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Urteil Versicherungsgericht (SG - MV 2018/1)

Zusammenfassung des Urteils MV 2018/1: Versicherungsgericht

Ein Versicherter hat eine Beschwerde gegen die Militärversicherung eingereicht, da er unter Tinnitus leidet, der auf Schiessunfälle in den Jahren 1974 und 1975 zurückzuführen ist. Die Militärversicherung lehnte die Kostenübernahme für ein Rauschgerät und Behandlungen ab, da kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen und den aktuellen Beschwerden bestehe. Der Versicherte reichte erneut Beschwerde ein, die ebenfalls abgewiesen wurde. Es wurde festgestellt, dass der Tinnitus nicht objektiv nachweisbar ist, was die Leistungspflicht der Militärversicherung ausschliesst. Der Versicherte wurde aufgrund fehlender adäquater Kausalität nicht entschädigt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts MV 2018/1

Kanton:SG
Fallnummer:MV 2018/1
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:MV - Militärversicherung
Versicherungsgericht Entscheid MV 2018/1 vom 05.11.2018 (SG)
Datum:05.11.2018
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 6 MVG.Tinnitus. Knalltrauma. Kein Leistungsanspruch bei einem objektiv nicht nachweisbaren Tinnitus (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. November 2018, MV 2018/1).
Schlagwörter: Tinnitus; Kausalzusammenhang; Militärversicherung; Beschwerden; Behandlung; Leistungspflicht; Einsprache; Verfügung; Vorliegen; Kausalzusammenhangs; Begründung; Heilbehandlung; Entscheid; Integritätsschaden; Haftung; Noiser; Ereignisse; „Grundfall“; Untersuchung; Rauschgerät; ürlichen
Rechtsnorm: Art. 48 MVG;Art. 56 ATSG ;Art. 6 MVG;
Referenz BGE:111 V 370; 115 V 133; 138 V 248;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts MV 2018/1

Entscheid vom 5. November 2018

Besetzung

Versicherungsrichterin Miriam Lendfers (Vorsitz), Versicherungsrichterin Christiane Gallati Schneider und Versicherungsrichter Joachim Huber; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr. MV 2018/1

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführer,

    gegen

    Suva Abteilung Militärversicherung,

    Laupenstrasse 11, Postfach 8715, 3001 Bern,

    image

    Beschwerdegegnerin,

    Gegenstand

    Hilfsmittel (Rauschgeräte bei Tinnitus) Sachverhalt

    A.

    1. A. nahm im Mai 1974 an der obligatorischen Bundesübung teil. Da er seine Hörschutzpfropfen nicht fand, verwendete er gewöhnliche Watte als „Hörschutz“. Nach dem Schiessen litt er an einem Pfeifen und an einem „Schättern“ in beiden Ohren, weshalb er einige Tage später den Oto-Rhino-Laryngologen Dr. med. B. aufsuchte. Dieser stellte eine C-5-Senke links fest, die sich allerdings bei einer Nachuntersuchung im Juni 1974 als deutlich gebessert darstellte. Bei der klinischen Untersuchung stellte Dr. B. ein Durchschimmern des langen Ambossfortsatzes rechts fest. Angesichts der deutlichen Erholung zwischen den beiden Untersuchungen prognostizierte er einen Behandlungsabschluss im Juli 1974 (act. G 3.2.2 ff.; vgl. auch die Notiz von Dr. B. zu einer weiteren Untersuchung vom 14. Juni 1975, act. G 3.2.17). Im Dezember 1975 meldete der Versicherte telefonisch eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes infolge eines Manövers in einem Wiederholungskurs (act. G 3.2.18). In einer förmlichen Anmeldung vom 9. Januar 1976 gab der Versicherte an (act. G 3.2.20), während des Wiederholungskurses seien etwa einen Meter von ihm entfernt in einem Luftschutzkeller Schüsse aus einem Sturmgewehr abgegeben worden. Er habe keinen Gehörschutz getragen. Seither leide er an starken Schmerzen und an einem Gefühl von Isolation. Ein Kreisarzt notierte im Februar 1976 (act. G 3.2.21), ein aktuelles Audiogramm (act. G 3.2.19) zeige eine deutliche C-5-Senke links, die auch die Knochenleitung betreffe, was typisch für einen Status nach einer akustischen Traumatisierung sei. Rechts sei eine analoge Senke nur angedeutet; die Knochenleitung sei bis C-5 in allen Frequenzen leicht herabgesetzt, aber noch am unteren Normalbereichsrand. Das ganze Bild passe zu einer beidseitigen, asymmetrischen akustischen Traumatisierung. Der Oto-Rhino-Laryngologe Dr. med.

