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Urteil Verwaltungsgericht (SO - STBER.2020.60)

Zusammenfassung des Urteils STBER.2020.60: Verwaltungsgericht

Das Obergericht hat in einem Berufungsverfahren über den Vorwurf sexueller Handlungen mit einem Kind entschieden. Der Beschuldigte soll das minderjährige Opfer auf den Mund geküsst und sexuelle Handlungen vorgenommen haben. Das Opfer und die Mutter des Opfers haben dies angezeigt. In der Verhandlung wurden die Aussagen des Opfers, des Beschuldigten und weiterer Zeugen analysiert. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Aussagen des Opfers glaubhaft sind und der Beschuldigte schuldig ist. Es wurde eine Geldstrafe und weitere Auflagen verhängt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts STBER.2020.60

Kanton:SO
Fallnummer:STBER.2020.60
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Strafkammer
Verwaltungsgericht Entscheid STBER.2020.60 vom 12.05.2021 (SO)
Datum:12.05.2021
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Opfer; Handlung; Aussage; Beschuldigten; Recht; Täter; Staat; Handlungen; Person; Opfers; Zunge; Schweiz; Verhalten; Kinder; Beruf; Urteil; Berufung; Gericht; Mutter; Täters; Interesse; Lippen; ähre
Rechtsnorm: Art. 10 StPO ;Art. 187 StGB ;Art. 189 StGB ;Art. 191 StGB ;Art. 198 StGB ;Art. 319 StPO ;Art. 32 BV ;Art. 34 StGB ;Art. 40 StGB ;Art. 41 StGB ;Art. 416 StPO ;Art. 42 StGB ;Art. 47 StGB ;Art. 5 BV ;Art. 50 StGB ;Art. 52 StGB ;Art. 53 StGB ;Art. 66a StGB ;Art. 8 EMRK ;
Referenz BGE:105 IV 225; 117 IV 7; 120 Ia 31; 125 IV 61; 133 I 33; 134 IV 97; 135 IV 130; 136 IV 1; 138 IV 120; 144 II 1; 144 IV 332; 145 IV 364; 146 IV 105;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts STBER.2020.60

 
Geschäftsnummer: STBER.2020.60
Instanz: Strafkammer
Entscheiddatum: 12.05.2021 
FindInfo-Nummer: O_ST.2021.45
Titel: sexuelle Handlungen mit einem Kind (Art. 187 Ziff. 1 StGB)

Resümee:

 

Obergericht

Strafkammer

 

 

 

 

 

 

Urteil vom 12. Mai 2021

Es wirken mit:

Präsident Marti

Oberrichter von Felten  

Oberrichter Kiefer

Gerichtsschreiberin Fröhlicher

In Sachen

Staatsanwaltschaft, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,

Berufungsklägerin

 

gegen

 

A.___, amtlich verteidigt durch Rechtsanwältin Eveline Roos

Beschuldigter

 

betreffend     sexuelle Handlungen mit einem Kind


Es erscheinen zur Verhandlung vor Obergericht:

-        Staatsanwalt B.___, i.A. der Anklägerin und Berufungsklägerin,

-        A.___, Beschuldigter,

-        Rechtsanwältin Eveline Roos, amtliche Verteidigerin,

-        MLaw Lea Leiser, Substitution von Rechtsanwältin Roos,

-        Rechtspraktikantin der Staatsanwaltschaft, Zuhörerin,

-        C.___(Partnerin des Beschuldigten), Zuhörerin,

-        eine Schulklasse, Zuhörer/Innen.

 

 

Der Vorsitzende eröffnet die Verhandlung, gibt die Zusammensetzung des Gerichts bekannt, stellt die weiteren Anwesenden fest und legt kurz den Prozessgegenstand, die teilweise in Rechtskraft erwachsene Ziffer 2 des angefochtenen Urteils sowie den geplanten Verhandlungsablauf dar. Er lädt die amtliche Verteidigerin ein, ihre Kostennote zu den Akten zu geben bzw. vorab dem Staatsanwalt zur allfälligen Stellungnahme vorzulegen.

 

Vorfragen/Vorbemerkungen der Parteien

 

Der Staatsanwalt hat keine Vorfragen.

 

Rechtsanwältin Leiser beantragt, es seien folgende Unterlagen zu den Akten zu nehmen:

-        Zahlungsarchiv-Auszug Raiffeisen-Bank,

-        Grundbuchauszug Liegenschaft […],

-        Kreditvertrag Migros-Bank.

 

Die Unterlagen werden von Rechtsanwältin Leiser dem Gericht und dem Staatsanwalt ausgehändigt.

 

Der Beschuldigte wird nach Hinweis auf seine Rechte und Pflichten zur Sache und zur Person befragt. Die Einvernahme wird mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet (Tonträger in den Akten).

 

Der Staatsanwalt hat keine Einwände gegen den Beweisantrag des Beschuldigten. Die eingereichten Unterlagen werden zu den Akten genommen.

 

Es werden keine Beweisanträge mehr gestellt, das Beweisverfahren wird demnach geschlossen.

Es stellen und begründen folgende Anträge:

Staatsanwalt B.___                            (gibt die Anträge in Schriftform zu den Akten)         

1.    Der Beschuldigte sei der sexuellen Handlungen mit Kindern i.S.v. Art. 187 Ziff. 1 StGB schuldig zu sprechen.

2.    Der Beschuldigte sei zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu verurteilen.

3.    Das Gericht werde ersucht, die seit Erlass des Strafbefehls eingetretenen Einkommens- und Vermögensveränderungen angemessen zu berücksichtigen und den Tagessatz entsprechend anzusetzen.

4.    Der Vollzug der Strafe sei bedingt aufzuschieben.

5.    Es sei eine Probezeit von zwei Jahren festzulegen.

6.    Die amtliche Verteidigung sei nach gerichtlichem Ermessen zu entschädigen.

7.    Die Kosten des Verfahrens seien dem Beschuldigten aufzuerlegen.

 

Das Plädoyer des Staatsanwalts wird mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet (Tonträger in den Akten).

 

 

Rechtsanwältin Leiser                        (gibt ihre Plädoyernotizen und Anträge vorab

                                                           in Schriftform zu den Akten)

 

1.    Die Berufung sei abzuweisen, das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen und A.___ sei vom Vorwurf der sexuellen Handlung mit einem Kind freizusprechen.

2.    Die Entschädigung der amtlichen Verteidigung sei in der Höhe der eingereichten Kostennote zu genehmigen, und die Kosten der amtlichen Verteidigung seien definitiv von der Staatskasse zu tragen.

3.    Die Kosten des Verfahrens seien vom Staat zu tragen.

 

 

Es verzichten der Staatsanwalt auf eine Replik, der Beschuldigte auf das letzte Wort und die Parteien auf eine mündliche Urteilseröffnung. Das Urteil wird ihnen demnach schriftlich eröffnet.

 

Die Verhandlung wird um 10:10 Uhr geschlossen.

 

_______

 

Die Strafkammer des Obergerichts zieht in Erwägung:

I. Prozessgeschichte

 

1. Am Samstag, 24. Februar 2018, 12:40 Uhr, meldete D.___, Bruder von C.___, der Alarmzentrale Solothurn einen mutmasslichen sexuellen Übergriff von A.___ (nachfolgend Beschuldigter) auf E.___ (nachfolgend Opfer). Der Beschuldigte war der damalige Lebenspartner von C.___, der Mutter des Opfers. Die drei wohnten damals gemeinsam an der […], wo sich am 20. Februar 2018, ca. 17:00 Uhr, der sexuelle Übergriff ereignet haben soll (Akten Seite [AS] 1 ff.). Gleichentags um 16:40 Uhr wurde C.___polizeilich befragt (AS 59 ff.).

 

2.  Am 26. Februar 2018 wurde gegen den Beschuldigten eine Strafuntersuchung eröffnet wegen Verdachts auf sexuelle Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB (AS 135 f.). Am 1. März 2018 wurde dem Beschuldigten eine amtliche Verteidigerin in der Person von Rechtsanwältin Eveline Roos bestellt (AS 137).

 

3. Am 2. März 2018 erfolgte eine polizeiliche Einvernahme des Beschuldigten (AS 110 ff.) und am 13. März 2018 eine Videobefragung des Opfers (AS 120 ff.).

 

4. Am 5. Juni 2018 meldete sich C.___ telefonisch bei der Polizei und teilte mit, sie wohne inzwischen wieder mit dem Beschuldigten zusammen und möchte das Strafverfahren einstellen lassen. Dies wünsche auch das Opfer (AS 132). Am 11. Juni 2018 erklärten das Opfer und ihre Mutter, C.___, schriftlich das Desinteresse am Strafverfahren gegen den Beschuldigten (AS 143).

 

5. Am 9. Mai 2019 erliess die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten wegen sexueller Handlungen mit einem Kind (AS 167 f.).

 

6. Am 16. Mai 2019 erhob der Beschuldigte Einsprache (AS 147).

 

7. Am 28. Juni 2019 überwies die Staatsanwaltschaft die Akten zur Beurteilung des Vorhalts gemäss Strafbefehl vom 9. Mai 2019 an das Gerichtspräsidium Dorneck-Thierstein (AS 152), unter Festhaltung am angefochtenen Strafbefehl.

 

8. Am 28. Mai 2020 erliess die Amtsgerichtsstatthalterin von Dorneck-Thierstein nachfolgendes Urteil (am 5. Juni 2020 wurde die Urteilsanzeige hinsichtlich der Entschädigung der amtlichen Verteidigerin rektifiziert, AS 246 ff. und 252 ff.):

 

«1.       A.___ wird vom Vorwurf der sexuellen Handlungen mit Kindern, angeblich begangen am 20. Februar 2018, ca. 17:00 Uhr in […], zum Nachteil der Geschädigten E.___, freigesprochen.

 

2.         Die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Eveline Roos, wird zufolge Freispruchs auf CHF 5'938.55 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und ist vom Staat Solothurn, vertreten durch die Zentrale Gerichtskasse, 4500 Solothurn, zu bezahlen.

 

3.         Die Verfahrenskosten von CHF 1’500.00 (inkl. einer Staatsgebühr von CHF 700.00 sowie Polizeikosten von CHF 600.00 und Gerichtsauslagen) hat der Staat Solothurn zu tragen.»

 

9. Am 12. Juni 2020 meldete die Staatsanwaltschaft gegen das rektifizierte Urteil die Berufung an (AS 262).

 

10. Nach Versendung des begründeten Urteils am 29. Juni 2020 (Akten Berufungsgericht [ASB] 2) erfolgte am 15. Juli 2020 die Berufungserklärung (ASB 6). Die Staatsanwaltschaft ficht das Urteil vollumfänglich an und beantragt einen Schuldspruch nach Art. 187 Ziff. 1 StGB und die Ausfällung einer bedingten Geldstrafe, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

 

11. Am 4. August 2020 teilte der Beschuldigte mit, er verzichte auf eine Anschlussberufung (ASB 12).

 

12. Am 22. Januar 2021 wurde zur Berufungsverhandlung auf den 12. Mai 2021 vorgeladen (ASB 16).

 

 

 

II. Gegenstand des Berufungsverfahrens und Inhalt der Anklage

 

Das Berufungsgericht hat das angefochtene Urteil in allen Punkten zu überprüfen, auch hinsichtlich der Kostenfolgen, wobei die Festsetzung des Honorars der amtlichen Verteidigerin für das erstinstanzliche Verfahren in Rechtskraft erwachsen ist. Auch wenn die Staatsanwaltschaft keinen entsprechenden Antrag stellt, ist zudem im Falle eines Schuldspruchs über die obligatorische Landesverweisung des Beschuldigten mit serbischer Staatsbürgerschaft (Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB) zu befinden.

 

Der Vorwurf des die Anklage bildenden Strafbefehls vom 9. Mai 2019 lautet wie folgt:

 

«Sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 StGB), begangen am 20. Februar 2018, um ca. 17:00 Uhr, in […], zum Nachteil von E.___, indem der Beschuldigte an der Geschädigten, welche unter 16 Jahre alt war (geb. xx.xx. 2002), eine sexuelle Handlung vornahm.

Konkret kam der Beschuldigte von der Arbeit nach Hause und fand E.___, die Tochter seiner Lebensgefährtin, auf dem Sofa sitzend vor. Kurze Zeit später legte er sich neben das Mädchen auf das Sofa, wobei er seinen Kopf auf dessen Intimbereich legte. Danach begann er den Oberschenkel des Mädchens zu massieren. Schliesslich rutschte er nach oben und küsste E.___ auf den Mund, wobei er versuchte, den Mund des Mädchens mit seiner Zunge zu öffnen. E.___ drehte sich in diesem Moment ab, stiess den Beschuldigten von sich, stand auf, sagte, dass sie das nicht wolle, und verliess das Wohnzimmer.»

 

 

 

III. Sachverhalt und Beweiswürdigung

 

1. Der Beschuldigte bestreitet den wesentlichen Sachverhalt. Er habe den Oberschenkel des Opfers nicht massiert, nur berührt. Zudem habe er ihr lediglich ein «Müntschi» gegeben. Der für das Berufungsgericht massgebende Sachverhalt ist somit anhand der vorliegenden Sach- und Personenbeweise zu erstellen.

 

 

 

2. Allgemeines zur Beweiswürdigung

 

 

2.1 Unschuldsvermutung

 

Im Strafverfahren gilt der Grundsatz «in dubio pro reo» (im Zweifel zugunsten des Angeklagten). Dieser steht in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung und gilt als Teilgehalt der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 10 Abs. 3 StPO sowie Art. 10 Abs. 1 StPO, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV). Der Grundsatz betrifft sowohl die Verteilung der Beweislast als auch die Würdigung der Beweise. Als Beweislastregel bedeutet er, dass die Anklagebehörde bzw. das Gericht die Schuld der beschuldigten Person zu beweisen hat und nicht diese ihre Unschuld nachweisen muss. Als Beweiswürdigungsregel besagt er, dass sich das Gericht nicht von der Existenz eines für die beschuldigte Person ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist verletzt, wenn das Gericht an der Schuld hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, das heisst um solche, die sich nach der objektiven Beweislage aufdrängen (BGE 120 Ia 31, E. 2).

