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Urteil Versicherungsgericht (SG - KV 2011/18)

Zusammenfassung des Urteils KV 2011/18: Versicherungsgericht

Ein Versicherter begab sich alkoholisiert zur Psychotherapie und musste aufgrund einer Alkoholintoxikation stationär behandelt werden. Der Kantonsärztliche Dienst des Kantons St. Gallen lehnte die Kostenübernahme für die Behandlung ab, da sie auch im Kanton St. Gallen möglich gewesen wäre. Der Versicherte legte Rekurs ein und argumentierte, dass die Behandlung aufgrund der Alkoholintoxikation notwendig war. Das Gericht entschied, dass der Wohnkanton des Versicherten die Kosten tragen muss, da die Behandlung unabhängig von der ausserkantonalen Therapie notwendig war. Der Rekurrent obsiegte und erhielt eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts KV 2011/18

Kanton:SG
Fallnummer:KV 2011/18
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:KV - Krankenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid KV 2011/18 vom 31.05.2012 (SG)
Datum:31.05.2012
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 41 Abs. 1bis, Abs. 3 und Abs. 3bis lit. b KVG. Art. 1 KostenübernahmeV. Kostenübernahmepflicht des Wohnkantons, wenn sich der Versicherte ausserkantonal in psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung begibt und aufgrund einer Alkoholintoxikation und einem Krampfereignis einen Notfall erleidet. Der sachliche Zusammenhang zur ausserkantonalen Behandlung fehlt, da sich die gefährliche Menge an Alkohol bereits im Körper des Rekurrenten befand, als dieser sich zur psychiatrisch- psychotherapeutischen Behandlung begab (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 31. Mai 2012, KV 2011/18).Vizepräsident Joachim Huber, Versicherungsrichterinnen Christiane Gallati Schneider und Lisbeth Mattle Frei; Gerichtsschreiberin Della BatlinerEntscheid vom 31. Mai 2012in
Schlagwörter: Behandlung; Rekurrent; Spital; Alkohol; Kanton; Alkoholintoxikation; Recht; Rekurrenten; Wohnkanton; Gallen; Notfall; Psychotherapie; Rekurs; Kantons; Zusammenhang; Kostenübernahme; Vorinstanz; Person; Wohnkantons; -psychotherapeutische; Verfügung; Leistung; Hospitalisation; Spitalaufenthalt; öglich
Rechtsnorm: Art. 101 KVG ;Art. 41 KVG ;Art. 49a KVG ;
Referenz BGE:123 V 310; 130 V 87; 133 V 123;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts KV 2011/18

SachenA. ,Beschwerdeführer,vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Luzius Hafen, advo5 Rechtsanwälte, Waltersbachstrasse 5, Postfach, 8021 Zürich 1,gegenKantonsärztlicher Dienst, Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen, Davidstrasse 27, 9001 St. Gallen,Beschwerdegegnerin,betreffendKostenübernahme für ausserkantonale HospitalisationSachverhalt:

A.

    1. A. (nachfolgend Versicherter), begab sich am 8. Februar 2010 in alkoholisiertem Zustand zur ambulanten Psychotherapie in die B. , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Kanton Zürich (nachfolgend B. ). Aufgrund einer akuten Alkoholintoxikation (Alkoholatemtest 3,38 Promille) erfolgte die stationäre Aufnahme in die B. (vgl. act. G 3.21). Wegen eines Krampfereignisses wurde der Versicherte kurzfristig in das Spital C. , ebenfalls Kanton Zürich, verlegt (vgl.

      act. G 3.20). Danach, vom 9. bis 24. Februar 2010, hielt sich der Versicherte zwecks Krisenintervention in der B. auf (act. G 3.21).

    2. Bereits am 11. Februar 2010 hatte die B. für den Versicherten eine Kostengutsprache für die ausserkantonale Behandlung beantragt, die Dr. med. D. , Kantonsarzt-Stellvertreter des Kantons St. Gallen, am 12. Februar 2010 ablehnte, da die erforderliche Behandlung auch im Kanton St. Gallen durchgeführt werden könne (act. G 3.19). Am 5. März 2010 stellte das Spital C. ebenfalls ein Gesuch um Kostengutsprache für die ausserkantonale Behandlung, das mit Verfügungen vom

11. März 2010, 26. Juli 2010 und 13. August 2010 von Dr. D. abgelehnt wurde, da für den Aufenthalt bei der B. ebenfalls keine Kostengutsprache bestehe und der Versicherte freiwillig dort gewesen sei (act. G 3.11, 3.12, 3.18). Auch das Wiedererwägungsgesuch der B. vom 23. August 2010 lehnte der Kantonsarzt- Stellvertreter mit Verfügung vom 1. September 2010 ab (act. G 3.15). Am

21. September 2010 reichte die B. erneut ein Wiedererwägungsgesuch ein, das mit Verfügung vom 1. Oktober 2010 abgelehnt wurde (act. G 3.10).

