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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2017/74)

Zusammenfassung des Urteils IV 2017/74: Versicherungsgericht

Die Beschwerdeführerin, eine Frau, hatte eine ganze Rente der Invalidenversicherung bezogen. Nach einer Neuberechnung der Renten für sie und ihren Ehemann ergab sich eine Nachzahlung, jedoch auch Rückforderungen von Ergänzungsleistungen. Die Beschwerdeführerin war mit der Situation nicht zufrieden und erhob Einspruch gegen die Rentenverfügungen. Das Versicherungsgericht entschied, dass es sich um Verzichtserklärungen handelte und wies die Angelegenheit an die Ausgleichskasse zurück. Die Kosten des Gerichtsverfahrens wurden nicht erhoben.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2017/74

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2017/74
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2017/74 vom 24.01.2018 (SG)
Datum:24.01.2018
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 23 ATSG. Leistungsverzicht. Verfahrensrecht. Entgegen dem Wortlaut des Art. 23 ATSG und entgegen dem Willen des historischen Gesetzgebers muss der Sozialversicherungsträger jeweils eine Verfügung erlassen, wenn eine versicherte Person erklärt hat, dass sie auf eine Leistung verzichten will (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. Januar 2018, IV 2017/74).
Schlagwörter: Rente; Renten; Verfügung; Verzicht; Eingabe; Ergänzungsleistung; Verzichts; Ehemann; Zahlung; Ausgleichskasse; Verzichtserklärung; Ergänzungsleistungen; Invalidenrente; Verfügungen; Rentenverfügung; Gesetzgeber; Sozialversicherung; Invalidenversicherung; Rückforderung; Einkommen; Rentennachzahlung; Rentenverfügungen; Eingaben; Ehepaar; Fehler; Steuer
Rechtsnorm: Art. 17 ATSG ;Art. 23 ATSG ;Art. 49 ATSG ;Art. 53 ATSG ;Art. 56 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2017/74

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber- Studerus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2017/74

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand

Rente Sachverhalt A.

    1. A. bezog gestützt auf eine Verfügung vom 29. November 1994 ab dem 1. Oktober 1994 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 Prozent (act. G 6.1.67–29 ff.). Im November 2003 meldete sich auch ihr Ehemann (Jahrgang 1955) zum Bezug einer Rente der Invalidenversicherung an (act. G 6.2.81). Mit einer Verfügung vom 22. September 2005 sprach die IV-Stelle ihm rückwirkend ab dem 1. Dezember 2003 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 93 Prozent zu (act. G 6.2.65–1 ff.). Infolgedessen musste die Ausgleichskasse ein sogenanntes „Einkommenssplitting“ durchführen und den Betrag der Rente der Versicherten ebenfalls rückwirkend per 1. Dezember 2003 neu festsetzen (act. G 6.2.65–5 ff.). Offenbar hatte das Ehepaar bereits Ergänzungsleistungen

      bezogen, denn die beiden Verfügungen vom 22. September 2005 enthielten folgenden Hinweis: „Verrechnung mit der Rückforderung der Ergänzungsleistung“ (vgl. auch act. G 6.2.70). Da sich der Ehemann ab dem 16. November 2015 in einem Strafvollzug befand, wurde seine Invalidenrente per 31. Dezember 2015 sistiert (act. G 6.2.28).

    2. Im Juli 2016 meldete die Versicherte sich zum Bezug einer Altersrente der AHV an (act. G 6.1.37). Mit einer Verfügung vom 1. Dezember 2016 sprach die Ausgleichskasse der Versicherten per dato eine – die bisherige Invalidenrente ablösende – Altersrente zu (act. G 6.1.27). Bei der Bearbeitung des Rentenbegehrens hatte die Ausgleichskasse am 4. November 2016 einen Fehler bei der Berechnung der Invalidenrente des Ehemannes entdeckt: Mangels eines entsprechenden Nachtrags betreffend das individuelle Beitragskonto (IK) waren bei der Festsetzung der Invalidenrente im August 2003 die für die Jahre 1989–1991 verbuchten Einkommen versehentlich nicht berücksichtigt worden; beim Zugriff auf das zentrale IK (ZIK) im November 2015 waren jene Einkommen nun aber entdeckt worden (act. G 6.2.22). Mit zwei Verfügungen vom