 

2.2 Zur Glaubhaftigkeit von Aussagen Verfahrensbeteiligter

 

2.2.1 Bei der Prüfung des Wahrheitsgehalts von Zeugenaussagen hat sich die soge-nannte Aussageanalyse durchgesetzt. Überprüft wird dabei in erster Linie die Hypothese, ob die aussagende Person unter Berücksichtigung der Umstände, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Motivlage eine solche Aussage auch ohne realen Erlebnishintergrund hätte machen können. Methodisch wird die Prüfung in der Weise vorgenommen, dass das im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens durch Inhaltsanalyse (aussageimmanente Qualitätsmerkmale, sogenannte Realkennzeichen) und Bewertung der Entstehungsgeschichte der Aussage sowie des Aussageverhaltens insgesamt gewonnene Ergebnis auf Fehlerquellen überprüft und die persönliche Kompetenz der aussagenden Person analysiert werden. Dabei ist immer davon auszugehen, dass die Aussage nicht realitätsbegründet ist. Ergibt die Prüfung, dass diese Unwahrhypothese (Nullhypothese) mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen. Es gilt dann die Alternativhypothese, dass die Aussage wahr ist (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_298/2010, E. 2.3, mit Verweis auf BGE 133 I 33, E. 4.3; 129 I 49, E. 5). Weiter hat das Bundesgericht verschiedentlich ausgeführt, dass die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen primär Sache des Gerichts ist. Auf Begutachtungen sei nur bei besonderen Umständen zurückzugreifen (vgl. u.a. Urteil des Bundesgerichts 6B_165/2009, E. 2.5).

 

Die jüngere Lehre zur Aussagepsychologie hat sich eingehend mit der Methodik der Glaubhaftigkeitsbeurteilung auseinandergesetzt. Es kann an dieser Stelle insbesondere auf folgende Fachbeiträge verwiesen werden: Revital Ludewig / Daphna Tavor / Sonja Baumer, Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?, AJP 11/2011 S. 1415 ff.; Martin Hussels, Von Wahrheiten und Lügen – Eine Darstellung der Glaubhaftigkeitskriterien anhand der Rechtsprechung, forumpoenale 6/2012 S. 368 ff.; Susanna Niehaus, Zur Bedeutung suggestiver Prozesse für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen in Sexualstrafsachen, forumpoenale 1/2012 S. 31 ff.; Susanna Niehaus, Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Kinderaussagen, FamPra.ch 2/2010 S. 315 ff.; Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, «Zwischen Wahrheit und Lüge», Revital Ludewig / Sonja Baumer / Daphna Tavor [Hrsg.], Zürich/St.Gallen 2017, Einführung in die Aussagepsychologie, S. 17 ff.

 

Hervorzuheben ist dabei, dass bei der Abklärung einer möglichen absichtlichen Falschbezichtigung (Lügenhypothese) die Analyse der aussageübergreifenden Qualität (Konstanz) und der inhaltlichen Qualität der Aussage mittels inhaltlicher Glaubhaftigkeitsmerkmale bzw. sogenannter Realkennzeichen zentral ist. Mit einer hohen Aussagequalität lässt sich die Lügenhypothese widerlegen, wobei die Aussagequalität ausschliesslich unter Berücksichtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit und der bereichsspezifischen Erfahrungen und Kenntnisse der aussagenden Person sowie der Befragungsumstände bewertet werden kann (vgl. Niehaus, forumpoenale 1/2012, S. 33 f.).

 

Als Realkennzeichen, die auf einen erlebnisbasierten Hintergrund der Aussage hindeuten, gelten die folgenden, wobei sich auch andere Benennungen bzw. Darstellungen finden (Realkennzeichen gemäss Max Steller / Günter Köhnken; vgl. Ludewig/Tavor/Baumer, AJP 11/2011 S. 1425; Günter Köhnken, Glaubwürdigkeits-begutachtung, in: Gunter Widmaier [Hrsg.], Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung, München 2006, N 52 ff.):

 

«I.        Allgemeine Merkmale

1.         Logische Konsistenz (die Aussage ist in sich stimmig, innere und äussere Widerspruchslosigkeit, Folgerichtigkeit von Aussagenergänzungen)

2.         Ungeordnete Darstellung/Reproduktionsweise (die Handlung wird im freien Bericht sprunghaft, unstrukturiert und nicht chronologisch geschildert, ohne dass dabei gegen die logische Konsistenz verstossen wird)

3.         Quantitativer Detailreichtum (über das Kerngeschehen wird detailliert berichtet, z.B. Einzelheiten zu den Örtlichkeiten, der Wohnungseinrichtung, den behaupteten Handlungsverläufen und den beteiligten Personen)

 

II.         Spezielle Inhalte

1.         Raum-zeitliche Verknüpfungen / kontextuelle Einbettung (die Kernhandlung wird mit bestimmten örtlichen Verhältnissen, zeitlichen Gegebenheiten, bestimmten Gewohnheiten des Zeugen Personen im sozialen Umfeld verknüpft)

2.         Interaktionsschilderungen (Handlungen und Handlungsketten – Aktionen und Reaktionen – werden beschrieben, die sich gegenseitig bedingen und sich aufeinander beziehen)

3.         Wiedergabe von Gesprächen (Inhalte von Gesprächen, Gesprächssequenzen, Gesprächsketten werden wiedergegeben, Aspekt der Wechselseitigkeit, Konkretheit der Darstellung)

4.         Schilderung von Komplikationen (es wird von unvorhersehbaren Schwierigkeiten berichtet, von vergeblichen Bemühungen, wiederholten Versuchen, enttäuschten Erwartungen)

 

III.        Inhaltliche Besonderheiten

1.         Ausgefallene Einzelheiten (in der Aussage treten ungewöhnliche, einzigartige, absonderliche, überraschende, originelle Details auf, welche aber nicht unrealistisch, abstrus unmöglich sind)

2.         Schilderung von Nebensächlichkeiten (Einzelheiten werden geschildert, die für das Kerngeschehen in der Aussage unnötig sind, scheinbar belanglose Nebenumstände)

3.         Schilderung unverstandener Handlungselemente (Handlungen werden von der aussagenden Person – meist Kindern – nicht verstanden, aber sachgerecht beschrieben – z.B. Ejakulat als Spucke; allgemein nicht verstandene Interaktionsverläufe)

4.         Indirekt handlungsbezogene Schilderungen / externe Assoziationen (Handlungen werden geschildert, die dem Kerngeschehen ähnlich sind, die aber zu anderer Zeit mit anderen Personen stattgefunden haben)

5.         Schilderung eigener psychischer Vorgänge (Gedanken eigene gefühlsbezogene physiologische Abläufe werden beschrieben, die mit dem Kerngeschehen zusammenhängen; Schilderung von Affektverläufen, Erlebnisentwicklung, Entwicklungsverlauf der Einstellung zum Täter)

6.         Schilderung psychischer Vorgänge des Täters (vermutete Gedanken Gefühle, gefühlsbezogene physiologische Abläufe des Täters werden beschrieben)

 

IV.       Motivationsbezogene Inhalte

1.         Spontane Verbesserung der eigenen Aussage (der Inhalt der Aussage wird spontan präzisiert berichtigt)

2.         Eingeständnis von Erinnerungslücken (Erinnerungslücken und Wissenslücken werden spontan zugegeben)

3.         Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage (die Glaubhaftigkeit der eigenen Aussage der eigenen Person wird in Frage gestellt; die Darstellung wird z.B. als nicht plausibel, unwahrscheinlich merkwürdig kommentiert; die eigene Glaubwürdigkeit wird gewissermassen in Frage gestellt, die aussagende Person ist aber dennoch von der Richtigkeit der eigenen Angaben überzeugt)

4.         Selbstbelastungen / selbstbelastende Äusserungen (es wird ein vermeintliches Fehlverhalten gegenüber der beschuldigten Person geschildert; die aussagende Person belastet sich bezüglich gewisser Punkte selbst; sie stellt sich in ungünstiger Weise dar, z.B. Eigenbeteiligungen am behaupteten Geschehen, Ermutigungen, Fehlverhalten)

5.         Entlastung der beschuldigten Person (auf eine Belastung Mehrbelastung der beschuldigten Person wird verzichtet, obwohl dies naheliegend war; die aussagende Person entschuldigt die beschuldigte Person explizit implizit)

 

V.        Deliktsspezifische Inhalte

1.         Beschreibung von deliktsspezifischen Merkmalen (die Aussage weist Elemente auf, die mit empirisch-kriminologischen Kenntnissen typischer Begehungsformen solcher Delikte im Einklang stehen; der aussagenden Person ist dies nicht bekannt)»

 

Nach dem Gesagten kann also mithilfe der Realkennzeichen die Qualität einer Aussage ermittelt werden. Dabei sagt nicht allein das Vorhandensein von Realkennzeichen an sich etwas über die Glaubhaftigkeit einer Aussage aus, sondern es braucht den Vergleich zwischen der Aussagequalität und der (Erfindungs-)Kompetenz der aussagenden Person. Eine Fokussierung auf die Anzahl erfüllter Qualitätsmerkmale wäre daher irreführend. Die Realkennzeichen dürfen nicht im Sinne einer Checkliste verwendet werden. Kompetenzen, Erfahrungen und allfällige psychische Störungen der aussagenden Person sowie die Komplexität des vorgebrachten Geschehens müssen bei der Beurteilung mitberücksichtigt werden. Bei jungen Kindern minderbegabten Erwachsenen können einzelne prägnante Qualitätsmerkmale ausreichen, um einen Erlebnisbezug zu belegen. Bei gut begabten Jugendlichen Erwachsenen reicht dagegen das Vorliegen einer Reihe von wenig prägnanten Qualitätsmerkmalen dazu oft nicht aus (vgl. Ludewig/Tavor/Baumer, AJP 11/2011 S. 1427).

 

Neben der rein auf die erwähnten Realkennzeichen ausgerichteten Glaubhaftigkeitsanalyse des Aussageinhalts ist somit auch eine sog. Kompetenzanalyse hinsichtlich der aussagenden Person vorzunehmen. Dabei spielt die Aussagetüchtigkeit eine wesentliche Rolle, welche massgeblich von persönlichen Eigenschaften der aussagenden Person beeinflusst wird und etwa durch eingeschränkte kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt werden kann. Auch suggestive Einflüsse können die Aussagezuverlässigkeit beeinträchtigen, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Aussageentstehung und Aussageentwicklung zu richten ist. Schliesslich ist auch eine Motivationsanalyse vorzunehmen, bei der die Frage in den Vordergrund rückt, ob bei der aussagenden Person Motive für eine bewusste Falschaussage vorliegen (Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, «Zwischen Wahrheit und Lüge», Revital Ludewig / Sonja Baumer / Daphna Tavor [Hrsg.], Zürich/St.Gallen 2017, Einführung in die Aussagepsychologie, S. 53 ff., 71 ff., 79 ff.).

 

2.2.2 Eine beschuldigte Person erzählt im Gegensatz zu einem Zeugen / einer Zeugin bzw. einem Opfer im Regelfall nicht eine Geschichte, die sich unter Berücksichtigung der Aussageentstehung und -entwicklung anhand der Aussagequalität auf ihren Realitätsbezug überprüfen lässt. Eine beschuldigte Person ist aufgefordert, eine bestehende Geschichte zu bestätigen zu verneinen. Die Realkennzeichenanalyse ist damit bei beschuldigten Personen in aller Regel kein taugliches Mittel der Glaubhaftigkeitsbeurteilung. In der Aussagepsychologie wurden verschiedene Erkenntnisse zum Aussageverhalten schuldiger und unschuldiger Personen gewonnen: Ein Unschuldiger antwortet detailreich, spontan und ohne Ausflüchte. Er will die Wahrheit ans Licht bringen, ist gesprächig, kooperativ im Gespräch, bleibt beim Thema, verwendet treffende und starke Ausdrücke betreffend den Inhalt der Vorwürfe und beteuert die Unschuld spezifisch zum jetzigen Fall, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Ein Schuldiger erzählt demgegenüber so viel wie nötig und so wenig wie möglich; er neigt zu Auslassungen. Er will die Wahrheit verheimlichen, ist zurückhaltend, unkooperativ im Gespräch, weicht auf irrelevante Themen aus, verwendet schwache und ausweichende Ausdrücke betreffend den Inhalt der Vorwürfe und spricht nicht spontan über Unschuld (vgl. Referat von Daphna Tavor, Aussagepsychologie zur Beurteilung der Aussagen von Angeklagten, Seminar «Zwischen Wahrheit und Lüge», 10./11. Juni 2013, durchgeführt vom Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Universität St. Gallen, Kompetenzzentrum für Rechtspsychologie).

 

 

3. Sachbeweise

 

Als Sachbeweis kann im vorliegenden Fall die durchgeführte Telefonauswertung hinzugezogen werden. Diese beweist indes lediglich, dass zwischen dem Beschuldigten und der Mutter des Opfers nach der Tat mittels Textnachrichten intensiv über die Vorwürfe, die das Opfer erhob, diskutiert wurde. Immerhin ergibt sich aus den zahlreichen Textnachrichten, dass die Mutter des Opfers dem Beschuldigten vorwarf, das Opfer auf den Mund geküsst zu haben und dieser den Vorwurf nicht explizit abstritt. Stattdessen antwortete er, auf die Frage, weshalb er dies getan habe: «C.___, der Fluch bringt einen ins Verderben und ich habe mich umgehend entfernt…» (AS 53).

