Kanton: | SG |
Fallnummer: | UV 2007/102 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | UV - Unfallversicherung |
Datum: | 30.07.2008 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 58 Abs. 1 ATSG: Die örtliche Zuständigkeit zur Beurteilung einer Beschwerde bezüglich Ansprüchen auf eine Witwer- bzw. eine Halbwaisenrente bestimmt sich nach dem Wohnsitz der Beschwerde führenden Dritten, nachdem die Verstorbene, versicherte Person, keinen Wohnsitz mehr begründen kann (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Juli 2008, UV 2007/102). Aufgehoben durch Urteil des Bundesgerichts 8C_769/2008. |
Zusammenfassung: | Die Versicherung Visana lehnte nach dem Tod von P. L. Versicherungsleistungen ab, da sie annahm, dass die Verletzungen selbst zugefügt wurden. Der Ehemann und der Sohn von P. L. erhoben Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Tessin, welches die örtliche Zuständigkeit prüfte und die Streitsache an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen überwies. Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin trat auf die Beschwerde nicht ein, da es die Beschwerdeführer nicht als Dritte im Sinne des Gesetzes betrachtete. Die Beschwerdeführer hatten jedoch ihren Wohnsitz in M. (TI), weshalb das Versicherungsgericht des Kantons Tessin für die Behandlung der Beschwerde örtlich zuständig war. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben. |
Schlagwörter: | ändig; Kanton; Wohnsitz; Versicherungsgericht; Person; Kantons; Gericht; Tessin; Zuständig; Zuständigkeit; Entscheid; Beschwerde; Kieser; Anknüpfung; Visana; Bundesgesetzes; Behandlung; Ausführungen; Wohnsitze; Gesetzgeber; Quot; Bundesgericht; Verfügung; Einsprache; Verfahren; Gerichtsstand |
Rechtsnorm: | Art. 100 BGG ; Art. 107 UVG ; Art. 14 UVG ; Art. 30 UVG ; Art. 58 ATSG ; |
Referenz BGE: | 124 V 310; |
Kommentar: | - |
Entscheid vom 30. Juli 2008
in Sachen
1. E. L. ,
2. K. L. ,
Beschwerdeführer,
beide vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Christoph Erdös, Kanzleistrasse 80, 8004 Zürich,
gegen
Visana, Weltpoststrasse 19, Postfach 253, 3000 Bern 15,
Beschwerdegegnerin,
betreffend Versicherungsleistungen Sachverhalt:
A.
P. L. war bei der Visana Versicherungen AG obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 10. Juli 2004 erlitt sie bei einem Messerstich in die Bauchgegend tödliche Verletzungen (act. G 1.3/12).
Mit Verfügung vom 22. März 2005 (act. G 1.3/19) eröffnete die Visana dem Ehegatten der Verstorbenen, E. L. , dass aufgrund der polizeilichen Abklärungen davon auszugehen sei, P. L. habe sich die am 10. Juli 2004 zum Tod führenden Verletzungen selbst zugefügt. Es könne nicht angenommen werden, dass sie im Zeitpunkt der Handlung ohne eigenes Verschulden gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln. Ebenso wenig seien Folgen eines früheren versicherten Unfalls für dieses Geschehnis verantwortlich gewesen. Demnach müsse gestützt auf Art. 37 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG; SR 832.20) ein Anspruch auf Versicherungsleistungen abgelehnt werden. Nach Art. 14 Abs. 1 UVG würden die Kosten für die Überführung der Leiche an den Bestattungsort und die Bestattungskosten gemäss Art. 14 Abs. 2 UVG vergütet. Die gegen diese Verfügung erhobene Einsprache wies die Visana mit Einspracheentscheid vom 4. Juli 2006 (act. G 1.3/10) ab.
B.
Gegen diesen Einspracheentscheid erhob Rechtsanwalt lic. iur. Christoph Erdös, Zürich, im Namen von E. L. und dessen Sohn K. (Jahrgang 1990) am 7. November 2006 beim Versicherungsgericht des Kantons Tessin Beschwerde (act.
G 1.3/3). Er beantragte, die Verfügung vom 4. Juli 2006 sei aufzuheben und den Beschwerdeführern sei eine Witwer- bzw. eine Halbwaisenrente zuzusprechen. Ferner seien die Strafakten im Verfahren bei der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich beizuziehen. Eventualiter seien weitere Abklärungen durch die Beschwerdegegnerin
vorzunehmen und es sei später über den Anspruch zu entscheiden. Den Beschwerdeführern sei eine angemessene Prozessentschädigung zuzusprechen.
Mit Beschwerdeantwort vom 29. Dezember 2006 beantragte die
Beschwerdegegnerin Abweisung der Beschwerde (act. G 1.4/VII).