      17. November 2016 hatte die Ausgleichskasse deshalb die Verfügungen vom 22. September 2005 betreffend die Invalidenrenten der Versicherten und des Ehemannes für die Zeit ab dem 1. Dezember 2003 ersetzt und die beiden Renten für die

      vergangenen fünf Jahre, das heisst rückwirkend ab dem 1. November 2011, neu berechnet (act. G 6.2.10 und G 6.2.12). Diese Neuberechnung hatte eine Nachzahlung von 5'086 Franken (= 3'719.05 + 1'366.95 Franken; vgl. act. G 6.2.10–2) für die Versicherte und eine Nachzahlung von 2'386 Franken (= 37'400 + 288 – 35'302 Franken; vgl. act. G 6.2.12–1) für den Ehemann zur Folge gehabt. Diese Nachzahlungen waren je teilweise mit einer entsprechenden Rückforderung von Ergänzungsleistungen verrechnet worden.

    3. Am 24. November 2016 erhob die Versicherte eine „Einsprache“ gegen „die Verfügung vom 17. und 19. November 2016“ (act. G 1.1). Sie machte geltend, sie sei mit der Rückforderung (wohl von Ergänzungsleistungen; offenbar am 19. November 2016 verfügt) nicht einverstanden. Sie habe die Rente und die Ergänzungsleistungen in gutem Glauben bezogen und jeweils alle Unterlagen korrekt eingereicht. Der Fehler liege bei der Ausgleichskasse. Aufgrund der Verrechnung der Rentennachzahlung mit der EL-Rückforderung erhalte sie tatsächlich gar nicht mehr Geld. Nun müsse sie aber offenbar Nachsteuern bezahlen und mit Rückforderungen der Krankenkasse rechnen. Am 28. November 2016 erklärte die Versicherte der Ausgleichskasse telefonisch (act. G 1 3.), dass sie mit der Rentenverfügung vom 17. November 2016 nicht einverstanden sei. Die Rentennachzahlung habe zur Folge, dass sie Nachsteuern bezahlen müsse. Dafür habe sie kein Geld. Sie möchte deshalb, dass die Rentenberechnung unverändert bleibe; sie wolle keine Neuberechnung akzeptieren. Am 28. Dezember 2016 leitete die Ausgleichskasse die Eingabe vom 24. November 2016 zur Prüfung als Beschwerde gegen „unsere Verfügung vom 17. November 2016“ an das Versicherungsgericht weiter (act. G 1).

B.

    1. Am 29. Dezember 2016 teilte die verfahrensleitende Richterin der Ausgleichskasse mit (act. G 2), dass es sich bei der Eingabe vom 24. November 2016 nicht um eine Beschwerde handeln könne, soweit diese die EL-Verfügung vom 19. November 2016 betreffe. Für die Behandlung der Eingabe sei die Ausgleichskasse (effektiv die EL- Durchführungsstelle) zuständig. Am 26. Januar 2017 wies die verfahrensleitende Richterin die Versicherte darauf hin (act. G 3), dass diese zwar gemäss den Akten am

      28. November 2016 telefonisch ihr Nichteinverständnis mit der Verfügung vom 17.

      November 2016 erklärt habe, dass eine Beschwerde aber nicht telefonisch entgegen genommen werden könne. Der Eingabe vom 24. November 2016 lasse sich keine gegen die Verfügung vom 17. November 2016 gerichtete Nichteinverständniserklärung entnehmen. Falls die Beschwerdeführerin tatsächlich eine Beschwerde habe erheben wollen, solle sie das bis spätestens am 15. Februar 2017 schriftlich bestätigen. Andernfalls werde nicht auf die Eingabe vom 24. November 2016 eingetreten.

