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Urteil Verwaltungsgericht (SO - BKBES.2022.52)

Zusammenfassung des Urteils BKBES.2022.52: Verwaltungsgericht

Die Beschwerdekammer des Obergerichts hat über eine Verfügung vom 21. Februar 2022 entschieden, in der eine Öffentlichkeitsfahndung angeordnet wurde, nachdem A.___ beschuldigt wurde, eine Person auf Gleis 2 eines Bahnhofs geworfen zu haben. A.___ meldete sich bei der Polizei und gab an, die gesuchte Person zu sein. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei löschten daraufhin die Fotos und forderten die Medien auf, sie nicht mehr zu verwenden. A.___ erhob Beschwerde gegen die Öffentlichkeitsfahndung, die Staatsanwaltschaft forderte die Abweisung der Beschwerde. Das Gericht entschied aufgrund der vorliegenden Akten und berücksichtigte die Argumente beider Parteien. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass die Veröffentlichung der Fotos gegen die Unschuldsvermutung und die Persönlichkeitsrechte verstosse. Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihr Vorgehen und betonte die Schwere des Vorfalls. Das Gericht prüfte die betroffenen Grund- und Verfahrensrechte sowie die Zulässigkeit der Beschränkung dieser Rechte. Es stellte fest, dass die gesetzliche Grundlage für die Öffentlichkeitsfahndung gegeben war und dass die Empfehlung der Schweizerischen Staatsanwaltschaftskonferenz berücksichtigt wurde. Das Gericht berücksichtigte die Deliktsschwere, den Tatverdacht und die Erforderlichkeit der Massnahmen. Es entschied, dass die Öffentlichkeitsfahndung im vorliegenden Fall gerechtfertigt war.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts BKBES.2022.52

Kanton:SO
Fallnummer:BKBES.2022.52
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Beschwerdekammer
Verwaltungsgericht Entscheid BKBES.2022.52 vom 17.06.2022 (SO)
Datum:17.06.2022
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Öffentlichkeit; Person; Grund; Öffentlichkeitsfahndung; Recht; Staat; Staatsanwaltschaft; Verfahren; Fahndung; Tatverdacht; Zwang; Recht; Medien; Grundrecht; Zwangsmassnahme; Personen; Internet; Interesse; Publikation; Beschwerdeführers; Opfer; Empfehlung; Zwangsmassnahmen; Unschuldsvermutung; Fotos
Rechtsnorm: Art. 10 BV ;Art. 10 StPO ;Art. 113 StPO ;Art. 126 StGB ;Art. 13 BV ;Art. 135 StPO ;Art. 196 StPO ;Art. 197 StPO ;Art. 210 StPO ;Art. 211 StPO ;Art. 29 BV ;Art. 32 BV ;Art. 36 BV ;Art. 393 StPO ;Art. 396 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 429 StPO ;Art. 6 EMRK ;Art. 7 BV ;Art. 73 StPO ;Art. 74 StPO ;Art. 8 EMRK ;
Referenz BGE:145 IV 42;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts BKBES.2022.52

 
Geschäftsnummer: BKBES.2022.52
Instanz: Beschwerdekammer
Entscheiddatum: 17.06.2022 
FindInfo-Nummer: O_BK.2022.61
Titel: Verfügung vom 21. Februar 2022 / Anordnung einer Öffentlichkeitsfahndung

Resümee:

 

Obergericht

Beschwerdekammer

 


Beschluss vom 17. Juni 2022   

Es wirken mit:

Präsident Müller

Oberrichterin Hunkeler  

Oberrichter Flückiger

Gerichtsschreiber Wiedmer

In Sachen

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Roman Frey,

 

Beschwerdeführer

 

 

gegen

 

 

Staatsanwaltschaft, Barfüssergasse 28, Franziskanerhof, Postfach 157, 4502 Solothurn

 

Beschwerdegegnerin

 

betreffend     Verfügung vom 21. Februar 2022 / Anordnung einer Öffentlichkeitsfahndung


zieht die Beschwerdekammer des Obergerichts in Erwägung:

 

I. Sachverhalt

 

1. Am Abend [...] kam es am Bahnhof [...] zu einem Vorfall, in dessen Rahmen A.___ vorgeworfen wird, eine andere Person auf Gleis 2 geworfen zu haben, kurz bevor ebendort ein Schnellzug in den Bahnhof einfuhr. Die Staatsanwaltschaft eröffnete daraufhin ein Verfahren betreffend versuchter vorsätzlicher Tötung gegen Unbekannt.

 

2. Am 21. Februar 2022 ordnete die Staatsanwaltschaft eine Öffentlichkeitsfahndung an. Dabei sollte nach dem Dreistufenmodell der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz (SSK) vorgegangen werden: 1. Ankündigung der Veröffentlichung von Fotos mittels Medienmitteilung und Ansetzung einer Frist, sich zu stellen; 2. Publikation gepixelter Bilder der Tatverdächtigen; 3. Veröffentlichung der unverpixelten Bilder. Dementsprechend forderte die Staatsanwaltschaft mit einer ersten Medienmitteilung vom 22. Februar 2022 unter Hinweis auf das von ihr geführte Verfahren «den Tatverdächtigen sowie Personen, die Angaben zur Identität des Tatverdächtigen machen könne» auf, «sich bis am 1. März 2022 bei Polizei Kanton Solothurn zu melden.» Sofern der Gesuchte nicht ermittelt werden könne, würden nach Ablauf der Frist Bilder des mutmasslichen Täters veröffentlicht.

 

3. Die Staatsanwaltschaft nahm in ihrer zweiten Medienmitteilung vom 2. März 2022 Bezug auf die erste Medienmitteilung und führte weiter aus: «Dem Aufruf der Staatsanwaltschaft leistete der Tatverdächtige bislang keine Folge. Die Staatsanwaltschaft publiziert daher Bilder des Tatverdächtigen im Internet und bittet die Bevölkerung bei dessen Identifizierung um Mithilfe.» Veröffentlicht hat die Staatsanwaltschaft auf ihrer Internetseite insoweit verpixelte Fotos der Gesuchten, als das Gesichtsfeld weitgehend (Augen, Nase, Ober- und teilweise Unterlippe) schwarz abgedeckt ist. Die […] und andere Medien berichteten darüber und publizierten die verpixelten Fotos ebenfalls.

 

4. A.___ hat sich am 2. März 2022 bei der Polizei Kanton Solothurn gemeldet und angegeben, er sei die gesuchte Person. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei Kanton Solothurn haben aufgrund der erfolgreichen Öffentlichkeitsfahndung die Fotos auf der Homepage und auf den Social-Media-Kanälen umgehend gelöscht und die Medien aufgefordert, die im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung verwendeten Bilder nicht mehr zu verwenden und aus internen Datenbanken zu löschen.

 

5. Mit Verfügung vom 25. März 2022 wurde dem amtlichen Verteidiger von A.___ die Verfügung vom 21. Februar 2022 inkl. Rechtsmittelbelehrung eröffnet.

 

5. Am 8. April 2022 erhob A.___ (nachfolgend Beschwerdeführer), vertreten durch Rechtsanwalt Roman Frey, bei der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn Beschwerde und stellte die Anträge:

 

1.    Die mit Verfügung vom 21. Februar 2022 angeordnete Öffentlichkeitsfahndung im Verfahren STA.2022.595 sei für unzulässig zu erklären.

2.    Es sei dem Beschwerdeführer für das vorliegende Beschwerdeverfahren die amtliche Verteidigung zu erweitern.

3.    Unter Kosten- und Entschädigungsfolge.

 

6. Mit Stellungnahme vom 13. April 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen; unter Kostenfolge zu Lasten des Beschwerdeführers.

 

7. Der vorliegende Entscheid ist aufgrund der Akten ergangen. Die Einzelheiten des Sachverhalts und der Standpunkte ergeben sich, soweit sie für den Entscheid von Bedeutung sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.

 

 

II. Erwägungen

 

1. Formelles

 

1.1 Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft können mit Beschwerde bei der Beschwerdeinstanz angefochten werden (Art.393 Abs.1 lit.a der Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO, SR 312.0]). Die Öffentlichkeitsfahndung gemäss Art. 211 StPO figuriert unter dem Titel der Zwangsmassnahmen (Art. 197 ff. StPO). Vorliegend fusst die Publikation des Fotos im Internet in Anwendung des Dreistufenmodells auf dem eingangs erwähnten Entscheid der Staatsanwaltschaft vom 21. Februar 2022. Gegen die Anordnung und auch gegen die Durchführung von Zwangsmassnahmen ist die Beschwerde zulässig, insbesondere auch gegen Fahndungen im Sinn von Art. 210 f. StPO (Guidon, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 393 N 10; Weder, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Auflage, Zürich 2014, Art. 211 N 19; Simona Künzli, Internetfahndung, Zürcher Studien zum Verfahrensrecht 2017, S. 130), mithin also auch gegen die vorliegend konkret angefochtene Publikation eines verpixelten Fotos im Rahmen der auf Art. 211 StPO gestützten Öffentlichkeitsfahndung: Es handelt sich dabei im Sinne der Praxis um eine gegen aussen wirksame Handlung der Staatsanwaltschaft, welche auf den Verfahrensgang, also die Einleitung und die Durchführung des Verfahrens gerichtet und prozessrechtlich geregelt ist (Guidon, a.a.O., Art. 393 StPO N 6). Tatsächlich hat die Staatsanwaltschaft umgehend ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer eröffnet, nachdem er sich gemeldet hatte.

