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Urteil Verwaltungsgericht (SO - BKBES.2023.107)

Zusammenfassung des Urteils BKBES.2023.107: Verwaltungsgericht

Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen B.___ wegen sexueller Handlungen mit Kindern und Drohung eingestellt und ihm eine Genugtuung von CHF 500.00 zugesprochen. Die Verfahrenskosten von insgesamt CHF 36'916.20 wurden grundsätzlich dem Staat auferlegt, der jedoch einen Rückgriff auf A.___ vornimmt. A.___ hat Beschwerde gegen den Rückgriff eingereicht, die Staatsanwaltschaft beantragte die Abweisung der Beschwerde. Nach einer ausführlichen Beweiswürdigung wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen, und A.___ wurde vorläufig von den Kosten befreit. Der unentgeltliche Rechtsbeistand von A.___, Rechtsanwalt Alain Langenegger, wird mit CHF 1'491.30 entschädigt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts BKBES.2023.107

Kanton:SO
Fallnummer:BKBES.2023.107
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Beschwerdekammer
Verwaltungsgericht Entscheid BKBES.2023.107 vom 19.02.2024 (SO)
Datum:19.02.2024
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Aussage; Recht; Staat; Verfahren; Gutachterin; Verfahrens; Staatsanwaltschaft; Aussagen; Verfahrenskosten; Person; Genugtuung; Rückgriff; Gutachten; Anzeige; Beschuldigte; Grauzone; Beschuldigten; Einvernahme; Beweis; Beschuldigungen; Prozessordnung; Persönlichkeitsstörung; Personen; Zeitpunkt; Widersprüche
Rechtsnorm: Art. 303 StGB ;Art. 428 StPO ;Art. 448 StPO ;Art. 453 StPO ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts BKBES.2023.107

 
Geschäftsnummer: BKBES.2023.107
Instanz: Beschwerdekammer
Entscheiddatum: 19.02.2024 
FindInfo-Nummer: O_BK.2024.14
Titel: Einstellungs- und Beweisverfügung (Verfahrenskosten und Genugtuung)

Resümee:

 

Obergericht

Beschwerdekammer

 

 

 

Beschluss vom 19. Februar 2024        

Es wirken mit:

Oberrichter Frey

Oberrichterin Hunkeler

Oberrichterin Kofmel

Gerichtsschreiberin Ramseier

In Sachen

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Alain Langenegger,

 

Beschwerdeführerin

 

 

gegen

 

 

Staatsanwaltschaft,

 

Beschwerdegegnerin

 

betreffend     Einstellungs- und Beweisverfügung (Verfahrenskosten und Genugtuung)


zieht die Beschwerdekammer des Obergerichts in Erwägung:

I.

 

1. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2023 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen B.___ wegen sexueller Handlungen mit Kindern und Drohung ein (Ziff. 1). B.___ (geb. 195[...]) war durch A.___ (geb. 198[...]) am 19. Februar 2018 vorgeworfen worden, an ihr, als sie 10 bis 15-jährig gewesen sei, während ihres Aufenthaltes im Kinderheim [...] vom Sommer 1995 bis Sommer 2000 sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben. B.___ war als Abwart (Allrounder/Betriebshandwerker) im Kinderheim [...] tätig gewesen. Er ist [...]. Die Staatsanwaltschaft hatte bei Prof. Dr. C.___ ein Glaubhaftigkeitsgutachten über die Aussagen von A.___ erstellen lassen. Gemäss Ziff. 5 der Verfügung vom 4. Oktober 2023 wurde B.___ eine Genugtuung von CHF 500.00 zugesprochen. Bezüglich Verfahrenskosten (total CHF 36'416.20) wurde entschieden, dass diese grundsätzlich zu Lasten des Staates gingen (Ziff. 6). Der Staat nehme indessen für die Verfahrenskosten und die Genugtuung, total CHF 36'916.20, Rückgriff auf A.___ (Ziff. 7).

