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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2019/181)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:IV 2019/181
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2019/181 vom 03.03.2020 (SG)
Datum:03.03.2020
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 54 ATSG. Verrechnung von Leistungen zweier Sozialversicherungen. Vollstreckbarkeit der Leistungen als Voraussetzung für die Verrechnung. Vorsorgliche Massnahmen (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. März 2020, IV 2019/181).
Zusammenfassung:A. meldete sich im Februar 2014 bei der IV-Stelle an. Nach verschiedenen Gutachten und Entscheiden erhielt sie eine befristete halbe Rente zugesprochen. Die IV-Stelle verrechnete jedoch einen Teil der Nachzahlung mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen. A. und ihr Ehemann legten Beschwerde ein, da sie die Verzugszinsberechnung und die Verrechnung beanstandeten. Das Versicherungsgericht hob die Verrechnungsverfügung auf, da diese vorzeitig ergangen war, da die Rückforderung noch nicht rechtskräftig war. Auch die Verzugszinsverfügung wurde aufgehoben, da der Sachverhalt noch nicht abschliessend feststand. Die Beschwerdegegnerin muss die Gerichtskosten tragen.
Schlagwörter: Verrechnung; Rente; Forderung; Zahlung; Franken; Rückforderung; Verzugszins; Verfügung; Rentennachzahlung; Versicherungsgericht; EL-Rückforderung; Ergänzungsleistung; Entscheid; IV-act; IV-Stelle; Betrag; Ergänzungsleistungen; Ehemann; Beschwerdeverfahren; Eingabe; Auszahlungsstop; Sozialversicherungsrecht; Forderung
Rechtsnorm: Art. 120 OR ; Art. 26 ATSG ; Art. 54 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-
Entscheid
Entscheid vom 3. März 2020

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber- Studerus, Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr. IV 2019/181

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin, vertreten durch B. , gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand Verrechnung Sachverhalt

A.

    1. A. meldete sich im Februar 2014 zum Bezug einer Rente der Invalidenversicherung an (IV-act. 59). Im Auftrag der IV-Stelle erstattete der Rheumatologe Dr. med. C. im Januar 2016 ein fachärztliches Gutachten, in dem er für die Zeit von Juni 2013 bis und mit Dezember 2015 eine Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent und für die Zeit ab Januar 2016 eine Arbeitsunfähigkeit von 30 Prozent für ideal leidensadaptierte Tätigkeiten attestierte (vgl. IV-act. 58–3 f.). Mit einer Verfügung vom

      21. Juni 2016 wies die IV-Stelle das Rentenbegehren der Versicherten ab (vgl. IV-act. 58–5). Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen teilweise gutgeheissen; das Versicherungsgericht sprach der Versicherten für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis zum 28. Februar 2016 (recte: 29. Februar 2016) eine befristete halbe Rente zu (IV-act. 58). Mit einer Verfügung vom 25. April 2019 sprach die IV-Stelle der Versicherten für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis zum 29. Februar 2016 Rentenleistungen von insgesamt 15’815 Franken sowie einen Verzugszins von 340 Franken zu (IV-act. 32). Der Verfügung lag eine „allgemeine Notiz“ bei, der sich entnehmen liess, dass die Rentennachzahlung im Betrag von 13’182 Franken mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen verrechnet wurde (IV-act. 35).

    2. Am 27. Mai 2019 erhob die Versicherte einen „Einwand gegen die Verfügung vom

      25. April 2019“ (IV-act. 22). Sie beanstandete die Verzugszinsberechnung und machte geltend, die Verzugszinspflicht sei bereits am 31. Oktober 2014 entstanden. Der gesamte Verzugszins belaufe sich auf 3’046.40 Franken. Sollte die entsprechende Nachzahlung nicht bis spätestens am 14. Juni 2019 auf ihrem Bankkonto eingehen, würden weitere Zinsen und Mahngebühren fällig. Am 28. Mai 2019 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit (IV-act. 18), dass die Nachzahlung der Rentenleistungen im Betrag von 13’182 Franken mit einer EL-Rückforderung verrechnet worden sei, die infolge der

      Rentennachzahlung entstanden sei. Die Verzugszinsberechnung habe nur die Nachzahlungssumme von 2’633 Franken betroffen. Bei einer nochmaligen Prüfung habe sich gezeigt, dass die Berechnung korrekt sei. Falls die Versicherte damit nicht einverstanden sei, müsse sie eine Beschwerde beim Versicherungsgericht erheben.