 

1.2 Der Beschwerdeführer macht als Beschwerdegründe geltend, die Veröffentlichung des Fotos verstosse gegen die Unschuldsvermutung, weil sie eine Vorverurteilung enthalte. Eingegriffen werde in Persönlichkeitsrechte und Grundrechte würden beschnitten. Tangiert werde auch der Grundsatz nemo tenetur und damit der Anspruch auf ein faires Verfahren. Dies sind grundsätzlich zulässige Beschwerdegründe. Der Beschwerdeführer ist von der Publikation des verpixelten Bildes (und der Weiterverbreitung in den Medien) sowie der damit zusammenhängenden Eröffnung eines Verfahrens gegen ihn von der Veröffentlichung des Fotos persönlich berührt. Er hat ein schützenswertes Feststellungsinteresse. Auf die nach Art. 396 Abs.1 StPO frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist demnach einzutreten. Die Kognition des Beschwerdegerichts ist frei und somit nicht auf Willkür beschränkt (Art. 393 Abs. 2 StPO).

 

 

2. Standpunkte der Parteien

 

2.1 Der Beschwerdeführer lässt vorbringen, dass, obwohl die rechtliche Würdigung des Vorfalls vom [...] dem urteilenden Sachgericht vorbehalten bleibe, bereits Ausführungen zum Tathergehen und der strafrechtlichen Relevanz des Verhaltens des Beschwerdeführers zwecks Veranschaulichung der Unzulässigkeit der angeordneten Internetfahndung gemacht werden müssten. Wie sich nämlich der Videoaufzeichnung des Vorfalls vom [...] entnehmen lasse, müsse sich der Beschwerdeführer zwar vorhalten lassen, das Opfer auf die Gleise 2/1 am Bahnhof [...] geworfen zu haben. Aus welchen Gründen die Staatsanwaltschaft jedoch daraus schliesse, der Beschwerdeführer könne sich mit diesem Verhalten einer versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig gemacht habe, sei nicht nachvollziehbar. Dem Beschwerdeführer könne kein eventualvorsätzliches Verhalten vorgeworfen werden, zum anderen lasse sich der Videoaufzeichnung auch entnehmen, dass zwischen dem Zeitpunkt des Gleiswurfs und dem Zeitpunkt, in dem der einfahrenden Schnellzug den Punkt erreichte habe, wo das Opfer auf das Gleis geworfen worden sei, ganze sieben Sekunden vergangen seien, womit auch in objektiver Hinsicht nicht von einer Situation die Rede sein könne, in der konkreten Todesgefahr für das Opfer bestanden hätte. Ebenfalls sei zu berücksichtigen, dass das Opfer durch den Gleiswurf bis zu Perron 1 gelangt sei, auf dem sich einerseits ein stehender Regionalzug befunden habe und von wo aus es sich andererseits mühelos hätte in Sicherheit bringen können, indem es auf Perron 1 hochgeklettert wäre. Das Verhalten des Beschwerdeführers möge somit unweigerlich den Tatbestand der Tätlichkeit im Sinne von Art. 126 StGB erfüllen, die vorliegende Aktenlage deute jedoch keineswegs auf eine versuchte eventualvorsätzliche Tötung hin. Nicht zuletzt aufgrund des Grundsatzes in dubio pro reo hätte sich bereits vor Anordnung der Öffentlichkeitsfahndung erkennen lassen, dass sich dem Beschuldigten eine versuchte vorsätzliche Tötung nicht nachweisen liesse und der Vorwurf eher auf eine Tätlichkeit lauten sollte. Die Staatsanwaltschaft habe mit der angefochtenen Verfügung unter der Prämisse eines Tötungsdelikts eine virulente Öffentlichkeitsfahndung für ein mit Busse bedrohtes Antragsdelikt angeordnet.

 

Hinsichtlich der angeordneten Öffentlichkeitsfahndung bleibe zu erwähnen, dass es sich hierbei um eine für den Betroffenen erheblich schädlich auswirkende, da massiv in die Persönlichkeitsrechte und in das Grundrecht der Unschuldsvermutung eingreifende Zwangsmassnahme handle. Komme hinzu, dass für diese Form der Öffentlichkeitsfahndung mit Art. 211 Abs. 1 StPO nur eine vage gesetzliche Grundlage bestehe und das Gesetz die Verwendung von Bildern auf Internetseiten nicht explizit erwähne, was angesichts des erheblichen Eingriffs in die Grundrechte der dadurch Betroffenen in rechtspolitischer Hinsicht fragwürdig sei. Die entsprechende bundesgerichtliche Rechtsprechung, welche Art. 211 Abs. 1 StPO als ausreichende gesetzliche Grundlage für eine solche Internetfahndung anerkenne, laufe nach hier vertretener Auffassung dem Wortlaut des Gesetzes zuwider und verletze das Legalitätsprinzip. Gerade, weil dadurch die Privatsphäre und die Unschuldsvermutung der Betroffenen stark beeinträchtigt werde und weil dafür eben keine spezifische gesetzliche Grundlage bestehe, wäre bei Ergreifung dieser Zwangsmassnahme höchste Zurückhaltung geboten, was in vorliegendem Fall leider unterlassen worden sei.

 

Hinzu komme, dass neben der Relativierung der Unschuldsvermutung und der empfindlichen Einschränkung der Privatsphäre der Betroffenen, mit der Internetfahndung ausserdem auch der strafprozessuale Grundsatz, wonach sich niemand selber belasten müsse (Selbstbelastungsprivileg, nemo tenetur), unterminiert werde. So sei mit dem angewandten Dreistufenmodell unzulässig Druck auf den Beschwerdeführer ausgeübt worden, sich bei den Strafverfolgungsbehörden zu stellen und sich damit faktisch zum übertriebenen Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung zu bekennen. Auch dies stelle letztlich eine unzulässige Verletzung der Unschuldsvermutung und des Rechts auf ein faires Verfahren dar.

 

Dass die angeordnete Internetfahndung geeignet gewesen sei, den Zweck der Strafverfolgung des Beschwerdeführers zu dienen, stehe ausser Frage. Bestritten werde hingegen, dass nicht mildere, geeignete Mittel bestanden hätten, um die Täterschaft ausfindig zu machen. So wäre durchaus denkbar gewesen, dass sich aus den diversen Einvernahmen der den Vorfall beobachtenden Personen der Beschwerdeführer allenfalls hätte ausfindig gemacht werden können, zumal sich auch ihm offenbar bekannte Personen auf Perron Gleis 1 aufgehalten hätten. Das Kriterium der Erforderlichkeit sei somit nicht erfüllt, weshalb die angeordnete Öffentlichkeitsfahndung bereits aus diesem Grund unverhältnismässig sei.

 

Viel schwerer ins Gewicht falle aber die Prüfung der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne. Demnach müsste die angeordnete Zwangsmassnahme gegenüber dem abzuklärenden Delikt in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Sofern auf die Internetfahndung zurückgegriffen werde, müsste es sich bei der abzuklärenden Straftat also um ein gravierendes Delikt im Bereich der Verbrechenstatbestände schwerwiegende Vergehen handeln, an deren Aufklärung ein erhebliches öffentliches Interesse bestehe. Wie vorstehend umschrieben, lasse sich allein aus der Videoaufzeichnung des hier interessierenden Vorfalls erkennen, dass der Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung übertrieben, wenn nicht gar konstruiert sei und das Verhalten des Beschwerdeführers lediglich als Tätlichkeit qualifiziert werden dürfte. Die angeordnete Öffentlichkeitsfahndung stehe somit mit dem abzuklärenden Delikt in einem krassen Missverhältnis und bestehe die engere Verhältnismässigkeitsprüfung (Interessenabwägung) somit ebenfalls nicht.

 

Letztlich bleibe zu erwähnen, dass dem Beschuldigten mit der Öffentlichkeitsfahndung – neben dem Fakt, dass ihm damit ein faires Verfahren verunmöglicht worden sei – auch massiver persönlicher Schaden zugefügt worden sei: Exemplarisch lasse sich dies etwa der E-Mail-Korrespondenz zwischen dem unterzeichneten Rechtsvertreter und der Unternehmensjuristin einer grossen Schweizer Boulevardzeitung entnehmen. Trotz staatsanwaltschaftlicher Aufforderung auf Löschung habe sich diese Zeitung geweigert, nota bene entgegen der staatsanwaltschaftlichen Aufforderung, die Bilder von ihrer Homepage zu löschen. Nicht speziell erwähnt werden müsse, dass der Beschwerdeführer auf den Bildern trotz Verpixelung etwa aufgrund der Kleidung, der Frisur des Habitus sehr wohl erkennbar sei. So seien es nach Angaben des Beschwerdeführers denn auch Kollegen gewesen, welche ihn auf die Publikation der Fahndungsbilder und dass er darauf abgebildet sei, aufmerksam gemacht hätten. Welchen Schaden die Staatsanwaltschaft mit der Internetfahndung dem Beschwerdeführer zugefügt habe, kristallisiere sich also etwa aus vorstehender E-Mail-Korrespondenz heraus, denn die Bilder würden medial ausgeschlachtet, der Beschwerdeführer regelrecht «angeprangert». Die Aktion des Beschwerdeführers am Abend des [...] möge jugendlichem Leichtsinn zuzuschreiben sein, die Folgen, welche die Beschwerdegegnerin mit der Internetfahndung für ihn fabriziere (Konnex zu einem Tötungsdelikt und damit einhergehende soziale Ächtung und Stigmatisierung), werde der Beschwerdeführer hingegen Zeit seines Lebens gewärtigen müssen.