 

2. Gegen Ziff. 7 der Verfügung liess A.___ am 30. Oktober 2023 Beschwerde erheben mit dem Antrag auf deren Aufhebung.

 

3. Die Staatsanwaltschaft beantragte am 30. November 2023 die Abweisung der Beschwerde.

 

4. Am 11. Dezember 2023 ging die Honorarnote der Vertretung von A.___, Rechtsanwalt Alain Langenegger, ein.

 

5. Für die Standpunkt der Parteien wird auf die Akten verwiesen. Soweit erforderlich, wird nachfolgend darauf eingegangen.

 

II.

 

1. Wie erwähnt, richtet sich die Beschwerde nur gegen Ziff. 7 der Verfügung vom 4. Oktober 2023, d.h. auf den vorgenommenen Rückgriff bezüglich Verfahrenskosten und Genugtuung auf A.___ (nachfolgend Beschwerdeführerin). Die Einstellung der Strafuntersuchung gegen B.___ wurde nicht angefochten.

 

2. Per 1. Januar 2024 sind geänderte Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) in Kraft getreten. Die vorliegend angefochtene Verfügung der Staatsanwaltschaft erging am 4. Oktober 2023 und damit noch unter bisherigem Recht. Gemäss Art. 448 StPO werden Verfahren, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes noch hängig sind, nach neuem Recht fortgeführt, soweit die nachfolgenden Bestimmungen nichts anderes vorsehen. Art. 453 StPO sieht für das Rechtsmittelverfahren etwas anderes vor, nämlich, dass Rechtsmittel gegen einen Entscheid vor Inkrafttreten dieses Gesetzes nach bisherigem Recht, von den bisher zuständigen Behörden, beurteilt werden. Dabei würde es zu eng greifen, den Begriff «bei Inkrafttreten dieses Gesetzes» so auszulegen, dass nur das damalige Inkrafttreten der neuen StPO im Jahr 2011 gemeint ist. Dies hat zur Folge, dass vorliegend noch die bis 31. Dezember 2023 geltenden Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Anwendung gelangen.

 

3.1 Die Staatsanwaltschaft begründete den Rückgriff damit, bei der Beschwerdeführerin liege zwar eine Persönlichkeitsstörung vom histrionischen Typus vor. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sei jedoch nicht geeignet, grundsätzliche Zweifel an einer erhaltenen Aussagetüchtigkeit bzw. –fähigkeit zu begründen. Im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen trete kein krankhaft veränderter Weltbezug auf, der die Fähigkeit aufhebe, eine gerichtsverwertbare Aussage zu machen. Ebenso könne eine kognitive Beeinträchtigung ausgeschlossen werden. Die Beschwerdeführerin habe gewusst, dass sie nicht lügen dürfe und hätte sich zweifelsfrei rechtskonform verhalten können. Gestützt auf die ausgeführte Sachverhaltsfeststellung, insbesondere auch der Einschätzung der Sachverständigen Dr. C.___, sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin um die Unrichtigkeit ihrer Belastungen gewusst und diese vorsätzlich bei der Polizei deponiert und im Verlauf der Untersuchung daran festgehalten habe.

 