B.

Die dagegen erhobene Einsprache der B. vom 21. Oktober 2010 (eingegangen am

10. Januar 2011) wurde mit Entscheid vom 5. September 2011 abgewiesen (act. G 3.9, 3.3). Zur Begründung führte der Kantonsärztliche Dienst des Kantons St. Gallen aus, dass zwar ein Notfall gegeben sei, die fragliche Leistung jedoch in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit einer nicht aus medizinischen Gründen ausserkantonal durchgeführten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung stehe. Nach der Rechtsprechung bestehe in dieser Konstellation keine Differenzzahlungspflicht des Wohnsitzkantons (act. G 3.3).

C.

    1. Hiergegen liess der Versicherte am 15. September 2011 bzw. am 31. Oktober 2011 durch Rechtsanwalt lic. iur. L. Hafen, Zürich, Rekurs erheben und die Aufhebung des Einspracheentscheids vom 5. September 2011 sowie die anteilsmässige Kostenübernahme für die notfallmässige stationäre Behandlung der Alkoholintoxikation

      unter Kosten- und Entschädigungsfolge beantragen (act. G 1, 5). Zur Begründung brachte er vor, dass die Hospitalisation in der Klinik B. und im Spital C. allein wegen der Alkoholintoxikation notwendig geworden sei. Weder die paranoide Schizophrenie noch die Depression habe eine Hospitalisation notwendig gemacht. Es sei reiner Zufall gewesen, dass der Rekurrent die ambulante Therapiestunde noch erreicht habe. Wäre der Rekurrent bereits auf dem Weg zusammengebrochen, hätte es mit Bestimmtheit keine Diskussion zur Kostenübernahme gegeben. Im Übrigen habe die B. ihre Eingaben nicht im eigenen Namen, sondern in Stellvertretung des Rekurrenten gemacht, weshalb diese nun als Partei aus dem Verfahren ausscheide. Ausschliesslich strittig sei die notfallmässige Behandlung der Alkoholintoxikation, d.h. die Behandlung in der allgemeinen Abteilung vom 8. und 9. Februar 2010 in der B. und im Spital C. .

    2. In ihrer Vernehmlassung vom 1. Dezember 2011 beantragte die Vorinstanz die Abweisung des Rekurses (act. G 8). Zur Begründung führte sie aus, es werde nicht bestritten, dass die stationäre Behandlung ausschliesslich wegen der Alkoholintoxikation notwendig geworden sei. Die Alkoholintoxikation stehe in zeitlichem Zusammenhang mit der ambulant vereinbarten Sprechstunde in der B. am

      8. Februar 2010, zu welcher der Rekurrent bereits in alkoholisiertem Zustand erschienen sei. Die Notfallsituation habe sich anschliessend im Zeitpunkt des Spitalaufenthalts realisiert. Ein sachlicher Zusammenhang sei erstellt, weil der Rekurrent unter einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und der Familienzerrüttung durch Trennung Scheidung gelitten, sich in einer Adoleszentenkrise befunden, und Alkohol als vermeintlich gutes angstlösendes Mittel zu sich genommen habe. Die sofortige medizinische Hilfe erfordernde Alkoholintoxikation sei demnach durch die freiwillig ausserkantonal durchgeführte psychiatrische Behandlung eindeutig begünstigt worden. Überdies könne nicht gesagt werden, dass die Alkoholintoxikation mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch ohne die freiwillig ausserkantonal durchgeführte Behandlung in der B. eingetreten wäre. Der Kanton St. Gallen sei aufgrund des zeitlichen wie auch sachlichen Zusammenhangs nicht differenzzahlungspflichtig.