 

Auf die vorgebrachten Aspekte wird nachfolgend in geeigneter Weise einzugehen sein.

 

2.2 Die Staatsanwaltschaft bringt vor, sie habe nach den ersten Schilderungen des Opfers sowie seines Begleiters ein Strafverfahren wegen versuchter vorsätzlicher Tötung eröffnet. Dies auch aufgrund des Umstandes, dass kurz nach dem Stossen auf das Gleis ein Schnellzug eingefahren sei. Der mit 60km/h einfahrende Zug habe nicht nur das Horn betätigen, sondern auch stark bremsen müssen. Hinzu komme, dass aufgrund der bereits angesammelten Personenzahl auf Perron 2/3 die anwesenden Personen davon hätten ausgehen müssen, dass demnächst der Schnellzug einfahren würde. Auf den Videobildern sei sodann ersichtlich, wie der Beschuldigte auf das Perron 2/3 komme, sich zum späteren Opfer begebe, mit diesem etwas diskutiere, von diesem wieder weggehe und kurz vor der Treppe abrupt wieder umdrehe, zum Opfer zurückgehe und es mit erheblicher Kraft ohne weiteres Zögern auf das Gleis 2 stosse. Dabei sei es mehr dem Glück resp. dem Gleichgewicht des angetrunkenen Opfers geschuldet gewesen, dass dieses nicht gestürzt sei. So einen Sturz und damit einhergehende Verletzungen (z.B. Anschlagen des Kopfes mit entsprechenden Kopfverletzungen etc.) habe der Beschuldigte mit seinem Verhalten aber zumindest billigend in Kauf genommen. Ebenso habe er damit rechnen müssen, dass es bei einem Sturz dem Opfer nicht möglich sein werde, vor dem Eintreffen des Zuges wieder auf das Perron zurück zu kehren. Damit einhergehend die entsprechend gravierenden Folgen: Der mit 60km/h heranfahrende Zug hätte wohl nicht mehr rechtzeitig vollständig bremsen können. Der Beschwerdeführer negiere offensichtlich die Gefährlichkeit seines Handelns. Gerade aber bei der Versuchsstrafbarkeit dürfe die rechtliche Einordnung nicht darauf basieren, dass das Opfer nicht verletzt worden sei. Vielmehr sei von Relevanz, wie die vorgeworfene Tat konkret vonstatten gegangen sei, da gemäss der Rechtsprechung von den äusseren Umständen auch auf die innere Willensrichtung geschlossen werden könne. Vorliegend müsse der Beschuldigte wahrgenommen haben, dass sich zahlreiche Personen auf dem Perron befinden und entsprechend demnächst der Schnellzug einfahren würde. Ebenso dürfte ihm bekannt sein, dass der Zug gerade noch zu Beginn des Perrons einiges an Geschwindigkeit aufweise. Und ebenso müsse ihm die Gefahr bekannt sein, dass jemand, den man unvermittelt und mit voller Kraft auf das Gleis stosse, stürzen, sich verletzen und liegen bleiben könne. Komme hinzu, dass das Stossen auf das Gleis an einem viel befahrenen Bahnhof wie [...] eine schwerwiegende Sorgfaltspflichtverletzung darstelle. In dieser Art habe sich die Ausgangslage präsentiert, als das Verfahren eröffnet worden sei. Aktuell sei vom dringenden Tatverdacht betreffend versuchte Tötung evtl. versuchte schwere Körperverletzung evtl. Gefährdung des Lebens auszugehen.

 

Der Beschwerdeführer bringe weiter vor, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung, welche Art. 211 Abs. 1 StPO als ausreichende gesetzliche Grundlage taxiere, abzulehnen sei. Dabei verkenne der Beschwerdeführer, dass nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die herrschende Literatur die Auffassung vertrete, dass die erwähnte Norm eine ausreichende gesetzliche Grundlage darstelle, dies auch für die «Internetfahndung», zumal der Gesetzeswortlaut den Einbezug neuer Medien nicht ausschliesse.

 

Ferner rüge er, dass mit der Befragung der anwesenden Personen die Identifikation des Beschuldigten möglich gewesen wäre. Dabei verkenne er, dass mehrere Personen auf Perron 2/3 befragt worden seien, so der Melder, das Opfer, dessen Begleiter sowie eine weitere Person, die sich bereits vor der Öffentlichkeitsfahndung bei der Polizei Kanton Solothurn gemeldet habe. Es sei aber utopisch, wenn die Verteidigung davon ausgehe, dass sämtliche Personen auf dem [...] hätten befragt werden können. Dazu hätten die Strafverfolgungsbehörden zunächst einmal sämtliche Personalien kennen müssen. Fakt sei aber vielmehr, dass die Meldung an die Polizei erst erfolgt sei, als das Opfer sich bereits im Zug nach […] befunden habe. Zu diesem Zeitpunkt sei es schon gar nicht mehr möglich gewesen, sämtliche Personen zu eruieren, zumal auch der Zug von Biel kommend zu einer Veränderung der anwesenden Personen geführt habe.

 

Aufgrund der Akten sei erstellt, dass die vorherigen Bemühungen, den Beschuldigten zu identifizieren, erfolglos verlaufen seien. So habe die DNA der Jacke des Opfers zum damaligen Zeitpunkt keinen Treffer ergeben. Weder das Opfer, noch sein Begleiter, noch jene Personen, die befragt worden seien, hätten nähere Angaben zur Täterschaft machen können. Die sogenannte «Verbreitung National» auf polizeilicher Ebene habe sodann zunächst den Hinweis auf eine Drittperson ergeben. Diese sei am 15. Februar 2022 angehalten und befragt worden, habe aber nachweisen können, dass sie sich zum Tatzeitpunkt im Ausland befunden habe. Damit sei den Strafverfolgungsbehörden keine andere Möglichkeit verblieben, als die Öffentlichkeitsfahndung.

 

Mit Blick auf die rechtliche Einordnung des Delikts als versuchte Tötung sei dies verhältnismässig gewesen, selbst wenn man noch den Vorhalt hätte anbringen wollen, dass auch eine andere rechtliche Würdigung, nämlich als versuchte schwere Körperverletzung Gefährdung des Lebens, möglich seien. Hinzu komme, dass das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten ein erhebliches Gewaltpotential aufweise. Bei solch einem Verhalten, das eine erhebliche kriminelle Energie und auch Geringschätzung der körperlichen Integrität von ihm unbekannten Personen aufweise, lediglich von «jugendlichem Leichtsinn» zu sprechen, negiere die Gefährlichkeit des Verhaltens des Beschuldigten gänzlich. Fakt sei, dass mit dem dem Beschuldigten vorgeworfenen Verhalten ein erhebliches Risiko für die körperliche Integrität des Opfers geschaffen worden sei. Ob dieses vom erkennenden Gericht schlussendlich als versuchte Tötung, versuchte schwere Körperverletzung als Gefährdung des Lebens eingestuft werde, sei für die Frage der Verhältnismässigkeit der Öffentlichkeitsfahndung nicht relevant, handle es sich dabei doch bei allen Delikten um Verbrechenstatbestände.

 

 

3. Tangierte Verfahrens-, Individual- und Grundrechte

 

Zunächst sind die geltend gemachten Grund- und Verfahrensrechte, auf welche sich der Beschwerdeführer beruft, im Einzelnen darzustellen.

 

3.1 Persönlichkeitsrechte

Art. 13 Abs. 2 BV bestimmt, dass jede Person Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten hat, worunter auch das Recht am eigenen Bild fällt. Art. 13 BV überschneidet sich teilweise mit dem in Art. 10 Abs. 2 BV verankerten Recht auf persönliche Freiheit, weshalb die Schutznormen parallel zu prüfen sind; Art. 8 EMRK unterscheidet nicht zwischen dem Recht auf Privatsphäre und persönlicher Freiheit (Künzli, a.a.O. S. 58 f.). Auch wer sich in der Öffentlichkeit aufhält, kann sich auf sein Recht auf Privatsphäre berufen. Das Begehen einer Straftat ist ein typischer Fall für das Interesse einer Person am "Recht, allein gelassen zu werden". Privatpersonen müssen nicht hinnehmen, dass sie durch staatliche Organe in Wort, Bild Ton aufgezeichnet werden. Das bei der Internetfahndung verwendete Foto- und Videomaterial fällt in den Schutzbereich dieser Normen, ebenso polizeiliche Erkennungsmassnahmen (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl., Zürich 2016, Rz. 390a; Breitenmoser, in: St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Art. 13 BV N 18, 20; Kiener/Kälin/Wyttenbach, Grundrechte, 3. Aufl., Bern 2018, S. 185; Künzli, a.a.O. S. 49 f.; vgl. BGE 145 IV 42 E. 4.2; Urteil 6B_908/2018 vom 7. Oktober 2019 E. 3.1.1), so auch die vorliegend angefochtene Publikation des Fotos des Beschuldigten. Art. 74 Abs. 3 StPO statuiert für die Orientierung der Öffentlichkeit im Strafverfahren ausdrücklich, dass die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu beachten sind.

 

 

3.2 Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO besteht darin, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt. Art. 74 Abs. 3 StPO statuiert für die Orientierung der Öffentlichkeit ausdrücklich, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung der Betroffenen zu beachten ist.