3.2 Dazu liess die Beschwerdeführerin ausführen, sie habe anlässlich ihrer Einvernahmen die Wahrheit erzählt. Der Schluss, wonach sie gelogen habe, lasse sich dem Gutachten von Dr. C.___ gerade nicht entnehmen. Die Gutachterin gelange vorab in der inhaltlichen Analyse der Aussagen der Beschwerdeführerin zum Schluss, diese seien aus aussagepsychologischer Sicht nicht als glaubhaft zu betrachten. Mit anderen Worten taugten sie nach Auffassung der Gutachterin nicht zum Beweis. Die Gutachterin führe aber nicht aus, die Beschwerdeführerin habe bewusst die Unwahrheit gesagt, d.h. gelogen. Sie führe lediglich verschiedene Hypothesen ins Feld, ohne eine davon jedoch als erwiesen zu betrachten. Nicht zuletzt führe sie aus, es gebe Punkte, die dafür sprächen, dass die Angaben der Beschwerdeführerin «zeitweise durchaus bewusstseinsnah erfolgt» seien, nur um aber sogleich im Zusammenhang mit der – in Bezug auf die Beschwerdeführerin diagnostizierten – histrionischen Persönlichkeitsstörung wieder festzuhalten, die Beschwerdeführerin könne sich leichter als andere Personen in einer Grauzone zwischen bewusst falsch und subjektiv richtig bewegen. In dieser Grauzone könnten die Grenzen zwischen erfunden und realitätsbezogen möglicherweise auch schon zu einem früheren Zeitpunkt verschwommen gewesen sein. Wenn die Staatsanwaltschaft nun mit absoluter Schärfe festhalte, die Beschwerdeführerin habe gelogen, widerspreche sie den Ausführungen im Gutachten, ohne zu begründen, weswegen sie vom Gutachten abweiche. Sie gehe auch gerade nicht auf die erwähnte Abgrenzung zwischen bewusst falsch und subjektiv richtig (Grauzone zwischen erfunden und realitätsbezogen) ein. Es sei eben gerade nicht als erwiesen zu betrachten, dass die Beschwerdeführerin bewusst die Unwahrheit gesagt habe. Es könne ihr weder Vorsatz noch Grobfahrlässigkeit vorgeworfen werden. Somit bleibe kein Raum für eine Kostenauferlegung.

 

3.3 Die Staatsanwaltschaft erwähnte dazu, es sei nicht Aufgabe der Gutachterin zu sagen, ob die Beschwerdeführerin gelogen habe; dies sei eine Frage der Beweiswürdigung. Bei den von der Beschwerdeführerin zu ihrer Entlastung erwähnten abschliessenden Angaben der Gutachterin sei festzuhalten, dass die Gutachterin dabei ausdrücklich die hypothetische Formulierung verwende, dass sich die Beschwerdeführerin leichter als andere Personen in einer Grauzone befunden haben könnte. Aus der Formulierung ergebe sich aber auch, dass aus Sicht der Gutachterin vieles dafür spreche, dass ihre Aussagen doch mindestens zeitweise durchaus bewusstseinsnah erfolgt seien. Aus der Beweiswürdigung ergebe sich, dass die mögliche Hypothese, dass die Beschwerdeführerin die Anzeige resp. ihre Aussage «subjektiv richtig» gemacht habe, nicht zutreffe. Die Aussagen der Beschwerdeführerin könnten allenfalls im Verlauf der Zeit personalisierter geworden und möglicherweise in einen Graubereich gekommen sein, jedoch sicher nicht zu Beginn der Anzeige bzw. während den polizeilichen Befragungen. Die strategische Selbstpräsentation bei der Anzeige bzw. in den Einvernahmen spreche dafür, dass sie die falschen Aussagen absichtlich gemacht habe. Es sei darum gegangen, dass man das Gegenüber davon habe überzeugen wollen, die angezeigten Übergriffe erlebt zu haben, obwohl es nicht so gewesen sei. Hinzu komme, dass die zeitlichen Abstände zwischen den polizeilichen Einvernahmen ziemlich kurz gewesen seien und die Widersprüche gedächtnispsychologisch nicht erklärbar seien. Das Aussageverhalten der Beschwerdeführerin spreche deshalb insgesamt dagegen, dass sie zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung bzw. Befragung durch die Polizei Scheinerinnerungen geschildert habe in einer Grauzone gewesen wäre, wo sie ihre Aussagen noch für «subjektiv richtig» befunden hätte. Es werde somit nicht von den Ausführungen der Gutachterin abgewichen. Diese schliesse eine unabsichtliche Falschaussage aus.

 

4. Nach Art. 420 lit. a der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) kann der Bund Kanton für die von ihm getragenen Kosten auf Personen Rückgriff nehmen, die vorsätzlich grobfahrlässig die Einleitung des Verfahrens bewirkt haben.