 

Im Weiteren ist auf die Textnachricht hinzuweisen (AS 119), welche E.___ nach dem Vorfall ihrer Mutter schrieb: «hei mam.. muess dir üpis sege es ish voll unagnehm aber A.___ het hüte wo er heime koh ish mich probiert zküsse undso .. han ihm gseit ob er sich ni shemt, 100 % wen du ihn ah spricht ka meta bo das er das ni gmacht het whie ather aber ich wird über so zügs ni liege! Han den bus gnoh bis dp und wart jetzt uf papi ich gang zu ihm hüte morn chumi heime und seg dir alles okej? Pash zotin» (übersetzt: ich schwöre Gott).

 

 

4. Aussagen der Verfahrensbeteiligten

 

4.1 Die Vorinstanz hat die Aussagen der Mutter des Opfers sowie des Beschuldigten in den Ziffern II.3 und II.5 zutreffend zusammengefasst. Darauf kann grundsätzlich verwiesen werden.

 

C.___ hat anlässlich ihrer Einvernahme vom 24. Februar 2018 im Wesentlichen gleichlautend wie das Opfer geschildert, wie sie über die mutmassliche Tat vom Opfer orientiert worden ist, was sich danach abgespielt hat und wie sich der Beschuldigte dazu geäussert hat. Die Schilderungen des Opfers ihr gegenüber stimmen auch inhaltlich im Wesentlichen mit den Angaben des Opfers anlässlich der polizeilichen Befragung überein.

 

Der Beschuldigte sagte anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 2. März 2018 aus, er habe eine Grippe gehabt und die ganze Familie angesteckt. Nach der Arbeit sei er nach Hause gekommen mit Kopf- und Gliederschmerzen sowie Fieber. E.___ habe zu ihm gesagt, es gehe ihr nicht gut, er habe sie angesteckt, worauf er zu ihr gegangen sei und seinen Kopf auf ihren Schoss gelegt habe. Dagegen habe sie keine Einwände gehabt. Das sei auch schon tausend Mal vorgekommen. Sie habe kurze Hosen angehabt, er habe den Kopf aber nicht auf ihren Intimbereich gelegt. Als er sie berührt habe, habe er bemerkt, dass sie glühe. Darauf habe er sich aufgesetzt. Es könne sein, dass er währenddessen ihren Oberschenkel gedrückt habe. Massiert habe er sie nicht. Er habe sie umarmen, trösten und sich bei ihr entschuldigen wollen für die Ansteckung. Deshalb habe er ihr ein «Müntschi» auf die Lippen gegeben. Die Zunge sei nicht im Spiel gewesen. Es sei dann ob der Reaktion des Opfers, das ihm auch ein «Müntschi» gegeben habe, erschrocken. Diese Reaktion sei für ihn ungewohnt gewesen, weshalb er sofort weggegangen sei. Er habe ihr in etwa gesagt, er habe das nicht gewollt. Er habe dabei keine Hintergedanken gehabt. Das Küssen auf die Lippen sei bisher fünf bis sechs Mal vorgekommen. Normalerweise habe sie aber nie die Lippen bewegt, wenn er ihr ein «Müntschi» gegeben habe. Dieses Mal sei es aus seiner Sicht anders gewesen, weil sie das «Müntschi» zurückgegeben habe. Um eine Eskalation zu verhindern, sei er auf die Toilette gegangen. Zuvor habe er ihr noch gesagt, die Sache sei geklärt und erledigt. Sie sei dann zu ihrem Vater gegangen. Er habe nicht die Absicht gehabt, an diesem Abend sexuellen Kontakt mit der Geschädigten zu pflegen. Es habe keinen sexuellen Hintergrund gegeben.

 

Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 5. Juni 2020 bestätigte der Beschuldigte seine Aussagen. Die Familie sei nun wieder zusammengekommen. Das Opfer, seine Lebenspartnerin und die gemeinsame jüngere Tochter hätten ungefähr zwei Monate nach dem Vorfall das Zusammenleben mit ihm wieder aufgenommen. Es habe sich um ein Missverständnis gehandelt. Er habe seine Lippen nicht gestreckt, weil er von ihr etwas gewollt habe, sondern vielmehr aus Mitleid und Trost wegen der Erkältung. Ihre Lippen hätten sich vielleicht für drei bis vier Sekunden berührt. Deshalb sei es ihm nicht wie ein «Müntschi» vorgekommen. Beim Opfer habe er sich entschuldigt, weil dieses den Vorfall anders interpretiert habe. Er habe sie nicht sexuell missbrauchen, sondern nur wie sein eigenes Kind trösten wollen.

 

Im Rahmen der Berufungsverhandlung vom 12. Mai 2021 sagte der Beschuldigte in Abweichung zu seinen früheren Aussagen aus, er habe ihren Oberschenkel von Anfang an berührt, als er seinen Kopf auf ihren Schoss gelegt habe; er habe seinen Kopf immer noch auf ihrem Schoss gehabt, als er sein Kinn, seine Lippen zu ihr hoch gestreckt habe, um sie zu einem Müntschi einzuladen; sie sei mit ihrem Kopf dann runter gekommen und habe ihn länger als erwartet geküsst. Zuvor hatte er demgegenüber jeweils ausgesagt, er habe ihr Bein beim Hochkommen berührt und das Müntschi habe er ihr gegeben, als er sich bereits aufgerichtet gehabt habe.

 

4.2 Videobefragung von E.___ vom 13. März 2018

 

E.___ wurde am 13. März 2018 von der Polizei als Auskunftsperson befragt. Die Befragung wurde auf Video aufgezeichnet. E.___ wurde vorab auf die Rechte und Pflichten einer Auskunftsperson, insbesondere auf die Strafbarkeit einer falschen Anschuldigung, hingewiesen.

 

Ob sie erzählen wolle, was geschehen sei: Sie wisse den Tag nicht mehr ganz genau. Sie sei alleine daheim gewesen. Sie habe kurze Hosen angehabt mit T-Shirt und sei am Liegen gewesen. Die Mutter sei am Arbeiten gewesen. Ihr Stiefvater sei dann von der Arbeit gekommen. Er habe gesagt, er sei müde. Er sei dann zu ihr liegen gekommen. Er sei dann mit dem Kopf an ihren Intimbereich gelegen. Dann sei es dazu gekommen, dass er immer mehr rauf gekommen sei und dann habe er sie auf den Mund geküsst. Dann habe er probiert, die Zunge mit ins Spiel zu bringen und dann sei bei ihr gar nichts mehr gegangen. Sie habe sich weggedrückt gehabt und ihm gesagt, sie wolle nicht. Er sei dann aufgestanden und habe sich zwei, drei Mal wiederholt im Sinne, «komm Lena, Du willst es doch auch, ich sehe das». Sie habe ihm geantwortet, dass sie nicht wolle, nicht wirklich, vor allem nicht mit dem Stiefvater. Sie habe dann gemacht, als wäre nichts gewesen, habe ihm gesagt ok, und habe wieder angefangen zu lachen. Dann habe sie sich angezogen und sei zu ihrem Vater gegangen. Es sei schon einen Tag vorher geplant gewesen, dass sie zu ihrem Vater gehe. Dann sei es wieder normal gewesen, sie habe etwa 15 – 20 Minuten auf den Bus warten müssen. Sie habe keine Lust mehr gehabt, mit ihm, dem Beschuldigten, unter einem Dach zu sein, ganz alleine.

 

Auf Nachfrage: Sie habe das Gefühl gehabt, ihr Stiefvater habe in den letzten Wochen immer ihre Nähe gesucht. Sie sei immer etwas weggegangen, habe sich aber nichts Schlimmes gedacht und auch ihrer Mutter nichts gesagt. Nach dem Vorfall vom 20. Februar 2018 habe sie aber dann gleich ihrer Mutter geschrieben.

 

Auf Nachfrage: Sie glaube, es sei während ihrer Ferien gewesen, sie glaube Dienstag. In den Sportferien. Es sei so Mitte, Ende Februar gewesen. Es könne der 20. gewesen sein. Es sei zu Hause passiert. Im Wohnzimmer auf der Couch. Sie sei gelegen und er sei dann auf sie gekommen, also nicht ganz, nur so gehockt. Sie habe eigentlich ein mega gutes Verhältnis mit ihm gehabt. Sie habe ihn wie einen Ersatzvater gesehen. Nach dem, was passiert sei, wolle sie ihn aber nicht mehr sehen. Er habe ihr bei Hausaufgaben geholfen, bei allem. Sie habe ihn wirklich gerne gehabt. Er sei wie ein Kollege für sie gewesen.

 

Es sei ein Ecksofa gewesen. (Sie beschreibt ihre Position, wie sie gelegen sei und zeichnet es auf einem Blatt auf). Er sei gekommen, mit dem Kopf da (zeichnet auf) und habe seine Hände bei ihren Oberschenkeln gehabt. Sie habe kurze Hosen gehabt. Er habe dann gesagt, sie habe kalt, obwohl sie warm gehabt habe, und angefangen sie zu massieren. Seine Hand sei da gewesen und die Beine da (zeichnet auf).

 

Sie sei gelegen. Er sei reingekommen, habe seine Jacke ausgezogen. Sie glaube, er sei noch in die Küche gegangen. Dann sei er zu ihr gekommen. Es sei eigentlich ziemlich schnell gegangen. Dann sei es passiert. Etwa nach zehn Minuten weniger sei er zu ihr gekommen. Sie habe ferngeschaut, sei am Handy gewesen, habe mit Kollegen geschrieben und Videos geschaut. Nachdem er gekommen sei und auf sie gelegen sei, sei sie immer noch am Handy gewesen und habe sich zuerst nichts gedacht dabei, gedacht es sei normal. Nachdem er sie dann geküsst habe, habe sie realisiert, dass es nicht so weit kommen sollte. Sie habe sich dann weggedreht. Dann sei er nervös geworden und habe ihr gesagt, sie wolle es doch auch. Sie habe sich dann aber geweigert. Ihre Hosen seien beim Liegen etwas raufgerutscht. Sie sei nicht gerade gelegen, mit dem Kopf etwas erhöht. Er sei dann gekommen und habe seinen Kopf bei ihrem Intimbereich hingelegt (zeigt auf ihren Intimbereich). Die Hand habe er auf ihrem Oberschenkel gehabt und dann angefangen herumzudrücken. Da habe sie sich schon ein bisschen gewundert, aber noch nichts gesagt. Als er sie dann geküsst habe, sei bei ihr nichts mehr gewesen. Die Hand habe er schon über der Hose gehabt, halb auf der Haut, halb auf der Hose. Er habe die Hand nicht in die Hose gesteckt. Sie habe sich da noch nichts gedacht. Erst nach dem Massieren, habe sie sich Gedanken gemacht. Sie könne das Massieren nicht genauer beschreiben, wie weit er dabei rauf runter gekommen sei. Das Massieren habe vielleicht eine Minute, zwei Minuten gedauert. Dann sei er rauf gekommen. Er sei auf der Seite gelegen, die andere Hand ganz unten, also quasi unter ihm. Er sei dann langsam raufgekommen und habe sie geküsst. Sie habe dann gedacht, irgendetwas sei falsch mit ihm, er habe es vielleicht nicht wollen. Aber dann nach zwei drei Mal und als er dann auch mit der Zunge gekommen sei, sei für sie klar gewesen, das könne nur eine Bedeutung haben. Dann habe sie den Kopf weggedreht und sei aufgestanden.

 

Wie der Kuss gewesen sei: Er habe so geküsst, wie Pärli, die sich schnell küssen, mitten aufs Maul. Dann sei es nochmal passiert und nochmal und dann mit Zunge. Sie habe aber den Mund nicht aufgemacht. Er habe so wie mit der Zunge versucht, ihren Mund aufzumachen, es sei ihr vorgekommen, wie er versuchen würde, sie zum Mitmachen zu bewegen. Er habe sie drei Mal auf den Mund geküsst. Ohne Pause, drei schnelle Küsse nacheinander. Beim vierten Mal habe sie dann die Zunge gespürt. Dann habe sie gedacht, nein, das geht nicht. Dies mit der Zunge sei nicht lange gegangen, sie habe sich gleich weggezogen. Sie habe den Kopf weggedreht. Sie habe ihn noch gefragt, ob er sich nicht schäme, für das, was er jetzt gemacht habe. Er sei dann nervös geworden und habe eben gesagt, sie wolle es doch auch. Sie habe nein gesagt. Er sei aufgestanden. Dann habe er ihr gesagt, er mache es nicht mehr und dabei hätten sie die Hände abgeklatscht. Sie habe dann getan, wie wenn nichts wäre und sie ihm verzeihen würde und gesagt, sie werde der Mutter nichts sagen. Sie habe dann gesagt, sie gehe zu ihrem Vater.

 

Er sei normal angezogen gewesen. Sie habe unter ihrer Hose noch Unterwäsche angehabt. Wie er auf die Idee gekommen sei, dass sie es auch wolle? Sie wisse es nicht, sie denke, weil sie beim ersten Kuss nicht gleich weggezogen habe. Sie habe zuerst gedacht, es sei ein Versehen gewesen. Es sei ganz schnell gegangen. Er habe sie vorher nie auf den Mund geküsst. Umarmungen habe es gegeben, das sei normal. Sie habe mal Rückenprobleme gehabt und ihn gebeten, sie zu massieren. Dass er das von sich aus einfach so gemacht habe, sei jedoch vorher nie vorgekommen. Sie habe sich deshalb gewundert.