 

3.3 Nemo tenetur

Der nemo tenetur Grundsatz ist Ausfluss des in Art. 29 BV verankerten Anspruchs auf "gerechte Behandlung" sowie des in Art. 6 EMRK verankerten Anspruchs auf "faires Verfahren" und wird in Art. 113 Abs.1 StPO konkretisiert. Demnach muss sich die beschuldigte Person "nicht selbst belasten. Sie hat namentlich das Recht, die Aussage und die Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Sie muss sich aber den gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen unterziehen." Die Publikation verpixelter und die Ankündigung der Veröffentlichung unverpixelter Fotos wird mitunter als Zwang zur Selbstbelastung bezeichnet (Künzli, a.a.O. S. 140). Der nemo tenetur Grundsatz beansprucht jedoch keine absolute Geltung (Künzli, a.a.O. S. 138). Vielmehr gelten in Lehre und Praxis Zwangsmassnahmen als mit dem nemo tenetur Grundsatz prinzipiell und unter gewissen Voraussetzungen vereinbar (Künzli, a.a.O. S. 140 ff.), was bereits aus dem soeben zitierten Wortlaut von Art. 113 Abs. 1 letzter Satz StPO hervorgeht.

 

 

4. Zulässigkeit der Beschränkung der Grundrechte

 

In Frage stehen zusammengefasst mit der Publikation verpixelter Fotos einhergehende Beschränkungen von Verfahrens-, Individual- und Grundrechten. Gemäss Art. 36 BV bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage und müssen durch ein öffentliches Interesse durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar (Häfelin/Haller/Keller/ Thurnherr, a.a.O., Rz. 302 ff.; Weder, a.a.O., Art. 211 N 4).

 

4.1 Rechtsgrundlage der Öffentlichkeitsfahndung ist unter der Marginalie "Mithilfe der Öffentlichkeit" zunächst Art. 211 Abs. 1 StPO, wonach die Öffentlichkeit zur Mithilfe bei der Fahndung aufgefordert werden kann. Dieser Grundsatz wird durch weitere Bestimmungen konkretisiert. Systematisch findet sich Art. 211 StPO zusammen mit Art. 210 StPO unter der Überschrift "Fahndung", welche unter dem Titel der Zwangsmassnahmen (Art. 196 ff.) figuriert. Unter den Begriff der Zwangsmassnahmen fallen laut Art. 196 StPO Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die in Grundrechte der Betroffenen eingreifen und die dazu dienen, (lit. a) Beweise zu sichern und (lit. b) die Anwesenheit von Personen im Verfahren sicherzustellen. Grundsätzlich können gemäss Art. 197 Abs. 1 StPO Zwangsmassnahmen nur ergriffen werden, wenn (lit. a) sie gesetzlich vorgesehen sind, (lit. b) ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, (lit. c) die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und (lit. d) die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt. Laut Art. 197 Abs. 2 StPO sind Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, besonders zurückhaltend einzusetzen. Im Unterschied zu Art. 36 BV findet das öffentliche Interesse keine explizite Erwähnung, weil diesem das Strafverfahren per se dient (Weber, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 197 N 3). Als Grundsatz für die Fahndung hält Art. 210 Abs. 1 StPO fest, dass Staatsanwaltschaft, Übertretungsstrafbehörden und Gerichte zur Ermittlung des Aufenthaltsortes Personen ausschreiben können, deren Aufenthalt unbekannt und deren Anwesenheit im Verfahren erforderlich ist. Zur Mithilfe bei der Fahndung kann wie erwähnt gestützt auf Art. 211 Abs. 1 StPO die Öffentlichkeit aufgefordert werden. Grundsätzlich sind die Strafbehörden zwar an die in Art. 73 StPO verankerte Geheimhaltungspflicht gebunden. Ausnahme davon ist die in Art. 74 StPO verankerte Orientierung der Öffentlichkeit. Gemäss dessen Abs. 1 lit. a kann die Öffentlichkeit über hängige Verfahren orientiert werden, wenn dies erforderlich ist, damit die Bevölkerung bei der Aufklärung von Straftaten bei der Fahndung nach Verdächtigen mitwirkt. Dabei sind laut Art. 74 Abs. 3 StPO der Grundsatz der Unschuldsvermutung und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu beachten. Unter den allgemeinen Begriff der Öffentlichkeitsfahndung fällt der Einbezug der Bevölkerung in die Fahndung nach Personen, Sachen Vermögenswerten unter Benützung der Medien, einschliesslich des Internets (Rüegger, in: Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, Art. 211 StPO N 3).

 

Eine formellgesetzliche Grundlage (auch im Sinn von Art. 197 Abs. 1 lit. a StPO) für die Öffentlichkeitsfahndung ist in Art. 211 StPO somit vorhanden, umso mehr, als sie durch die weiteren genannten Regelungen konkretisiert wird. Dass dabei in die Grundrechte und Verfahrensgarantien beschuldigter, aber auch nicht beschuldigter Personen eingegriffen werden kann, ergibt sich direkt aus Art. 196 StPO, Art. 197 Abs. 2 StPO und indirekt aus Art. 74 Abs. 3 StPO. Das öffentliche Interesse besteht zuvorderst in der Strafverfolgung. Die StPO konkretisiert den Verhältnismässigkeitsgrundsatz namentlich in Form von Anforderungen an den Tatverdacht, die Bedeutung der Straftat, das erfolglose Ausschöpfen milderer Mittel und mit ausdrücklichen Hinweisen auf die Grundrechte.

 

4.2 Die Staatsanwaltschaft stützt ihr Vorgehen ausdrücklich auch auf das in der Empfehlung zur Öffentlichkeitsfahndung der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz (SSK).

 

4.2.1 Einleitend vermerkt diese Empfehlung SSK, dass bei der Fahndung nach Art. 211 StPO das Verfahrensinteresse im Vordergrund stehe und nicht etwa (wie bei Art. 74 StPO) auch das Interesse der Öffentlichkeit an einer Mitteilung. Den Begriff der Öffentlichkeitsfahndung definiert die Empfehlung unter Verweis auf den Basler Kommentar (Rüegger, a.a.O., Art. 211 StPO N 3) als Einbezug der Bevölkerung in die Fahndung nach Personen, Sachen Vermögenswerten unter Benützung der Medien, einschliesslich des Internets. Auch bei der Voraussetzung einer "gewissen Schwere der zu untersuchenden Straftat" stützt sich die Empfehlung auf den Basler Kommentar (Rüegger, a.a.O., Art. 211 StPO N 9 und 27 f.). Danach ist es "nicht nur bei Kapitalverbrechen (namentlich Tötungsdelikten) möglich, eine Öffentlichkeitsfahndung anzuordnen, sondern es muss sich grundsätzlich um ein gravierendes Delikt im Bereich der Verbrechenstatbestände von schwerwiegenden Vergehen handeln, an deren Aufklärung ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Weiter setzt die Empfehlung einen dringenden Tatverdacht voraus sowie den Umstand, dass "eine Person bei der Tat abgebildet" sein muss. Sodann müssen "alle polizeilichen Ermittlungs- und Fahndungsmassnahmen ausgeschöpft sein: Die Öffentlichkeitsfahndung setzt voraus, dass die bisherigen Fahndungsmittel nicht zum Erfolg führten voraussichtlich nicht zum Erfolg führen können. Es müssen somit alle Fahndungsmittel der Polizei ausgeschöpft worden sein, wie etwa Rechtshilfeersuchen an andere Kantonspolizeien, Intranet, Social Media etc. Erst wenn diese nicht zum Erfolg geführt haben, darf die Öffentlichkeit zur Mithilfe aufgefordert werden." Die Anordnung dazu soll von der Staatsanwaltschaft ausgehen und nach dem Dreistufenmodell erfolgen, welches wie folgt beschrieben wird: "Die Veröffentlichung erfolgt in der Regel in einem Dreistufenmodell. Als erstes wird die Veröffentlichung öffentlich angekündigt. Als zweiter Schritt werden die Bilder (möglichst ohne Darstellung der Person bei der Tathandlung) verpixelt ins Internet gestellt. Nur wenn dies zu keinen Ergebnissen führt, werden die Aufnahmen in einem dritten Schritt unverpixelt veröffentlicht. Jede der drei Stufen dauert eine Woche (Hinweis: Bei Kapitaldelikten erfolgt aufgrund zeitlicher Dringlichkeit die sofortige Fahndung und nicht das oben genannte dreistufige Vorgehen.)." Wird Bildmaterial veröffentlicht, so sollen eingehende Hinweise auf mutmassliche Täterschaft sofort bearbeitet werden können und die umgehende Entfernung der Bilder aus dem Internet sichergestellt sein. Hierzu soll die Polizei eine 24-Stunden-Erreichbarkeit sicherstellen und sollen die übrigen Schweizer Polizeikorps orientiert werden, damit auch die in einem anderen Kanton eingehenden Hinweise dem verfahrensführenden Kanton übermittelt werden.

 

4.2.2 Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Empfehlung SSK zur gesetzlichen Regelung steht. Wie vorstehend dargestellt, besteht indessen in Art. 211 StPO mit den weiteren konkretisierenden gesetzlichen Bestimmungen der StPO eine genügende formellgesetzliche Grundlage für die Öffentlichkeitsfahndung. Es liegt in der Natur gesetzlicher Bestimmungen als generell-abstrakte Normen, dass sie der Auslegung zugänglich sind und gegebenenfalls auch bedürfen.