 

Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung solle der Staat nur mit Zurückhaltung von der Möglichkeit des Rückgriffs gemäss Art. 420 lit. a StPO Gebrauch machen. Trotzdem entspreche es dem Gebot von Recht und Billigkeit, die Verfahrenskosten, Entschädigungen und Genugtuungen derjenigen Person aufzuerlegen, die ohne hinreichende Grundlage aus bösem Willen ein Verfahren verursacht habe. Ein Rückgriff komme bei haltlosen Verdächtigungen, nicht jedoch bei einer in guten Treuen erstatteten Strafanzeige in Frage. Zu denken sei vielmehr an eine falsche Anschuldigung nach Art. 303 StGB. Nach der Rechtsprechung handle beispielsweise der Anzeigeerstatter grobfahrlässig, der das Anzeigerecht für sachfremde Zwecke missbrauche (vgl. Urteile 6B_620/2015 vom 3. März 2016 E. 2.2 und 6B_831/2023 vom 26. Januar 2023 E. 2.1 mit Hinweisen).

 

Auch im Basler Kommentar wird darauf hingewiesen, dass nach Art. 420 lit. a StPO auf diejenige Person Rückgriff genommen werden könne, die mit haltlosen Anzeigen Verdächtigungen das Strafverfahren eingeleitet habe. Haltlosigkeit sei jedoch nicht anzunehmen, wenn sich die anzeigende Person auf gewichtige Anhaltspunkte habe stützen können falls die Strafverfolgungsbehörde lediglich den an sich richtig angezeigten Sachverhalt anders würdige. Zu denken sei vielmehr an eine falsche Anschuldigung nach Art. 303 StGB. Dieser Rückgriff solle nur mit einer gewissen Zurückhaltung angeordnet werden, habe der Staat doch ein Interesse daran, dass wirkliche – gelegentlich sogar nur vermeintliche – strafbare Handlungen auch durch Private zur Anzeige gebracht würden. Werde hingegen jemand ohne hinreichende Grundlage sogar aus bösem Willen in ein Strafverfahren verwickelt, entspreche es der Billigkeit, die Verfahrenskosten, Entschädigungen und Genugtuungen nicht den Staat tragen zu lassen, sondern dem Verfahrensverursacher aufzuerlegen (Thomas Domeisen in: Niggli/Heer/Wiprächtiger, [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Art. 196 – 457 StPO, Art. 1-54 JStPO, BSK-StPO, 3. Auflage, Basel 2023, Art. 420 N. 7; vgl. auch Yvona Griesser in: Andreas Donatsch/Viktor Lieber/Sarah Summers/Wolfgang Wohlers, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Zürcher Kommentar StPO, Art. 196-457, 3. Auflage 2020, Art. 420 N 5 f.).

 

5.1 Die Gutachterin, Frau Prof. Dr. C.___, Fachpsychologin für Rechtspsychologie, zertifizierte forensische Psychologin SGFP, kommt in ihrem aussagepsychologischen Gutachten vom 5. Januar 2023 – unter Einbezug der Begutachtung durch Dr. med .D.___, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, spez. forensische Psychiatrie und Psychotherapie – im Wesentlichen und zusammenfassend (vgl. im Detail das Gutachten und die ausführlichere Zusammenfassung in der Einstellungsverfügung) zum Schluss, die Beschwerdeführerin leide zwar an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, es bestünden aber keine Hinweise darauf, dass sie nicht grundsätzlich in der Lage wäre, die in Frage stehenden Geschehnisse wahrzunehmen, über einen langen Zeitraum von 22 bis 27 Jahren im Gedächtnis zu behalten und verbal wiederzugeben, wenn sie diese erlebt hätte. Die Aussagetüchtigkeit sei aus forensisch-psychiatrischer und forensisch-psychologischer Sicht somit grundsätzlich zu bejahen.