 

Es sei ihr in der letzten Zeit schon so vorgekommen, dass er ihre Nähe gesucht habe. Das sei auch auf dem Sofa gewesen. Dabei sei es auch vorgekommen, dass er ihre Oberschenkel berührt habe. Das sei jeweils vorgekommen, wenn sie alleine gewesen seien. Er sei ihr auch manchmal wie hinterhergekommen, als sie in die Küche gegangen sei. Sie wisse nicht, ob er dabei eine Absicht gehabt habe ob es ihr nur so vorgekommen sei. Einmal habe sie im Bett Aufgaben gemacht. Sie sei gelegen. Einmal habe sie dabei Hilfe gebraucht und ihn gerufen. Er sei dann ganz nahe zu ihr gelegen, es habe keinen Platz dazwischen gehabt. Sie seien wie aneinandergeklebt gewesen. Sie habe sich dabei aber nichts gedacht. Erst nach dem Vorfall vom 20. Februar2018 sei ihr das wieder aufgefallen.

 

Nachdem sie dann nach dem Vorfall vom 20. Februar 2018 zu ihrem Vater gegangen sei, habe sie ihre Mutter informiert. Zu Hause habe die Mutter ihn dann angesprochen. Er habe dabei aber nicht reagiert. Er habe nur Nein und Nein gesagt, nichts weiter. Sie habe es nur der Mutter erzählt. Den Kollegen nicht. Das sei nicht leicht. Sie habe ihrer Mutter zuerst geschrieben. Sie habe erst nachher mit ihr reden können. Es falle ihr schwer, darüber zu sprechen. Er sei sechs Jahre bei ihnen gewesen und nachdem das passiert sei, sei es für sie wie ein Schlag ins Herz gewesen. Sie (die Mutter und der Stiefvater) hätten sich dann kurz nach dem Vorfall getrennt. Jetzt habe sie keinen Kontakt mehr mit ihrem Stiefvater. Sie wolle ihn nicht mehr sehen mit ihm Kontakt haben. Sie möchte ihn am liebsten vergessen. Das sei aber nicht leicht. Sie hätten viel Schönes erlebt in den sechs Jahren.

 

Sie sei in den ersten drei Tagen gar nicht zur Schule gegangen. Es habe sie wie «abe gmacht». Mittlerweile könne sie damit leben. Es gehe ihr aber nicht wirklich besser. Sie brauche viel Ruhe und sei empfindlich auf Lärm. Sie sei innerlich wie zerstört.

 

Nach einem Unterbruch:

 

Sie sei beim Vorfall nicht erkältet krank gewesen. Er habe seinen Kopf etwa fünf bis zehn Minuten bei ihr auf dem Intimbereich gehabt. Sein Kopf habe gegen den Fernseher geschaut. Er sei auf seiner linken Körperseite gelegen. Sie wisse nicht, ob er ferngeschaut seine Augen geschlossen gehabt habe. Wie lange jeder einzelne Kuss gedauert habe? Es sei eher kurz gewesen, so drei Mal kurz und schnell nacheinander. Dies mit der Zunge habe etwas länger gedauert, weil er versucht habe, ihren Mund zu öffnen, bis sie weggezogen habe. Sie könne es nicht wirklich richtig beschreiben. Sie denke, es habe schon etwa zehn Sekunden gedauert, dies mit der Zunge, bis sie es dann wirklich realisiert habe und habe reagieren können. Die Zunge habe sie auf der Mitte ihres Mundes gespürt. Sie habe zuerst die Zungenspitze gespürt und wie er dann versucht habe so wie reinzudrücken. Er sei aber nicht wirklich weit reingekommen mit der Zunge. Sie habe etwa zwei cm der Zunge gespürt (zeigt das mit zwei Fingern). Sie habe lange gebraucht, bis sie realisiert habe, was ablaufe. Sie sei am Handy gewesen und die drei Küsse seien mega schnell gegangen, ein, zwei Sekunden. Sie habe nicht mal Zeit gehabt zu reagieren. Alles in allem sei so 20 Sekunden gewesen, mit dem Küssen. Sie habe gar nichts mit dem Mund gemacht. Sie habe zuerst noch ein Foto mit dem Handy machen wollen, das dann aber nicht gemacht, weil sie gedacht habe, sie mache sich strafbar. Sie habe ihre Lippen immer verschlossen gehabt, zusammengepresst.

 

 

5. Beweiswürdigung und rechtserheblicher Sachverhalt

 

Eine Analyse der Videobefragung des Opfers E.___ zeigt, dass deren Aussagen zahlreiche Glaubhaftigkeitskriterien erfüllen. An der Aussagetüchtigkeit des Opfers ist nicht zu zweifeln. Ebenso sind keine Gründe ersichtlich, wieso das Opfer ihren Stiefvater zu Unrecht falsch anschuldigen und sich damit strafbar machen sollte. Die Anschuldigungen hatten vorübergehend einen familiären Bruch mit dem Beschuldigten zur Folge, was ohne entsprechenden Vorfall sicherlich nicht im Sinne von E.___ gewesen wäre, schätzte sie den Beschuldigten doch sehr. Schliesslich gibt es auch keine Hinweise auf suggestive Effekte. Zwar hat das Opfer das Geschehene zuerst ihrer Mutter erzählt und hernach kam es zu Vorhaltungen an den Beschuldigten, bevor das Opfer polizeilich befragt wurde. Beim Opfer handelt es sich jedoch um ein im Tatzeitpunkt knapp 16-jähriges Mädchen und nicht um ein leicht beeinflussbares Kleinkind.

 

Die Aussagen des Opfers sind sehr detailliert und enthalten zahlreiche raum-zeitliche Verknüpfungen. So schilderte das Opfer nachvollziehbar seine Position und die des Beschuldigten auf dem Sofa und wie lange das Massieren und das Küssen in etwa dauerte. Bereits der Beginn der Schilderungen in freier Rede besticht durch Detailreichtum. Interaktions- und Konversationsinhalte werden detailliert geschildert. Auffällig ist dabei etwa auch die Reaktion des Opfers, sie habe dann, nachdem sie dem Stiefvater gesagt habe, dass sie das nicht wolle (und er zuvor gesagt habe, sie wolle doch auch), getan, als wäre nichts gewesen und wieder angefangen zu lachen. Dies ist eine spezielle Schilderung, die man kaum erfindet.

 

Auch im weiteren Verlauf der Einvernahme schildert das Opfer auf konkrete Nachfragen zahlreiche Details, eigene Gefühle, wahrgenommene Gefühle des Beschuldigten, Handlungs- und Konversationsinhalte, die einander gegenseitig bedingen und wiederum plastische raum-zeitliche Verknüpfungen. Ein sehr starkes Glaubhaftigkeitskriterium ist auch, dass das Opfer keinerlei Belastungseifer an den Tag legt, vielmehr den Beschuldigten mehrfach in Schutz nimmt: Sie habe eigentlich ein mega gutes Verhältnis gehabt mit ihm. Er habe ihr bei Hausaufgaben geholfen, bei allem. Sie habe ihn wirklich gerne gehabt. Ihre Schilderungen enthalten auch Selbstbelastungen, die wiederum geeignet sind, den Beschuldigten zu entlasten: Wie er auf die Idee gekommen sei, dass sie es auch wolle? Sie wisse es nicht, sie denke, weil sie beim ersten Kuss nicht gleich weggezogen habe. Sie habe zuerst gedacht, es sei ein Versehen gewesen. Sie habe lange gebraucht, bis sie realisiert habe, was ablaufe. Zuerst habe sie noch gedacht, er habe es vielleicht nicht wollen.

 

Das Opfer gibt auch mehrfach Unsicherheiten offen zu: Sie könne das Massieren nicht genau beschreiben, auch nicht, wie weit er rauf runter gekommen sei. Sie wisse nicht, ober er ferngeschaut seine Augen geschlossen gehabt habe, bevor er zu ihr raufgekommen sei, um sie zu küssen. Die drei Küsse seien eher kurz gewesen, drei Mal hintereinander (eindrücklich ist auch der Vergleich, den das Opfer anstellt: wie ein Pärchen, dass sich schnell küsst, weil es keine Zeit hat), das mit der Zunge habe etwas länger gedauert, weil er versucht habe, ihren Mund zu öffnen, bis sie weggezogen habe. Sie könne es nicht wirklich beschreiben. Sie denke es habe etwa zehn Sekunden gedauert, dies mit der Zunge, bis sie es wirklich realisiert habe und habe reagieren können.

 

Den ganzen Kussvorgang schilderte das Opfer sehr einlässlich und plastisch: die ersten drei Küsse seien schnell aufeinander gefolgt. Sie habe dann beim vierten Kuss die Zungenspitze auf der Mitte ihres Mundes gespürt. Sie habe zuerst die Zungenspitze gespürt, und wie er versucht habe, diese reinzudrücken. Sie habe die Lippen verschlossen und zusammengepresst. Sie selber habe gar nichts mit dem Mund gemacht. Er habe so wie mit der Zunge versucht, ihren Mund aufzumachen, es sei ihr vorgekommen, wie wenn er versuchen würde, sie zum Mitmachen zu bewegen. Dabei schilderte sie auch ihre eigenen Gedanken und Gefühle: Sie habe sich zuerst nichts dabei gedacht. Als er dann angefangen habe zu massieren, habe sie sich schon ein wenig gewundert. Er habe das vorher noch nie einfach so gemacht (nur einmal, als sie Rückenschmerzen gehabt habe, da habe sie ihn aber gebeten, sie zu massieren). Als er sie dann geküsst habe, sei bei ihr nichts mehr gewesen. Da habe sie realisiert, dass es nicht so weit kommen sollte, und habe sich dann weggedreht. Sie sei dann extra früh gegangen, weil sie keine Lust mehr gehabt habe, mit ihm unter einem Dach zu sein. Deswegen habe sie 15 – 20 Minuten auf den Bus warten müssen (als sie zum Vater gegangen sei).  Das, was passiert sei, sei für sie wie ein Schlag ins Herz gewesen. Sie fühle sich immer noch innerlich wie zerstört.

 

Das Opfer schilderte auch Gefühle des Täters, die es meint, wahrgenommen zu haben: als sie ihn gefragt habe, ob er sich nicht schäme, habe sie gesehen, dass er nervös werde.

 

Was das Küssen anbelangt, schildert das Opfer lediglich ein versuchtes Eindringen der Zunge in ihren Mund. Das vollständige Eindringen habe sie durch zusammenpressen der Lippen verhindern können. Damit schildert das Opfer eine Komplikation im vom Täter geplanten Handlungsablauf, was ebenfalls ein Realitätskennzeichen darstellt.

 

Auch spezielle Vorkommnisse Schilderungen über Dinge, die nicht unbedingt zu erwarten gewesen wären, und Nebensächlichkeiten stellen Realkennzeichen dar: Als sie dann getan habe, wie wenn wieder alles gut wäre, und gelacht habe, hätten sie sich die Hände abgeklatscht. Während des ganzen Küssvorgangs, drei schnelle Küsse und dann den etwa zehn Sekunden dauernden (versuchten) Zungenkuss, alles in allem während insg. ca. 20 Sekunden, habe sie noch ein Foto mit dem Handy machen wollen. Sie habe das dann aber nicht gemacht, weil sie gedacht habe, sie mache sich strafbar.        

 

Alles in allem erscheinen die Aussagen anlässlich der Videobefragung fast wie aus einem Lehrbuch zur Schilderung aller möglichen Realkennzeichen. Die Aussagen des Opfers sind daher als äusserst glaubhaft zu betrachten. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Opfer später ihr Desinteresse am Strafverfahren erklärte und mit ihrer Mutter offenbar aktuell wieder mit dem Beschuldigten zusammen wohnt.

 

Die Aussagen des Beschuldigten sind in keiner Weise geeignet, diese äusserst glaubhaften Aussagen des Opfers zu widerlegen auch nur Zweifel an deren Wahrheitsgehalt zu sähen. Einerseits spricht der Beschuldigte immer wieder von einem «Müntschi», wie er dies bei seiner eigenen Tochter auch tue. Andererseits räumt er ein, das Opfer auf den Mund geküsst zu haben. Er habe das Opfer bisher fünf bis sechs Mal auf den Mund geküsst. Das Küssen auf den Mund bei einer bald 16-jährigen Stieftochter erscheint kaum als adäquates Verhalten. Das Opfer bestreitet denn auch glaubhaft, vom Beschuldigten vorher jemals auf den Mund geküsst geworden zu sein. Sehr speziell, um nicht zu sagen realitätsfremd, mutet denn auch die Aussage des Beschuldigten an, ab der Reaktion des Opfers, das ihm auch ein «Müntschi» gegeben habe, erschrocken zu sein. Diese Reaktion sei für ihn ungewohnt gewesen, weshalb er sofort weggegangen sei. Er sei auf die Toilette gegangen, um eine Eskalation zu verhindern. Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung sprach er dann von «Lippe strecken», aus Mitleid und Trost, weil er sie mit der Grippe angesteckt habe. Ihre Lippen hätten sich während etwa drei bis vier Sekunden berührt, weshalb es ihm nicht wie ein «Müntschi» vorgekommen sei. Es sei ein Missverständnis gewesen. Diese Aussage wirft unweigerlich die Frage auf, wie man während drei bis vier Sekunden seine Lippen an die Lippen der 16-jährigen Stieftochter halten und dann darob erschreckt sein kann (braucht es doch für das Lippen-Aneinander-halten zwei Personen). Das Aussageverhalten des Beschuldigten mutet fast ein wenig an, als ob er sich als Opfer darstellen will, eine Verteidigungsstrategie die im Übrigen bei sexuellem Missbrauch im familiären Nahbereich oft zu beobachten ist.