      C. berichtete im Oktober 1976 über einen objektiv und subjektiv unverändert

      gebliebenen Befund; der Versicherte leide nach wie vor besonders unter einem starken Ohrgeräusch (act. G 3.2.27).

    2. Im April 1999 teilte der Versicherte der Militärversicherung telefonisch mit (act. G 3.2.30), er leide unter vermehrten Tinnitusbeschwerden. Er habe von einer neuen Behandlungsmöglichkeit gehört, die er auf Kosten der Militärversicherung ausprobieren möchte. Im September 1999 berichtete der Oto-Rhino-Laryngologe Dr. med. D. (act. G 3.2.33), der Versicherte leide an einem Status nach einem Knalltrauma, an einem Tinnitus und an einer leichten Innenohrhörstörung. Inspektorisch seien die Ohren unauffällig gewesen. Links habe sich eine leichte Hochtoneinschränkung gezeigt. Der Versicherte sei erhöht lärmsensibel und habe einen Tinnitus links bei 40dB / 8000 Hz angegeben. Er werde konservativ und mittels einer Atemtherapie behandelt. Eventuell sei später ein Versuch mit einer Noiser-Behandlung zu erwägen. Die Militärversicherung lehnte eine Vergütung der Kosten für die Atemtherapie mit der Begründung ab, dabei handle es sich um eine komplementärmedizinische Massnahme, die nicht im Leistungskatalog der Militärversicherung enthalten sei (act. G 3.2.42 und 44). Am 19. September 2000 wurde der Versicherte vom Kreisarzt Dr. med. E. untersucht. Dieser berichtete (act. G 3.2.49), der nach der knalltraumatischen Schädigung erfolgte linksbetonte Hörverlust sei gemäss der AMA-Tabelle nicht erheblich. Insgesamt erfülle das Ausmass der vom Versicherten angegebenen Beeinträchtigungen und Behinderungen die Kriterien eines schweren Tinnitus. Am 29. September 2000 hielt Dr. med. F. vom chefärztlichen Dienst fest (act. G 3.2.51), der Tinnitus behindere den Versicherten vor allem in der Erholung, im Hören und in Bezug auf die Geräuschetoleranz. Hierbei werde der Schweregrad 1 erreicht. Beeinträchtigungen entstünden vor allem im privaten Umfeld. Die Schilderungen des Versicherten entsprächen weitgehend den Kriterien eines schweren, mittelgradig kompensierten Tinnitus, der praxisgemäss einem Integritätsschaden von 2,5 Prozent entspreche. Wegen der zusätzlichen ausgesprochenen Lärmüberempfindlichkeit rechtfertige es sich, den Integritätsschaden höher anzusetzen und auf fünf Prozent zu bemessen. Mit einer Verfügung vom 16. November 2000 sprach die Militärversicherung dem Versicherten mit Wirkung ab dem 1. September 1999 eine Integritätsschadenrente zu, die sie von Amtes wegen auskaufte (act. G 3.2.58).