 

Hinsichtlich der Frage der Glaubhaftigkeit der Bekundungen der Beschwerdeführerin sei bereits auf Ebene der Aussagezuverlässigkeit zu konstatieren, dass der gravierende Mangel an Konstanz der Beschuldigungen eine positive Substantiierung der Beschuldigungen als erlebnisbegründet nicht zulasse. Aus psychologischer Sicht ergäben sich unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsbesonderheiten der Beschwerdeführerin auch mehrere nachvollziehbare Motivkonstellationen für das Vorbringen einer möglichen bewussten Falschbezichtigung des Beschuldigten. Der Beschuldigte habe in den von der Beschwerdeführerin dokumentierten Schilderungen anfänglich noch keine Rolle gespielt, dies habe sich erst mit Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe anderer Personen gegen den ehemaligen Schulabwart geändert. Zum aktuellen Zeitpunkt – d.h. zum Zeitpunkt der Begutachtung – dürfte ein Widerruf der einmal konkretisierten und zur Anzeige gebrachten Beschuldigungen gegenüber B.___ für die Beschwerdeführerin wiederum mit einem erheblichen Gesichtsverlust verbunden sein, woraus sich auch die Aufrechterhaltung der Beschuldigungen bis zum aktuellen Zeitpunkt psychologisch nachvollziehbar erklären liesse.

 

Angesichts der Befundlage sei zu konstatieren, dass die Beschwerdeführerin fraglos dazu in der Lage gewesen wäre, die inkriminierten Übergriffe durch den Beschuldigten in der vorliegend geringen Qualität im Ganzen zu erfinden, zumal die erste dokumentierte Aussage nicht spontan, sondern nach langem Vorlauf und in Kenntnis früherer Beschuldigungen des Beschuldigten erfolgt sei. Die Möglichkeit einer absichtlichen Falschaussage (Hypothese 1a) sei somit nicht abzuweisen. Die hypothetische Annahme, dass es sich um eine Übertreibung tatsächlicher Erlebnisse handeln könnte (Hypothese 1b), sei zu verwerfen. Eine unabsichtliche Falschaussage (Hypothese 2) erscheine angesichts des insgesamt doch sehr strategisch wirkenden Aussageverhaltens der Beschwerdeführerin wenig naheliegend. Das Agieren in der Exploration und in der videodokumentierten Einvernahme, um unterschiedliche Angaben widerspruchsfrei zu halten, sowie ihre in früheren und auch in der aktuellen Aussage gezeigten, offensichtlichen Plausibilisierungsbemühungen sprächen dafür, dass dies doch mindestens zeitweise durchaus bewusstseinsnah erfolge, auch wenn es vor dem Hintergrund der histrionischen Persönlichkeitsstörung der Beschwerdeführerin nahe liege, dass sie sich leichter als andere Personen in einer Grauzone zwischen bewusst falsch und subjektiv richtig bewegen könnte, in der die Grenzen zwischen erfunden und realitätsbezogen möglicherweise auch schon zu einem früheren Zeitpunkt verschwommen sein könnten.

 

5.2 Im Rahmen einer Stellungnahme zur Eingabe der Vertretung der Beschwerdeführerin vom 29. Mai 2023 führte die Gutachterin am 12. Juli 2023 ergänzend aus, die Widersprüche im Kern der Beschuldigungen seitens der Beschwerdeführerin seien sowohl innerhalb einzelner Aussagezeitpunkte als auch zwischen verschiedenen Aussagezeitpunkten derart auffällig, dass dies aussagepsychologisch im vorliegenden Fall als Ausschlusskriterium für die Annahme eines Erlebnisbezugs zu beurteilen sei. Wie im Gutachten ausführlich erläutert worden sei, sei die aussagepsychologische Leitfrage, ob die Beschwerdeführerin sich Angaben vorliegender Qualität ausgedacht haben könnte (geistige Leistung für falsche Angaben) und diese sowie sich selbst in einem solchen Fall auch in der vorliegenden Art und Weise präsentieren würde (strategische Selbstpräsentation) angesichts der Befundlage klar zu bejahen. Die von der Vertretung als unklar monierte Motivlage sei für diese aussagepsychologische Beurteilung grundsätzlich von untergeordneter Bedeutung. Ungeachtet dessen sei die Bedürfnisstruktur der Beschwerdeführerin – hier gehe es neben dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit v.a. auch um das Bedürfnis, mit der Schilderung von Schicksalsschlägen ernst genommen zu werden – im Gutachten ausführlich erörtert worden. Aussagepsychologisch relevant könnte allenfalls fehlender Belastungseifer sein, der sich in entsprechenden Merkmalen niederschlagen könne. Das Aussageverhalten der Beschwerdeführerin weise jedoch auf nicht unerheblichen Belastungseifer hin.