    3. Am 29. Mai 2019 erhob der Ehemann der Versicherten eine „Beschwerde“ bei der IV-Stelle gegen die Verfügung vom 25. April 2019 (IV-act. 17). Er beantragte die Aufhebung der EL-Rückforderung von 13’182 Franken und die Ausrichtung von Verzugszinsen von fünf Prozent seit Oktober 2014 sowie eventualiter die Verrechnung einer allfälligen EL-Rückforderung mit einer nicht ausbezahlten Invalidenrente für den Zeitraum vom 17. November 1995 bis zum 7. Juli 1997. Zur Begründung führte er aus, obwohl die IV-Stelle in einem Beschluss vom 7. August 2000 festgehalten habe, dass er ab dem 17. November 1994 rentenbegründend invalid gewesen sei, habe er erst ab dem August 1997 respektive – wegen einer Haftstrafe in der Zeit vom 1. August 1997 bis zum 28. Februar 1999 – ab dem 1. März 1999 eine Rente erhalten. Den Einspracheentscheid der EL-Durchführungsstelle vom 25. April 2019 betreffend die EL- Rückforderung habe er beim Versicherungsgericht angefochten. Es sei also noch fraglich, ob überhaupt ein Rückforderungsanspruch bestehe. Die IV-Stelle leitete die Eingabe zur Prüfung als Beschwerde an das Versicherungsgericht weiter (IV-act. 13).

B.

    1. Am 20. Juni 2019 ging die weitergeleitete „Beschwerde“ vom 29. Mai 2019 beim Versicherungsgericht ein (act. G 1). Das Versicherungsgericht forderte den Ehemann der Versicherten am 27. Juni 2019 auf (act. G 2), dem Gericht bis spätestens am 12. Juli 2019 mitzuteilen, ob er mit seiner Eingabe vom 29. Mai 2019 tatsächlich eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 25. April 2019 habe erheben wollen. Zudem wies es den Ehemann der Versicherten darauf hin, dass er nicht im eigenen Namen, sondern nur als Vertreter seiner Ehefrau eine Beschwerde erheben könne, wofür er aber eine entsprechende Vollmacht benötige. Mit einer Eingabe vom 12. Juli 2019 hielt der Ehemann der Versicherten an seiner Beschwerde fest und er beantragte die unentgeltliche Rechtspflege (act. G 3). Er machte geltend, die EL-Durchführungsstelle habe zwischenzeitlich von der Krankenpflegeversicherung Ergänzungsleistungen für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 29. Februar 2016 von insgesamt 10’460.10

      Franken zurückgefordert. Ob überhaupt ein Rückforderungsanspruch bestehe, sei ernsthaft zu bezweifeln. Die neue EL-Anspruchsberechnung sei fehlerhaft. Der Entscheid der EL-Durchführungsstelle sei noch nicht rechtskräftig. Gegen die Verrechnung sei einzuwenden, dass das Ehepaar im Güterstand der Gütertrennung lebe. Ausserdem habe der Ehemann der Versicherten für die Zeit vom 17. November 1995 bis zum 28. Februar 1999 noch keine Rentenleistungen erhalten. Der Eingabe lag eine Vollmacht bei, mit der die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) ihren Ehemann zur Vertretung ermächtigt hatte (act. G 3.6).

