Zusammenfassung des Urteils STBER.2020.89: Verwaltungsgericht
Die Strafkammer des Obergerichts hat in einem Fall von Verstössen gegen das Heilmittelgesetz und Ungehorsam im Betreibungs- und Konkursverfahren sowie gegen die Polizei entschieden. Der Beschuldigte A wurde schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe und einer Busse verurteilt. Der Beschuldigte B wurde ebenfalls schuldig gesprochen und zu einer Busse verurteilt. Es gab Berufungen und Anträge auf Rückweisung des Urteils. Nach Prüfung der Umstände entschied das Gericht, dass das erstinstanzliche Urteil aufgehoben werden muss und eine neue Hauptverhandlung durchgeführt werden soll. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Staat, und dem Vertreter des Beschuldigten A wird eine Parteientschädigung zugesprochen.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | STBER.2020.89 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Strafkammer |
Datum: | 28.06.2021 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | - |
Schlagwörter: | Beschuldigte; Gericht; Beschuldigten; Hauptverhandlung; Verfahren; Verhandlung; Urteil; Berufung; Parteien; Recht; Vorladung; Gerichtspräsident; Vertreter; Rechtsanwalt; Verteidigung; Vorinstanz; Notiz; Swissmedic; Advokat; Häring; Dorneck-Thierstein; Staatsanwalt; VStrR; Entschuldigung; Akten; Abwesenheit; Notizen; Urteils; Verteidiger |
Rechtsnorm: | Art. 130 StPO ;Art. 202 StPO ;Art. 409 StPO ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | Daniel Jositsch, Niklaus Schmid, Schweizer, Basler Schweizerische Strafprozessordnung, 2017 |
Geschäftsnummer: | STBER.2020.89 |
Instanz: | Strafkammer |
Entscheiddatum: | 28.06.2021 |
FindInfo-Nummer: | O_ST.2021.39 |
Titel: | Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz, Ungehorsam des Schuldners im Betreibungs- und Konkursverfahren, Ungehorsam gegen die Polizei |
Resümee: |
Obergericht Strafkammer
Beschluss vom 28. Juni 2021 Es wirken mit: Oberrichter von Felten Oberrichter Kiefer Gerichtsschreiberin Ramseier In Sachen 1. Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn, Anklägerin 2. Swissmedic Schweizerisches Heilmittelinstitut, Hallerstr. 7, Postfach 3000 Bern 9, 3012 Bern, Berufungsklägerin
1. A.___, vertreten durch Advokat Daniel Häring 2. B.___, vertreten durch Rechtsanwalt Jörg Blum Beschuldigte und Berufungskläger
betreffend Prüfung einer Rückweisung (Art. 409 Abs. 1 StPO) (Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz, Ungehorsam des Schuldners im Betreibungs- und Konkursverfahren, Ungehorsam gegen die Polizei) Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung: I.
1. Mit Urteil des Amtsgerichtspräsidenten von Dorneck-Thierstein vom 19. August 2020 wurde A.___ (Beschuldigter 1) des gewerbsmässigen Inverkehrbringens von nicht gesetzeskonformen Medizinprodukten (ohne dadurch die Gesundheit von Menschen zu gefährden), begangen in der Zeit vom 20. August 2013 bis 6. Juli 2016, und der mehrfachen Verletzung der Meldepflichten, begangen in der Zeit vom 10. Oktober 2013 bis 9. Dezember 2014, schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je CHF 140.00, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges mit einer Probezeit von 2 Jahren, sowie einer Busse von CHF 10'000.00 verurteilt (Ziff. 5 und 7). B.___ (Beschuldigter 2) wurde des fahrlässigen Inverkehrbringens von nicht gesetzeskonformen Medizinprodukten (ohne dadurch die Gesundheit von Menschen zu gefährden), begangen in der Zeit vom 20. August 2013 bis 6. Juli 2016, und der mehrfachen fahrlässigen Verletzung der Meldepflichten, begangen in der Zeit vom 10. Oktober 2013 bis 9. Dezember 2014, schuldig gesprochen und zu einer Busse von CHF 10'000.00 verurteilt (Ziff. 6 und 8). An der Hauptverhandlung hatten für die Ankläger Rechtsanwalt Raphael Zbinden, Swissmedic, sowie Staatsanwalt D.___ teilgenommen. Der Beschuldigte 1 ist nicht erschienen, jedoch sein Vertreter, Advokat Daniel Häring. Der Beschuldigte 2 ist erschienen, ohne seinen Vertreter, Rechtsanwalt Jörg Blum. Zudem wurde C.___ als Zeuge einvernommen.