    2. Am 13. Februar 2017 erhob die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) beim Versicherungsgericht einen „Einspruch“ gegen die beiden Verfügungen vom 17. November 2016 (act. G 4). Sie machte geltend, die Ausgleichskasse (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) habe die Renten des Ehepaares falsch berechnet, obwohl doch die Sachbearbeiter der Beschwerdegegnerin auf die Rentenberechnung spezialisiert seien. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann hätten mit den Renten und den Ergänzungsleistungen gerade ihr Existenzminimum decken können. Infolge der Neuberechnung erhielten sie nun zwar höhere Renten, aber im Gegenzug tiefere Ergänzungsleistungen. Gleichzeitig sei sie aber mit Nachsteuerforderungen konfrontiert. Sie beantrage, dass die alte Verfügung weiterhin gültig bleibe dass die Nachsteuern von der Beschwerdegegnerin bezahlt würden.

    3. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 17. März 2017 die Abweisung der Beschwerde (act. G 6). Zur Begründung führte sie an, die Beschwerdeführerin habe weder gegen die neue und rückwirkende Berechnung der beiden Renten der Invalidenversicherung noch gegen die damit zusammenhängende rückwirkende Herabsetzung der Ergänzungsleistung materielle Einwände erhoben. Eine Fehlerhaftigkeit der entsprechenden Verfügungen sei nicht ersichtlich. Hier gehe es um einen Verzicht auf Leistungen der Invalidenversicherung. Bei einem Verzichtsgesuch müsse nicht verfügt werden. Der Verzicht sei vorliegend unzulässig, da er die Leistungspflicht der Ergänzungsleistungen tangieren würde.

    4. Am 1. Mai 2017 machte die Beschwerdeführerin geltend (act. G 8), die Beschwerdegegnerin habe schon wieder Leistungen zurückgefordert. Ihrer Eingabe legte sie eine Rückforderungsverfügung vom 13. Februar 2017 bei (act. G 8.1), mit der die Beschwerdegegnerin die versehentlich auch noch für den Monat Dezember 2016 (zusätzlich zur AHV-Altersrente) ausbezahlte IV-Rente zurückgefordert hatte. Die

      Beschwerdeführerin machte geltend, die fraglichen Beiträge (in den Jahren 1989–1991) seien gewiss schon eingetragen gewesen, als ihrem Ehemann die Invalidenrente zugesprochen worden sei. Das hätte der Beschwerdegegnerin auffallen müssen. Sie selbst habe den Fehler nicht entdecken können. Sie befürchte, dass es auch bei der Ablösung der Invalidenrente ihres Ehemannes durch eine Altersrente der AHV wieder zu Fehlern kommen werde.

    5. Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (vgl. act. G 10).

Erwägungen

1.

    1. Die Beschwerdeführerin hat bereits am 24. November 2016 bei der Beschwerdegegnerin einen „Einspruch“ gegen die beiden Rentenverfügungen vom 17. November 2016 erhoben und dann am 28. November 2016 zusätzlich noch telefonisch erklärt, dass sie mit jenen Verfügungen nicht einverstanden sei. Sowohl schriftlich als auch telefonisch hat sie sich aber – trotz einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung

      – nicht etwa an das Versicherungsgericht, sondern an die Beschwerdegegnerin gewendet. Erst lange nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist hat die Beschwerdeführerin (nach einer entsprechenden Aufforderung der verfahrensleitenden Richterin) gegenüber dem Versicherungsgericht (nochmals) ihr Nichteinverständnis betreffend die beiden Rentenverfügungen vom 17. November 2016 erklärt. Die Beschwerdeführerin hat also bis zum Ablauf der Beschwerdefrist nicht erklärt, dass sie eine Beschwerde im Sinne der Art. 56 ff. ATSG habe erheben wollen. Zudem hat sie keine Vollmacht zur Vertretung ihres Ehemannes eingereicht, die sie aber für die Erhebung einer Beschwerde gegen die ihren Ehemann betreffende Verfügung benötigt hätte. Diese Umstände werfen die Frage auf, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich eine Beschwerde gegen die beiden Rentenverfügungen vom 17. November 2016 hat erheben wollen. Für die Beantwortung dieser Frage müssen die Eingaben der Beschwerdeführerin einer sorgfältigen Interpretation im Blick auf das von der Beschwerdeführerin verfolgte Ziel unterzogen werden.