 

Als Fazit der Beweiswürdigung ist somit von folgendem rechtserheblichen Sachverhalt auszugehen: Der Beschuldigte legte sich zu seiner auf dem Sofa liegenden Stieftochter und legte seinen Kopf während etwa fünf bis zehn Minuten auf ihren Intimbereich. Dabei massierte er während ein bis zwei Minuten mit seiner Hand den Oberschenkel des Opfers, wobei sich die Hand halb auf der kurzen Hose, halb auf der Haut befand. Hernach näherte er sich mit seinem Kopf dem Kopf des Opfers an und küsste dieses drei Mal kurz nacheinander mit den Lippen auf den Mund. Beim vierten Kuss versuchte er während einigen Sekunden, seine Zunge in den Mund des Opfers zu schieben, was dieses durch Zusammenpressen der Lippen verhinderte. Danach drehte sich das Opfer ab und fragte den Beschuldigten, ob er sich nicht schäme. Beide standen auf, der Beschuldigte entgegnete, das Opfer wolle es doch auch, was Letzteres verneinte.

 

 

IV. Rechtliche Würdigung

 

1. Der Begriff der sexuellen Handlung ersetzt den im früheren Recht verwendeten Begriff der unzüchtigen Handlung. Als unzüchtig im Sinne von aArt. 191 StGB galt, «was das durchschnittliche sittliche Empfinden der heutigen Wohnbevölkerung der Schweiz in nicht leicht zu nehmender Weise verletzt», wobei jeweils die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen waren. In der Lehre war umstritten, ob die Handlung sowohl objektiv auf Sexualität bezogen als auch subjektiv darauf gerichtet sein musste, eigene fremde Sinneslust zu erregen zu befriedigen. Nach neuem Recht muss das Verhalten objektiv, aus Sicht eines aussenstehenden Betrachters, einen Bezug zum Geschlechtlichen aufweisen, um als sexuelle Handlung zu gelten, wobei die gesamten objektiven Umstände des sexuellen Übergriffs zu berücksichtigen sind. Bei dieser objektiven Betrachtungsweise bleibt das subjektive Empfinden, die Motive die Bedeutung, die das Verhalten für den Täter das Opfer hat, ausser Betracht. Die frühere Praxis, die objektiv nicht unzüchtiges Verhalten allein wegen der Absicht des Täters noch als unzüchtig wertete, ist nach neuem Recht abzulehnen. Eindeutig sexualbezogene Handlungen erfüllen stets den objektiven Tatbestand. Immerhin mag in Zweifelsfällen, insb. bei sog. ambivalenten Handlungen, die weder äusserlich neutral noch eindeutig sexualbezogen erscheinen, ein Rückgriff auf die Motivation des Täters notwendig sein. Nach heute vorherrschender Lehre und Rechtsprechung lassen sich sexuelle Handlungen somit nach der Eindeutigkeit ihres Sexualbezuges abgrenzen. Keine sexuellen Handlungen sind Verhaltensweisen, die nach ihrem äusseren Erscheinungsbild keinen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen. Als sexuelle Handlungen gelten hingegen Verhaltensweisen, die nach ihrem äusseren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen sind. Solange es «an jeglicher Erkennbarkeit des Bezugs zur Sexualität» fehlt bzw. Verhaltensweisen nach ihrem äusseren Erscheinungsbild keinen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen, ist auch bei allgemein üblichen, alltäglichen Zärtlichkeiten davon auszugehen, dass es sich um keine sexuellen Handlungen handelt. Die Feststellung, dass eine strafrechtlich relevante sexuelle Handlung vorliegt, ist ein Werturteil; dabei ist notwendig, dass die Handlung «im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit» ist. Das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Erheblichkeit dient dazu, sozialadäquate Handlungen von der Strafbarkeit auszunehmen. Eine Vielzahl von an sich noch nicht erheblichen sexuellen Verhaltensweisen kann in einem Gesamtkontext u. U. als sexuelle Handlung qualifiziert werden, mithin sind auch Ereignisse in die Würdigung miteinzubeziehen, welche der im Zentrum der Beurteilung stehenden Handlung vorausgegangen nachgefolgt waren. Der Begriff der sexuellen Handlung ist deshalb relativ; ein Verhalten kann im Zusammenhang mit Art. 187 StGB darunterfallen, bei den Delikten gegen die sexuelle Freiheit jedoch nicht. Bedeutsam für die Beurteilung sind qualitativ die Art und quantitativ die Intensität und Dauer der Handlung, wobei stets die gesamten Begleitumstände zu berücksichtigen sind. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass Art. 198 StGB allenfalls als Auffangtatbestand dienen kann, wenn die Verletzung des Rechtsgutes nicht erheblich ist und so die entsprechenden Tatbestände nicht zur Anwendung gelangen. Das bloss Unanständige, Unangebrachte, Anstössige, Geschmacklose, Unschamhafte, Widerwärtige soll aus dem Strafbaren ausscheiden. In Zweifelsfällen muss die Erheblichkeit somit immer mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalles beurteilt werden, wobei etwa das Alter des Opfers, der Altersunterschied zum Täter, die Beziehung zwischen Täter und Opfer, der Tatort, Dauer und Intensität der Einwirkung, die Unüblichkeit bzw. Alltäglichkeit der Handlung sowie das Abwehrverhalten bzw. Bemühen des Opfers eine Rolle spielen. In einem konkreten Fall qualifizierte das Bundesgericht ein Berühren eines Beines und Oberschenkels bzw. den Versuch einer Umarmung und eines Kusses als sexuelle Handlung. Dies vor dem Hintergrund, dass sich der Täter (Arbeitgeber) dem Opfer systematisch über längere Zeit verbal und körperlich am gemeinsamen Arbeitsplatz aufgedrängt hatte und schliesslich versuchte, es zu vergewaltigen. Keine sexuellen Handlungen sind ein leichter Klaps aufs Gesäss, das Vorzeigen des entblössten Gesässes zwecks Beschimpfung die objektiv nicht direkt auf sexuelles Verhalten hinweisende Hilfeleistung beim Duschen, Baden und Verrichten der Notdurft, auch wenn sie in Anbetracht der Selbständigkeit der Kinder nicht notwendig wäre. Der Griff an Geschlechtsteile, das Berühren der Brüste, das Betasten der Oberschenkel unter dem Rock, das Betasten des Gesässes wurden von der Praxis zum alten Recht durchwegs als unzüchtig eingestuft. Inwieweit das Berühren und Betasten sekundärer Geschlechtsorgane unter neuem Recht als sexuelle Handlungen zu qualifizieren sind, hängt von den konkreten Umständen, insbesondere von Intensität und Dauer ab, auch von den Beziehungen unter den Beteiligten. Das flüchtige Berühren der bedeckten weiblichen Brust dürfte weiterhin, wenn es absichtlich geschieht, eine sexuelle Handlung darstellen. «Necking», intensives Streicheln erogener Zonen, bleibt eine sexuelle Handlung. Während das Küssen auf Mund, Wangen usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert. (Trechsel/Bertossa, Praxiskommentar StGB, Art. 187 StGB, Rz. 5 und 6; Basler Kommentar StGB I, vor Art. 187 StGB, Rz. 31 – 34 und Art. 187 StGB, Rz. 11, jeweils mit zahlreichen Hinweisen).

 

2. In BGE 125 IV 61 führte das Bundesgericht in Erwägung 3 folgendes aus (mit zahlreichen Hinweisen):

 

«a) Die Revision des Sexualstrafrechts strebte eine behutsame Liberalisierung an. Sexuelles Verhalten soll danach nur strafbar sein, wenn es einen andern schädigt schädigen könnte, wenn ein Partner in ein solches Verhalten nicht in verantwortlicher Weise einwilligen kann wenn jemand davor bewahrt werden soll, sexuelle Handlungen gegen seinen Willen wahrzunehmen. Art. 187 StGB trat in der Revision an die Stelle des Art. 191 aStGB und ersetzte den altrechtlichen Ausdruck unzüchtige Handlung durch den Begriff der sexuellen Handlung. Als unzüchtig galt ein Verhalten, das das durchschnittliche sittliche Empfinden in nicht leicht zu nehmender Weise verletzt. Wann dies der Fall war, entschied sich nach den Umständen des Einzelfalls und hing insbesondere von den persönlichen Beziehungen der Beteiligten ab. Das neue Recht bestraft nicht mehr Handlungen gegen die Sittlichkeit, sondern gegen die sexuelle Integrität. Bei Art. 187 StGB tritt zusätzlich der Jugendschutz in den Vordergrund.

Bei der inhaltlichen Bestimmung der sexuellen Handlungen mit Kindern ist grundsätzlich von der Rechtsprechung zu Art. 191 Ziff. 2 aStGB auszugehen und diese unter dem Gesichtspunkt der Revisionsziele neu zu gewichten, nämlich des Schutzes der Jugend und der sexuellen Selbstbestimmung vor dem Hintergrund des Persönlichkeitsrechts auf sexuelle Integrität.

b) Sexuelle Handlungen lassen sich nach der Eindeutigkeit ihres Sexualbezugs abgrenzen. Keine sexuellen Handlungen sind Verhaltensweisen, die nach ihrem äusseren Erscheinungsbild keinen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen. Als sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB gelten hingegen Verhaltensweisen, die für den Aussenstehenden nach ihrem äusseren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen sind. Bei dieser objektiven Betrachtungsweise bleibt das subjektive Empfinden, die Motive die Bedeutung, die das Verhalten für den Täter das Opfer hat, ausser Betracht. Eindeutig sexualbezogene Handlungen erfüllen stets den objektiven Tatbestand. Auf die Motive des Täters kommt es nicht an).

Schwierigkeiten bietet dagegen die dritte Gruppe der sogenannten ambivalenten Handlungen, die weder äusserlich neutral noch eindeutig sexualbezogen erscheinen. Nach HANGARTNER verzichtet die herrschende Lehre auch bei dieser Gruppe auf ein subjektives Element, während eine Minderheit in Zweifelsfällen auf die Motivation des Täters zurückgreife. Während HANGARTNER und HORN bei ambivalenten Handlungen mangels eindeutiger äusserer Erkennbarkeit eine sexuelle Handlung verneinen und JENNY zum Ergebnis gelangt, dass die verbleibenden Zweifelsfälle an der Grenze des Strafbedürftigen liegend als unerheblich ausscheiden sollten, nimmt STRATENWERTH an, am Rückgriff auf die Motivation des Täters scheine gelegentlich kein Weg vorbei zu führen.

Nach den Revisionszielen kann sich der Begriff der sexuellen Handlung nur auf Verhaltensweisen erstrecken, die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut erheblich sind. Wie JENNY ausführt, können geringfügige Entgleisungen die sexuelle Entwicklung schwerlich gefährden und bietet bei aufgedrängten Annäherungen der Tatbestand der sexuellen Belästigung (Art. 198 StGB) einen weitergehenden Schutz. Das bloss Unanständige, Unangebrachte, Anstössige, Geschmacklose, Unschamhafte, Widerwärtige soll aus dem Strafbaren ausscheiden. In Zweifelsfällen wird man indessen nach den Umständen des Einzelfalls die Erheblichkeit auch relativ bestimmen müssen, so etwa nach dem Alter des Opfers dem Altersunterschied zum Täter.

Dies gilt insbesondere bei der Beurteilung des sexuellen Charakters von Küssen. Während das Küssen auf Mund, Wangen usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert.

c) Vorliegend rief der knapp 33-jährige Beschwerdeführer das gut 10-jährige, ihm völlig unbekannte Mädchen in die hinteren Geschäftsräumlichkeiten, gab ihm Schokolade, umschlang es dann mit seinen Armen, hob es hoch, presste es längere Zeit und immer wieder fest an sich, wobei er es auch mit beiden Händen am Gesäss fasste, es wiederholt mehrmals auf den Mund küsste und dabei auch den Zungenkuss versuchte. Es kann daher weder von flüchtigen Berührungen geringfügigen Entgleisungen gesprochen werden noch von <üblichen Küssen und Umarmungen>, wie sie in Familien- und Freundschaftskreisen gepflegt werden mögen. Wie das Bezirksgericht ausführte, geht das angeklagte Verhalten gerade auch angesichts der Tatsache, dass das Mädchen dem Beschwerdeführer völlig unbekannt war, weit über den Ausdruck von Freude und Zuneigung einem Kind gegenüber hinaus. Vielmehr handelte es sich um eine aufgezwungene Küsserei in einer minutenlangen, unfreiwilligen, pressenden Umarmung bzw. Umfassung des Gesässes. In diesem Zusammenhang schliesst der am Widerstand des Mädchens letztlich gescheiterte Zungenkuss jede Einordnung unter die Gruppe der ambivalenten Verhaltensweisen aus und lässt sie für den Aussenstehenden nach ihrem äusseren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen erscheinen. Dieses Erscheinungsbild wird zudem geprägt durch das Kindesalter des Mädchens und die Altersdifferenz zum Täter, die Dauer und Intensität des Vorgehens und den Rückzug in die hinteren Räumlichkeiten.

Solche Handlungen greifen eindeutig in die sexuelle Integrität eines Mädchens ein. Die mit der Revision des Sexualstrafrechts angestrebte behutsame Liberalisierung strebte in keiner Weise an, den strafrechtlichen Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung durch Erwachsene zu relativieren. Der Beschwerdeführer wurde deshalb zu Recht der sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) und der sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) schuldig gesprochen.»

 

3. Im Entscheid vom 15. Februar 2011 (6B_7/2011) hatte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt zu beurteilen: Der dreissigjährige Täter näherte sich dem zehnjährigen Opfer im Lift des gemeinsam bewohnten Mehrfamilienhauses auf der Fahrt vom Erdgeschoss in den ersten Stock an. Er roch an ihren Haaren, küsste sie auf die Wange, drehte schliesslich ihr Gesicht mit seinen Händen zu ihm hin und gab ihr – das Opfer spürte das Innere der Lippen – einen feuchten Kuss auf den Mund.