Am 30. August 2020 wurde den Parteien das Verhandlungsprotokoll vom 18. August 2020 (in Kopie) sowie das begründete Urteil vom 19. August 2020 zugestellt (AS 621).
2. Gegen dieses Urteil liess der Beschuldigte 1 am 12. November 2020 die Berufung erklären. Die Swissmedic erklärte am 17. November 2020 ebenfalls die Berufung, beschränkt allerdings auf die Verzinsung eines gesperrten Kontoguthabens. Schliesslich erklärte auch B.___ die Berufung und beantragte eine Herabsetzung der Busse und eine andere Verteilung bzw. Reduktion der Verfahrenskosten, die ihm auferlegt worden seien. Auf telefonische Nachfrage gab Rechtsanwalt Blum bekannt, dass er weiter als Vertreter von B.___ geführt werden könne, auch wenn dieser die Berufung in eigenem Namen erklärt habe. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Anschlussberufung.
3. Mit Verfügung vom 11. März 2021 teilte der Instruktionsrichter den Parteien mit, das Berufungsgericht werde vorab im schriftlichen Verfahren über eine allfällige Aufhebung des Urteils des Amtsgerichtspräsidenten von Dorneck-Thierstein vom 19. August 2020 entscheiden, verbunden mit der Rückweisung zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung wegen allfälliger Verletzung wesentlicher Verfahrensrechte im Sinne von Art. 409 StPO (Führung eines Abwesenheitsverfahrens gemäss Art. 76 VStrR trotz allenfalls genügender Entschuldigung des Beschuldigten A.___ [Quarantänepflicht nach Art. 2 der Covid19-Verordnung im Bereich des internationalen Personenverkehrs]; Durchführung der Verhandlung ohne Beisein des Verteidigers des Beschuldigten B.___ trotz allfälligen Vorliegens einer notwendigen Verteidigung im Sinne von Art. 130 lit. d, [ev. zusätzlich lit. b] StPO i.V.m. Art. 82 VStrR). Die Parteien erhielten Frist bis 10. April 2021, sich zur Frage der allfälligen Verletzung von Verfahrensrechten und der allfälligen Aufhebung des Urteils der Vorinstanz und Rückweisung zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung im Sinne von Art. 409 StPO zu äussern. Die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung bleibe vorbehalten.
4.1 Der Oberstaatsanwalt teilte am 29. März 2021 mit, nach Rücksprache mit der Swissmedic werde auf eine Stellungnahme verzichtet und vollumfänglich auf deren Eingabe verwiesen.
4.2 Die Swissmedic nahm am 31. März 2021 Stellung. Die Vorinstanz habe zu Recht entschieden, ein Abwesenheitsverfahren durchzuführen, da keine rechtsgenügliche Entschuldigung vorgelegen sei. Das Verhalten des Beschuldigten 1 sei rechtsmissbräuchlich und nicht zu schützen, da es darauf abgezielt habe, das Verfahren weiter zu verzögern. Bezüglich des Beschuldigten 2 teile sie die Ansicht nicht, es handle sich um einen Fall notwendiger Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b d StPO. Sollte jedoch das Gericht zu einem anderen Schluss gelangen, sei lediglich das Urteil den Beschuldigten 2 betreffend aufzuheben, dieses abzutrennen und das Verfahren zur Wiederholung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
4.3 B.___ teilte am 8. April 2021 telefonisch mit, er mache keine Eingabe und werde den Entscheid des Gerichts abwarten.
4.4. Der Beschuldigte 1 liess am 27. Mai 2021 beantragen, es sei das Urteil des Amtsgerichtspräsidenten von Dorneck-Thierstein vom 19. August 2020 wegen Verletzung wesentlicher Verfahrensrechte aufzuheben und zur Durchführung einer neuen Verhandlung sowie zur Fällung eines neuen Urteils an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen werde an sämtlichen Rechtsbegehren und Anträgen gemäss Berufungserklärung vom 12. November 2020 festgehalten. Als Verfahrensantrag ersuchte der Vertreter des Beschuldigten 1 darum, es seien die im Verfahrensprotokoll der Hauptverhandlung vom 18. August 2020 erwähnten «Notizen des Gerichtsschreibers» an den Beschuldigten herauszugeben.