 

4.2.2.1 Art. 211 StPO selber enthält keine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Öffentlichkeitsfahndung auf bestimmte Delikte Deliktskategorien. Direkt anwendbar ist indessen Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO, wonach die Zwangsmassnahme zulässig ist, wenn sie "die Bedeutung der Straftat rechtfertigt." Die Formulierung legt die Anwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes nahe. Abgestellt wird notabene auf die "Bedeutung der Straftat", also auf die Tat selber, nicht auf bestimmte Straftatbestände Kategorien von solchen. Die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsfahndung ist also in einer Einzelfallprüfung am Eingriff in die betroffenen Grund- und Verfahrensrechte zu messen.

 

Ungeachtet des Erfordernisses der Einzelfallprüfung scheint in Lehre und Praxis insoweit Einigkeit zu herrschen, bereits auf generell-abstrakter Ebene eine gewisse Deliktsschwere zu fordern (vgl. Weder, a.a.O., Art. 211 N 8; Entscheid Anklagekammer St. Gallen AK.2015.275 vom 3. November 2015), was in der Empfehlung der SSK, gestützt auf den Basler Kommentar (a.a.O.) in die Formulierung mündet, eine "gewisse Schwere der zu untersuchenden Straftat" vorauszusetzen. Wie bereits erwähnt, verstehen sich darunter laut Empfehlung "schwerwiegende Vergehen, an deren Aufklärung ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Bei Krawallen und Ausschreitungen wird aufgrund der konkreten Gefährdung einer grossen Zahl von Personen die Öffentlichkeitsfahndung ebenfalls als zulässig erachtet; dies obschon es teilweise 'nur' zu weniger schwerwiegenden Delikten kommt, wie etwa einfachen Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte etc." Auch der Bundesrat will nicht nur auf den abstrakten Deliktstypus, sondern auf den "konkreten Unrechtsgehalt" abstellen und erblickt in Art. 211 StPO eine genügende gesetzliche Grundlage für die Internetfahndung, weshalb kein weiterer Regelungsbedarf bestehe (vgl. Künzli, a.a.O., S. 35 f. m.w.H.). Im Rahmen der Interessenabwägung ist die objektiven Tatschwere zu berücksichtigen (Rüegger, a.a.O., Art. 211 StPO N 29). Bereits bei der Anforderung an die Deliktsschwere also sollen das hohe öffentliche Interesse an der Aufklärung sowie die dabei typischerweise auftretenden Schwierigkeiten berücksichtigt werden, was insoweit sachlich gerechtfertigt erscheint.

 

Bei allen diesen Ansätzen ist nicht zu übersehen, dass die zu fordernde Schwere der Tat bzw. des Delikts als Element des öffentlichen Interesses in einem gewissen Konnex zur zu fordernden Intensität des Tatverdachts (ebenfalls als Element des öffentlichen Interesses) steht (Entscheid Anklagekammer St. Gallen AK.2015.275 vom 3. November 2015 Ziff. 4.2): Je schwerer die Tat das Delikt, desto weniger dringend braucht der Tatverdacht zu sein und umgekehrt. Beidem steht sodann, gleichfalls in Abhängigkeit, die Schwere des konkreten Grundrechtseingriffs gegenüber. Im Gegenzug werden aber sehr hohe Anforderungen an die Intensität des Tatverdachts gestellt.

 

4.2.2.2 Abzulehnen ist die Lesart des Gesetzestextes durch Künzli (a.a.O., S. 70, 79, 94 ff.) insoweit, als bei der Öffentlichkeitsfahndung gemäss Art. 211 StPO sämtliche Voraussetzungen von Art. 210 Abs. 2 StPO erfüllt sein müssten und insbesondere auch ein Haftgrund, also Flucht-, Kollusions- Wiederholungsgefahr vorliegen müsste. Vielmehr zielt Art. 210 Abs. 2 StPO ausdrücklich auf eine Fahndung zwecks Verhaftung und Zuführung ab, und dem massiven und spezifischen Grundrechtseingriff bei einer Verhaftung, nämlich der Aufhebung der Bewegungsfreiheit, entspricht auch das Erfordernis von Haftgründen für die Anordnung von Untersuchungs- Sicherheitshaft. Dies sind indes Zwangsmassnahmen, deren Stossrichtung in eine andere Richtung gehen als jene der Öffentlichkeitsfahndung und folglich davon zu unterscheiden sind. Dass die Mithilfe der Öffentlichkeit stets auf Verhaftung und Zuführung (sowie anschliessende Haftanordnung) gerichtet wäre, ergibt sich aus Art. 211 StPO indessen nicht, was aber zu erwarten wäre, sollte dies die Intention des Gesetzgebers sein (so auch Weder, a.a.O., Art. 211 N 2). Vielmehr ist davon auszugehen, dass Art. 211 StPO systematisch auf den Grundnormen für die Zwangsmassnahmen (Art. 196 f. StPO), für die Fahndung (Art. 210 Abs. 1 StPO) und für den Einbezug der Öffentlichkeit (Art. 74 StPO) aufbaut, wie auch Künzli - allerdings in Bezug auf die Intensität des Tatverdachts - zu erkennen scheint (a.a.O., S.73 ff.). Die Anforderungen an die Deliktsschwere und auch an die Intensität des Tatverdachts leiten sich also nicht aus Art. 210 Abs. 2 StPO ab, sondern aus den übrigen genannten Bestimmungen, insbesondere Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO. Dies schliesst gegebenenfalls eine Öffentlichkeitsfahndung zwecks Verhaftung und Zuführung selbstredend nicht aus, wobei erst dann kumulativ die Voraussetzungen sowohl von Art. 211 als auch 210 Abs. 2 StPO erfüllt sein müssten.

 

4.2.2.3 Weiter setzt die Empfehlung SSK einen dringenden Tatverdacht voraus sowie den Umstand, dass "eine Person bei der Tat abgebildet" sein muss. Diese Formulierung kommt einem Pleonasmus nahe, wird doch die Abbildung einer Person bei der Tat in den meisten Fällen zugleich einen dringenden Tatverdacht begründen. Die Staatsanwaltschaft stützt ihr Vorgehen auf die Empfehlung SSK und somit auf dringenden Tatverdacht.

 

Es ist festzuhalten, dass sich aus der StPO primär kein Erfordernis eines dringenden Tatverdachts für die Öffentlichkeitsfahndung ergibt, sondern ein begründeter Tatverdacht gemäss Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO der Ausgangspunkt der Überlegungen bildet. Wie bereits erwähnt, steht die erforderliche Intensität des Tatverdachts aber in Relation zur Tatschwere bzw. dem fraglichen Delikt als Elemente des öffentlichen Interesses auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite auch zu den fraglichen Eingriffen in die Individual- bzw. Grundrechte (vgl. Weder, a.a.O., Art. 211 N 9 ff.). Steht etwa – wie vorliegend – ein Schwerstverbrechen zur Diskussion, genügt ein begründeter Tatverdacht für die öffentliche Fahndung allemal. In diesem Sinn ist vorliegend nur ein begründeter Tatverdacht zu fordern. Im Rahmen der konkreten Interessenabwägung wird das Verhältnis zwischen konkreter Tatschwere, Tatverdacht und den weiteren öffentlichen Interessen einerseits sowie den Individualinteressen andererseits zu ermitteln sein.

 

4.2.2.4 Sodann müssen laut Empfehlung SSK "alle polizeilichen Ermittlungs- und Fahndungsmassnahmen ausgeschöpft sein: Die Öffentlichkeitsfahndung setzt vor-aus, dass die bisherigen Fahndungsmittel nicht zum Erfolg führten voraussichtlich nicht zum Erfolg führen können. Es müssen somit alle Fahndungsmittel der Polizei ausgeschöpft worden sein, wie etwa Rechtshilfeersuchen an andere Kantonspolizeien, Intranet, Social Media etc. Erst wenn diese nicht zum Erfolg geführt haben, darf die Öffentlichkeit zur Mithilfe aufgefordert werden." Präzisiert wird damit das Element der Erforderlichkeit bei der Interessenabwägung, mithin die (auch in Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO verankerte) Forderung nach dem Einsatz des mildesten Mittels bei einem Grundrechtseingriff. Diese Präzisierung ist nicht zu beanstanden.

 

4.2.2.5 Die Anordnung dazu soll laut Empfehlung SSK von der Staatsanwaltschaft ausgehen und nach dem Dreistufenmodell erfolgen, welches wie folgt beschrieben wird: "Die Veröffentlichung erfolgt in der Regel in einem Dreistufenmodell. Als erstes wird die Veröffentlichung öffentlich angekündigt. Als zweiter Schritt werden die Bilder (möglichst ohne Darstellung der Person bei der Tathandlung) verpixelt ins Internet gestellt. Nur wenn dies zu keinen Ergebnissen führt, werden die Aufnahmen in einem dritten Schritt unverpixelt veröffentlicht. Jede der drei Stufen dauert eine Woche (Hinweis: Bei Kapitaldelikten erfolgt aufgrund zeitlicher Dringlichkeit die sofortige Fahndung und nicht das oben genannte dreistufige Vorgehen.)." Hierzu kann die Rüge erhoben werden, das Dreistufenmodell verstosse gegen das nemo tenetur Prinzip (dazu noch später), indem eine Person sich selber anzeigen muss, um die Veröffentlichung seines Bildes zu verhindern. Dem ist entgegen zu halten, dass grundsätzlich und bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen die direkte Publikation eines verpixelten Bildes statthaft ist (wie die Empfehlung SSK für Kapitaldelikte ausdrücklich und zutreffend festhält) und vor diesem Hintergrund das schrittweise Vorgehen im Dreistufenmodell wiederum eine Anwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes im Sinne eines milderen Mittels darstellt. Auch hier erhellt, dass sich diese Verhältnismässigkeitsüberlegungen bereits auf generell-abstrakter Ebene aufdrängen.