 

Das Bundesgericht verneinte den Tatbestand von Art. 187 StGB mit folgender Begründung:

 

«Als sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB gelten nur Verhaltensweisen, die für den Aussenstehenden nach ihrem äusseren Erscheinungsbild einen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen und im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut – die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes – erheblich sind. Die Erheblichkeit muss in Zweifelsfällen nach den Umständen des Einzelfalls relativ, etwa nach dem Alter des Opfers dem Altersunterschied zum Täter, bestimmt werden. Das gilt insbesondere bei der Beurteilung des sexuellen Charakters von Küssen. Während das Küssen auf Mund Wange usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert. Bedeutsam für die Beurteilung der Erheblichkeit sind qualitativ die Art und quantitativ die Intensität und Dauer der Handlung, wobei die gesamten Begleitumstände zu berücksichtigen sind. Wenn die Verletzung des Rechtsguts (Jugendschutz bzw. ungestörte sexuelle Entwicklung bei Art. 187 und 188 StGB sexuelle Freiheit bei Art. 189 StGB) nicht erheblich ist und die entsprechenden Tatbestände nicht zur Anwendung gelangen, kann der im Verhältnis zu Art. 187 StGB subsidiäre Art. 198 StGB allenfalls als Auffangtatbestand dienen» (E. 1.2. mit Hinweisen).

 

«Die Zudringlichkeiten des Beschwerdegegners gegenüber der Beschwerdeführerin waren – soweit sie hier strafrechtlich überhaupt bedeutsam sind – nicht geeignet, eine Gefährdung der ungestörten sexuellen Entwicklung der Beschwerdeführerin herbeizuführen. Nach den Feststellungen der Vorinstanz drückte der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin weder an sich noch fasste er sie an den primären sekundären Geschlechtsteilen in der Nähe derselben an. Er küsste sie - nach einem hier aus dem Strafbaren ausscheidenden Kuss auf die Wange - vielmehr nur kurz auf den Mund, so dass sie das Innere seiner Lippen spürte. Seine Zunge benutzte er nicht. Ein derartiger körperlicher Kontakt fällt im vorliegenden Fall, namentlich in Anbetracht der wenig einschneidenden Art, Dauer und Intensität des Kusses, nicht unter den Tatbestand der sexuellen Handlungen mit einem Kind im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Es fehlt hierfür an der Erheblichkeit der sexuellen Handlung. Dass sich der Vorfall in der eng begrenzten Räumlichkeit eines Lifts abspielte, wo sich die 10 Jahre alte Beschwerdeführerin dem rund 30-jährigen Beschwerdegegner nicht sofort entziehen konnte, vermag an dieser rechtlichen Würdigung angesichts des insgesamt nur wenige Sekunden dauernden und damit sehr kurzen Vorfalls nichts zu ändern. Die Zudringlichkeit des Beschwerdegegners ist deshalb mit der Vorinstanz als sexuelle Belästigung im Sinne von Art. 198 Abs. 2 StGB zu würdigen» (E. 1.4).

 

4. Bei Handlungen im familiären Nahbereich nehmen Lehre und Rechtsprechung etwa in folgenden Fällen eine sexuelle Handlung im Sinne von Art. 187 StGB an: Beim Eindringen des Vaters während des Waschens der eigenen rund 12-jährigen Tochter mit dem Finger in ihre Scheide handelt es sich nicht um eine blosse Hilfeleistung beim Baden, sondern um die Vornahme einer sexuellen Handlung; Der Tatbestand wird auch von einem Vater erfüllt, welcher bewusst die Gelegenheit sucht, seiner Tochter seinen Penis zu zeigen und ihn anfassen zu lassen; Die Mutter, die ihren siebenjährigen Sohn regelmässig an ihrer Brust saugen lässt und ihn dabei am Geschlechtsteil streichelt, nimmt eine sexuelle Handlung vor; kurze Berührungen des Genitalbereichs über den Kleidern ist als sexuelle Handlung zu qualifizieren, wenn die über 14-jährigen Töchter des Täters bereits früher unzählige, über mehrere Jahre dauernde, massive sexuelle Übergriffe (z. B. Streicheln der Klitoris, Berühren des Penis) hatten erdulden müssen (Basler Kommentar StGB I, a.a.O., Art. 187, Rz. 12 mit weiteren Hinweisen).

 

Im Entscheid 1P.609/2004 vom 18. November 2004 kam das Bundesgericht zum Schluss, versuchte Zungenküsse eines Vaters gegenüber der 11 12-jährigen Tochter überschritten die Grenzen der väterlichen Zuneigung in Richtung sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 StGB. Dasselbe gelte für denselben Vater, der seinen 13-jährigen Sohn auf den Schoss genommen habe, ihn geküsst, gedrückt und ihm die Brust gerieben habe.

 

5. Im konkreten Fall präsentieren sich die bei der Beurteilung relevanten Tatumstände wie folgt: Der Beschuldigte war zur Tatzeit 38 Jahre alt, das Opfer knapp 16. Der Beschuldigte lebte im Tatzeitpunkt seit rund sechs Jahren mit der Mutter des Opfers und dem Opfer zusammen. Bis zur Tat kam es gemäss glaubhafter Aussage des Opfers zwar auch schon dazu, dass der Beschuldigte das Opfer massierte, jedoch nur auf dessen Aufforderung hin. Küsse auf den Mund gab es bis zur Tat nicht. Am Tatabend befanden sich der Beschuldigte und das Opfer alleine in der gemeinsamen Wohnung. Das Opfer lag auf dem Sofa, der Beschuldigte legte sich zu ihm und legte seinen Kopf während mindestens fünf Minuten auf den Intimbereich des Opfers, welches kurze Hosen und ein T-Shirt trug. Dabei massierte der Beschuldigten während ein bis zwei Minuten den Oberschenkel des Opfers, teilweise über der Hose, teilweise auf der Haut. Dabei habe das Opfer sich schon ein wenig gewundert, sich jedoch noch nicht gewehrt. In der Folge näherte sich der Beschuldigte mit seinem Kopf dem Kopf des Opfers an und küsste dieses drei Mal kurz nacheinander (gemäss Aussage des Opfers wie «Pärli» dies tun) auf den Mund. Darauf folgte ein vierter Kuss auf den Mund, welcher mehrere Sekunden dauerte und während dem der Beschuldigte versuchte, dem Opfer seine Zunge in den Mund zu drücken, was dieses verhindern konnte, indem es die Lippen zusammenpresste. Das Opfer spürte etwa zwei Zentimeter der Zunge des Beschuldigten auf seinen Lippen. Schliesslich drehte sich das Opfer weg, fragte den Beschuldigten, ob er sich nicht schäme, worauf dieser sagte, es wolle es doch auch.

 

Bei einer Gesamtbetrachtung dieser Tatumstände ist aus der Warte eines objektiven Betrachters klarerweise ein Bezug zum Sexuellen zu erkennen. Das Geschehene übersteigt bei weitem die zwischen Eltern und Kindern üblichen Zärtlichkeiten. Auch beide Beteiligten fassten die Handlung erwiesenermassen als auf das Sexuelle bezogen auf, was sich betreffend den Beschuldigten aus seiner Antwort gegenüber dem Opfer, es wolle es doch auch, klar erschliesst. Diese subjektive Wahrnehmung von Täter und Opfer ist zwar für sich alleine nicht massgebend, fügt sich jedoch zusammen mit dem offensichtlichen Sexualbezug aus der Warte eines objektiven Betrachters klarerweise zu einem Gesamtbild einer sexuellen Handlung zusammen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz spielt es auch keine Rolle, dass es lediglich zu einem versuchten Zungenkuss kam. Auch ein versuchter Zungenkuss stellt gemäss der vorstehend erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich eine (vollendete) sexuelle Handlung dar. Der Beschuldigte handelte mit direktem Vorsatz und hat sich der sexuellen Handlungen mit einem Kind nach Art. 187 Ziff. 1 StGB schuldig gemacht.

 

 

 

V. Strafzumessung

 

1. Allgemeine Ausführungen

 

1.1 Nach Art. 47 StGB misst das Gericht die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu. Es berücksichtigt das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters (Abs. 1). Das Verschulden wird nach der Schwere der Verletzung Gefährdung des betroffenen Rechtsguts, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters sowie danach bestimmt, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung Verletzung zu vermeiden (Abs. 2).

 

1.2 Bei der Tatkomponente können fünf verschiedene objektive und subjektive Momente unterschieden werden. Beim Aspekt der Schwere der Verletzung Gefährdung des betroffenen Rechtsgutes (Ausmass des verschuldeten Erfolgs) geht es sowohl um den Rang des beeinträchtigten Rechtsguts wie um das Ausmass seiner Beeinträchtigung, aber auch um das Mass der Abweichung von einer allgemeinen Verhaltensnorm. Auch die Verwerflichkeit des Handelns (Art und Weise der Herbeiführung des Erfolgs) ist als objektives Kriterium für das Mass des Verschuldens zu berücksichtigen. Auf der subjektiven Seite ist die Intensität des deliktischen Willens (Willensrichtung des Täters) zu beachten. Dabei sprechen für die Stärke des deliktischen Willens insbesondere Umstände wie die der Wiederholung Dauer des strafbaren Verhaltens auch der Hartnäckigkeit, die der Täter mit erneuter Delinquenz trotz mehrfacher Vorverurteilungen sogar während einer laufenden Strafuntersuchung bezeugt. Hier ist auch die Skrupellosigkeit, wie auch umgekehrt der strafmindernde Einfluss, den es haben kann, wenn ein V-Mann bei seiner Einwirkung auf den Verdächtigen die Schranken des zulässigen Verhaltens überschreitet, zu beachten. Hinsichtlich der Willensrichtung dürfte es richtig sein, dem direkten Vorsatz grösseres Gewicht beizumessen als dem Eventualdolus, während sich mit der Unterscheidung von bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit keine prinzipielle Differenz der Schwere des Unrechts der Schuld verbindet. Die Grösse des Verschuldens hängt weiter auch von den Beweggründen und Zielen des Täters ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Delinquenz umso schwerer wiegt, je grösser das Missverhältnis zwischen dem vom Täter verfolgten und dem von ihm dafür aufgeopferten Interesse ist. Schliesslich ist unter dem Aspekt der Tatkomponente die Frage zu stellen, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung Verletzung zu vermeiden. Hier geht es um den Freiheitsraum, welchen der Täter hatte. Je leichter es für ihn gewesen wäre, die Norm zu respektieren, desto schwerer wiegt die Entscheidung gegen sie und damit seine Schuld (BGE 117 IV 7 E. 3aa). Innere Umstände, die den Täter einengen können, sind unter anderem psychische Störungen mit einer Verminderung der Schuldfähigkeit, aber auch unterhalb dieser Schwelle, wie Affekte, die nicht entschuldbar, aber doch von Einfluss sind, Konflikte, die sich aus der Bindung an eine andere Kultur ergeben, Alkohol- Drogenabhängigkeit, subjektiv erlebte Ausweglosigkeit Verzweiflung usw. Auch äussere Umstände berühren die Schuld nur, wenn sie die psychische Befindlichkeit des Täters berühren.

 

1.3 Bei der Täterkomponente sind einerseits das Vorleben, bei dem vor allem Vorstrafen, auch über im Ausland begangene Straftaten (BGE 105 IV 225 E. 2), ins Gewicht fallen – Vorstrafenlosigkeit wird neutral behandelt und bei der Strafzumessung nur berücksichtigt, wenn die Straffreiheit auf aussergewöhnliche Gesetzestreue hinweist (BGE 136 IV 1) – und andererseits die persönlichen Verhältnisse (Lebensumstände des Täters im Zeitpunkt der Tat), wie Alter, Gesundheitszustand, Vorbildung, Stellung im Beruf und intellektuelle Fähigkeiten zu berücksichtigen. Des Weiteren zählen zur Täterkomponente auch das Verhalten des Täters nach der Tat und im Strafverfahren, also ob er einsichtig ist, Reue gezeigt, ein Geständnis abgelegt bei den behördlichen Ermittlungen mitgewirkt hat, wie auch die Strafempfindlichkeit des Täters.

 

1.4 Gemäss dem bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Recht war für Strafen von weniger als sechs Monaten grundsätzlich eine Geldstrafe auszusprechen (aArt. 34 Abs. 1, aArt. 40 und 41 Abs. 1 StGB). Für Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr sah das Gesetz die Geldstrafe (aArt. 34 StGB) und die Freiheitsstrafe (aArt. 40 StGB) vor. Gemäss aArt. 41 StGB ist die Geldstrafe im Bereich leichter Kriminalität die Regelsanktion und geht bei Strafen bis zu sechs Monaten freiheitsentziehenden Sanktionen vor. Daran hat der Gesetzgeber im Rahmen der erneuten Revision des Sanktionenrechts mit Inkrafttreten per 1. Januar 2018 entgegen der ursprünglichen Stossrichtung festgehalten (Urteil 6B_483/2016 vom 30. April 2018 E. 3.6 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen). Die Freiheitsstrafe als eingriffsintensivste Sanktion ist nach der gesetzlichen Konzeption ultima ratio und kann nur verhängt werden, wenn keine andere, mildere Strafe in Betracht kommt (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 2043 f. Ziff. 213.132; BGE 138 IV 120 E. 5.2 S. 122 f.; Urteil 6B_483/2016 vom 30. April 2018 E. 3.3. 3 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen). Bei der Wahl der Sanktionsart ist als wichtiges Kriterium die Zweckmässigkeit einer bestimmten Sanktion, ihre Auswirkungen auf den Täter und sein soziales Umfeld sowie ihre präventive Effizienz zu berücksichtigen (BGE 134 IV 97 E. 4.2 S. 100 f. mit Hinweisen). Nach dem Prinzip der Verhältnismässigkeit soll bei alternativ zur Verfügung stehenden und hinsichtlich des Schuldausgleichs äquivalenten Sanktionen im Regelfall diejenige gewählt werden, die weniger stark in die persönliche Freiheit des Betroffenen eingreift (BGE 138 IV 120 E. 5.2 S. 122 f. mit Hinweis). Hält das Gericht im Rahmen der Gesamtstrafenbildung für einzelne Delikte im konkret zu beurteilenden Fall unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips eine Geldstrafe nicht mehr für schuldadäquat und zweckmässig, hindert aArt. 41 Abs. 1 StGB es nicht daran, auf Einzelfreiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten zu erkennen, wenn die daraus zu bildende Gesamtstrafe sechs Monate übersteigt. Das Gericht hat im Urteil die Wahl der Sanktionsart zu begründen (Art. 50 StGB; Urteile 6B_523/2018 vom 23. August 2018 E. 1.2.3; 6B_483/2016 vom 30. April 2018 E. 4.3, zur Publikation vorgesehen).