    3. Nachdem am 27. Januar 2012 die Frist zur Einreichung einer allfälligen Replik unbenutzt abgelaufen war (act. G 10), wies der Rechtsvertreter des Rekurrenten mit

Schreiben vom 10. und 13. Februar 2012 darauf hin, dass der Rekurrent Wochenaufenthalter in Zürich sei und dies der Grund gewesen sei, weshalb er die Psychotherapie im Kanton Zürich und nicht im Kanton St. Gallen in Anspruch genommen habe. Der Rekurrent sei am Tag des Vorfalls, der zur notwendigen Hospitalisation geführt habe, von seinem Aufenthaltsort im Kanton Zürich an die Therapiestätte im Kanton Zürich gefahren (act. G 11, 12).

Erwägungen:

1.

    1. Die Zuständigkeit des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen ergibt sich aus Art. 42 Abs. 1 lit. e des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (VRP;

      sGS 951.1) i.V.m. Art. 8 der Verordnung über die Kostenübernahme bei ausserkantonalem Spitalaufenthalt (KostenübernahmeV; sGS 331.539). Der Rekurs ist innert der in der Rechtsmittelbelehrung aufgeführten Anfechtungsfrist von 14 Tagen eingereicht worden und gilt damit gemäss Art. 47 Abs. 1 VRP als rechtzeitig. Nachdem die B. ihren Rekurs zurückgezogen hat, soweit er im eigenen Namen erhoben worden war, ist lediglich die Rekurslegitimation des Rekurrenten zu prüfen (act. G 5). Zur Erhebung eines Rekurses ist derjenige berechtigt, der an der Änderung Aufhebung der Verfügung des Entscheids ein eigenes schutzwürdiges Interesse dartut (Art. 45 Abs. 1 VRP). Nach der Rechtsprechung gilt als schutzwürdig jedes praktische rechtliche Interesse, welches eine von einer Verfügung betroffene Person an deren Änderung Aufhebung geltend machen kann. Dabei wird verlangt, dass der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Entscheid stärker als jedermann betroffen ist und in einer besonderen, beachtenswerten, nahen Beziehung zur Streitsache steht (BGE 123 V 310 E. 3b). Dies ist vorliegend der Fall. Die Versicherten haben sich gemäss Art. 64 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) an den Kosten der für sie erbrachten Leistungen zu beteiligen. Diese Kostenbeteiligung besteht unter anderem aus 10 Prozent der die Franchise übersteigenden Kosten (Selbstbehalt; Art. 64 Abs. 2 lit. b KVG). Damit ist der Rekurrent daran interessiert, dass die Kosten, welche seine Krankenkasse zu übernehmen hat, so gering als möglich ausfallen. Zudem hat für die vorliegend streitigen Kosten je nach

      Verfahrensausgang der Wohnkanton der Rekurrent aufzukommen (vgl. act. G 5.1).

      Auf den Rekurs ist daher einzutreten.

    2. Umstritten ist, ob der Kanton St. Gallen als Wohnkanton des Rekurrenten für die Kosten des Spitalaufenthalts in der B. und im Spital C. vom 8. und 9. Februar 2010 aufzukommen hat.

2.

    1. Am 1. Januar 2009 trat die revidierte Fassung des Art. 41 KVG in Kraft. Nach Art. 41 Abs. 1bis KVG kann die versicherte Person für die stationäre Behandlung grundsätzlich unter allen Spitälern in der Schweiz frei wählen, die auf der Spitalliste ihres Wohnkantons jener des Standortkantons aufgeführt sind (Listenspital). Die anteilsmässige Übernahme der Vergütung nach Art. 49a KVG durch den

      Krankenversicherer und den Wohnkanton erfolgt allerdings höchstens nach dem Tarif, der in einem Listenspital des Wohnkantons für die betreffende Behandlung gilt. Eine allfällige Differenz zwischen dem vom Spital in Rechnung gestellten Preis und der Vergütung durch Versicherer und Wohnkanton bleibt von der versicherten Person bzw. einer Zusatzversicherung geschuldet (vgl. dazu Bernhard Rütsche, Neue Spitalfinanzierung und Spitalplanung, Insbesondere zur Steuerung der Leistungsmenge im stationären Bereich, Bern 2011, Rz. 75 ff.). Für die Umsetzung der Regelung nach

      Art. 41 Abs. 1bis KVG war gemäss den Übergangsbestimmungen zur Änderung vom

      21. Dezember 2007 (Spitalfinanzierung) Absatz 6 eine Frist bis spätestens Ende 2011 vorgesehen. Da der Kanton St. Gallen bis zum 31. Dezember 2011 lediglich im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie über eine gültige Spitalliste verfügte, richtete sich die Zulassung der Spitäler und Kliniken bis dahin nach Art. 101 Abs. 2 KVG, wonach sämtliche Anstalten deren Abteilungen, die nach damaligem Recht als Heilanstalten galten, als Leistungserbringer nach neuem Recht zugelassen wurden (Ueli Kieser, Spitalliste und Spitalfinanzierung, Auswirkungen der Änderung des Krankenversicherungsgesetzes vom 21. Dezember 2007 [Spitalfinanzierung], AJP/PJA 1/2010, S. 68 f.; <http://www.sg.ch/home/gesundheit/gesundheitsversorgung/ spitalliste.html>, abgerufen am 11. Mai 2012; vgl. auch BGE 133 V 123 E. 4 f.).