 

Dem ist anzufügen, dass es grundsätzlich im Wesen der Fahndung liegt, nach Personen zu forschen zwecks Aufklärung von Tat und Täterschaft, also auch einer bis anhin unbekannten Identität einer Person, welche dann mittels Signalement, Bildern etc. ausgeschrieben wird (Rüegger/Scherer, in: Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, Art. 210 StPO N 1, 2ff., 32). Schon aus der Begriffsdefinition in Art. 196 lit. b StPO ergibt sich ja, dass Zwangsmassnahmen in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen und dazu dienen, die Anwesenheit von Personen im Verfahren sicherzustellen.

 

4.2.2.6 Wird Bildmaterial veröffentlicht, so sollen laut Empfehlung SSK eingehende Hinweise auf mutmassliche Täterschaft sofort bearbeitet werden können und die umgehende Entfernung der Bilder aus dem Internet sichergestellt sein. Hierzu soll die Polizei eine 24-Stunden-Erreichbarkeit sicherstellen und sollen die übrigen Schweizer Polizeikorps orientiert werden, damit auch die in einem anderen Kanton eingehenden Hinweise dem verfahrensführenden Kanton übermittelt werden. Auch diese Regelung dient augenscheinlich dem Zweck, den mit der Publikation einhergehenden Grundrechtseingriff – diesmal in zeitlicher Hinsicht – im Sinne der Erforderlichkeit zu minimieren und so das mildeste Mittel sicherzustellen.

 

4.2.3 Bis hierhin ist festzuhalten, dass die Empfehlung SSK durchwegs gesetzeskonforme Präzisierungen enthält, welche als landesweit angestrebte Praxis verstanden werden können. In keinem Punkt wird der gesetzliche Rahmen unzulässigerweise zulasten von Grund- Verfahrensrechten ausgedehnt (vgl. dazu auch nachstehend Ziff. 5). Im Gegenteil enthält die Empfehlung SSK eher den Grund- und Individualrechtsschutz stärkende Elemente. Die Empfehlung SSK ist insoweit im Licht der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben nicht zu beanstanden.

 

4.3 Die Staatsanwaltschaft hält laut ihrer Vernehmlassung dem Beschwerdeführer konkret den Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung vor. Die Verteidigung schliesst demgegenüber lediglich auf eine Tätlichkeit als dem Beschuldigten vorwerfbare Handlung. An dieser Stelle ist jedenfalls festzuhalten, dass nicht gestützt auf die Aktenlage zum Zeitpunkt des einstigen Abschlusses der Untersuchung, mithin gestützt auf das Untersuchungsergebnis zu beurteilen ist, ob die Untersuchungshandlung der Öffentlichkeitsfahndung rechtmässig angeordnet wurde und dafür ein (hier: begründeter) Tatverdacht bestand, sondern gestützt auf die Aktenlage zum Zeitpunkt der Anordnung dieser Untersuchungshandlung.

 

4.4 Im vorliegenden Beschwerdeverfahren kann und darf der Sachverhalt weder abschliessend festgestellt noch abschliessend rechtlich gewürdigt werden. Vielmehr stellt sich nach dem vorstehend Gesagten die Frage nach dem begründeten Tatverdacht zum Zeitpunkt der Anordnung der Öffentlichkeitsfahndung. Das Gericht hat das Video und die Videobilder visioniert. Darauf ist zu erkennen, wie der Beschuldigte auf das Perron 2/3 kommt, sich zum späteren Opfer begibt, mit diesem etwas diskutiert, von diesem wieder weggeht, kurz vor der Treppe abrupt wieder umdreht, zum Opfer zurückgeht und es mit erheblicher Kraft ohne weiteres Zögern auf das Gleis 2 stösst, wobei dieses nicht zu Fall kam. Sekunden später fährt ein Schnellzug auf ebendiesem Gleis ein und der Lokführer wurde veranlasst, das Horn zu betätigen und stark zu bremsen. Es gelingt dem Opfer, rechtzeitig wieder auf das Perron zu steigen.

 

4.5 Dass die Verteidigung bei dieser Ausgangslage zum Schluss kommt, es handle sich lediglich um eine Tätlichkeit, ist skurril. Es ist offensichtlich, dass bezüglich des Tatbestandes der versuchten vorsätzlichen Tötung aufgrund der objektiven Strafbarkeitsbedingungen nicht nur ein begründeter, sondern sogar ein dringender Tatverdacht, gegeben ist. Wie die Staatsanwältin völlig zutreffend ausführt, hat der Beschuldigte den Sturz und die damit einhergehenden Verletzungen mit seinem Verhalten zumindest billigend in Kauf genommen. Ebenso hat er damit rechnen müssen, dass es dem Opfer bei einem Sturz nicht möglich sein wird, vor dem Eintreffen des Zuges wieder auf das Perron zurück zu kehren. Bei einem Sturz hätte der einfahrende Zug wohl auch nicht mehr rechtzeitig vollständig bremsen können. Der Beschwerdeführer negiert mit seiner rechtlichen Würdigung als Tätlichkeit klar die Gefährlichkeit seines Handelns. Insoweit trifft die von der Staatsanwaltschaft vertretene Auffassung zu.

 

4.6 Ob die genannte Episode schliesslich als versuchte vorsätzliche Tötung als versuchte schwere Körperverletzung evtl. Gefährdung des Lebens zu qualifizieren ist, muss im vorliegenden Beschwerdeverfahren offenbleiben, da wie gesagt die Beweiswürdigung und die rechtliche Würdigung dem Sachgericht vorbehalten bleiben. Klar ist hingegen, dass sich aus dem vorliegenden Bildmaterial ein dringender Tatverdacht zumindest hinsichtlich eines Verbrechens ergibt. Die Bedeutung der Straftat und der konkrete Unrechtsgehalt des Verhaltens des Beschwerdeführers entsprechen bezüglich Deliktsschwere im Zusammenhang mit der Intensität des Tatverdachts – die Person des Beschwerdeführers ist bei der Tat abgebildet – in jedem Fall den dargestellten gesetzlichen Vorgaben und jenen der Empfehlung SSK.

 

4.7 Als Zwischenfazit hat sich die Staatsanwaltschaft an die Empfehlung SSK gehalten: In Frage kommt der Tatbestand eines Schwerstdelikts, der dringende Tatverdacht, obwohl ein begründeter Tatverdacht ausgereicht hätte, ergibt sich aus der Videosequenz, die Bilder wurden zuerst den übrigen schweizerischen Polizeikorps zwecks Fahndung zugestellt, das Dreistufenmodell wurde angewendet, und nachdem sich der Beschwerdeführer gemeldet hatte und die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn eröffnet hatte, wurden die Bilder im Internet gelöscht und die Medien gebeten, ebenso zu verfahren.

 

 

5. Persönlichkeitsrechte

 

5.1 Damit ist auf die gerügte Verletzung von Persönlichkeitsrechten des Beschwerdeführers einzugehen. Dass die Publikation des Fotos des Beschwerdeführers den Schutzbereich berührt, ist unbestritten. Publiziert wurde das Bild als Standbild aus dem Video, also quasi als Portrait aus dem Geschehen heraus. Wenn das Foto auch nicht allzu scharf und verpixelt ist, so wird sich die darauf abgebildete Person wohl recht deutlich wiedererkennen. Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Kollegen hätten ihn darauf erkannt.

 

5.2 Gesichtsfotos gehören nicht in den unantastbaren Kerngehalt der Persönlichkeitsrechte, andernfalls wären Fahndungsfotos generell verboten, was sich so weder aus Verfassung noch aus Gesetz ergibt. Es ist nicht ersichtlich, dass etwa die Menschenwürde im Sinne von Art. 7 BV, das Folterverbot die Todesstrafe berührt wären (Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl., Zürich etc. 2016, N 324, 335d, 378 f.; Kiener/Kälin/Wyttenbach, Grundrechte, 3. Aufl., Bern 2018, S. 160 f.). Das publizierte Foto zeigt die Person porträtiert, insoweit also völlig unverfänglich. Der Kerngehalt der Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers wird nicht angetastet.