    2. Die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) beantragte am 26. September 2019 die Abweisung der Beschwerde (act. G 6). Zur Begründung führte sie aus (vgl. act. G 6.1), die Ergänzungsleistungen hätten unter Berücksichtigung der Rentennachzahlung neu berechnet werden müssen. Dabei habe eine hängige Einsprache betreffend ein hypothetisches Erwerbseinkommen der Beschwerdeführerin gleich mit „abgehandelt“ werden können. Für die Zeit von Januar 2015 bis April 2019 habe eine Rückforderung von jährlichen Ergänzungsleistungen im Gesamtbetrag von 10’196 Franken resultiert. Zusätzlich hätten Krankheits- und Behinderungskosten von 2’986 Franken zurückgefordert werden müssen. Das habe eine Gesamtrückforderung von 13’182 Franken ergeben. Diese Rückforderung sei mit einer Rentennachzahlung von 16’155 Franken verrechnet worden. Der Restbetrag von 2’973 Franken sei per 29. April 2019 an die Beschwerdeführerin überwiesen worden. Die Gütertrennung sei vorliegend irrelevant, denn beide Ehegatten hätten von der Ergänzungsleistung profitiert, die für das Ehepaar zusammen ausgerichtet worden sei. Die Verzugszinsberechnung sei korrekt. Der frühere Invalidenrentenanspruch des Ehemannes für die Zeit von November 1994 bis Juli 1997 gehöre nicht zum Gegenstand des Verfahrens. Nichtsdestotrotz sei festzuhalten, dass kein solcher Anspruch bestehe, denn der Ehemann habe sich verspätet angemeldet, weshalb er erst ab dem 1. August 1997 einen Rentenanspruch hätte haben können. Weil er sich bis August 1999 im Strafvollzug befunden habe und weil ihm erst im März 1999 die Halbgefangenschaft gewährt worden sei, sei es richtig gewesen, ihm die Rente erst ab März 1999 auszurichten. Bei einer aktuellen Überprüfung der Berechnung des Rentenanspruchs der Ehefrau habe sich gezeigt, dass der Betrag zu hoch festgesetzt worden sei. Der gesamte Rentenanspruch für die Zeit von Oktober 2014 bis Februar

      2016 hätte eigentlich um 167 Franken tiefer ausfallen müssen. Diesbezüglich müsste allenfalls eine reformatio in peius angedroht werden. Ein Sachbearbeiter der EL- Durchführungsstelle hatte am 3. September 2019 notiert, dass die Berechnung der Ergänzungsleistung materiell korrekt erfolgt sei (act. G 6.2).

    3. Mit einer Replik vom 4. November 2019 hielt die Beschwerdeführerin an ihren Anträgen fest (act. G 8). Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 10).

    4. Das Versicherungsgericht forderte die Beschwerdegegnerin am 7. Januar 2020 auf, die Belege für die erfolgte Verrechnung nachzureichen (act. G 12). Die Beschwerdegegnerin kam dieser Aufforderung am 10. Januar 2010 nach. Sie reichte Buchungsbelege betreffend die Verrechnung eines Teils der Rentennachzahlung mit drei EL-Teilrückforderungen im Betrag von 10’196 Franken + 2’011.35 Franken +

      974.65 Franken = 13’182 Franken ein (act. G 13.1). In ihrem Begleitschreiben hielt sie

      an ihrem Antrag fest, die Beschwerde sei abzuweisen (act. G 13).

    5. Die Beschwerdeführerin nahm am 31. Januar 2020 Stellung zur Eingabe der Beschwerdegegnerin vom 10. Januar 2020 (act. G 15). Sie machte geltend, die obligatorische Krankenpflegeversicherung habe bereits 5’266 Franken + 5’266 Franken

      + 2’721 Franken = 13’182 Franken von ihr zurückgefordert. Dieser Betrag könne nun nicht nochmals zur Verrechnung gebracht werden. Die Beschwerdegegnerin wolle offensichtlich nur ihre Zinspflicht umgehen. Das Kreisgericht D. habe in einem Entscheid vom 30. Oktober 2019 die definitive Rechtsöffnung für den Betrag von 15’815 Franken nebst Zins zu fünf Prozent seit dem 1. Oktober 2016 erteilt. Bei der Beschwerdegegnerin herrsche „ein totales Chaos“, denn diese habe hier mehrmals dieselben Forderungen zur Verrechnung gebracht. Mit diesem Vorgehen habe sie sich dem Vorwurf eines strafbaren Verhaltens ausgesetzt.

    6. Die Beschwerdegegnerin machte am 7. Februar 2020 geltend (act. G 17), weder die Argumentation der Beschwerdeführerin noch der (angefochtene) Entscheid des Kreisgerichtes D. ändere etwas an der Rechtmässigkeit der angefochtenen Verfügung.

Erwägungen 1.