4.5 Mit Verfügung vom 31. März 2021 wurde das Richteramt Dorneck-Thierstein ersucht, dem Berufungsgericht die im Verfahrensprotokoll erwähnten «Notizen des Gerichtsschreibers» einzureichen. Am 4. Juni 2021 gingen diese im Original – mit der Bitte, sie in die Vorakten abzulegen – ein. Mit Verfügung vom 7. Juni 2021 wurden sie den Parteien in Kopie zur Kenntnis zugestellt. Weiter wurde mitgeteilt, der Entscheid ergehe demnächst.
5. Für die Standpunkte der Parteien wird grundsätzlich auf die Akten verwiesen. Soweit erforderlich, wird nachfolgend darauf eingegangen. II.
I. Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten 1
1.1 Aus der Eingabe von Rechtsanwalt Jörg Blum vom 19. März 2020 ist zu schliessen, dass anfangs Jahr Verhandlungstermine im August 2020 angefragt worden sind. Er erwähnte im besagten Schreiben, er habe seither diesbezüglich nichts mehr gehört und teile der guten Ordnung halber mit, dass diese Termine bei ihm zwischenzeitlich nicht mehr verfügbar seien (AS 363). Aus der Aktennotiz des Richteramtes vom 20. März 2020 ist ersichtlich, dass mit sämtlichen Parteien Telefonate betreffend das Datum der Verhandlung geführt wurden und das Datum für die Hauptverhandlung vom 18. und 19. August 2020 mit sämtlichen Parteien vereinbart wurde (AS 364). Am 20. März 2020 telefonierte der damalige Gerichtspräsident von Dorneck-Thierstein mit Rechtsanwalt Blum mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Hauptverhandlungsdaten 18./19. August 2020 von allen Prozessbeteiligten (von den Verteidigern auch für ihre Mandanten) dem Gericht verbindlich bestätigt worden seien, so auch von Rechtsanwalt Blum. Es befremde daher, dass sich dieser beim Gericht nicht nochmals rückversichert habe. Es werde darauf hingewiesen, dass die Termine fix seien und die Hauptverhandlung keinesfalls verschoben werde (AS 365). In einer Notiz vom 23. März 2020 hielt er den Inhalt dieses Telefonats schriftlich fest und verfügte auf dem gleichen Schreiben (Ziff. 1), es werde der guten Ordnung halber hiermit nochmals festgehalten, dass das Gericht bereits vor längerer Zeit mit den Anklägerinnen sowie den Beschuldigten bzw. ihren privaten Verteidigern den voraussichtlich zweitägigen Hauptverhandlungstermin verbindlich auf Dienstag/Mittwoch 18./19. August 2020 vereinbart habe. Die Vorladungsverfügungen mit den Vorladungen würden den Parteien zu gegebener Zeit noch zugestellt werden. Die Verfügung wurde sämtlichen Parteien eingeschrieben zugestellt.
1.2 Mit Schreiben vom 29. Mai 2020 wandte sich Advokat Häring an den Gerichtspräsidenten und teilte mit, vor geraumer Zeit seien ihnen zwei provisorische Daten für die Hauptverhandlung mitgeteilt worden, nämlich der 18. und 19. August 2020. Bis heute hätten sie weder eine Vorladung noch eine Konkretisierung der Daten erhalten. Auch auf telefonische Rückfrage habe man ihm keine Auskunft geben können, ob und wenn ja, an welchem Tag die Hauptverhandlung stattfinden solle. Ein derart langes Festhalten von Terminen für unsichere Hauptverhandlungen sei kaum zumutbar. Deshalb müsse er mitteilen, dass beide Termine nicht mehr verfügbar seien (AS 387). Der Gerichtspräsident rief Advokat Häring noch am Tag des Eingangs des erwähnten Schreibens an und teilte ihm mit, es sei für alle Prozessbeteiligten klar, dass die Hauptverhandlung definitiv an den erwähnten Daten stattfinden werde. Die Vorladungen werde das Gericht noch diese Woche versenden. Nach Konsultation der Strafakten telefonierte der Gerichtspräsident nochmals mit der Kanzlei von Advokat Häring und liess ihm, da dieser sich in einer Besprechung befand, ausrichten, er solle bitte Ziff. 1 der Verfügung vom 23. März 2020 lesen (AS 389).