    2. Beansprucht die versicherte Person bei einer stationären Behandlung aus medizinischen Gründen ein nicht auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführtes Spital, so übernehmen gemäss Art. 41 Abs. 3 Satz 1 KVG der Versicherer und der Wohnkanton die Vergütung anteilsmässig nach Artikel 49a KVG. Medizinische Gründe liegen bei einem Notfall vor wenn die erforderlichen Leistungen bei stationärer Behandlung in einem Spital, das auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführt ist,

nicht angeboten werden (Art. 41 Abs. 3bis lit. b KVG). Mit Ausnahme des Notfalls ist für

die Kostenübernahme eine Bewilligung des Wohnkantons notwendig (Art. 41 Abs. 3 Satz 2 KVG). Im Kanton St. Gallen bedarf die Kostenübernahme durch den Staat nach Art. 41 Abs. 3 KVG einer Kostengutsprache (Art. 1 KostenübernahmeV; sGS 331.539).

3.

    1. Der Notfallbegriff hat mit dem neuen Recht keine Änderung erfahren, so dass die bisherige Rechtsprechung unverändert gilt (Gebhard Eugster, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], in: Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialver­ sicherungsrecht, Erwin Murer und Hans-Ulrich Stauffer [Hrsg.], Rz. 6 zu Art. 41 [in der ab 1. Januar 2009 in Kraft stehenden Fassung]). Danach wird eine notfallmässige Behandlung nicht als Notfall anerkannt, wenn sie in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer medizinischen Massnahme steht, die nicht aus medizinischen Gründen ausserkantonal durchgeführt wurde. Bei jedem medizinischen Eingriff besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass Komplikationen auftreten, welche unaufschiebbar eine weitere Behandlung erforderlich machen. Begibt sich die versicherte Person ohne medizinischen Grund im Sinn von Art. 41 Abs. 2 zweiter Satz und Abs. 3 KVG (in der bis am 31. Dezember 2008 in Kraft stehenden Fassung) freiwillig in medizinische Behandlung ausserhalb ihres Wohnkantons, nimmt sie die damit verbundenen Risiken für Komplikationen und allenfalls sofortige notwendige medizinische Hilfe in Kauf. Unbeachtlich ist, ob die Notfallbehandlung voraussehbar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten war (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; seit 1. Januar 2007 sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 13. April 2006, K 81/05, E. 5 = RKUV 2006

      Nr. KV 369 S. 232 ff. E. 5). Es genügt, dass die Gesundheitsschädigung, die notfallmässig behandelt werden muss, zu den möglichen Risiken der ausserkantonalen Behandlung zählt und die Notfallsituation während des Spitalaufenthalts eintritt; ein

      Kausalzusammenhang mit dem ausserkantonal behandelten Leiden ist nicht erforderlich. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob es sich um zwei voneinander unabhängige Gesundheitsschädigungen handelt. Anders verhält es sich lediglich, wenn der Notfall auch ohne die ausserkantonale Behandlung eingetreten wäre (Urteil des BGer vom 10. Juli 2007, K 117/06, E. 6).

    2. Vorliegend steht unbestrittenermassen fest, dass der Rekurrent sich freiwillig im Kanton Zürich in Behandlung begeben hat und die von ihm in Anspruch genommene psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung auch im Kanton St. Gallen angeboten wird. Einigkeit herrscht auch darüber, dass mit der Alkoholintoxikation und dem Krampfereignis eine notfallmässige Situation auftrat, in der die medizinische Hilfe unaufschiebbar und eine Rückkehr zur stationären Behandlung in den Wohnkanton nicht möglich war (Eugster, a.a.O., Rz. 17 zu Art. 41 [in der bis am 31. Dezember 2008 in Kraft stehenden Fassung). Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen ambulanter Psychotherapie und Notfallsituation ist mit anderen Worten gegeben. Für die Beurteilung der vorliegenden Frage, ob der Wohnkanton des Rekurrenten für die durch die notfallmässige Hospitalisation vom 8. und 9. Februar 2010 in der B. und im Spital C. entstandenen Kosten aufzukommen hat, ist entscheidend, ob es sich bei der Alkoholintoxikation mit anschliessendem epileptischen Anfall um ein selbständiges Krankheitsgeschehen ohne sachlichen Bezug zur ambulanten Psychotherapie (Komplikation, Folgeerscheinung ähnlichem) handelte, ob ein derartiger sachlicher Zusammenhang besteht. Dem Austrittsbericht vom 15. März 2010

