler Stellung genommen. Die Vorwürfe und Behauptungen des Beschuldigten zielen damit ins Leere.

 

2.5   Die Vorinstanz erachtete es folglich zu Recht als erstellt, dass sich der Beschuldigte auf dem Rastplatz "F.___" auf Initiative von B.___ den Schaden am rechten Rückspiegel des von B.___ geführten Sattelmotorfahrzeugs anschaute, daraufhin angab, dass dies nicht so schlimm sei und B.___ fragte, ob er besoffen sei. Anschliessend begab sich der Beschuldigte zurück zu seinem Fahrzeug und fuhr los, ohne seinen Namen andere Angaben zu hinterlassen die Polizei zu avisieren. Die Kennzeichen des Zugfahrzeugs und des Anhängers sind jedoch von C.___ erneut fotografiert worden, welcher anschliessend dann auch die Polizei avisierte. Im Endergebnis würdigte die Vorinstanz den Vorhalt des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall nicht ansatzweise willkürlich. Der Sachverhalt, wie er von der Vorinstanz festgestellt wurde, ist erstellt.

 

 

V.     Rechtliche Würdigung

 

1.      Einfache Verletzung der Verkehrsregeln

 

1.1   Nach Art. 90 SVG wird mit Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt (Abs. 1). Gemäss Art. 44 SVG darf der Führer seinen Streifen auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, nur verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet (Abs. 1). Das gleiche gilt sinngemäss, wenn auf breiten Strassen ohne Fahrstreifen Fahrzeugkolonnen in gleicher Richtung nebeneinander fahren (Abs. 2). Gemäss Art. 100 Abs. 1 SVG ist sodann auch die fahrlässige Handlung strafbar, wenn nicht ausdrücklich anders bestimmt.

 

1.2   Der Führer, der seine Fahrrichtung ändern will, wie zum Abbiegen, Überholen, Einspuren und Wechseln des Fahrstreifens, hat auf den Gegenverkehr und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen (Art. 34 Abs. 3 SVG). Auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, darf der Führer seinen Streifen nur verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet (Art. 44 Abs. 1 SVG). Art. 44 Abs. 1 SVG stellt nach der Rechtsprechung eine Vortrittsregel dar. Dem seinen Streifen seine Kolonne beibehaltenden Fahrzeugführer wird mit Art. 44 Abs. 1 SVG ein Anspruch auf unbehinderte Fortsetzung seiner Fahrt und ein Vortrittsrecht gegenüber einspurenden Fahrzeugen eingeräumt. Ein Wechsel des Fahrstreifens ist daher nicht nur bei einer Gefährdung, sondern bereits bei einer Behinderung des übrigen Verkehrs untersagt (Urteile 6B_1190/2019 vom 11. Februar 2020 E. 1.2.1; 1C_403/2016 vom 27. März 2017 E. 2.1; 6B_453/2012 vom 19. Februar 2013 E. 2.2.1; 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.1). Die neuere Rechtsprechung bejaht eine Behinderung, falls der Berechtigte seine Fahrweise brüsk ändern muss. Diese Begriffseinschränkung erfolgte, um den besonderen Verhältnissen bei hohem Verkehrsaufkommen Rechnung zu tragen. Dies darf aber nicht zur Entwertung des Vortrittsrechts – einer Grundregel des Strassenverkehrs – führen (BGE 143 IV 500 E. 1.2.1 S. 504; 114 IV 146; Urteile 6B_1190/2019 vom 11. Februar 2020 E. 1.2.1; 1C_403/2016 vom 27. März 2017 E. 2.1; 6B_453/2012 vom 19. Februar 2013 E. 2.2.2; 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.2).

 

1.3   Der Beschuldigte verkennt in seiner Berufungsbegründung, dass er den anderen Lastwagen sehr wohl behinderte, auch wenn dieser – geschuldet dem langsamen Fahren aufgrund des dichten Verkehrs – keine brüske Vollbremsung vollziehen musste. Dennoch war B.___ gezwungen, zu bremsen und konnte trotzdem die Kollision mit dem Beschuldigten nicht mehr verhindern. Eine erhebliche Behinderung ist daher klar gegeben.