C.
Auf entsprechende Anfrage durch das Versicherungsgericht des Kantons Tessin hat das Bundesamt für Gesundheit, Direktion Kranken- und Unfallversicherung, am 11. Mai 2007 mitgeteilt, dass für die Hinterbliebenen einer verstorbenen Versicherten der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Dritten gegeben sei.
D.
Mit Entscheid vom 2. August 2007 (act. G 1.1) ist das Versicherungsgericht des Kantons Tessin auf die Beschwerde nicht eingetreten und hat die Streitsache zuständigkeitshalber an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen überwiesen. Das Gericht hat seine örtliche Zuständigkeit zur Behandlung der im Kanton Tessin wohnhaften Beschwerdeführer verneint, weil diese nicht "Dritte" im Sinn von Art. 58 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) seien und deshalb das Versicherungsgericht am Wohnsitz der versicherten Person, d.h. am Wohnsitz der verstorbenen P. L. im Kanton St. Gallen, zur Behandlung der Beschwerde örtlich zuständig sei.
Erwägungen:
1.
Vorliegend stellt sich die Frage der Zuständigkeit, welche, wie schon das Versicherungsgericht des Kantons Tessin richtig festgehalten hat, von Amtes wegen zu prüfen ist. Der Grundsatz der Prüfung von Amtes wegen gilt unabhängig davon, ob eine Beschwerde direkt bei einem Gericht anhängig gemacht wurde ob die Beschwerde mangels Zuständigkeit von einem anderen Gericht überwiesen wurde.
Zuständig ist das Versicherungsgericht desjenigen Kantons, in dem die versicherte Person der Beschwerde führende Dritte zur Zeit der Beschwerdeerhebung Wohnsitz hat (Art. 58 Abs. 1 ATSG).
Bei der Interpretation des Art. 58 Abs. 1 ATSG hat bereits das Versicherungsgericht des Kantons Tessin auf die Ausführungen im ATSG-Kommentar von Ueli Kieser verwiesen, welcher sich ausführlich mit der Problematik der Zuständigkeit auseinandergesetzt hat. Er hält fest, dass durch die Anknüpfung an die Wohnsitze der versicherten Person der Drittperson offensichtlich Zuständigkeitsfragen auftreten können, wenn sowohl die versicherte Person als auch eine Drittperson Beschwerde erheben. Mit der genannten Bestimmung, welche die Regelung von altArt. 86 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) übernahm, sollte am bestehenden Rechtszustand nichts geändert werden (vgl. Protokoll der nationalrätlichen Subkommission ATSG vom 3./4. September 1998, 17; BBl 1999 4621). Nach der bisherigen (auf altArt. 107 Abs. 2 UVG bezogenen und somit unfallversicherungsrechtlichen) Rechtsprechung strebte der Gesetzgeber nicht eine Ausweitung der Anknüpfungstatbestände auf andere Beteiligte an, sondern wollte - bei Leistungsstreitigkeiten - eine einheitliche Anknüpfung am Wohnsitz der versicherten Person schaffen; damit wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit der Streitigkeit befassen sollen, die dem zu beurteilenden Sachverhalt am nächsten stehen (vgl. BGE 124 V 310 ff; SVR 1998 UV Nr. 9 und 2001 UV Nr. 10). Dass der Gesetzgeber von dieser, einen einheitlichen Gerichtsstand auf kantonaler Ebene festlegenden Rechtsprechung nicht abweichen wollte, wird daran erkennbar, dass er in Art. 58 Abs. 1 ATSG auf den Wohnsitz (und nicht etwa auf den Sitz einer Amtsstelle) Bezug nahm. Er wollte offensichtlich festlegen, dass jedenfalls dasjenige Gericht örtlich zuständig ist, das einen besonderen Bezug zur Beschwerde führenden natürlichen Person hat. Dies wird dadurch betont, dass der Gesetzgeber auf die zunächst in Aussicht genommene Einführung eines Wahlgerichtsstands verzichtete (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 58 Rz. 7 und 10).