      (act. G 3.21) zufolge wurden beim Rekurrenten folgende psychiatrische Diagnosen gestellt: eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2) und eine akute Alkoholintoxikation (F10.1). Als Nebendiagnosen und Belastungsfaktoren sind Anpassungsprobleme an die Übergangsphasen im Lebenszyklus (Adoleszentenkrise; F60.1, richtig: Z60.1) sowie Familienzerrüttung durch Trennung Scheidung (F63.1, richtig: Z63.1) aufgeführt (act. G 3.21). Bei den vorliegenden Nebendiagnosen und Belastungsfaktoren handelt es sich grundsätzlich um Faktoren, die zwar den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen können, jedoch nicht auf eine Krankheit eine Schädigung zurückzuführen sind. Der Gruppe Z55-Z65 werden Personen mit potentiellen Gesundheitsrisiken aufgrund sozioökonomischer psychosozialer Umstände zugeordnet (vgl. Bernd Graubner, ICD-10-GM 2009, Systematisches

      Verzeichnis, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter

      Gesundheitsprobleme, 10. Revision - German Modification, Version 2009, Stand

      24. September 2008, S. 751). Einer depressiven Episode (F32) liegt keine Symptomatik

      zugrunde, die sich in einem Hang zu übermässigem Alkoholkonsum äussert

      (vgl. Graubner, a.a.O., S. 181). Die depressive Störung des Rekurrenten war bereits vorbekannt. Ziel der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung war denn auch eine vollständige Remission der depressiven Symptomatik (vgl. act. G 3.21). Den Akten und den Ausführungen der Vorinstanz ist zu entnehmen, dass die stationäre Behandlung ausschliesslich wegen der akuten Alkoholintoxikation notwendig geworden war. Ausgelöst wurde der Zwischenfall durch den Konsum von einer Flasche Wodka innerhalb kürzester Zeit. Als der Rekurrent zum vereinbarten Psychotherapietermin in der B. erschien, befand er sich unbestrittenermassen und den Akten zufolge bereits in alkoholisiertem Zustand. Die psychiatrisch- psychotherapeutische Behandlung vom 8. Februar 2010 konnte somit keinen (tauglichen) Einfluss auf den Promillegehalt im Körper des Rekurrenten ausüben, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Ohnehin erscheint rätselhaft, inwiefern eine psychiatrische Behandlung - wie von der Vorinstanz behauptet - eine Alkoholintoxikation eindeutig begünstigen soll, zumal eine solche weder als Komplikation noch als Folgeerscheinung einer Psychotherapie bekannt denkbar ist. Die Psychotherapie dient, wenn schon, wohl eher dem Zweck zu verhindern, dass Patienten aus dem psychischen (und physischen) Gleichgewicht geraten, als dass sie ein möglicher Risikofaktor für eine Alkoholintoxikation darstellt. Im Gegenteil kann aufgrund der psychischen Verfassung des Rekurrenten sogar mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass sich das Risiko einer Alkoholintoxikation ohne (vorgängige) psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung eher vergrössert hätte und die Therapie der Stabilisierung des psychischen Zustands des Rekurrenten und damit im weitesten Sinn auch zur Vermeidung eines übermässigen Alkoholkonsums und deren Folgen diente (vgl. Hans-Ulrich Ahlborn, Psychotherapie und ihre Risiken, in: Paracelsus Magazin, Heft Nr. 06/1997, <http://www.paracelsus-magazin.de/alle- ausgaben/27-paracelsus-61997/194-psychotherapie-und-ihre-risiken.html>, abgerufen am 14. Mai 2012, wonach die Nichtdurchführung einer Therapie/Beratung in einer existenziellen Krise das Risiko von Suizid, Drogenabhängigkeit, etc. erhöht.). Dass der Rekurrent Alkohol als vermeintlich gutes angstlösendes Mittel zu sich genommen habe,