 

5.3 Auf die gesetzliche Grundlage für die Publikation des Fotos im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung wurde bereits eingegangen, auch das öffentliche Interesse der Strafverfolgung wurde bereits erwähnt. Anzufügen bleibt das öffentliche Interesse am Schutz der Grundrechte Dritter. Dass die Publikation geeignet war, um die Identität des Beschwerdeführers zu ermitteln, ergibt sich aus dem Umstand, dass dieser sich gemeldet hat und gegen ihn ein Verfahren eröffnet worden ist. Erforderlich war die Publikation, weil – wie die Staatsanwältin zutreffend ausführt – mildere Massnahmen nicht gefruchtet hatten, wobei insbesondere auf die Anwendung der Empfehlungen der SSK zu verweisen ist mit dem erfolglosen Ausschöpfen anderer Fahndungsmöglichkeiten und der Anwendung des Dreistufenmodells. Erforderlich war die Publikation eines Standbildes auch in dem Sinn, als eine Beschreibung des Beschwerdeführers in Worten dem Fahndungszweck nicht ausreichend Genüge getan hätte (vgl. Künzli, a.a.O., S. 85 f.). Der mit der Publikation des Fotos einhergehende, stigmatisierende Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers ist als schwer zu werten und sein fiktives Interesse, dass dieses Bild nicht hätte veröffentlicht werden sollen, hoch. Die Schwere der Tat (Verbrechen) sowie das öffentliche Strafverfolgungsinteresse rechtfertigen den Eingriff – im konkreten Fall die Publikation von dessen Foto mit den damit einhergehenden Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte. Zu Ungunsten der gesuchten Person fällt besonders sein Tatbeitrag ins Gewicht: Die Staatsanwaltschaft unterstreicht wiederholt und zu Recht die Gefährlichkeit der Tat. Diese liegt insbesondere darin, dass der Beschuldigte den Sturz des Opfers und die damit einhergehenden Verletzungen mit seinem Verhalten zumindest billigend in Kauf genommen hat. Ebenso hat er damit rechnen müssen, dass es dem Opfer bei einem Sturz des Opfers nicht möglich sein wird, vor dem Eintreffen des Zuges wieder auf das Perron zurück zu kehren. Bei einem Sturz hätte der einfahrende Zug wohl auch nicht mehr rechtzeitig vollständig bremsen können. Insgesamt ist das öffentliche Interesse an der Publikation des Fotos zwecks Identifikation des Täters höher zu gewichten als dessen Interesse am Schutz seiner Persönlichkeit im Rahmen des Eingriffs. Der im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung mit der Publikation des Fotos einhergegangene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte erscheint damit verhältnismässig und rechtmässig.

 

 

6. Unschuldsvermutung

 

6.1 An dieser Stelle ist nochmals zu erwähnen, dass bei der Orientierung der Öffentlichkeit zwecks Aufklärung von Straftaten und Fahndung nach Verdächtigen gemäss Art. 74 Abs. 1 lit. a StPO der Grundsatz der Unschuldsvermutung zu beachten ist, ein Eingriff darein also grundsätzlich möglich ist. Die Unschuldsvermutung gilt nicht absolut. Zwangsmassnahmen stehen, selbst wenn sie tief in die Rechte der beschuldigten Person eingreifen, der Unschuldsvermutung nicht absolut entgegen, ansonsten überhaupt nie eine Strafuntersuchung eingeleitet werden könnte. Angeknüpft wird dabei zumeist an den Tatverdacht (Künzli, a.a.O., S.113 f.). Erfolgt der öffentliche Fahndungsaufruf wie vorliegend ohne Namensnennung und zur Eruierung einer unbekannten Täterschaft, ist die Unschuldsvermutung verhältnismässig weniger tangiert (Weder, a.a.O., Art. 211 N 9). Sofern die Öffentlichkeitsfahndung eine strafähnliche Wirkung zeigt, muss dies im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung beurteilt werden (Künzli, a.a.O., S. 120).

 

6.2 Dass eine Vorverurteilung und damit eine Verletzung der Unschuldsvermutung stattgefunden habe, erschliesst sich nach Auffassung der Verteidigung aus der Eröffnung des Untersuchungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer und daraus, dass ihn sein persönliches Umfeld darauf angesprochen habe. Indessen ergibt sich aus der Eröffnung eines Verfahrens kein Hinweis auf eine Vorverurteilung, sondern ist dies die erwünschte Folge der Öffentlichkeitsfahndung mit den vorliegend sehr hohen Anforderungen an die Intensität des Tatverdachts, bei welcher der Täter bei der Tat abgebildet sein muss, sowie der grossen Ähnlichkeit des Beschwerdeführers mit abgebildeten Personen. Analoges gilt auch für das Echo aus seiner sozialen Umgebung, wobei hier auch die überschiessende Berichterstattung der Zeitungen mit hineinspielen mag. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft allein indessen ist im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden, insbesondere auch nicht die Wortwahl der Staatsanwaltschaft in den Medienmitteilungen (eingangs zitiert), da sie keine vorverurteilenden sonst wie überschiessenden Elemente enthält.

 

6.3 Mit der angefochtenen Publikation des Fotos des Beschwerdeführers liegt immerhin eine strafähnliche Wirkung der Öffentlichkeitsfahndung vor, indem eine noch nicht beschuldigte Person im Ergebnis von Zeitungen an den Pranger gestellt wird. Zur Verhältnismässigkeit des Vorgehens der Staatsanwaltschaft ist auf das vorstehend Gesagte zur Verhältnismässigkeit des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte zu verweisen; die Ausführungen gelten mutatis mutandis auch hier.

 

 

7. Nemo tenetur

 

7.1 Die Publikation verpixelter und die Ankündigung der Veröffentlichung unverpixelter Fotos wird mitunter als Zwang zur Selbstbelastung bezeichnet, insbesondere auch bei Anwendung des Dreistufenmodells (Künzli, a.a.O. S. 139 f.). Wie vorstehend erwähnt, muss sich die beschuldigte Person gemäss Art. 113 Abs. 1 StPO wohl nicht selber belasten, sich aber immerhin "den gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen unterziehen". Auch der nemo tenetur Grundsatz gilt also nicht uneingeschränkt. Vielmehr gehen die Zwangsmassnahmen und damit auch die Öffentlichkeitsfahndung dem nemo tenetur Grundsatz laut dem Buchstaben des Gesetzes grundsätzlich vor. Der beschuldigten Person kommt dabei eine passiv-duldende Rolle zu und sie muss auch dulden, dass die Ergebnisse gegen sie verwendet werden (Marc Engler, in: Basler Kommentar, 2. Auflage 2014, Art. 113 StPO N 8).

 

7.2 Der Zweck von Zwangsmassnahmen besteht gerade darin, gegen betroffene Personen rechtmässig Mittel zur Anwendung zu bringen, die diese freiwillig nicht dulden würden. Damit kann durchaus auch eine gewisse stigmatisierende Wirkung einhergehen, die zwar nicht beabsichtigt, bei der Anwendung von Zwangsmassnahmen aber auch nicht gänzlich zu vermeiden ist. Zwangsmassnahmen gehen regelmässig mit Individual- und Grundrechtseingriffen einher (Untersuchungshaft, körperliche und andere Durchsuchungen, Beschlagnahmen etc.). Die Öffentlichkeitsfahndung mit der Möglichkeit der Publikation von Bildaufnahmen von Personen bildet davon keine Ausnahme. Einwenden lässt sich vorliegend allerdings, dass die gesuchte Person zufolge unbekannter Identität noch gar nicht beschuldigte Person nach Art. 113 StPO ist. Dazu präzisiert indessen Art. 74 Abs. 1 lit. a StPO, dass "die Bevölkerung bei der Aufklärung von Straftaten bei der Fahndung nach Verdächtigen" mitwirken soll. Der formelle Status der beschuldigten Person im Strafverfahren wird für den Einbezug der Öffentlichkeit also nicht verlangt, wohl aber wiederum die Verhältnismässigkeit (Art. 74 Abs. 1 StPO: "wenn dies erforderlich ist") sowie die Beachtung der Unschuldsvermutung und der Persönlichkeitsrechte (Art. 74 Abs. 3 StPO). Indem nun die Empfehlung SSK einen dringenden Tatverdacht voraussetzt und überdies verlangt, dass die gesuchte Person "bei der Tat abgebildet" sein muss, wird die verdächtige Person sehr nahe an den Status der beschuldigten Person herangerückt; man könnte gleichsam von einer potenziell beschuldigten Person sprechen. Dies zu vermeiden würde bedeuten, die Anforderungen an die Intensität des Tatverdachts tiefer anzusetzen, was erst recht nicht im Interesse der (potenziell) Beschuldigten Person liegen kann. Andererseits ist an dieser Stelle wiederum darauf hinzuweisen, dass bei der Anwendung von Zwangsmassnahmen gar in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingegriffen werden kann, was allerdings besonders zurückhaltend zu geschehen hat (Art. 197 Abs. 2 StPO).

 

7.3 Es stellt sich die Frage nach der Abgrenzung zwischen erlaubtem und missbräuchlichem Zwang bei Zwangsmassnahmen im Lichte des nemo tenetur Prinzips. Während die ältere Lehre und Praxis darauf abgestellt hatten (bzw. teilweise nach wie vor darauf abstellen), ob die betroffene Person bloss passiv Zwangsmassnahmen über sich ergehen lassen aber dazu gezwungen werden sollte, aktiv an seiner eigenen Überführung mitwirken zu müssen - was zu Inkohärenzen und auch zu Friktionen der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu jener des EGMR geführt hat (Andreas Noll, Fernwirkung des strafprozessualen Nemo-tenetur-Satzes in andere Rechtsgebiete, in: forumpoenale, Sonderheft 2020 "Kuckuckseier im Strafprozess", S. 177 ff. [181 f.]; Dominique Ott, Der Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare", Zürcher Studien zum Strafrecht, Zürich 2012, S. 192 ff.; Künzli, a.a.O., S. 141 ff.), ist nach neuerer Auffassung eine Abwägung vorzunehmen, die im Wesentlichen auf eine Verhältnismässigkeitsprüfung hinausläuft; zu fragen ist, ob das öffentliche Interesse den Einsatz von Zwang zu rechtfertigen vermag (Künzli, a.a.O., S. 147 ff.). Angesichts des hohen Strafverfolgungsinteresses und der (etwa im Vergleich zu körperlichen Zwangsmassnahmen) geringen Eingriffsintensität erscheint die Fahndung nach der Identität im Lichte der neueren Praxis auch bei direkter Publikation eines Fotos gerechtfertigt, dies erst recht bei Anwendung des milderen Mittels des Dreistufenmodells mit vorheriger Ankündigung (Künzli, a.a.O., S. 152). Auch im Lichte des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 3 EMRK) beschränkt die Öffentlichkeitsfahndung im Sinne einer Gesamtbetrachtung nicht die Möglichkeit adäquater Mitwirkung des Beschuldigten im Verfahren, sondern ermöglicht überhaupt erst seine Mitwirkung und schafft einzig die Aussicht auf kein Verfahren aus der Welt, was zulässig ist (Künzli, a.a.O., S. 155). Hinsichtlich der konkreten Verhältnismässigkeitsprüfung ist auf das vorstehend zum Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Gesagte mutatis mutandis zu verweisen. Die vorliegende Öffentlichkeitsfahndung erscheint also im Lichte des nemo tenetur Grundsatzes zulässig.