      image

    3. Im Januar 2017 berichtete die Oto-Rhino-Laryngologin Dr. med. G. (act. G 3.1.10), der Versicherte habe sie aufgesucht, weil sich der Tinnitus subjektiv seit dem Sommer 2016 deutlich verstärkt habe. Er nehme diesen nun permanent als sehr laut wahr. In der Untersuchung sei der Tinnitus praktisch nicht verdeckbar gewesen, da dafür 80dB benötigt würden, was der Unbehaglichkeitsschwelle entspreche. Am ehesten seien wohl Nackenverspannungen, die auch zu einer Paukenbelüftungsstörung geführt hätten, für die Verstärkung des Tinnitus verantwortlich. Dem Versicherten seien Medikamente und ein Otovent Ballon zum Tubentraining abgegeben worden. Sollten diese Behandlungsmassnahmen keinen Erfolg zeitigen, sei die Anpassung eines Noisers auf beiden Seiten zu empfehlen. Mit einem Schreiben vom 27. Januar 2017 teilte die Militärversicherung dem Versicherten mit (act. G 3.1.11), sie sei praxisgemäss befugt beziehungsweise verpflichtet, ihre Haftung bei einer Neuanmeldung umfassend neu zu prüfen. Dabei habe sie auch die Frage nach dem Vorliegen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und geltend gemachten Beschwerden zu prüfen. Bei einem Tinnitus seien die Adäquanzkriterien gemäss dem BGE 115 V 133 (sog. „Psycho-Praxis“) massgebend. Diese seien vorliegend nicht erfüllt, weshalb die Militärversicherung ihre Haftung ablehne. Am 27. April 2017 berichtete Dr. G. (act. G 3.1.15), die Nackenverspannungen des Versicherten hätten sich zwischenzeitlich komplett zurückgebildet. Trotzdem höre dieser den Tinnitus weiterhin sehr laut. Da das Gehör ansonsten noch gut sei, bestehe die Therapie der Wahl in einer bilateralen Anpassung von Rauschgeräten. Angesichts des Weiterbestehens des Tinnitus trotz Rückgangs der Nackenverspannungen werde die Militärversicherung gebeten, ihren Entscheid zu überdenken und die Behandlungskosten zu übernehmen. Schliesslich sei der Tinnitus ursprünglich durch ein Schiesstrauma entstanden. Die Klinik für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates des Kantonsspitals St. Gallen hatte bereits am 23. Februar 2017 berichtet (act. G 3.1.16–3 f.), in der klinischen und bildgebenden Untersuchung sei eine Degeneration der Halswirbelsäule festgestellt worden. Diese stehe nicht in einem Zusammenhang mit dem verstärkten Tinnitus. Der Versicherte selbst ersuchte die Militärversicherung am 16. Mai 2017 um eine Vergütung der Behandlungskosten (act. G 3.1.16–1). Am 10. Juli 2017 reichte er eine Rechnung für ein Rauschgerät über 1’800 Franken ein (act. G 3.1.18). Am 17. August 2017 berichtete Dr. G. (act. G 3.1.19), der Tinnitus sei dank des Einsatzes des Noisers leiser geworden.

Der Versicherte fühle sich subjektiv deutlich weniger beeinträchtigt. Aus ärztlicher Sicht sei zu empfehlen, den Noiser beizubehalten. Eine weitere Kontrolle sei nicht mehr geplant. Mit einer Verfügung vom 16. Oktober 2017 wies die Militärversicherung das Leistungsbegehren des Versicherten ab (act. G 3.1.24). Zur Begründung führte sie an, die zwischenzeitlich eingegangenen medizinischen Berichte beleuchteten nur den natürlichen Kausalzusammenhang. Eine Leistungspflicht der Militärversicherung scheitere aber am fehlenden adäquaten Kausalzusammenhang.

B.

    1. Am 9. November 2017 erhob der Versicherte eine Einsprache gegen die Verfügung vom 16. Oktober 2017 (act. G 3.1.25). Er beantragte die Anerkennung der Haftung für den Tinnitus und die Vergütung der Kosten des Rauschgerätes sowie der Behandlungen durch Dr. G. . Zur Begründung führte er aus, der Tinnitus sei ursächlich durch die beiden anerkannten, gravierenden Schiessunfälle in den Jahren 1974 und 1975 entstanden. Weitere Lärmtraumata andere Vorkommnisse seien später nicht mehr vorgefallen. Er habe sehr darauf geachtet, akute Lärmimmissionen zu vermeiden abzufedern. Der Tinnitus sei schon immer mal intensiver und mal weniger intensiv ausgeprägt gewesen. Objektive Anzeichen für eine Verstärkung lägen nicht vor. Entgegen der Sachverhaltsdarstellung in der angefochtenen Verfügung sei beim Vorfall im Luftschutzkeller im Jahr 1975 nicht nur ein Schuss abgefeuert worden. Es seien etwa vier bis sechs Schuss gewesen. Der Versicherte habe sofort den Sanitätsoffizier aufgesucht und diesem seine Beschwerden geschildert. Er sei von diesem aber mit der Bemerkung „abgekanzelt“ worden, er solle sich zusammenreissen, da man sich in einem kriegerischen Manöver befinde. Eine medizinische Hilfeleistung sei ihm verwehrt worden.