 

1.4   Der vom Beschuldigten eingereichte Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11. April 2018 sowie das diesem vorangehende Urteil des Bundesgerichts 6B_221/2017 vom 20. November 2017 sind nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar. Im Zürcher Entscheid war es zur Kollision gekommen, nachdem sich der dort beschuldigte Lenker eines Personenwagens beim Spurwechsel vor einen Lastwagen in eine Lücke einfädelte, der Lastwagen jedoch aus dem Stand heraus anfuhr, da er den Personenwagen offenbar nicht gesehen hatte, und so die Kollision mit dem bereits fast vollständig eingefädelten Personenwagen verursachte. Im vorliegenden Fall fuhr B.___ seinen Lastwagen jedoch nicht an und verursachte so die Kollision mit dem Beschuldigten, sondern der Beschuldigte zwängte sich in die Lücke, zwang den vortrittsberechtigten B.___ zum Bremsen und verursachte so – da die Lücke dennoch nicht ausreichte – die Kollision. B.___ war an dieser – im Gegensatz zum Lastwagenfahrer im Zürcher Entscheid – schuldlos und versuchte noch, die Kollision zu verhindern.

 

1.5   Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass dem Beschuldigten nicht rechtsgenüglich nachgewiesen werden kann, dass er nicht geblinkt habe, wie ihm dies im Strafbefehl vorgehalten wurde (US 11). An dieser Feststellung ist nichts auszusetzen. Im Weiteren kann bezüglich der rechtlichen Subsumtion auf die Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (US 12 f.).

 

1.6   Betreffend den subjektiven Tatbestand ist wie in III./2.3 ausgeführt, von Fahrlässigkeit auszugehen. B.___ fuhr eben gerade nicht nochmals an und verhielt sich sodann auch nicht in einer für den Beschuldigten unvorhersehbaren Weise. Der Beschuldigte zwängte sich in eine für ihn viel zu kleine Lücke. Dass er dies wissentlich und willentlich tat, kann ihm nicht nachgewiesen werden, wohl aber eine fahrlässige Tatbegehung. Der Beschuldigte gefährdete damit bei seinem unaufmerksamen Spurwechsel den übrigen Verkehr und machte sich dadurch der fahrlässigen einfachen Verletzung der Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 100 Abs. 1 SVG durch ungenügende Rücksicht beim Fahrstreifenwechsel nach Art. 44 Abs. 1 SVG schuldig.

 

 

2.      Pflichtwidriges Verhalten nach Verkehrsunfall

 

2.1   Ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten. Sie haben nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen (Art. 51 Abs. 1 SVG).

 

Entsteht bei einem Verkehrsunfall Sachschaden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen (Art. 51 Abs. 3 SVG).

 

Mit Busse wird bestraft, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm dieses Gesetz auferlegt (Art. 92 Abs. 1 SVG).

 

2.2   Der angeklagte Sachverhalt wie ausgeführt ist erstellt. Es ereignete sich am 26. November 2018 um ca. 07:15 Uhr zwischen dem Beschuldigten und B.___ ein Verkehrsunfall mit Sachschaden. Nachdem C.___ den Beschuldigten noch am Kollisionsort darauf ansprach, fuhren beide Fahrzeuge beim Rastplatz «F.___» auf den Parkplatz. Der Beschuldigte sah sich den Schaden am Fahrzeug der Geschädigten sogar an, gab aber seine Personalien nicht an und verständigte auch nicht die Polizei, sondern er stieg wieder in seinen Lastwagen und fuhr davon. Er versuchte so eindeutig, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Den betreffenden Ausführungen der Vorinstanz ist nichts hinzuzufügen und ihre rechtliche Würdigung zu bestätigen. Der Beschuldigte hat Art. 92 Abs. 1 SVG vorsätzlich verletzt.

 

 

VI.    Strafzumessung

 

1.   Die Strafzumessung wurde vom Beschuldigten im Berufungsverfahren nicht gerügt. Vorliegend hat die Vorinstanz die Busse auf CHF 300.00 und den Umwandlungssatz auf CHF 100.00 für die Ersatzfreiheitsstrafe festgesetzt, was nicht zu beanstanden ist, auch wenn der Beschuldigte nun wegen einer fahrlässigen einfachen Verkehrsregelverletzung verurteilt wird.