    2. Die Interpretation der Eingaben der Beschwerdeführerin erfordert zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt und den Auswirkungen der angefochtenen Verfügungen für die Beschwerdeführerin. Bei den beiden Verfügungen vom 17. November 2016 handelt es sich um Revisionsverfügungen (Art. 53 Abs. 1 ATSG), mit denen die Beschwerdegegnerin die ursprünglichen Rentenverfügungen vom 22. September 2005 aufgehoben und dann mit Wirkung ab dem 1. November 2011 (Verwirkung des Nachzahlungsanspruch für die Zeit vor diesem Datum) die Rentenbeträge angehoben hat, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie bei der ursprünglichen Rentenberechnung mehrere beitragspflichtige Einkommen des Ehemannes übersehen hatte. Diese Korrektur ist von der Beschwerdeführerin nicht als fehlerhaft rechtswidrig bezeichnet worden. Im Gegenteil lässt sich den Eingaben der Beschwerdeführerin vom 24. November 2016 und vom 13. Februar 2017 entnehmen, dass diese die Korrektur als grundsätzlich richtig erachtet hat, denn sie hat anerkannt, dass die Beschwerdegegnerin einen früheren Fehler korrigiert habe. In der Replik vom 1. Mai 2017 hat die Beschwerdeführerin dann sogar geltend gemacht, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Beschwerdegegnerin nicht bereits bei der ursprünglichen Rentenfestsetzung sämtliche beitragspflichtigen Einkommen berücksichtigt habe. Die Beschwerdeführerin hat sich folglich nicht gegen die rückwirkende Neufestsetzung der Invalidenrenten gewendet. Sie hat auch nicht geltend gemacht, die Rentennachzahlung als notwendige Folge der rückwirkenden Rentenneuberechnung sei an sich rechtswidrig. Die Eingaben der Beschwerdeführerin enthalten also keine Ausführungen, die sich materiell gegen die Rentenverfügungen vom 17. November 2016 richten würden.

    3. Nun haben die beiden Rentenverfügungen aber nicht nur eine Rentennachzahlung zur Folge gehabt, denn die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann hatten im massgebenden Zeitraum ab dem 1. November 2011 eine Ergänzungsleistung zu den beiden Invalidenrenten bezogen. Die rückwirkende Erhöhung der Rentenbeträge ist ergänzungsleistungsrechtlich als eine revisionsweise Erhöhung (Art. 17 Abs. 2 ATSG) der anrechen¬baren Einnahmen qualifiziert worden, die zu einer Reduktion des Ausgabenüberschusses und damit auch des Ergänzungsleistungsanspruchs geführt hat. Die Rentennachzahlung ist deshalb fast vollständig durch die daraus resultierende Rückforderung von Ergänzungsleistungen aufgezehrt worden. Faktisch hat sich an der Einnahmensituation des Ehepaares mit der Rentennachzahlung betragsmässig also