Den Anfechtungsgegenstand in diesem Beschwerdeverfahren bildet die Verfügung vom 25. April 2019. Mit dieser Verfügung hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis zum 29. Februar 2016 eine befristete Rente der Invalidenversicherung samt einem entsprechenden Verzugszins zugesprochen. Diese Rentennachzahlung hat sie grösstenteils mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen verrechnet. In Bezug auf die Rentenzusprache hat es sich bei der angefochtenen Verfügung allerdings nur um eine Umsetzung der im Entscheid des Versicherungsgerichtes des Kantons St. Gallen vom 14. November 2018 enthaltenen, im Sinne des Art. 56 Abs. 2 VRP verbindlichen Feststellung gehandelt, wonach die Beschwerdeführerin für den Zeitraum vom 1. Oktober 2014 bis zum 29. Februar 2016 einen befristeten Rentenanspruch gehabt hat. Die Beschwerdegegnerin hat in der Folge lediglich noch die „AHV-rechtliche Seite“ des Sachverhaltes abgeklärt und die genauen Rentenbeträge festgesetzt. Der Entscheidinhalt der Verfügung vom

25. April 2019 hat sich also auf die Festsetzung der Rentenbeträge, auf die Verzugszinsberechnung und auf die Verrechnung der Rentennachzahlung mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen beschränkt. In ihren gegen diese Verfügung gerichteten Eingaben hat die Beschwerdeführerin ausschliesslich die Höhe des Verzugszinses und die Verrechnung der Rentennachzahlung beanstandet. Der Streitgegenstand dieses Beschwerdeverfahrens beschränkt sich folglich auf die Verrechnung der Rentennachzahlung mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen und auf den Verzugszins. Diese beiden „Teil“-Streitgegenstände weisen keinen inneren Zusammenhang auf; es handelt sich um zwei separate Streitgegenstände, die ein unabhängiges juristisches Schicksal haben. Der Beschwerdeführerin steht es also beispielsweise frei, das Urteil des Versicherungsgerichtes nur bezüglich des Verzugszinses anzufechten. Dieser Unabhängigkeit der beiden Streitgegenstände wird soweit möglich mit einer entsprechenden Trennung der Erwägungen und des Dispositivs Rechnung getragen.

2.

    1. Bezüglich der Verrechnung der Rentennachzahlung mit einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen stellt sich zunächst die Frage nach der rechtsgestaltenden Wirkung der angefochtenen Verfügung, denn es muss sich dabei nicht zwingend um eine definitive Verrechnung handeln; denkbar wären auch eine vorläufige Verrechnung

      ein vorläufiger Auszahlungsstop. Laut dem Art. 120 Abs. 1 OR, der im Sozialversicherungsrecht analog angewendet wird, setzt die Verrechnung von zwei Forderungen die Fälligkeit beider Forderungen voraus. In der Terminologie des Sozialversicherungsrechtes kann das nur bedeuten, dass beide Forderungen, die miteinander verrechnet werden sollen, vollstreckbar im Sinne des Art. 54 ATSG sein müssen. Diese Voraussetzung ist in Bezug auf die Rückforderung von Ergänzungsleistungen, mit der die Rentennachzahlung vorliegend verrechnet worden ist, nicht erfüllt, weil jene Rückforderung noch nicht formell rechtskräftig beurteilt ist und weil der beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hängigen Beschwerde nicht die aufschiebende Wirkung entzogen worden ist. Eine definitive Verrechnung hat unter diesen Umständen zum Vorneherein nicht zulässig sein können. Nun erlaubt der Art. 120 Abs. 2 OR aber auch eine „vorsorgliche“ Vollstreckung, denn gemäss dieser Bestimmung kann der Schuldner die Verrechnung auch geltend machen, wenn seine Gegenforderung bestritten wird. Würde man diese Bestimmung analog im Sozialversicherungsrecht anwenden, könnte folglich eine vollstreckbare Forderung mit einer noch nicht vollstreckbaren Forderung „vorsorglich“ verrechnet werden. Eine solche analoge Anwendung des Art. 120 Abs. 2 OR im Sozialversicherungsrecht hält aber aus den folgenden Gründen einer kritischen Prüfung nicht stand: Im Sozialversicherungsrecht ist es – wie im übrigen Verwaltungsrecht auch – unzulässig, eine vorsorgliche Massnahme zu verfügen, die den Entscheid in der Sache vorwegnimmt (statt vieler: Hansjörg Seiler, in: Waldmann/Weissenberger, Praxiskommentar VwVG, Art. 56 N 42, mit Hinweisen), denn das wäre in aller Regel unsinnig, weil die vorsorgliche Massnahme naturgemäss mit dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens dahinfällt (vgl. etwa BSK ATSG-Bolt, Art. 52 Abs. 4 N 14, mit Hinweisen) und weil es deshalb beim Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu einer Rückabwicklung der vorsorglichen Massnahme und einer erneuten – allenfalls komplett identischen – rechtsgestaltenden Anordnung kommen müsste, die nun aber definitiven Charakters wäre. Im vorliegenden Fall müsste also eine „vorsorgliche“ Verrechnung beim Abschluss des Verwaltungsverfahrens betreffend die definitive Verrechnung rückabgewickelt werden und anschliessend müsste erneut eine – nun definitive – Verrechnung angeordnet werden, was offensichtlich absurd wäre. Hinzu kommt, dass (auch) bei der Anordnung von vorsorglichen Massnahmen der Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu beachten ist, was bedeutet, dass nur jene Massnahme vorsorglich angeordnet werden darf, die mit einem minimalen Eingriff in die Rechte der versicherten Person den angestrebten Zweck erreicht. Eine