1.3 Am 5. Juni 2020 erliess das Gericht die entsprechenden Vorladungen. Dem Beschuldigten 1 konnte die Gerichtsurkunde per Post nicht zugestellt werden, weshalb um eine Zustellung durch die Polizei ersucht wurde (AS 420). Die Polizei meldete in der Folge fünf – erfolglose – Zustellversuche/Mailverkehr (vom 17. Juni bis 24. Juli 2020, AS 422). Weitere Abklärungen ergaben, dass der Beschuldigte 1 tatsächlich an der besagten Adresse wohnhaft und der Briefkasten auch entsprechend angeschrieben war. Die Polizei werde dem Beschuldigten 1 heute (3. August 2020) nochmals ein Mail schreiben (AS 427). Am 4. August 2020 verfügte der Gerichtspräsident, der Beschuldigte 1 sei erneut mittels A-Post Plus und mittels Publikation im Amtsblatt zur Hauptverhandlung vorzuladen (AS 430 f.). Die entsprechende Publikation erfolgte im Amtsblatt vom 7. August 2020 (AS 438).
1.4 Am 14. August 2020 teilte Advokat Häring dem Richteramt Dorneck-Thierstein mit Verweis auf ein Mail seines Klienten vom Vorabend mit, dieser sei mit einem Boot unterwegs und habe eine Panne gehabt, welche ihn gezwungen habe, einen Hafen in Montenegro anzulaufen. Dort habe er anlegen und übernachten müssen. In der Beilage reiche er einen Beleg eines Nachtessens ein. Montenegro befinde sich auf den vom Bundesamt für Gesundheit publizierten Listen der Staaten/Gebiete mit erhöhtem Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Personen, die in die Schweiz einreisten, müssten sich nach der Einreise in Quarantäne begeben. Somit sei es seinem Klienten nicht möglich, an der Verhandlung teilzunehmen. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass die Vorladung ohnehin noch nicht rechtgültig zugestellt worden sei. Er beantrage daher, die Verhandlung abzubieten und auf einen neuen Termin zu verschieben.
1.5 Der Gerichtspräsident verfügte am selben Tag, die Hauptverhandlung werde derzeit nicht verschoben. Den Anklägern sowie dem Beschuldigten 2 werde zu Beginn der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben, zur Eingabe des Beschuldigten 1 kurz mündlich Stellung zu nehmen. Danach werde über den Antrag auf Verschiebung entschieden.
Anlässlich der Hauptverhandlung beantragte die Staatsanwaltschaft die Abweisung des Antrags auf Absetzung der Verhandlung. Die übrigen Parteien verzichteten auf eine Stellungnahme dazu. Der Gerichtspräsident wies den Antrag in der Folge ab. Die Hauptverhandlung werde wie vorgesehen durchgeführt. Die Begründung finde sich in den Notizen des Gerichtsschreibers vom 18. August 2020.
2. Die Verteidigung des Beschuldigten 1 wendet zunächst ein, es finde sich für die Abweisung des Verfahrensantrags weder im Urteil selbst noch im korrespondierenden Verfahrensprotokoll eine Begründung für diese Abweisung. Im Verfahrensprotokoll werde lediglich ausgeführt, «zur Begründung wird auf die Notizen des Gerichtsschreibers (vgl. Akten) verwiesen».
Im Verfahrensprotokoll war bereits zur Begründung der Anträge von Staatsanwalt D.___ bezüglich des Absetzungsantrags auf «die Notizen des Gerichtsschreibers (vgl. Akten) verwiesen» worden. Hinsichtlich der Abweisung des Absetzungsantrags durch den Gerichtspräsidenten wurde wiederum auf diese Notizen verwiesen. Diese befanden sich aber nicht in den Akten der Vorinstanz, sondern wurden erst auf die Verfügung des Instruktionsrichters vom 31. Mai 2021 hin eingereicht, mit der Bitte, das Original in den Vorakten abzulegen. Gemäss diesen Notizen hat der Gerichtspräsident den Entscheid, die Verhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten 1 durchzuführen, mündlich eröffnet und begründet. Der Beschuldigte 1 sei rechtsgültig vorgeladen worden und habe im Übrigen auch Kenntnis vom Verhandlungstermin gehabt. Wenn er in Coronazeiten in Risikogebiete reise, müsse dies als Selbstdispensierung von der Verhandlung gewertet werden.
Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt somit nicht vor, nachdem der Entscheid offenbar mündlich eröffnet und begründet wurde. Weshalb die «Notizen des Gerichtsschreibers» nicht Eingang in das Urteil zumindest in das Verfahrensprotokoll der Verhandlung fanden, ist aber nicht ersichtlich. Im Übrigen ist noch festzuhalten, dass das Gesetz eine schriftliche Urteilsbegründung und ein Verhandlungsprotokoll vorsieht. Sinn und Zweck ist die Überprüfbarkeit durch die Rechtsmittelinstanz. Diese schriftliche Begründung lag im Zeitpunkt, als die Parteien über das Festhalten an der Berufung (Berufungserklärung) entscheiden mussten, nicht vor.
3. Zu prüfen ist, ob sich der Gerichtspräsident zu Recht auf den Standpunkt stellte, der Beschuldigte 1 sei ordnungsgemäss vorgeladen worden und sei ohne rechtsgenügliche Entschuldigung nicht erschienen.
3.1.1 Gemäss des vorliegend zur Anwendung gelangenden Art. 76 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR, SR 313.0) kann die Hauptverhandlung auch stattfinden, wenn der Beschuldigte trotz ordnungsgemässer Vorladung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist. Ein Verteidiger ist zuzulassen (Abs. 1). Der in Abwesenheit Verurteilte kann innert zehn Tagen, seitdem ihm das Urteil zur Kenntnis gelangt ist, die Wiedereinsetzung anbegehren, wenn er durch ein unverschuldetes Hindernis abgehalten worden ist, zur Hauptverhandlung zu erscheinen. Wird das Gesuch bewilligt, so findet eine neue Hauptverhandlung statt (Abs. 2). Das Gesuch um Wiedereinsetzung hemmt den Vollzug des Urteils nur, wenn das Gericht sein Präsident es verfügt (Abs. 3). Für den von der Einziehung Betroffenen gelten diese Vorschriften sinngemäss (Abs. 4).
Nach Art. 82 VStrR gelten für das Verfahren vor den kantonalen Gerichten und das Verfahren vor dem Bundesstrafgericht die entsprechenden Vorschriften der StPO, soweit die Artikel 73–81 nichts anderes bestimmen.
3.1.2 Das VStrR sieht somit insofern eine Regelung vor, als die Hauptverhandlung auch stattfinden kann, wenn der Beschuldigte trotz ordnungsgemässer Vorladung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist. Es braucht demnach keine zweite Vorladung, wenn ein Beschuldigter unentschuldigt nicht erscheint, wie dies die StPO in Art. 336 Abs. 4 i.V.m. Art. 366 Abs. 1 vorsieht. Wie die Zustellung der Vorladung aber zu erfolgen hat, sieht das VStrR nicht vor. Diesbezüglich sind demnach die Bestimmungen der StPO anwendbar.
Nach Art. 202 Abs. 1 StPO werden die Vorladungen im gerichtlichen Verfahren mindestens 10 Tage vor der Verfahrenshandlung zugestellt. Die Zustellung erfolgt nach den Art. 84 bis 88 StPO (vgl. Niklaus Schmid/Daniel Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Auflage, 2017, N 981; wohl auch Jonas Weber in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Art. 196 – 457 StPO, Art. 1-54 JStPO, BSK-StPO, 2. Auflage, Basel 2014, Art. 202 FN 2).
Die Vorladung für die Hauptverhandlung vom 18./19. August 2020 wurde am 5. Juni 2020 per Gerichtsurkunde verschickt und vom Beschuldigten 1 innert der Abholfrist nicht abgeholt (vgl. AS 402, 420). Da der Beschuldigte 1 mit einer Vorladung hatte rechnen müssen, gilt sie gestützt auf Art. 85 Abs. 4 lit a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt. Der Gerichtspräsident stellt sich daher zu Recht auf den Standpunkt, der Beschuldigte 1 gelte spätestens ab Mitte Juni 2020 als rechtmässig vorgeladen. Die späteren Bemühungen des Gerichts um eine Zustellung ändern daran nichts, sondern waren nur ein Entgegenkommen, damit der Beschuldigte 1 die Vorladung doch noch erhält. Im Übrigen ist festzuhalten, dass der Beschuldigte 1 Kenntnis vom Verhandlungstermin hatte. In der Aktennotiz vom 23 März 2020 über das Telefonat mit dem Vertreter des Beschuldigten 1 vom 20. März 2020 hält der Gerichtspräsident ausdrücklich fest, die Hauptverhandlungsdaten seien von allen Prozessbeteiligten (von den Verteidigern auch für ihre Mandanten) dem Gericht verbindlich bestätigt worden. Auch aus dem Mail des Beschuldigten 1 vom 13. August 2020 zu Handen seines Vertreters ist ersichtlich, dass er vom Verhandlungstermin wusste.