 

Nach Art. 34 Abs. 1 StGB in der Fassung ab 1. Januar 2018 beträgt die maximale Geldstrafe 180 Tagessätze. Gemäss der Neufassung von Art. 41 Abs. 1 StGB kann das Gericht statt auf eine Geldstrafe auf eine Freiheitsstrafe erkennen, wenn (a) eine solche geboten erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen Vergehen abzuhalten, (b) eine Geldstrafe voraussichtlich nicht vollzogen werden kann.

 

1.5 Das Bundesgericht drängt in seiner jüngeren Praxis vermehrt darauf, dass Formulierung des Verschuldens und Festsetzung des Strafmasses auch begrifflich im Einklang stehen (Urteile des Bundesgerichts vom 7. Juli 2011, 6B_1096/2010 E. 4.2; vom 6. Juni 2011, 6B_1048/2010 E. 3.2 und vom 26. April 2011, 6B_763/2010 E. 4.1). Um dieser Forderung gerecht zu werden, empfiehlt es sich, bereits zu Beginn der Strafzumessung die objektive Tatschwere ausdrücklich zu qualifizieren (etwa als leicht, mittel, schwer) um damit eine Grundlage für die spätere Gesamteinschätzung des (subjektiven) Verschuldens zu schaffen. Auf diese Weise wird bereits am Anfang der Strafzumessung eine erste ungefähre und hypothetische Einstufung der möglichen Strafe vorgenommen, etwa im Falle einer vorsätzlichen Tötung bei mittlerer Tatschwere im Bereich von 10 – 15 Jahren (bei leichter Tatschwere 5 – 10 Jahre und in schweren Fällen 15 – 20 Jahre). Diese hypothetische ungefähre Einsatzstrafe gilt es dann anhand der weiteren Strafzumessungskriterien zu verfeinern. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass Verschuldensgewichtung und Einbettung des Strafmasses innerhalb des Strafrahmens im gesamten «Strafzumessungsverlauf» in Einklang stehen (vgl. auch SJZ 100/2004, S. 175 f.).

 

 

2. Konkrete Strafzumessung

 

Hinsichtlich der objektiven Tatschwere ist vorliegend von der wohl geringstmöglichen denkbaren Schwere von sexuellen Handlungen mit Kindern auszugehen. Zugunsten des Beschuldigten ist weiter zu berücksichtigen, dass sich das Opfer an der Grenze des Schutzalters befand (15 ½ Jahre). Die Tat dürfte spontan erfolgt sein und war nicht von langer Hand geplant. Allerdings ist diesbezüglich an die Aussage des Opfers zu erinnern, wonach es das Gefühl hatte, der Beschuldigte sei ihm bereits in den Wochen vor der Tat des Öftern nahe gekommen resp. er habe auffällig seine körperliche Nähe gesucht. Die Tatfolgen waren trotz des fortgeschrittenen Alters des Opfers keineswegs sehr gering, was vor allem auch damit zusammenhing, dass der Beschuldigte seine Vertrauensstellung als Stiefvater gegenüber dem Opfer ausgenutzt hat. Dies ist nicht nur verwerflich. Das Opfer berichtete nachvollziehbar, dass es sich innerlich wie zerstört gefühlt habe. Es sei wie ein Schlag ins Herz gewesen. Auch die zahlreichen Textnachrichten kurz nach der Tat zwischen dem Beschuldigten und der Mutter des Opfers zeigen auf, wie die Tat die ganze Familie emotional aufgewühlt hat. Der Umstand, dass Täter und Opfer mittlerweile wieder zusammenleben und das Opfer kein Interesse mehr am Strafverfahren bekundet, vermag sich, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Masse zugunsten des Beschuldigten auszuwirken. Dennoch ist alles in allem doch klar von einer sehr leichten objektiven Tatschwere auszugehen.

 

In subjektiver Hinsicht handelte der Beschuldigte mit direktem Vorsatz und aus egoistischen Beweggründen, was jedoch bei sexuellen Handlungen mit Kindern meist der Fall sein dürfte. Es bestehen keinerlei Anzeichen, die darauf hinweisen, dass es dem Beschuldigten schwer gefallen wäre, sein strafbares Verhalten zu unterlassen. Auch unter Berücksichtigung der subjektiven Tatkomponenten bleibt es bei einem sehr leichten Gesamtverschulden, was die Festsetzung einer Einsatzstrafe im untersten Bereich des abstrakten Strafrahmens rechtfertigt. Konkret ist die Einsatzstrafe auf 120 Strafeinheiten festzusetzen.

 

Was die Täterkomponente anbelangt, ist Folgendes zu berücksichtigen: Der Beschuldigte ist in […] geboren und kam zusammen mit seiner Familie im Alter von 12 Jahren in die Schweiz. Der Vater lebte schon zuvor länger in der Schweiz. Der Beschuldigte machte eine Anlehre als Automechaniker und arbeitete zwei Jahre auf diesem Beruf. Seit 2012 arbeitet er ohne Unterbruch bei der Firma F.___ als Werkstattmitarbeiter und verdient monatlich rund CHF 6'500.00 netto. Im Jahr 1998 heiratete er seine inzwischen von ihm geschiedene Frau, mit der er drei Kinder im Alter von 16 – 23 hat. Gemäss Erhebungsbericht vom 2. März 2018 und Steuerveranlagung 2016 bezahlte der Beschuldigte für die beiden jüngeren Kinder aus seiner geschiedenen Ehe Unterhalt in Höhe von gesamthaft CHF 1'200.00 pro Monat. Aktuell sind es gemäss Aussagen des Beschuldigten vor dem Berufungsgericht CHF 1'328.00. Der Beschuldigte lebt zur Zeit zusammen mit seiner Lebenspartnerin, welche […] Staatsangehörige ist, dem gemeinsamen Kind G.___ (Jg. 2017), seinem erwachsenen Sohn aus erster Ehe und dem Opfer zusammen. Der Beschuldigte weist keine Vorstrafen auf.

 

Die Täterkomponenten präsentieren sich neutral. Eine Freiheitsstrafe erweist sich beim nicht vorbestraften Beschuldigten offensichtlich nicht als notwendig. Es liegen auch keinerlei Hinweise vor, dass eine Geldstrafe nicht vollzogen werden könnte. Es ergibt sich daher beim Beschuldigten eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Die Tagessatzhöhe ist unter Berücksichtigung des Pauschalabzuges für Krankenkasse und Steuern von 25 %, der Unterhaltsbeiträge für die beiden jüngeren Kinder aus erster Ehe (H.___ und I.___), eines Unterhaltsabzuges von 15 % für G.___ und des Vermögens, welches u.a. zwei Liegenschaften umfasst, auf CHF 90.00 festzulegen.

 

Zu berücksichtigen ist, dass die Strafuntersuchung bei der Staatsanwaltschaft gemäss Journal (AS 133) vom 14. Juni 2018 bis zum 9. Mai 2019 aus unerfindlichen Gründen geruht hat. Dies stellt eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes dar, was eine Strafreduktion erfordert. Es rechtfertigt sich eine Reduktion der Geldstrafe auf 100 Tagessätze zu je CHF 90.00.

 

Angesichts der Vorstrafenlosigkeit sowie der stabilen beruflichen und familiären Verhältnisse kann dem Beschuldigten der bedingte Strafvollzug gewährt werden. Der Vollzug der Geldstrafe ist in Anwendung von Art. 42 Abs. 1 StGB aufzuschieben bei einer Probezeit von 2 Jahren.

 

 

3. Absehen von Strafe gestützt auf Art. 52 und 53 StGB

 

Abschliessend ist an dieser Stelle noch auf die von der Verteidigung vorgebrachte Möglichkeit der Verfahrenseinstellung resp. Strafbefreiung gemäss Art. 52 53 StGB einzugehen. Die in Art. 319 Abs. 2 StPO vorgesehene Verfahrenseinstellung stellt hingegen eine absolute Ausnahme dar, die im vorliegenden Fall offensichtlich nicht zur Anwendung kommen kann. Diesbezüglich kann vollumfänglich auf die Erwägungen der Staatsanwaltschaft in ihrer Eingabe vom 25. November 2019 an die Vorinstanz verwiesen werden (AS 189).

 

Gemäss Art. 52 StGB sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht einer Bestrafung ab, wenn Schuld und Tatfolgen geringfügig sind. Die Anwendung von Art. 52 StGB setzt voraus, dass das Verhalten des Täters im Quervergleich zu typischen unter dieselbe Gesetzesbestimmung fallenden Taten insgesamt – vom Verschulden wie von den Tatfolgen her – als unerheblich erscheint, so dass die Strafbedürftigkeit offensichtlich fehlt. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber nicht beabsichtigt, dass in allen Bagatellstraftaten generell auf eine strafrechtliche Sanktion verzichtet wird. Eine Strafbefreiung kommt nur bei Delikten in Frage, bei denen keinerlei Strafbedürfnis besteht. Auch bei einem Bagatelldelikt kann daher wegen Geringfügigkeit von Schuld und Tatfolgen eine Strafbefreiung nur angeordnet werden, wenn es sich von anderen Fällen mit geringem Verschulden und geringen Tatfolgen qualitativ unterscheidet. Im Rahmen von Art. 52 StGB ist auch das öffentliche Interesse zu berücksichtigen, das durch die angewendete Strafnorm geschützt wird (so bspw. das Vertrauen in die Richtigkeit öffentlicher durch einen Notar erstellter Urkunden). In BGE 135 IV 130 hat das Bundesgericht die Anwendung von Art. 52 StGB im Falle eines Notars bejaht, der eine unrichtige Urkunde im Zusammenhang mit einer Gesellschaftsgründung erstellte. Dabei berücksichtigte das Bundesgericht jedoch die Umstände, dass seit der Straftat gut 12 Jahre verstrichen sind, der Beschuldigte sich in dieser Zeit wohlverhalten hat und von einer erhöhten Strafempfindlichkeit auszugehen war.

 

Im vorliegenden Fall kann keineswegs von Geringfügigkeit der Tatfolgen ausgegangen werden. Wie bereits im Zusammenhang mit der Strafzumessung erwähnt, waren die Folgen auf das Opfer erheblich. Das öffentliche Interesse ist ebenfalls gewichtig (s. auch nachstehend). Es kann trotz des insgesamt sehr leichten Verschuldens nicht gesagt werden, das Verhalten des Beschuldigten erscheine im Quervergleich mit typischerweise unter Art. 187 StGB zu subsumierenden Handlungen als unerheblich und es bestünde deshalb keinerlei Strafbedürfnis.

 

Art. 53 StGB lautet in der zur Tatzeit geltenden (milderen) Fassung wie folgt: Hat der Täter den Schaden gedeckt alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um das von ihm bewirkte Unrecht auszugleichen, so sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht einer Bestrafung ab, wenn:

a. die Voraussetzungen für die bedingte Strafe (Art. 42) erfüllt sind; und

b. das Interesse der Öffentlichkeit und des Geschädigten an der Strafverfolgung gering sind.

Hinsichtlich Art. 53 StGB hat das Bundesgericht im Entscheid 6B_215/2013 vom 27. Januar 2014 erwogen, dass bei sexuellem Kindsmissbrauch angesichts der Hochwertigkeit des Rechtsgutes aus generalpräventiven Gründen ein eminentes Interesse der Öffentlichkeit daran bestehe, dass sexueller Kindsmissbrauch grundsätzlich nicht straflos bleibt. Dies wäre aber sehr häufig der Fall, wenn bei der Frage der Wiedergutmachung das Interesse der geschädigten Person ins Zentrum der Beurteilung gestellt würde. Deshalb sei bei der Straftat der sexuellen Handlungen mit Kindern, auch wenn eine Strafbefreiung im Einzelfall nicht ausgeschlossen ist, ein geringes Interesse der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung im Sinne von Art. 53 lit. b StGB nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen. Dabei seien die konkreten Umstände des Tatgeschehens massgeblich zu berücksichtigen, wie etwa Alter, Altersdifferenz zwischen Täter und Opfer, Art und Umstände der Tathandlungen sowie die Frage, ob allenfalls eine Liebesbeziehung zwischen den Betroffenen besteht.

 

Bezogen auf den vorliegenden Fall erlaubt die strenge Anwendung des Art. 53 StGB bei sexuellem Kindsmissbrauch kein Umgang-Nehmen von Strafe. Der Altersunterschied zwischen dem Beschuldigten und dem Opfer war erheblich und die Tat ereignete sich innerhalb der Familie, also nicht im Rahmen einer Liebesbeziehung. Gerade auch bei solchen Delikten im familiären Nahbereich ist das öffentliche Interesse aus generalpräventiven Gründen gross, besteht doch dort eine grosse Dunkelziffer und die Opfer sind dem Täter oft besonders ausgeliefert. Zudem ist aber auch das Kriterium der Wiedergutmachung zu verneinen. Es sind keine besonderen Anstrengungen des Beschuldigten ersichtlich, die Tat wiedergutzumachen. Vielmehr waren die Bemühungen des Beschuldigten zur Wiedervereinigung der Familie sehr wohl zumindest auch dem eigenen Interesse geschuldet. Zu einem vertieften Willen zur Wiedergutmachung würde auch ein vollumfängliches Geständnis gehören (auch wenn dieses Kriterium erst in die aktuelle Fassung von Art. 53 StGB eingeführt wurde). Daran fehlt es indes vorliegend, war und ist doch der Beschuldigte stets bestrebt, sein Verhalten zu beschönigen und zu relativieren, was mit Versuchen einherging, dem Opfer selbst die Schuld zuzuschieben.  