      kaum etwas geändert. Allerdings sind Renten der Invalidenversicherung – anders als Ergänzungsleistungen – steuerbares Einkommen. Folglich hat sich mit der Verschiebung eines Teils der Gesamteinnahmen des Ehepaares von den Ergänzungsleistungen hin zu den Rentenleistungen das steuerbare Einkommen rückwirkend erhöht. Das hat offenbar eine Nachsteuer der direkten Steuern zur Folge gehabt. Da die Steuern nicht zu den ergänzungsleistungsrechtlich anerkannten Ausgaben zählen, hat die steuerliche Mehrbelastung nicht durch eine entsprechend höhere Ergänzungsleistung kompensiert werden können. Obwohl die Rentennachzahlung für sich allein betrachtet als eine Korrektur zugunsten des Ehepaares qualifiziert werden müsste, hat sie also faktisch zu einer Verschlechterung der finanziellen Situation des Ehepaares (gleichbleibende Einnahmen, höhere Ausgaben) geführt. Mit ihren Eingaben vom 24. November 2016, vom 13. Februar 2017 und vom 1. Mai 2017 hat sich die Beschwerdeführerin nur gegen diese für sie nachteiligen faktischen Auswirkungen der Rentenverfügungen vom 17. November 2016 gewandt. Mit ihren Eingaben hat sie also nicht eine Korrektur der Revisions- und Nachzahlungsverfügungen der Beschwerdegegnerin, sondern ein Vorgehen der Beschwerdegegnerin bezweckt, bei dem es nicht zu einer Nachsteuerforderung kommen würde. Ihre Eingaben können folglich nicht als eine Beschwerde im Sinne der Art. 56 ff. ATSG qualifiziert werden. Es handelt sich dabei vielmehr um Verzichtserklärungen im Sinne des Art. 23 ATSG.

    4. Die erstinstanzliche Behandlung von Verzichtserklärungen im Sinne des Art. 23 ATSG fällt nicht in die Zuständigkeit des Versicherungsgerichts. Wie jedes andere Begehren auch muss eine Verzichtserklärung erstinstanzlich durch die Verwaltung beurteilt werden. Das ist vorliegend bislang nicht geschehen, weshalb die Sache zur materiellen Behandlung der Verzichtserklärung vom 24. November 2016 der Beschwerdegegnerin zu überweisen ist. Die folgenden Ausführungen haben deshalb den Charakter eines obiter dictum.

2.

Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Beschwerdeantwort mit einem Verweis auf UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 23 N 57 ff., geltend gemacht, ein allfälliger Leistungsverzicht könne nicht verfügt werden. Tatsächlich lässt sich den

Materialien zum ATSG entnehmen (vgl. BBl 1991 II 194 und 1999 4573 f.), dass der historische Gesetzgeber – trotz entsprechender Einwände des Bundesrates (vgl. BBl 1994 V 939) – die Ansicht vertreten hat, ein Verzicht bedürfe keiner Verfügung, sondern nur einer schriftlichen Bestätigung des Sozialversicherungsträgers. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag im Wortlaut des Art. 23 Abs. 3 ATSG gefunden, laut dem der Versicherer der berechtigten Person den Verzicht (und den Widerruf des Verzichts) schriftlich zu bestätigen hat. Diese Abweichung vom normalen Verfahren (Verfügungspflicht; Art. 49 Abs. 1 ATSG) und von der früheren Rechtsprechung (vgl. den Verweis bei KIESER, a.a.O., Art. 23 N 65) hat der historische Gesetzgeber damit begründet, dass es sich bei einem Verzicht nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um eine Willenserklärung der versicherten Person handle, über die nicht verfügt werden könne. Offenbar hat der historische Gesetzgeber immerhin erkannt, dass diese verfahrensrechtliche Regelung zumindest dann problematisch ist, wenn der Versicherungsträger den Verzicht nicht bestätigen will. Für einen solchen Fall hat der historische Gesetzgeber aber nicht etwa den Erlass einer abweisenden Verfügung, sondern die Nichtigkeit der Verzichtserklärung vorgesehen (vgl. Art. 23 Abs. 2 ATSG). Gemäss dem Wortlaut und dem Willen des historischen Gesetzgebers muss der Versicherungsträger also entweder einen Verzicht (oder dessen Widerruf) bestätigen aber die Nichtigkeit des Verzichts feststellen. Offenbar soll also weder im einen noch im andern Fall der Erlass einer anfechtbaren Verfügung notwendig beziehungsweise möglich sein. Das würde aber bedeuten, dass die versicherte Person keine Möglichkeit hätte, die materielle Beurteilung ihrer Verzichtserklärung durch den zuständigen Sozialversicherungsträger einer gerichtlichen Beurteilung zuzuführen, denn ohne eine Verfügung als Anfechtungsgegenstand kann kein materielles Beschwerdeverfahren durchgeführt werden. Folglich hätte der historische Gesetzgeber mit seiner verfahrensrechtlichen Konzeption den Rechtsschutz betreffend Verzichtsbegehren verunmöglicht. Ein sachlicher Grund, der diese Beschneidung der Verfahrensgarantien der versicherten Person rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein Verzicht auf Sozialversicherungsleistungen (oder dessen Widerruf) nicht verfügungsfähig sein sollte. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass ein die Interessen eines Dritten tangierender Verzicht gleich nichtig und nicht bloss anfechtbar sein soll. Augenscheinlich kann eine versicherte Person jedenfalls nicht ohne jedes Zutun des Sozialversicherungsträgers bewirken, dass die ihr