3.2 Es ist nicht von der Hand zu weisen und der Swissmedic ist insofern zuzustimmen, dass der Entschuldigungsgrund des Beschuldigten 1 zu seinem Verhaltensmuster im gesamten Verfahren vor Vorinstanz passen könnte, nämlich, sich nicht um die Verhandlung zu kümmern, in der Hoffnung, sie könne aus irgend einem Grund schliesslich nicht durchgeführt werden. Es trifft auch zu, dass sich zu jener Zeit die Einreisebestimmungen aufgrund der epidemiologischen Lage laufend änderten und man sich bei der Abreise nicht mit Sicherheit darauf verlassen konnte, eine allfällige Bestimmung habe auch bei der Rückkehr noch ihre Geltung. Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, der Beschuldigte 1 habe unentschuldigt an der Verhandlung nicht teilgenommen. So hat er sich über seinen Vertreter rechtzeitig an das Gericht gewandt und den Grund der Unmöglichkeit des Erscheinens dargelegt. Er hat auch einen Beleg eines Restaurants in Montenegro, welches bei einer Google-Recherche zu finden ist, über eine Konsumation vom 13. August 2020 eingereicht. Aus dem Mail des Beschuldigten 1 an seinen Vertreter vom 13. August 2020 ist zudem zu entnehmen, dass er sich offenbar auf einer Rückreise nach Kroatien befand und Kroatien befand sich damals nicht auf der Quarantäneliste des Bundes. Der Gerichtspräsident hätte unter diesen Umständen somit nicht von einer nicht rechtsgenüglichen Entschuldigung seitens des Beschuldigten 1 ausgehen und die Verhandlung in dessen Abwesenheit durchführen dürfen. Zumindest hätte er, wenn er am Entschuldigungsgrund des Beschuldigten 1 zweifelte, nach Erhalt der Eingabe von dessen Vertreter vom 14. August 2020, eingegangen ebenfalls am 14. August 2020, den Beschuldigten 1 auffordern müssen, den Motorenschaden zu belegen und nähere Auskünfte zur geplanten Reise zu erteilen.
Auch gestützt auf Art. 76 VStrR, welcher keine zweite Vorladung erfordert, durfte die Verhandlung folglich nicht in Abwesenheit des Beschuldigten 1 durchgeführt werden.
II. Durchführung der Hauptverhandlung ohne Beisein des Verteidigers des Beschuldigten 2
1. Der Beschuldigte 2 ist ohne seinen Vertreter zur Hauptverhandlung erschienen. Rechtsanwalt Jörg Blum hatte mit Schreiben vom 14. August 2020 mitgeteilt, B.___ werde an der Verhandlung persönlich erscheinen und werde sich selber vertreten. Er verzichte ausdrücklich auf seine Teilnahme und Vertretung an der Verhandlung, insbesondere auch aus Kostengründen. Nachdem kein Fall notwendiger Verteidigung vorliege, sei dieses Vorgehen korrekt. In der Sache werde auf die bisherigen Ausführungen verwiesen. Aus dem Untersuchungsergebnis gehe klar hervor, dass dem Beschuldigten 2 höchstens eine fahrlässige Begehung der vorgeworfenen Tatbestände unterstellt werden könne. Sodann sei auf die Verjährung hinzuweisen.
Die Verhandlung fand in der Folge ohne Anwesenheit von Rechtsanwalt Blum statt. Der Gerichtspräsident ging davon aus und hat dies den Parteien auch so begründet eröffnet, dass der Beschuldigte 2 von Anfang an vertreten gewesen sei und dies auch heute noch sei, da das Mandat nicht niedergelegt worden sei. Rechtsanwalt Blum habe sich genügend geäussert. Es wäre gegen Treu und Glauben, wenn die Swissmedic später die Anträge ändern würde, es werde «nur» eine Geldstrafe beantragt.
2. Wie erwähnt, gelten nach Art. 82 VStrR für das Verfahren vor den kantonalen Gerichten und das Verfahren vor dem Bundesstrafgericht die entsprechenden Vorschriften der StPO, soweit die Artikel 73–81 nichts anderes bestimmen.