 

 

8. Medienberichterstattung

 

8.1 Die Prangerstrafe ist in der hiesigen Rechtsordnung verpönt und daher im Strafgesetzbuch nicht vorgesehen. Die Öffentlichkeitsfahndung ist demgegenüber gesetzlich ausdrücklich verankert. Eingedenk dieses Spannungsverhältnisses wird im Gesetz selber zur Abgrenzung wiederholt und mit Nachdruck auf die Beachtung der Grundrechte und auf die Unschuldsvermutung verwiesen. Damit erscheint die Prangerstrafe formell von der Öffentlichkeitsfahndung in genügendem Masse abgegrenzt. In den vorliegenden Medienmitteilungen hat die Staatsanwaltschaft dem Rechnung getragen, mithin vom Tatverdächtigen, nicht vom Verurteilten gesprochen und die Bilder in der Fahndung nur als letztes mögliches Mittel veröffentlicht und sie auch wieder vom Netz genommen, nachdem sich der Beschwerdeführer gemeldet hatte. Den von Künzli (a.a.O., S. 121) gestützt auf die gesetzlichen Vorgaben formulierten Anforderungen an eine vorurteilsfreie Kommunikation der Staatsanwaltschaft hat diese damit entsprochen.

 

 

8.2 Es ist indessen nicht zu übersehen, dass die Medienberichterstattungen mit der Veröffentlichung des Fotos und der erwähnten Betitelung bspw. mit "Zug-Schubser", «Gleis-Schubser» usw. einer Vorverurteilung mit Prangerstrafe der noch gar nicht verurteilten Person zumindest nahe kommt. Es ist zwar schon vorgekommen, dass eine Person, die in einer Öffentlichkeitsfahndung ermittelt worden war, dann doch von der Anklage freigesprochen worden ist. Angesichts der vorstehend dargestellten hohen Anforderungen mit Abbildung der gesuchten Person bei der Tat dürfte ein solches Szenario aber selten sein. Wenn auch vorliegend die Staatsanwaltschaft mit ihren Medienmitteilungen dem Buchstaben des Gesetzes treu geblieben sein mag und bei der Wortwahl der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 74 Abs. 3 StPO Rechnung getragen hat, so war dies offenbar zu wenig, um die Medien an im Ergebnis vorverurteilender Berichterstattung zu hindern. Der […] war offenbar nicht einmal bereit, das verpixelte Bild zu löschen, nachdem sich der Gesuchte bei der Kantonspolizei gemeldet hat.

 

8.3 Auch wenn die Medien für ihr Handeln grundsätzlich selber verantwortlich sind, wird künftig das Vorgehen der Staatsanwaltschaft also auch daran zu messen sein, ob sie mit geeigneter Kommunikation solcher vorverurteilenden und der Prangerstrafe nahe kommender Berichterstattung in den Medien ex ante besser entgegenwirken kann. Ex post lässt sich für den vorliegenden Fall festhalten, dass im Anschluss an die erste Medienmitteilung der Staatsanwaltschaft die Medien bereits grenzwertige Artikel gedruckt haben, was für die Staatsanwaltschaft bereits im vorliegenden Fall hätte Anlass sein können und bei allfälligen künftigen Öffentlichkeitsfahndungen möglicherweise wird sein müssen, die Medien im Rahmen ihrer Pressemitteilungen besser in die Unschuldsvermutung mit einzubinden. Es ist grundsätzlich mit aller Sorgfalt zu verhindern, dass unbeteiligte Dritte am Internetpranger landen. Vorverurteilende Berichterstattung in den Medien auf eine erste Medienmitteilung hin kann künftig also durchaus ernsthafter Anlass für die Staatsanwaltschaft sein, gegebenenfalls standardisierte und vorformulierte zweite und dritte Medienmitteilungen zu überprüfen und proaktiv weiterer zu befürchtender überschiessender Berichterstattung anzupassen sowie die Medienmitteilungen zu verdeutlichen. Ein grundsätzliches Hindernis für die Öffentlichkeitsfahndung der Behörden bildet solche überschiessende Berichterstattung der Medien aber nicht und die von der Staatsanwaltschaft für den vorliegenden Fall korrekt durchgeführte Öffentlichkeitsfahndung wird damit auch nicht unzulässig. Ob andererseits die Medien bei der Öffentlichkeitsfahndung allenfalls auch auf (straf-)rechtlicher Ebene noch besser in elementare Grundsätze wie die Unschuldsvermutung einbezogen werden sollten, ist eine Frage, die dem Gesetzgeber vorbehalten und worauf hier nicht weiter einzugehen ist.

 

8.4 Dass die Bilder "viral" gehen und "ewig" auf dem Internet bleiben können, ist der geltenden gesetzlichen Regelung und der gegebenen Kommunikationslandschaft inhärent und hinzunehmen. Um einer Verletzung der Unschuldsvermutung entgegen zu wirken, die sich bei solcher Sachlage intensiver zulasten der betroffenen Person auswirken kann als früher bei Verbreitung von Bildern bloss auf Papier, gelten gemäss den Empfehlungen SSK zu Recht sehr hohe Anforderungen an die Intensität des Tatverdachts mit Abbildung der gesuchten Person bei der Tat. Die Differenz zwischen solchem sehr dringenden Tatverdacht und rechtskräftiger Verurteilung eines Täters besteht gleichsam in der Möglichkeit, dass die mit der Öffentlichkeitsfahndung ausgeschriebene Person nicht nur der Täter, sondern auch eine diesem sehr ähnlich sehende Person sein kann. Diese Restunsicherheit erscheint aber bei den gegebenen Vorkehren gering und ist im öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung und vorliegend auch dem Grundrechtsschutz Dritter hinzunehmen. In diesem Sinn wurde die Zwangsmassnahme vorliegend im Sinn von Art. 197 Abs. 2 StPO besonders zurückhaltend eingesetzt. Auch bei der Fahndung ohne Foto und/oder ohne Internet und/oder ohne Öffentlichkeit ist es niemals ausgeschlossen, dass die Strafverfolgungsbehörde nicht des Täters habhaft wird, sondern einer ihm sehr ähnlich sehenden Person. Allenfalls können Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche nach Art. 429 StPO in Frage kommen (vgl. Künzli, a.a.O., S. 120).

 

 

9.

Zusammenfassend erweist sich die vorliegende Öffentlichkeitsfahndung als zulässig, womit die Beschwerde abzuweisen ist.

 

 

III. Kosten und Entschädigungen

 

1. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens von total CHF 1’000.00 gehen bei diesem Ausgang des Verfahrens zu Lasten des Beschwerdeführers (Art. 428 Abs. 1 StPO).

 

2. Rechtsanwalt Roman Frey ist amtlicher Verteidiger des Beschwerdeführers. Er beantragt die amtliche Verteidigung auch für das Beschwerdeverfahren. Diesem Gesuch ist stattzugeben. Rechtsanwalt Frey macht einen Aufwand von 5.70 Stunden à CHF 180.00 sowie Auslagen von CHF 10.00 geltend, was angemessen erscheint. Die Entschädigung ist folglich auf CHF 1'115.75 festzusetzen (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer von 7,7 %). Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers erlauben.

 

 

Demnach wird beschlossen:

1.    Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.    Dem Beschwerdeführer wird für das Beschwerdeverfahren die amtliche Verteidigung bewilligt und Rechtsanwalt Roman Frey, […], wird ihm als amtlicher Verteidiger beigeordnet.

3.    Die Entschädigung für den amtlichen Verteidiger wird für das Beschwerdeverfahren auf CHF 1'115.75 (inkl. Auslagen und MwSt.) festgesetzt. Sie ist zufolge amtlicher Verteidigung durch den Staat Solothurn zu bezahlen. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während 10 Jahren, sobald es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers erlauben (Art. 135 Abs. 4 StPO).

4.    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens von CHF 1’000.00 gehen zu Lasten des Beschwerdeführers.

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang des begründeten Urteils zu laufen und wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Art. 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.

Gegen den Entscheid betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung (Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) und der unentgeltlichen Rechtsbeistandschaft im Rechtsmittelverfahren (Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO) kann innert 10 Tagen seit Erhalt des begründeten Urteils beim Bundesstrafgericht Beschwerde eingereicht werden (Adresse: Postfach 2720, 6501 Bellinzona).

Im Namen der Beschwerdekammer des Obergerichts

Der Präsident                                                                    Der Gerichtsschreiber

Müller                                                                                Wiedmer

 



 
Quelle: https://gerichtsentscheide.so.ch/
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