      „vorsorgliche“ Verrechnung ist im Vergleich zu einem vorläufigen Auszahlungsstopp als unverhältnismässig zu qualifizieren, weil sie zu einer Umbuchung des entsprechenden Betrages führt, die später nötigenfalls rückabgewickelt werden müsste, während ein

      vorläufiger Auszahlungsstopp lediglich den Status quo „einfriert“ und keine Umbuchung zur Folge hat, aber dennoch denselben Zweck wie eine „vorsorgliche“ Verrechnung erreicht, nämlich die Sicherung einer im Raum stehenden Gegenforderung. Zusammenfassend darf der Art. 120 Abs. 2 OR im Sozialversicherungsrecht nicht analog angewendet werden, weshalb es sozialversicherungsrechtlich gesehen keine „vorsorgliche“ Verrechnung gibt.

    2. Bei der in der angefochtenen Verfügung angeordneten Verrechnung kann es sich also nur entweder um einen vorsorglichen Auszahlungsstopp aber um eine

      „echte“, definitive Verrechnung handeln. Da der Entscheid über die EL-Rückforderung noch nicht vollstreckbar ist, wäre eine definitive Verrechnung aber rechtswidrig. Wenn nämlich die Rentennachzahlung bereits definitiv mit der EL-Rückforderung verrechnet würde, obwohl über jene noch gar nicht formell rechtskräftig entschieden worden ist, bestünde die Gefahr, dass die Verrechnungsverfügung in formelle Rechtskraft erwachsen und damit verbindlich würde, bevor überhaupt verbindlich feststünde, wie hoch die EL-Rückforderung wäre. Würde es im Beschwerdeverfahren betreffend die EL-Rückforderung später zu einer Reduktion dieser Rückforderung kommen, müsste die dann bereits formell rechtskräftige Verrechnungsverfügung in Wiedererwägung (Art.

      53 Abs. 2 ATSG) gezogen werden. Gemäss der bundesgerichtlichen Auffassung stünde es der Beschwerdegegnerin aber völlig frei, ob sie überhaupt ein Wiedererwägungsverfahren eröffnen wollte. Sie könnte also die Verrechnung im zu hohen Betrag ohne Korrektur stehen lassen, was zwar treuwidrig wäre, aber nach der bundesgerichtlichen Auffassung nicht angefochten werden könnte. Ein vorläufiger Auszahlungsstopp wäre dagegen als rechtmässig zu qualifizieren, denn dadurch hätte die Beschwerdegegnerin mit einem minimalen, lediglich in einer Auszahlungsverzögerung bestehenden Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin die Deckung der zu erwartenden EL-Rückforderung zugunsten der dies beantragenden EL-Durchführungsstelle sichern können. Sollte die noch nicht formell rechtskräftige EL- Rückforderung zugunsten der Beschwerdeführerin korrigiert werden, würde die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin den allfälligen Differenzbetrag ohne Weiteres noch nachträglich ausbezahlen können.