Das Verwaltungsstrafrecht enthält hinsichtlich der notwendigen Verteidigung lediglich abweichende Bestimmungen für das Verwaltungsstrafverfahren (Art. 33). Im gerichtlichen Verfahren kommt daher Art. 130 StPO zur Anwendung. Danach ist eine beschuldigte Person u.a. notwendig zu verteidigen, wenn ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, eine freiheitsentziehende Massnahme eine Landesverweisung droht (lit. b) die Staatsanwaltschaft vor dem erstinstanzlichen Gericht dem Berufungsgericht persönlich auftritt (lit. d).
Während vorliegend davon ausgegangen werden kann, Art. 130 lit. b StPO mache noch keine Verteidigung notwendig, weil die Swissmedic in Bezug auf den Beschuldigten 2 «lediglich» eine bedingte Geldstrafe beantragte und angenommen werden durfte, die Staatsanwaltschaft beantrage unter diesen Umständen auch keine Freiheitsstrafe, wäre gemäss Art. 130 lit. d StPO indessen eine Verteidigung notwendig gewesen. Die Staatsanwaltschaft ist vor dem erstinstanzlichen Gericht persönlich aufgetreten, was sie in der Eingabe vom 25. September 2019 ausdrücklich beantragt hat. In ihrem Antrag führte sie dazu aus, sie habe sich aufgrund des konnexen Strafverfahrens ebenfalls dazu entschieden, in diesem Verfahren ihre Parteistellung wahrzunehmen, weshalb höflich um entsprechende Vorladung beider Parteien zur Hauptverhandlung ersucht werde. Der Beschuldigte 2 musste vor der Vorinstanz somit notwendig vertreten werden. Er konnte darauf auch nicht verzichten (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_413/2020 vom 21. Januar 2021 E. 4.5).
III. Daraus zu ziehende Folgen
1. Gemäss Art. 409 StPO hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurück, wenn das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel aufweist, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können.
Wesentliche Mängel, die im Berufungsverfahren nicht ohne den Verlust einer Instanz behoben werden können, sind etwa die nicht richtige Besetzung des Gerichts, fehlende Zuständigkeit, Verweigerung von Teilnahmerechten eine nicht gehörige Verteidigung (Luzius Eugster in: BSK StPO, a.a.O., Art. 409 StPO N 1).
2. Bei der Anwesenheit eines Beschuldigten an der Hauptverhandlung und der Gewährleistung der notwendigen Verteidigung handelt es sich um elementare Rechte. Der Umstand, dass die Vorinstanz die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten 1 und ohne Anwesenheit des Verteidigers des Beschuldigten 2 durchgeführt hat, stellt folglich einen wesentlichen Mangel dar, der im Berufungsverfahren nicht geheilt werden kann. Das erstinstanzliche Urteil muss deshalb aufgehoben werden und es sind die Akten an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese eine neue Hauptverhandlung durchführe und ein neues Urteil fälle.
IV. Kosten und Entschädigungen
1. Bei diesem Verfahrensausgang gehen die Kosten des Berufungsverfahrens zu Lasten des Staates. Dem Vertreter des Beschuldigten 1, Advokat Daniel Häring, ist eine Parteientschädigung von pauschal CHF 1‘500.00 zu bezahlen, auszahlbar durch die Gerichtskasse.
2. Der Beschuldigte 2 hatte keine nennenswerten Aufwendungen im Berufungsverfahren und hat auch keine Parteientschädigung beantragt. Ihm ist daher keine Entschädigung zuzusprechen.
Demnach wird in Anwendung von Art. 409 Abs. 1 StPO beschlossen:
1. Das Urteil des Gerichtspräsidenten von Dorneck-Thierstein vom 19. August 2020 wird aufgehoben. 2. Die Akten gehen an das Richteramt Dorneck-Thierstein zwecks Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und Fällung eines neuen Urteils. 3. Die Verfahrenskosten gehen zu Lasten des Staates. 4. Dem Vertreter des Beschuldigten A.___, Advokat Daniel Häring, ist eine Parteientschädigung von pauschal CHF 1‘500.00 zu bezahlen, auszahlbar durch die Gerichtskasse. 5. B.___ ist keine Entschädigung auszurichten.
Im Namen der Strafkammer des Obergerichts Der Präsident Die Gerichtsschreiberin Marti Ramseier |
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
Hier geht es zurück zur Suchmaschine.