Aufgrund dieser Ausführungen ist ersichtlich, dass sich die örtliche Zuständigkeit auch unter Anwendung von Art. 58 Abs. 1 ATSG weiterhin grundsätzlich nach dem Wohnsitz der versicherten Person bestimmt. Somit wollte der Gesetzgeber
offensichtlich nicht vom einheitlichen Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt des Wohnsitzes der versicherten Person gemäss Praxis zum alten Artikel 107 Abs. 2 UVG abweichen. "Damit ergibt sich, dass - jedenfalls bei Leistungsstreitigkeiten - zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit der Wohnsitz der Beschwerde führenden Drittperson nur dann von Belang ist, wenn ein solcher der versicherten Person nicht besteht" (Kieser, a.a.O., Art. 58 Rz. 11). Im vorliegenden Verfahren sind materiellrechtlich Ansprüche auf eine Witwer- bzw. eine Halbweisenrente gemäss Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 1 UVG streitig. Diese eigenen Ansprüche der Beschwerdeführer entstanden aus dem Versicherungsverhältnis zwischen P. L. und der Beschwerdegegnerin. Somit sind nicht die Beschwerdeführer, sondern es ist P. L. als versicherte Person im Sinn des Gesetzes zu betrachten. Nachdem die Verstorbene selbst keinen Wohnsitz mehr zu begründen vermag, kommt in diesem Fall für die örtliche Zuständigkeit subsidiär der Wohnsitz des Beschwerde führenden Dritten zur Anwendung. Das Bundesamt für Gesundheit bestätigte denn auch mit Schreiben vom 9. November 2007 (act. G 3), dass beim Tod der versicherten Person eine Anknüpfung an den seinerzeitigen Wohnsitz der Verstorbenen nicht sinnvoll sei, da das Gericht am Wohnort der verstorbenen Person sachlich und räumlich nicht unbedingt dem Sachverhalt am nächsten stehe. Die Beschwerdeführer hatten im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ihren Wohnsitz in M. (TI), weshalb das Versicherungsgericht des Kantons Tessin für die Behandlung der Beschwerde örtlich zuständig ist. Den Ausführungen des Versicherungsgerichts des Kantons Tessin im Nichteintretensentscheid vom 2. August 2007 - wonach die Beschwerdeführer nicht Dritte im Sinn von Art. 58 Abs. 1 ATSG seien - kann nicht gefolgt werden. Die vom Gericht verwendete Argumentation aus dem KVG kann auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb die Beschwerdeführer nicht Dritte im Sinn von Art. 58 Abs. 1 ATSG sein sollten. Sodann kann nicht hinreichend begründet werden, inwiefern nicht auf die Ausführungen im ATSG- Kommentar von Kieser abzustellen ist, nachdem sie diese selbst im Entscheid erwähnt haben. Kieser führt nachvollziehbar aus, dass sich nach der Einführung des ATSG an der Rechtsprechung bezüglich des Einheitsgerichtsstands nichts geändert habe und der Wohnsitz der Beschwerde führenden Dritten nur subsidiär zur Anwendung gelangen würde, wenn der Wohnsitz der versicherten Person nicht mehr existiere. Diese Argumentationsweise hat grundsätzlich auch das Versicherungsgericht des
Kantons Tessin im Nichteintretensentscheid vertreten, jedoch dann den nicht nachvollziehbaren Schluss gezogen, die Beschwerdeführer seien nicht Dritte im Sinn von Art. 58 Abs. 1 ATSG. Sollte der Ansicht gefolgt werden, dass die Beschwerdeführer nicht als Dritte im Sinn des Gesetzes zu betrachten seien, wäre davon auszugehen, dass sie als Hinterlassene eigene Versicherungsansprüche prozessual durchsetzen wollten und somit selber als versicherte Personen zu betrachten wären. Diese Annahme würde dann allerdings aufgrund ihres Wohnsitzes im Kanton Tessin an der örtlichen Zuständigkeit des Versicherungsgerichts des Kantons Tessin keine Änderung bewirken.
2.
Im Sinn der vorstehenden Erwägungen kann aufgrund fehlender örtlicher Zuständigkeit auf die Beschwerde nicht eingetreten werden. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG).
Gemäss Art. 58 Abs. 3 ATSG hat die Behörde, die sich als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen. Nachdem allerdings das Versicherungsgericht des Kantons Tessin mit Entscheid vom
2. August 2007 auf die erhobene Beschwerde ebenfalls nicht eingetreten ist, ist eine weitere Überweisung nicht mehr möglich. Somit liegt ein negativer Kompetenzkonflikt im Sinn von Art. 100 Abs. 5 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG;
SR 173.110) vor, über den das Bundesgericht abschliessend zu entscheiden und die örtliche Zuständigkeit zur Behandlung der erhobenen Beschwerde festzulegen hat. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist durch die Beschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens anhängig zu machen, wobei die Beschwerdefrist spätestens dann zu laufen beginnt, wenn in beiden Kantonen Entscheide getroffen worden sind, gegen welche beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann (Art. 100 Abs. 5 BGG). Dies ist mit Eröffnung des vorliegenden Entscheids der Fall. Im übrigen wird auf die Rechtsmittelbelehrung am Schluss dieses Entscheids verwiesen.
Demgemäss hat das Versicherungsgericht
im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 53 GerG
entschieden:
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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