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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:IV 2017/205
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2017/205 vom 29.01.2019 (SG)
Datum:29.01.2019
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 78 ATSG (Verantwortlichkeit von Durchführungsorganen von Versicherungsträgern gegenüber Versicherten oder Dritten) Verantwortlichkeit einer IV-Stelle als Folge zu tiefer Tarifvereinbarungen, die das BSV gestützt auf Art. 27 Abs. 1 IVG mit Spitexorganisationen geschlossen hat, fehlende Passivlegitimation der IV-Stelle und fehlende Widerrechtlicheit bei der Leistungszusprache durch die IV-Stelle; kein Anwendungsfall einer ungerechtfertigten Bereicherung der IV-Stelle zulasten der Wohnistzgemeinde (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Januar 2019, IV 2017/205).
Schlagwörter:
Rechtsnorm: Art. 14 ATSG ; Art. 25a KVG ; Art. 52 ATSG ; Art. 63 OR ; Art. 78 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid
Entscheid vom 29. Januar 2019

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber- Studerus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2017/205

Parteien

Politische Gemeinde A. , Beschwerdeführerin, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand

Schadenersatz Art. 78 ATSG (Restfinanzierung von Spitexleistungen für B. ) Sachverhalt

A.

    1. B. litt an einer mittelschweren pulmonal-arteriellen Hypertonie bei multiplen Links-Rechts-Verbindungen, an einem primären Atemnotsyndrom im Rahmen einer hyalinen Membrankrankheit, an einer intrauterinen Wachstumsretardierung, an einer Hyponatriämie, an einer Hypokaliämie, an einer indirekten Hyperbilirubinämie und an einem Apnoe-Bradykardie-Syndrom. Nach seiner Geburt und einer rund zweimonatigen Behandlung im Kinderspital C. wurde er an das Kinderspital der Universitätsklinik Zürich überwiesen. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen stellte mit mehreren Mitteilungen vom 31. März 2014 und vom 6. August 2015 fest, dass er an den Geburtsgebrechen Ziff. 495, 313, 247, 395, 494, 251, 280, 303, 387, 462, 463, 390

      Anh. GgV litt. Das Kinderspital der Universitätsklinik Zürich hatte bereits am 8. Juni 2015 berichtet, B. befinde sich seit der Geburt und bis auf weiteres in einer Langzeithospitalisation. Er leide an einer chronischen multifaktoriellen Lungenerkrankung mit einer kompletten Beatmungsabhängigkeit, an einer pulmonalen Hypertonie, an einem kongenitalen Herzfehler, an einem schweren gastro- oesophagealen Reflux, an einem hypertrophen Pylorus, an einer Ess- und Trinkstörung, an einer endokrinologischen Störung, an einer deutlichen Reduktion der weissen Hirnsubstanz, an einer Schädelkalotte, an Röhrenknochen mit metaphysärer Auftreibung, an einer schweren Gedeihstörung, an epileptischen Anfällen, an einer Myopie, an Leistenhernien, an einer schwergradigen globalen Entwicklungsverzögerung sowie an den Folgen multipler interkurrenter und persistierender Komplikationen und Erkrankungen. Am 11. September 2015 verordnete die zuständige Ärztin für die Zeit ab dem damals geplanten Austritt aus dem Kinderspital der Universitätsklinik Zürich am 1. November 2015 eine Pflege durch die

      Kinderspitex im Umfang von 72 Stunden pro Woche. In einem Begleitschreiben zu dieser ärztlichen Verordnung erklärte sie, weshalb B. eine derart umfangreiche medizinische Pflege benötigen werde. Am 14. Oktober 2015 erteilte die IV-Stelle eine Kostengutsprache für Leistungen der Kinderspitex im Umfang von maximal acht Stunden für die aufwendige Abklärung und Dokumentation (einmalig), von maximal 45 Stunden in den ersten drei Monaten für die Beratung und die Instruktion der Eltern, von maximal zehn Stunden pro Monat für die koordinativen Massnahmen und von maximal zwölf Stunden pro Tag für die Untersuchung und die Behandlung. Sie verwies darauf, dass die Vergütung nach dem IV-Tarif erfolgen werde. Am 21. Oktober 2015 verfügte die politische Gemeinde A. über die Restfinanzierung der ambulanten Pflege im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (vgl. zum Ganzen den Entscheid KV 2016/4 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 7. Juni 2017, A.a–A.c).

    2. Mit einer Mitteilung vom 29. März 2016 verlängerte die IV-Stelle ihre

      Kostengutsprache für die Kinderspitex (IV-act. 159). Sie sprach B. für die Zeit vom

      1. April 2016 bis zum 30. Juni 2016 Kinderspitexleistungen im Umfang von maximal einer Stunde für die aktuelle Abklärung und Dokumentation, 15 Stunden für die weitere Beratung und Instruktion der Eltern, 2,5 Stunden pro Woche für koordinative Massnahmen und zwölf Stunden pro Tag für die Untersuchung und Behandlung zu (Vergütung nach dem IV-Tarif). Mit einer weiteren Mitteilung vom 2. August 2016 verlängerte die IV-Stelle ihre Kostengutsprache für die Kinderspitex erneut (IV-act. 208). Sie wies erneut darauf hin, dass die Vergütung nach dem IV-Tarif erfolgen werde. Die neue Kostengutsprache betraf den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 31. Januar 2017. Sie umfasste Kinderspitexleistungen im Umfang von maximal einer Stunde für die aktuelle Abklärung und Dokumentation, 30 Stunden für die weitere Beratung und Instruktion der Eltern, 2,5 Stunden pro Woche für koordinative Massnahmen und zwölf Stunden pro Tag für die Untersuchung und Behandlung. Am 6. September 2016 liess der nun anwaltlich vertretene B. darauf hinweisen (IV-act. 217), dass sich die politische Gemeinde A. unpräjudizierlich und ohne die Anerkennung einer entsprechenden Rechtspflicht bereit erklärt habe, eine Zwischenfinanzierung der von der IV-Stelle nicht gedeckten Kinderspitexleistungen vorzunehmen. Die Übernahme dieser Kosten erfolge unter dem expliziten Vorbehalt, dass sich die Eltern von B. um eine Vergütung sämtlicher Kosten durch die Invalidenversicherung bemühten.