    2. Mit einem Entscheid vom 8. Juni 2018 wies die Militärversicherung die Einsprache ab (act. G 3.1.29). Zur Begründung führte sie an, angesichts des langen behandlungsfreien Intervalls bis zur Wiederaufnahme der medizinischen Behandlung sei von einem neuen, nachdienstlich gemeldeten Versicherungsfall auszugehen. Die Haftung der Militärversicherung richte sich folglich nach dem Art. 6 MVG. Sie setze damit das Vorliegen eines natürlichen und eines adäquaten Kausalzusammenhangs voraus. Rechtsprechungsgemäss handle es sich bei einem Tinnitus nicht um eine

objektiv ausgewiesene Unfallfolge, weshalb sich die Kausalitätsprüfung nicht auf die Beantwortung der Frage nach dem natürlichen Kausalzusammenhang beschränken könne. Mit anderen Worten müsse eine gesonderte Adäquanzprüfung erfolgen. Die beiden Ereignisse in den Jahren 1974 und 1975 seien als leichte Unfälle zu qualifizieren, weshalb ein adäquater Kausalzusammenhang ohne Weiteres zu verneinen sei. Auch wenn die Ereignisse als mittelschwere Unfälle qualifiziert würden, müsste das Vorliegen eines adäquaten Kausalzusammenhangs verneint werden. Die ärztliche Behandlung habe nicht ungewöhnlich lange gedauert. Die Beschwerden seien nicht somatisch begründbar. Ein schwieriger Heilverlauf liege nicht vor. Eine ärztliche Fehlbehandlung sei nicht erkennbar. Eine Arbeitsunfähigkeit sei nie attestiert worden. Auch körperliche Dauerschmerzen lägen nicht vor.

C.

    1. Am 4. Juli 2018 erhob der Versicherte (nachfolgend: der Beschwerdeführer) beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen eine „Einsprache“ gegen den Einspracheentscheid vom 8. Juni 2018 (act. G 1). Er beantragte die Anerkennung der Haftung und die Vergütung der Kosten für das Rauschgerät und für die medizinische Heilbehandlung. Zur Begründung führte er aus, die Fachärztin Dr. G. habe den Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen und dem Tinnitus bejaht. Die Klinik für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates des Kantonsspitals St. Gallen habe einen Kausalzusammenhang zwischen den Nackenverspannungen und dem Tinnitus verneint. Im November 2000 habe die Militärversicherung (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) bei der Ausrichtung der Integritätsentschädigung dem Beschwerdeführer versichert, dass er weiter einen Anspruch auf ärztliche und therapeutische Leistungen habe. Die Noiser-Geräte existierten erst seit einigen Jahren, weshalb erst jetzt ein entsprechender Antrag gestellt worden sei.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 23. August 2018 die Abweisung der Beschwerde (act. G 3). Zur Begründung führte sie an, die Frage nach dem adäquaten Kausalzusammenhang sei nicht medizinischer, sondern juristischer Natur. Im angefochtenen Einspracheentscheid habe die Beschwerdegegnerin mit einer ausführlichen Begründung aufgezeigt, weshalb der adäquate Kausalzusammenhang

      nicht gegeben sei. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Beschwerdeführers sei mit der Verfügung vom November 2000 nicht begründet worden.

    3. Der Beschwerdeführer verzichtete auf eine Replik (vgl. act. G 4 f.).

Erwägungen

1.