 

Das von der Vertretung erwähnte Argument, dass Opfer von Sexualstraftaten aufgrund ihrer Traumatisierung kaum dazu in der Lage seien, detaillierte Angaben zum Kerngeschehen zu machen, sei ein populärwissenschaftlich weitverbreiteter Irrtum, der durch wissenschaftlich anerkannte empirische Studien nicht gestützt werde. Erinnerungen an potenziell traumatisierende Ereignisse seien in der Regel besser und detailgenauer abgespeichert als solche an neutrale Ereignisse. Insbesondere Vergewaltigungsopfer hätten im Gegenteil Mühe, ihre Erlebnisse zu vergessen, die sich ihnen oftmals unwillkürlich aufdrängten. Die Beschwerdeführerin habe zudem in ihrer ersten Einvernahme explizit angegeben, das Ganze sei ihr «absolut präsent. Ich erinnere mich sehr gut daran.» Die im Gutachten ausführlich dargelegten massiven Widersprüche und Konstanzprobleme bezüglich der Kernhandlung sprächen sehr deutlich gegen einen Erlebnisbezug der vorgebrachten Beschuldigungen.

 

5.3 Im Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin bereits zu Beginn des Verfahrens anlässlich der beiden polizeilichen Einvernahmen Widersprüche und Konstanzprobleme aufwiesen (vgl. dazu die Ausführungen der Staatsanwaltschaft in der Einstellungsverfügung, Ziff. 1.9 [richtig: 1.10]). Die Aussagen muteten oberflächlich und allgemein an und es zeigten sich erneute Widersprüche im Vergleich zu den Explorationsgesprächen mit der Gutachterin.

 

5.4 Es ist daher mit der Staatsanwaltschaft davon auszugehen, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin nicht als erlebnisbasiert eingestuft werden können und es keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür gibt, dass ihre Bezichtigungen unabsichtlich erfolgt wären. Daran ändert der Hinweis der Vertretung in der Beschwerdeschrift Ziff. 5 auf Seite 59 ff., insbesondere S. 63 f., des Gutachtens nichts. Die Gutachterin hält fest, dass das Agieren der Beschwerdeführerin in der Exploration und in der videodokumentierten Einvernahme, um unterschiedliche Angaben widerspruchsfrei halten zu können, sowie ihre in früheren und auch in der aktuellen Aussage gezeigten, offensichtlichen Plausibilisierungsbemühungen durchaus dafür sprächen, dass dies doch mindestens zeitweise durchaus bewusstseinsnah erfolgt sei. Zur erwähnten Grauzone zwischen bewusst falsch und subjektiv richtig hält sie lediglich fest, dass sich die Beschwerdeführerin leichter als andere Personen in dieser Grauzone bewegen könnte. Die Gutachterin benennt mehrere nachvollziehbare Motivkonstellationen für das Vorbringen einer bewussten Falschbezichtigung des Beschuldigten (S. 60).