      ist nicht den Akten zu entnehmen und die Vermutung scheint in Anbetracht der Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome eher unbegründet, zumal Angstzustände nicht zum Beschwerdebild dieser psychischen Störung gehören (vgl. Graubner, a.a.O., S. 181). Die Vorinstanz äussert im angefochtenen Einspracheentscheid die weitere Vermutung, dass die diagnostizierten psychischen Beschwerden des Rekurrenten - und nicht die ambulante Behandlung selbst - Ursache der Alkoholintoxikation bilden könnten (E. 4 letzter Abschnitt). Indessen räumt sie damit gerade selbst ein, dass durch die ambulante Behandlung kein sachlicher Zusammenhang im Sinn eines erhöhten Risikos zu einer Alkoholintoxikation begründet wurde und sich die Folgen des übermässigen Alkoholkonsums auch dann verwirklicht hätten, wenn der Rekurrent nicht zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung erschienen wäre.

    3. Zusammenfassend ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass der Notfall auch ohne die ausserkantonale Behandlung eingetreten wäre, da sich die gefährliche Menge an Alkohol bereits im Körper des Rekurrenten befand, als dieser sich zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung begab. Der Notfall wäre auch eingetreten, wenn der Rekurrent nicht zu dieser Behandlung erschienen wäre. Ein sachlicher Bezug der Psychotherapie zur Alkoholintoxikation und zum epileptischen Anfall ist somit nicht gegeben. Damit hat der Kanton St. Gallen als Wohnkanton des Rekurrenten für die Kosten des Spitalaufenthalts in der B. und im Spital C. vom

8. und 9. Februar 2010 aufzukommen.

4.

    1. Im Sinn der vorstehenden Erwägungen ist der Rekurs gutzuheissen. Auf die Erhebung von Gerichtskosten ist im Sinn von Art. 95 Abs. 3 i.V.m. Art. 97 VRP zu verzichten (BGE 130 V 87 E. 6.3)

    2. Nach Art. 98 Abs. 2 VRP werden ausseramtliche Kosten entschädigt, soweit sie aufgrund der Sach- und Rechtslage als notwendig und angemessen erscheinen, wobei die ausseramtliche Entschädigung den am Verfahren Beteiligten nach Obsiegen und Unterliegen auferlegt werden (Art. 98bis VRP). Die Vorschriften der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) finden sachgemässe Anwendung (Art. 98ter VRP).

Die Notwendigkeit zum Beizug einer rechtskundigen Vertretung ist zu bejahen, wenn es sich um eine in tatsächlicher rechtlicher Hinsicht komplexe Streitsache handelt, die Prozessführung die Fähigkeiten des Vertretenen übersteigt und die Streitsache für ihn eine erhebliche Bedeutung hat (GVP 1987 Nr. 92 und 93, je mit Hinweisen; GVP 1988 Nr. 61). Es gilt der Grundsatz, dass bei gegebener Notwendigkeit und beim

Fehlen besonderer Umstände eine volle Entschädigung zu leisten ist (GVP 1988 Nr. 61). Im vorliegenden Fall kann nicht von einer einfachen von vornherein klaren Sach- und Rechtslage gesprochen werden. Der Rekurrent ist nicht juristisch gebildet. Auf jeden Fall sind keine Hinweise auf besondere prozessuale Erfahrungen entsprechende Fähigkeiten erkennbar, welche nahe legen würden, dass der Rekurrent den Rechtsstreit selber hätte führen sollen. Bei diesen Gegebenheiten hat er zufolge Obsiegens Anspruch auf eine volle Parteientschädigung. Gemäss Art. 22 Abs. 1 lit. b der Honorarordnung für Rechtsanwälte und Rechtsagenten (HonO; sGS 963.75) beträgt das Honorar in der Verwaltungsrechtspflege vor dem Versicherungsgericht pauschal Fr. 1'000.-- bis Fr. 12'000.--. Es rechtfertigt sich, bei diesem Prozess, bei dem eine eng umgrenzte Streitfrage – die auch eher unterdurchschnittlichen Aufwand verursachte – zu entscheiden war, die Parteientschädigung, wie in vergleichbaren Fällen üblich, zulasten der unterliegenden Vorinstanz auf pauschal Fr. 2'500.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:

  1. Der Rekurs wird gutgeheissen.

  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

  3. Die Vorinstanz hat dem Rekurrenten eine Parteientschädigung in Höhe von Fr. 2'500.-- zu bezahlen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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