    3. Im Wortlaut der angefochtenen Verfügung deutet nichts auf eine Vorläufigkeit hin; der Verfügungswortlaut enthält keinen Hinweis darauf, dass es sich bei der Rechtsfolgeanordnung um eine vorsorgliche Massnahme handeln würde. Die von der Beschwerdegegnerin nachträglich eingereichten Buchungsbelege zeigen, dass es auch tatsächlich zu einer Umbuchung, das heisst zu einer Verrechnung der Rentennachzahlung mit der noch nicht vollstreckbaren EL-Rückforderung gekommen

      ist. Zusammenfassend besteht deshalb kein Zweifel daran, dass es sich bei der angefochtenen Verfügung um eine definitive Verrechnungsverfügung handelt. Die Verrechnung ist aber aus den oben angeführten Gründen unzulässig gewesen, weshalb die angefochtene Verrechnungsverfügung als rechtswidrig aufgehoben werden muss. Da die Beschwerdegegnerin gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt (nämlich nach dem formell rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens betreffend die EL- Rückforderung) über die Verrechnung der Rentennachzahlung mit der strittigen EL- Rückforderung wird verfügen müssen, ist die Sache zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens und zur anschliessenden neuen Verfügung betreffend die Verrechnung der Rentennachzahlung mit einer allfälligen EL-Rückforderung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    4. Im Sinne eines obiter dictum ist darauf hinzuweisen, dass es der Beschwerdegegnerin selbstverständlich unbenommen bleibt, hinsichtlich des noch nicht ausbezahlten Teils der Rentennachzahlung einen vorsorglichen Auszahlungsstopp zu verfügen, der dahinfallen wird, sobald das Verrechnungsverfahren abgeschlossen werden kann.

3.

Sofern die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist, werden die Sozialversicherungen gemäss dem Art. 26 Abs. 2 ATSG für ihre Leistungen nach dem Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber zwölf Monate nach dessen Geltendmachung verzugszinspflichtig. Keinen Anspruch auf Verzugszinsen hat die berechtigte Person allerdings laut dem Art. 26 Abs. 4 lit. a ATSG, wenn die Nachzahlung an Dritte erfolgt. Wird eine Leistungsnachzahlung teilweise verrechnet, besteht also nur für den nicht verrechneten, direkt der versicherten Person auszuzahlenden Teil dieser Leistungsnachzahlung ein Anspruch auf einen Verzugszins. Für die Festsetzung des (reduzierten) Verzugszinses muss folglich die Höhe der zu verrechnenden Gegenforderung definitiv feststehen. Da noch kein formell rechtskräftiger Entscheid betreffend die EL-Rückforderung vorliegt, mit der die Beschwerdegegnerin ihre Rentennachzahlung teilweise hat verrechnen wollen, hat im Zeitpunkt der Eröffnung der angefochtenen Verfügung noch gar nicht feststehen können, auf welchem Betrag der Verzugszins zu berechnen gewesen ist. Mit anderen Worten hat der massgebende Sachverhalt noch nicht vollständig festgestanden, weshalb die angefochtene Verzugszinsverfügung verfrüht ergangen ist. Sie muss ebenfalls als rechtswidrig aufgehoben werden. Die Beschwerdegegnerin wird beim Abschluss des Verrechnungsverfahrens erneut über den Verzugszins verfügen.

4.

Da sowohl die Verrechnungsverfügung als auch die Verzugszinsverfügung aufgehoben wird, obsiegt die Beschwerdeführerin vollumfänglich. Die Gerichtskosten von insgesamt 600 Franken sind deshalb von der Beschwerdegegnerin zu bezahlen. Diese Kosten sind, entsprechend dem jeweiligen Beurteilungsaufwand, folgendermassen aufzuteilen: 450 Franken für das Beschwerdeverfahren betreffend Verrechnung und 150 Franken für das Beschwerdeverfahren betreffend Verzugszinsen. Bei diesem Verfahrensausgang besteht kein schutzwürdiges Interesse der Beschwerdeführerin an der materiellen Prüfung ihres Begehrens um die unentgeltliche Rechtspflege.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die angefochtene Verfügung betreffend Verrechnung wird aufgehoben und die Sache wird im Sinne der Erwägungen zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2. Die angefochtene Verfügung betreffend Verzugszinsen wird aufgehoben und die Sache wird im Sinne der Erwägungen zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von 450 Franken im Beschwerdeverfahren betreffend Verrechnung zu bezahlen.

4.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von 150 Franken im Beschwerdeverfahren betreffend Verzugszinsen zu bezahlen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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