Der Beschwerdeführer hat seine Eingabe an das Versicherungsgericht (wohl versehentlich) als „Einsprache“ bezeichnet. Da er sich aber – der Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid folgend – an das Versicherungsgericht und nicht etwa an die Beschwerdegegnerin gewandt hat und da die Eingabe eindeutig auf eine Aufhebung des Einspracheentscheides vom 8. Juni 2018 abzielt, kommt der versehentlichen falschen Bezeichnung als „Einsprache“ keine entscheidende Bedeutung zu. Die Eingabe ist ohne Weiteres als eine Beschwerde im Sinne der Art. 56 ff. ATSG beziehungsweise – kantonalrechtlich – als ein Rekurs im Sinne des Art. 42 VRP zu qualifizieren. Da die Beschwerde frist- und formgerecht erhoben worden ist und da das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zur Behandlung der Beschwerde zuständig ist, ist darauf einzutreten.

2.

    1. Der Beschwerdeführer hat sich im Zusammenhang mit den beiden Ereignissen in den Jahren 1974 und 1975 insgesamt viermal zum Leistungsbezug bei der Beschwerdegegnerin angemeldet. Im Zusammenhang mit den beiden ersten Anmeldungen vom Sommer 1974 und vom Januar 1976 hat die Beschwerdegegnerin ihre Leistungspflicht ohne Weiteres anerkannt und sie hat die Kosten der medizinischen Heilbehandlung vergütet. Bei der dritten Anmeldung im Jahr 1999 hat sie ihre Leistungspflicht wiederum ohne Weiteres anerkannt. Sie hat erneut Heilbehandlungskosten vergütet und dem Beschwerdeführer eine Integritätsschadenrente zugesprochen. Wie sich einem entsprechenden Hinweis in der Verfügung vom 16. November 2000 entnehmen lässt, setzt die Zusprache einer Integritätsschadenrente gemäss dem Art. 48 Abs. 2 MVG einen Abschluss der ärztlichen Behandlung aber die Prognose voraus, dass die Fortsetzung der

      ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes bewirken wird. Tatsächlich hat der Versicherte denn auch über 16 Jahre lang keine Kostenvergütung von Heilbehandlungsmassnahmen mehr beantragt, obwohl bereits damals – in den Jahren 1999 und 2000 – Noiser-Geräte als Heilbehandlungsmittel zur Diskussion gestanden hatten. Die vierte Anmeldung vom Januar 2017 ist vor diesem Hintergrund als eine Geltendmachung von Spätfolgen respektive eines Rückfalls im Sinne des Art. 6 MVG zu qualifizieren. Das bedeutet, dass eine erneute Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen den neu geltend gemachten Beschwerden und der versicherten Gesundheitsschädigung voraussetzt. Der Art. 6 MVG hält fest, dass der Kausalzusammenhang mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein muss. Das kann sich aber nur auf den sogenannten natürlichen Kausalzusammenhang beziehen, also in aller Regel auf die Frage, ob eine bestimmte Gesundheitsschädigung aus medizinischer Sicht als ursächlich für die zur Diskussion stehenden Beschwerden qualifiziert werden kann. Der natürliche Kausalzusammenhang vermag für sich allein allerdings noch keine Leistungspflicht zu begründen, denn diese setzt zusätzlich auch noch einen adäquaten Kausalzusammenhang voraus. Bei diesem handelt es sich um eine juristische Wertung, die darauf abzielt, den Kreis der natürlich adäquaten Folgen einer bestimmten Gesundheitsschädigung auf ein versicherungsrechtlich vernünftiges Mass einzugrenzen. Anders als der natürliche Kausalzusammenhang kann der adäquate Kausalzusammenhang nicht bewiesen werden; die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines adäquaten Kausalzusammenhangs stellt einen Rechtsanwendungsvorgang dar.

    2. Gemäss der formell rechtskräftig und damit verbindlich gewordenen Verfügung vom 16. November 2000 ist der sogenannte „Grundfall“ nicht bereits im Jahr 1976, sondern erst im Jahr 2000 abgeschlossen worden. Für die Beantwortung der Frage, ob die im Januar 2017 geltend gemachten Beschwerden eine neuerliche Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin begründen, ist also entscheidend, ob ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem im Jahr 2000 abgeschlossenen

      „Grundfall“ und den im Jahr 2017 geltend gemachten Beschwerden besteht. Das Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhangs ist ohne Weiteres zu bejahen, denn aus medizinischer Sicht steht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden

      Wahrscheinlichkeit fest, dass es sich bei den im Jahr 2017 geltend gemachten Beschwerden immer noch um den Tinnitus gehandelt hat, der im Jahr 1974 aufgetreten war und sich im Jahr 1975 verschlimmert hatte. Die einzige in Frage kommende Alternativerklärung – eine Verstärkung des Tinnitus durch eine Nackenverspannung respektive durch degenerative Veränderungen in der Halswirbelsäule – ist mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit widerlegt worden. Damit steht also fest, dass die im Jahr 2017 geltend gemachten Beschwerden überwiegend wahrscheinlich in einem natürlich kausalen Zusammenhang mit dem

      „Grundfall“ gestanden haben.