 

Die Staatsanwaltschaft geht aufgrund der Beweiswürdigung berechtigterweise davon aus, es könne nicht zutreffen, dass die Beschwerdeführerin ihre Aussagen «subjektiv richtig» gemacht habe. Dagegen sprechen insbesondere die polizeilichen Einvernahmen, die in relativ kurzem zeitlichem Abstand erfolgt sind, und in denen bereits Widersprüche festgestellt werden mussten. Schliesslich wurde die Aussagegeschichte gemäss Gutachterin (S. 57) über alle Aussagezeitpunkte hinweg auffallend widersprüchlich geschildert, was auf eine Anpassung in der Befragungssituation hinweist. Die Gutachterin erwähnt, dass die insgesamt sehr strategisch wirkende Aussage wie auch der in der Exploration diesbezüglich deutlich zutage tretende Belastungseifer eine Pseudoerinnerung nicht nahelege. Im Aussageverhalten fielen Merkmale einer strategischen Selbstpräsentation auf (z.B. Schwarz-Weiss-Zeichnung der eigenen Person und Rolle in Abgrenzung zum Beschuldigten, Belastungseifer, widersprüchliche Darstellung und auffallende Plausibilisierungsbemühungen in Bezug auf die Aussageentstehungsgeschichte und auffallendes Bemühen, Gesprächspartner und –partnerinnen von der Richtigkeit ihrer Aussage zu überzeugen, S. 61). Dies wäre aber kaum zu erwarten gewesen, wenn die Beschwerdeführerin von ihren Aussagen überzeugt gewesen wäre. In diesem Fall wären doch eher Erinnerungslücken eingeräumt worden.

 

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass sich vorliegend ein Rückgriff auf die Beschwerdeführerin bezüglich der Verfahrenskosten und der Genugtuung an den Beschuldigten rechtfertigt, auch wenn der Staat grundsätzlich nur mit Zurückhaltung von dieser Möglichkeit Gebrauch machen sollte. Es entspricht dem Gebot von Recht und Billigkeit, die Verfahrenskosten und die Genugtuung an den Beschuldigten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen, welche ohne hinreichende Grundlage eine Strafanzeige gegen den Beschuldigten eingereicht und damit das Verfahren verursacht hat.

 

6. Die Beschwerde erweist sich folglich als unbegründet und ist entsprechend abzuweisen.

 

7.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens gingen die Kosten des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich zu Lasten der Beschwerdeführerin (Art. 428 Abs. 1 StPO). Sie betragen total CHF 800.00. Die Beschwerdeführerin beantragt indessen die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Diesem Antrag kann entsprochen werden. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird die Beschwerdeführerin daher von der Bezahlung der Verfahrenskosten vorläufig befreit. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben.

 

7.2 Der unentgeltliche Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Alain Langenegger, macht einen Aufwand von 7,26 Stunden zu einem Stundenansatz von CHF 250.00 geltend. Dies erscheint vom Aufwand her angemessen. Bei unentgeltlicher Rechtspflege resp. Rechtsverbeiständung beträgt der Stundenansatz indessen nur CHF 190.00 (§ 158 Abs. 3 und 4 des Gebührentarifs, GT, BGS 615.11). Die Kostenforderung ist daher entsprechend zu reduzieren. Inklusive Auslagen von CHF 4.00 und der Mehrwertsteuer von 7,7 % beträgt die Entschädigung folglich CHF 1'491.30, zahlbar durch den Staat Solothurn. Vorbehalten bleiben der Rückforderungsanspruch des Staates für die Dauer von 10 Jahren sowie der Nachzahlungsanspruch des unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Umfang von CHF 469.55 (7,26 Stunden zu je 60.00, plus MwSt.), beides, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin erlauben.

 

Demnach wird beschlossen:

 

1.    Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.    Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens von total CHF 800.00 zu bezahlen. Zufolge unentgeltlicher Rechtspflege wird sie von der Bezahlung vorläufig befreit; vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

3.    Die Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes von A.___, Rechtsanwalt Alain Langenegger, wird für das Beschwerdeverfahren auf CHF 1'491.30 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt und ist zufolge unentgeltlicher Rechtspflege vom Staat zu bezahlen. Vorbehalten bleiben der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren sowie der Nachzahlungsanspruch des unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Umfang von CHF 469.55; beides, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse von A.___ erlauben.

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Im Namen der Beschwerdekammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Die Gerichtsschreiberin

Frey                                                                                  Ramseier



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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