zustehenden Leistungen nicht mehr ausbezahlt werden. Die Verzichtserklärung allein kann also entgegen der Auffassung des historischen Gesetzgebers keinen Verzicht herbeiführen. Über ein Handeln des Sozialversicherungsträgers muss aber gestritten werden können, das heisst dessen Handeln muss gerichtlich überprüfbar sein. Der Erlass einer Verfügung ist folglich unabdingbar, weshalb keine Ausnahme vom Art. 49 Abs. 1 ATSG vorliegen kann. Eine sich nur auf den Wortlaut und auf den historischen Willen des Gesetzgebers stützende Interpretation des Art. 23 Abs. 3 ATSG hätte zur Folge, dass sich der Art. 23 Abs. 3 ATSG in seiner Anwendung als verfassungswidrig erweisen würde. Eine verfassungskonforme, dem Verfahrensrechtssystem in der Sozialversicherung Rechnung tragende und sich mit dem Sinn und Zweck des Art. 23 Abs. 3 ATSG problemlos in Übereinstimmung zu bringende Interpretation zwingt deshalb zur Abweichung vom vermeintlich klaren Wortlaut des Art. 23 ATSG. Der Sozialversicherungsträger muss in Anwendung des Art. 49 Abs. 1 ATSG in jedem Fall eine Verfügung erlassen, wenn die versicherte Person eine Verzichtserklärung abgegeben hat. Dieses verfahrensrechtlich korrekte Vorgehen wird den Ausgleichskassen denn auch vom Bundesamt für Sozialversicherungen in der Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung verbindlich vorgeschrieben (Rz. 1309 RWL). Die Beschwerdegegnerin wird also nach der Prüfung der von der Beschwerdeführerin gemachten Verzichtserklärung eine anfechtbare Verfügung zu erlassen haben, mit der sie den Verzicht bewilligen ablehnen wird.

3.

Hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen gilt dieser Entscheid als ein Unterliegen der Beschwerdeführerin, da auf ihre Eingabe nicht eingetreten werden kann. An sich müsste sie folglich die Gerichtskosten zu bezahlen, die angesichts des durchschnittlichen Verfahrensaufwandes auf 600 Franken festgesetzt werden müssten. Wäre allerdings gleich zu Beginn des Verfahrens erkannt worden, dass es sich bei der Eingabe vom 24. November 2016 nicht um eine Beschwerde, sondern um eine Verzichtserklärung gehandelt hat, wäre gar kein Beschwerdeverfahren eröffnet worden, weshalb auch keine Gerichtskosten zu erheben gewesen wären. Vor diesem Hintergrund wäre es stossend, die Kosten für das insofern unnötige Gerichtsverfahren

der Beschwerdeführerin aufzuerlegen. In Anwendung des Art. 97 VRP wird deshalb von der Erhebung von Gerichtskosten abgesehen.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten; die Sache wird zur Prüfung der Verzichtserklärung im Sinne der Erwägungen der Beschwerdegegnerin überwiesen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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