    3. Auf den ersten Blick scheint auch offensichtlich ein adäquater Kausalzusammenhang vorzuliegen, denn der im „Grundfall“ als leistungsbegründend anerkannte Tinnitus ist offensichtlich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, die im Januar 2017 geltend gemachten Beschwerden zu verursachen (vgl. zur allgemeinen Adäquanzdefinition etwa BGE 111 V 370 E. 2c S. 375 mit Hinweisen). Allerdings ist die neuere Praxis bezüglich der Bejahung eines adäquaten Kausalzusammenhangs im „Grundfall“ bei objektiv nicht nachweisbaren Beschwerden sehr streng. Die sogenannte „Psycho-Praxis“ (BGE 115 V

      133) kommt auch bei einem objektiv nicht nachweisbaren Tinnitus zur Anwendung (BGE 138 V 248). Diese strenge Praxis dürfte letztlich wohl auf der Erkenntnis beruhen, dass eine objektiv nicht nachweisbare und damit letztlich nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu beweisende Gesundheitsbeeinträchtigung in aller Regel keine Leistungspflicht der Militärversicherung (oder einer anderen Sozialversicherung) begründen kann. Im hier massgebenden „Grundfall“ ist diese strenge Adäquanzprüfung nicht erfolgt; selbst noch in der Verfügung vom 16. November 2000 findet sich kein Hinweis auf eine Adäquanzprüfung. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Beschwerdegegnerin ihre Haftung für den Tinnitus formell rechtskräftig und damit verbindlich anerkannt habe, weshalb die versäumte Adäquanzprüfung nicht mehr nachgeholt werden könne. Diese Argumentation verfängt aber nicht. Vorliegend ist die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin in einem neuen Leistungsfall zu beurteilen.

      Dabei muss das aktuell geltende Recht zur Anwendung kommen, was die Anwendung der aktuellen Bundesgerichtspraxis beinhaltet. Ungeachtet der formell rechtskräftig und damit verbindlich zugesprochenen Integritätsschadenrente ist also zu prüfen, ob die im

      Januar 2017 geltend gemachten Beschwerden adäquat kausal durch die Ereignisse in den Jahren 1974 und 1975 verursacht worden sind und ob die Beschwerdegegnerin deshalb verpflichtet ist, dem Beschwerdeführer die entsprechenden Heilbehandlungskosten zu vergüten.

    4. Wie die Beschwerdegegnerin ausführlich und überzeugend aufgezeigt hat, sind die spezifischen Adäquanzkriterien gemäss der einschlägigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 138 V 248 und BGE 115 V 133) nicht erfüllt, weshalb das Vorliegen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen den Ereignissen in den Jahren 1974 und 1975 und den im Januar 2017 geltend gemachten Beschwerden und damit auch eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für die ab Januar 2017 erfolgten Heilbehandlungsmassnahmen zu verneinen ist. Genau betrachtet scheitert die Bejahung einer Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin allerdings bereits daran, dass der Tinnitus des Beschwerdeführers naturgemäss nicht objektiv nachgewiesen werden kann, denn das bedeutet, dass hinsichtlich des Vorliegens eines leistungsbegründenden Tinnitus eine objektive Beweislosigkeit vorliegt, deren Folgen der Beschwerdeführer zu tragen hat (vgl. dazu auch den Entscheid MV 2017/1 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 25. Mai 2018, E. 3.2). Der angefochtene Einspracheentscheid erweist sich jedenfalls im Ergebnis als rechtmässig.

3.

Die Beschwerde ist folglich abzuweisen. Gerichtskosten sind keine zu erheben.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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