 

2.   Festzustellen ist, dass das Verfahren eine lange Zeit dauerte. Gestützt auf Art. 48 lit. e StGB liegt ein Strafmilderungsgrund (langer Zeitablauf bei Wohlverhalten) vor. Die von der Vorinstanz verhängte Strafe ist jedoch auch unter Berücksichtigung dessen ohne Weiteres noch angemessen.

 

 

VII.  Eventualantrag betreffend verkehrstechnisches Gutachten

 

Der Beschuldigte stellte sowohl im erstinstanzlichen als auch im Berufungsverfahren mehrfach den Antrag, es sei ein verkehrstechnisches Gutachten einzuholen, um festzustellen, ob der Lastwagen von B.___ im Zeitpunkt der Kollision stillgestanden sei. Der Instruktionsrichter wies den Antrag bereits mit Verfügung vom 12. Juli 2021 ab. Zur Begründung kann auf die entsprechenden Ausführungen in dieser Verfügung verwiesen werden. Der Beschuldigte vermochte bis heute nicht aufzuzeigen, inwiefern ein verkehrstechnisches Gutachten zu einem anderen Beweisergebnis hätte führen können. Es liegen keinerlei Hinweise für ein Fehlverhalten von Seitens B.___ vor. Ob er stillstand nicht, spielt – wie zuvor erläutert – denn auch keine Rolle. Auch ein Gutachten könnte nicht die Grösse der Lücke eruieren, in die der Beschuldigte sich zwängte. Die vom Beschuldigten zitierte Rechtsprechung ist sodann wiederum nicht einschlägig anwendbar. Der Eventualantrag ist daher erneut abzuweisen.

 

 

VIII. Kosten

 

1. Bei diesem Verfahrensausgang ist der erstinstanzliche Kostenentscheid zu bestätigen. Dem Beschuldigten sind demnach die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, welche mit einer Urteilsgebühr von CHF 600.00 total CHF 800.00 ausmachen, aufzuerlegen.

 

2. Da der Beschuldigte mit der Berufung unterliegt, hat er auch die Kosten des Berufungsverfahrens, welche mit einer Urteilsgebühr von CHF 1'500.00 insgesamt CHF 1'575.00 betragen, zu bezahlen.

 

3. Bei diesem Ausgang des Verfahrens steht dem Beschuldigten, privat vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Figi, weder für das erst- noch das zweitinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung zu. Der entsprechende Antrag ist abzuweisen.

Demnach wird in Anwendung von Art. 44 Abs. 1, Art. 51 Abs. 3, Art. 90 Abs. 1, Art. 92 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1 SVG; Art. 47, Art. 48 lit. e, Art. 49 Abs. 1 und 2, Art. 106 StGB; Art. 82 Abs. 4, Art. 398 Abs. 4, Art. 406 Abs. 1 lit. c, Art. 416 ff. StPO erkannt:

1.    Der Beschuldigte A.___ hat sich schuldig gemacht:

-       der fahrlässigen einfachen Verletzung der Verkehrsregeln durch ungenügende Rücksicht beim Fahrstreifenwechsel, begangen am 26. November 2018; und

-       des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall, begangen am 26. November 2018.

 

2.    Der Beschuldigte A.___ wird verurteilt zu einer Busse von CHF 300.00, ersatzweise zu 3 Tagen Freiheitsstrafe, als Zusatzstrafe zum Urteil der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten vom 24. September 2020.

 

3.    Der Eventualantrag des Beschuldigten auf Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens wird abgewiesen.

 

4.    Der Antrag des Beschuldigten, privat vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Figi, auf Zusprechung einer Parteientschädigung für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren wird abgewiesen.

 

5.    Der Beschuldigte hat die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens von total CHF 800.00 zu bezahlen. Die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Gerichtsgebühr von CHF 1'500.00, zuzüglich Auslagen von CHF 75.00, werden dem Beschuldigten vollumfänglich auferlegt. Der Beschuldigte hat somit insgesamt Prozesskosten in der Höhe von CHF 2’375.00 zu bezahlen.

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

Von Felten                                                                        Schmid



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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