 

Insgesamt rechtfertigt es sich vorliegend somit weder unter dem Titel von Art. 52 StGB noch unter dem Titel von Art. 53 StGB, auf die schuldadäquate Strafe von 100 Tagessätzen Geldstrafe à CHF 90.00 zu verzichten.

 

 

 

VI. Landesverweisung

 

1. Nach Art. 66a Abs. 1 StGB hat das Gericht eine Person ausländischer Staatsangehörigkeit aus der Schweiz zu verweisen, wenn diese wegen einer der in den lit. a bis lit. o abschliessend aufgezählten Katalogtaten verurteilt wird; dies unabhängig von der verhängten Strafhöhe. Zu diesen Katalogtaten gehören unter anderem sexuelle Handlungen mit Kindern (lit. h). Die Dauer der Landesverweisung beträgt mindestens fünf und maximal 15 Jahre. Die konkrete Bemessung der Dauer liegt – unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit – im richterlichen Ermessen.

 

Ausländer sind alle Personen, die im Zeitpunkt der Tat nicht über das schweizerische Bürgerrecht verfügen. Auf den ausländerrechtlichen Status kommt es demgemäss nicht an. Irrelevant ist auch, ob der Ausländer zu einer unbedingten, bedingten teilbedingten Strafe verurteilt wird. Auch auf die Strafart kommt es grundsätzlich nicht an. Die Verurteilung bloss zu einer bedingten Geldstrafe schliesst die Landesverweisung nicht aus. Zu prüfen ist im Falle des Beschuldigten somit lediglich, ob gestützt auf Art. 66a Abs. 2 StGB ausnahmsweise von der obligatorischen Landesverweisung abgesehen werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Landesverweisung für den Beschuldigten einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber seinen privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist insbesondere auch der langen Anwesenheitsdauer des Beschuldigten in der Schweiz (in casu 29 Jahre) Rechnung zu tragen.

 

2. Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 145 IV 364 E. 3.2; 144 IV 332 E. 3.1.2; je mit Hinweisen). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 144 IV 332 E. 3.3.1). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den «schwerwiegenden persönlichen Härtefall» in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen. Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiärer Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, Aufenthaltsdauer und Resozialisierungschancen. Ebenso ist der Rückfallgefahr und wiederholter Delinquenz Rechnung zu tragen. Das Gericht darf auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.3.2). Die Sachfrage entscheidet sich mithin in einer Interessenabwägung nach Massgabe der «öffentlichen Interessen an der Landesverweisung». Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und auf die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 E. 1.1.2; 6B_627/2018 vom 22. März 2019 E. 1.6.2; je mit Hinweisen).

 

3. Das Bundesgericht hat sich im Entscheid 6B_690/2019 vom 4. Dezember 2019 in grundlegender Weise mit der Frage auseinandergesetzt, wann im Sinne von Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB von einer in der Schweiz aufgewachsenen Person gesprochen werden kann. Dabei hat das Bundesgericht die in der Lehre teilweise vertretene Ansicht, in Anlehnung an die im schweizerischen Migrationsrecht geltenden Fristen für den Nachzug von Kindern sei von einem Aufwachsen in der Schweiz dann auszugehen, wenn die Einreise in die Schweiz vor Abschluss des zwölften Altersjahrs erfolgt sei, eine Absage erteilt. Es befand, die Anwendung von starren Altersvorgaben sowie die automatische Annahme eines Härtefalles ab einer bestimmten Anwesenheitsdauer fände keine Stütze im StGB. Die Härtefallprüfung sei vielmehr in jedem Fall anhand der gängigen Integrationskriterien vorzunehmen. Der besonderen Situation von in der Schweiz geborenen aufgewachsenen ausländischen Personen werde dabei Rechnung getragen, indem eine längere Aufenthaltsdauer, zusammen mit einer guten Integration – beispielsweise aufgrund eines Schulbesuchs in der Schweiz – in aller Regel als starkes Indiz für das Vorliegen von genügend starken privaten Interessen und damit für die Bejahung eines Härtefalls zu werten sei (erste kumulative Voraussetzung). Bei der allenfalls anschliessend vorzunehmenden Interessenabwägung (zweite kumulative Voraussetzung) sei der betroffenen Person mit zunehmender Anwesenheitsdauer ein gewichtigeres privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz zuzubilligen. Hingegen könne davon ausgegangen werden, dass die in der Schweiz verbrachte Zeit umso weniger prägend war, je kürzer der Aufenthalt und die in der Schweiz absolvierte Schulzeit waren, weshalb auch das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz weniger stark zu gewichten sei (E. 3.4.4).

 

4. Art. 8 EMRK verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt auf einen Aufenthaltstitel. Er hindert Konventionsstaaten nicht daran, die Anwesenheit auf ihrem Staatsgebiet zu regeln und den Aufenthalt ausländischer Personen unter Beachtung überwiegender Interessen des Familien- und Privatlebens gegebenenfalls auch wieder zu beenden. Dennoch kann das in Art. 8 Ziff. 1 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens berührt sein, wenn einer ausländischen Person mit in der Schweiz aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen das Zusammenleben verunmöglicht wird. Art. 8 EMRK ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen. Der sich hier aufhaltende Familienangehörige muss nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügen, was praxisgemäss der Fall ist, wenn er das Schweizer Bürgerrecht besitzt, ihm die Niederlassungsbewilligung gewährt wurde er über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, die ihrerseits auf einem gefestigten Rechtsanspruch beruht. Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern. In den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallen aber auch andere familiäre Verhältnisse, sofern eine genügend nahe, echte und tatsächlich gelebte Beziehung besteht. Hinweise für solche Beziehungen sind das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, eine finanzielle Abhängigkeit, speziell enge familiäre Bande, regelmässige Kontakte die Übernahme von Verantwortung für eine andere Person (BGE 144 II 1, E. 6.1).

 

5. Wie bereits im Rahmen der Strafzumessung bei der Täterkomponente erwähnt, befindet sich der Beschuldigte seit seinem zwölften Lebensjahr in der Schweiz. Er hat keine Vorstrafen, arbeitet seit nunmehr nahezu zehn Jahren beim selben Arbeitgeber und scheint auch ansonsten in der Schweiz gut integriert. Hier in der Schweiz lebt er in […] im eigenen Haus mit der Mutter des Opfers, dem gemeinsamen vierjährigen Kind, dem erwachsenen Sohn aus erster Ehe sowie dem Opfer selbst zusammen im selben Haushalt. Alle sind kosovarische Staatsangehörige mit Niederlassungsbewilligung in der Schweiz. In der Schweiz leben – und verfügen soweit ersichtlich ebenfalls über eine Niederlassungsbewilligung – auch die weiteren zwei Kinder aus der ersten Ehe des Beschuldigten. Der Beschuldigte ist zwar serbischer Staatsangehöriger, gehört aber der albanischen Minderheit an. Zu Serbien hat er gemäss eigenen Aussagen keine engen Beziehungen mehr. Er sei vor zwei Jahren das letzte Mal dort gewesen. 2003 seien sie von Serbien in den Kosovo umgezogen. Dort habe er (also als bereits in der Schweiz wohnhaft) ein altes Haus gekauft. Seine Heimat sei nun sowohl Serbien als auch der Kosovo. Im Kosovo habe er aber nie gelebt, sondern nur Ferien verbracht. In Serbien habe er noch eine Tante und eine Cousine. Seit seiner Einreise in die Schweiz 1992 sei er jedoch nicht oft in Serbien gewesen. Der grösste Teil seiner Verwandtschaft lebe in der Schweiz sonst wo in Europa. Viele Familienangehörige in Serbien kenne er nicht mehr. Er fühle sich in der Schweiz zu Hause. Im Falle einer Landesverweisung würde seine Familie getrennt werden. Das wäre sein Untergang.

 

Der Beschuldigte ist grossteils in der Schweiz aufgewachsen, gut integriert und hier verwurzelt. Seit 29 Jahren lebt er ununterbrochen in der Schweiz. Seine Kernfamilie, wozu auch das Opfer gehört, lebt in der Schweiz und könnte dem Beschuldigten nicht ohne weiteres nach Serbien folgen. Der Beschuldigte hat hier in der Schweiz auch eine tragfähige wirtschaftliche Existenz (er arbeitet seit rund zehn Jahren beim selben Arbeitgeber). Mit seinem Heimatland Serbien, wo er der albanischen Minderheit angehört, verbindet ihn nicht mehr viel. Es liegt auf der Hand, dass die Landesverweisung für den Beschuldigten einen schweren persönlichen Härtefall bedeuten würde. Angesichts der im Leben des Beschuldigten einmaligen Delinquenz, der sehr geringen Tatschuld, der guten Prognose sowie nicht zuletzt auch dem Umstand, dass sich Täter und Opfer wieder versöhnt haben, kann offensichtlich nicht von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an einer Landesverweisung gesprochen werden. Auf die Landesverweisung ist in Anwendung von Art. 66a Abs. 2 StGB ausnahmsweise zu verzichten.   

 

 

 

VII. Kosten und Entschädigung

 

1. Kosten

 

Die Berufung der Staatsanwaltschaft war erfolgreich; A.___ wurde vom Berufungsgericht gemäss Anklage schuldig gesprochen. Bei diesem Verfahrensausgang sind sowohl die erstinstanzlichen Kosten wie auch die Kosten des Berufungsverfahrens dem Beschuldigten aufzuerlegen. Für das Berufungsverfahren wird die Staatsgebühr auf CHF 2'000.00 festgesetzt.

 

Konkret hat der Beschuldigte zu bezahlen:

 

-        die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Staatsgebühr von CHF 700.00, total CHF 1’500.00;

 

-        die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Staatsgebühr von CHF 2'000.00, zuzüglich allgemeiner Auslagen und Kosten der amtlichen Verteidigung für das Berufungsverfahren (vgl. hiernach) total CHF 4'220.00.

 

 

2. Entschädigungen

                      

2.1 Gemäss teilweise rechtskräftiger Ziffer 2 des Urteils der Amtsgerichtsstatthalterin von Dorneck-Thierstein vom 5. Juni 2020 wurde die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Eveline Roos, für das erstinstanzliche Verfahren auf CHF 5'938.55 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt, zahlbar durch den Staat, v.d. die Zentrale Gerichtskasse.

 

Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren sowie der Nachforderungsanspruch der amtlichen Verteidigerin, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten erlauben. Der Nachforderungsanspruch der amtlichen Verteidigerin wird praxisgemäss auf der Basis von CHF 230.00 berechnet, vorliegend ausschliesslich für die auf Rechtsanwältin Roos entfallenden 22.75 Stunden, inkl. Mehrwertsteuer somit entsprechend CHF 1'225.10.

 

2.2 Für das Berufungsverfahren wird die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Eveline Roos, entsprechend der eingereichten Kostennote zuzüglich zweier Stunden zu CHF 180.00 für die Hauptverhandlung auf CHF 2'153.35 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt, zahlbar durch den Staat, v.d. die Zentrale Gerichtskasse. Diese Kosten hat der Beschuldigte dem Staat zu erstatten (vgl. oben Ziff. VII.1). Eine Nachforderung wird im Berufungsverfahren nicht geltend gemacht.

 

 

 

Demnach wird in Anwendung von Art. 187 Ziff. 1 StGB; Art. 34, Art. 42 Abs. 1, Art. 44, Art. 47, Art. 66a Abs. 2 StGB; Art. 135, Art. 379 ff., Art. 398 ff., Art. 416 ff. StPO

festgestellt und erkannt:

1.    Im vorliegenden Verfahren wurde das Beschleunigungsgebot verletzt.

 

2.    A.___ hat sich wegen sexueller Handlungen mit einem Kind, begangen am 20. Februar 2018, schuldig gemacht.

 

3.    A.___ wird zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je CHF 90.00 verurteilt, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges bei einer Probezeit von 2 Jahren.

 

4.    Auf eine Landesverweisung wird verzichtet.

 

5.    Gemäss teilweise rechtskräftiger Ziffer 2 des Urteils der Amtsgerichtsstatthalterin von Dorneck-Thierstein vom 5. Juni 2020 wurde die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Eveline Roos, für das erstinstanzliche Verfahren auf CHF 5'938.55 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt, zahlbar durch den Staat, v.d. die Zentrale Gerichtskasse.

 

Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren sowie der Nachforderungsanspruch der amtlichen Verteidigerin (entspr. CHF 1'225.10), sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten erlauben.

 

6.    Für das Berufungsverfahren wird die Entschädigung der amtlichen Verteidigerin von A.___, Rechtsanwältin Eveline Roos, auf CHF 2'153.35 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt, zahlbar durch den Staat, v.d. die Zentrale Gerichtskasse. Diese Kosten hat der Beschuldigte dem Staat zu erstatten (vgl. nachfolgend Ziff. 8).

 

7.    Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens mit einer Staatsgebühr von CHF 700.00, total CHF 1’500.00, hat A.___ zu bezahlen.

 

8.    Die Kosten des Berufungsverfahrens mit einer Staatsgebühr von CHF 2'000.00, zuzüglich Auslagen und Kosten der amtlichen Verteidigung für das Berufungsverfahren total CHF 4'220.00, hat A.___ zu bezahlen.

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Gegen den Entscheid betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung (Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) und der unentgeltlichen Rechtsbeistandschaft im Rechtsmittelverfahren (Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) kann innert 10 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesstrafgericht Beschwerde eingereicht werden (Adresse: Postfach 2720, 6501 Bellinzona).

Im Namen der Strafkammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

Marti                                                                                  Fröhlicher



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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