    3. Am 3. November 2016 reichte die politische Gemeinde A. ein Verantwortlichkeits- und Schadenersatzbegehren bei der IV-Stelle ein (IV-act. 242). Sie machte geltend, ihr sei "infolge nicht kostendeckender Übernahme der Kosten für medizinische Massnahmen" zur Behandlung der anerkannten Geburtsgebrechen von B. ein Schaden entstanden. Dieser Schaden belaufe sich für die Zeit vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Juli 2016 auf 148’270.40 Franken (zuzüglich Zins zu fünf Prozent). Die Schadenssumme erhöhe sich laufend. Die IV-Stelle habe diesen Schaden gestützt auf den Art. 78 ATSG, eventualiter gestützt auf die massgebenden Bestimmungen betreffend die ungerechtfertigte Bereicherung, zu ersetzen. Am 11. November 2016 ersuchte die politische Gemeinde A. die IV-Stelle um die Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung (IV-act. 246). Mit einer Verfügung vom 9. Dezember 2016 wies die IV-Stelle das Verantwortlichkeits- und Schadenersatzbegehren ab (IV- act. 261). Zur Begründung führte sie aus, ihre Mitteilungen stützten sich auf die massgeblichen gesetzlichen und weisungsrechtlichen Grundlagen und könnten deshalb nicht als rechtswidrig qualifiziert werden. Die Vergütung entspreche den massgebenden Tarifen.

B.

    1. Am 19. Januar 2017 erhob die politische Gemeinde A. (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 9. Dezember 2016 (act. G 1). Sie beantragte die Aufhebung der angefochtenen Verfügung, den Ersatz des im Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Juli 2016 entstandenen Schadens von 148’270.40 Franken zuzüglich fünf Prozent Zins und des seit dem 1. August 2016 entstandenen und weiterhin entstehenden Schadens zuzüglich fünf Prozent Zins gestützt auf den Art. 78 ATSG sowie eventualiter den Ersatz dieses Schadens gestützt auf die gesetzliche Regelung über die ungerechtfertigte Bereicherung. Zur Begründung führte sie an, das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen habe in zwei Entscheiden vom 13. August 2013 (IV 2012/447) und vom 2. Mai 2014 (IV 2013/215) festgehalten, dass die Invalidenversicherung im Zusammenhang mit einem Geburtsgebrechen die gesamten Kinderspitexleistungen zu vergüten habe. In der Praxis leiste die Invalidenversicherung aber jeweils nur einen Beitrag an die Vollkosten, denn ihre Kostenbeteiligungen basierten auf einem Tarif, der viel zu tief sei, um die Normkosten einer effizienten Leistungserbringung abdecken zu können. Daran habe

      die kürzlich erfolgte Tariferhöhung nichts Grundlegendes geändert. Die nicht kostendeckenden Leistungen der Invalidenversicherung seien vor diesem Hintergrund rechtswidrig. Mit ihrem rechtswidrigen Verhalten habe die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) kausal einen Schaden verursacht, denn die Beschwerdeführerin habe die ungedeckten Kosten im Sinne einer Zwischenlösung unpräjudizierlich decken müssen, um sicherzustellen, dass B. weiterhin zuhause bei seinen Eltern wohnen könne. Das Argument der Beschwerdegegnerin, sie habe sich an die Verwaltungsweisungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen gehalten, verfange nicht, da die Beschwerdegegnerin in erster Linie zu einem gesetzmässigen und nicht primär zu einem weisungskonformen Verhalten verpflichtet sei; soweit die Verwaltungsweisungen gesetzwidrig seien, dürften sie nicht befolgt werden. Die im Rundschreiben Nr. 308 erwähnten Tarife beruhten nicht auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage, weshalb sich die Beschwerdegegnerin nicht hätte daran halten dürfen.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 30. August 2017 die Abweisung der Beschwerde (act. G 6). Zur Begründung führte sie aus, mit ihrer Verfügung vom 21. Oktober 2015 habe die Beschwerdeführerin verbindlich die Restfinanzierung der von den Sozialversicherungen nicht gedeckten Pflegeleistungen zugesichert. Ihre nachträgliche Darstellung, sie habe die entsprechenden Kosten unpräjudizierlich und ohne die Anerkennung einer Rechtspflicht übernommen, widerspreche dieser Tatsache. Die Beschwerdegegnerin habe ihrerseits die gesetzlichen Leistungen erbracht und ihre Leistungspflicht insofern vollumfänglich erfüllt. Insbesondere habe sie den korrekten Tarif angewendet.

    3. Die Beschwerdegegnerin hielt am 5. Oktober 2017 an ihren Anträgen fest (act. G 8). Bezugnehmend auf den Einwand der Beschwerdegegnerin, sie habe sich widersprüchlich verhalten, hielt sie fest, ihre Verfügung vom 21. Oktober 2015 habe nur die Restfinanzierung im Sinne des Art. 25a Abs. 5 KVG und nicht die Restfinanzierung von Leistungen betroffen, die an sich von der Invalidenversicherung hätten erbracht werden müssen.

    4. Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 9 f.).

Erwägungen

1.

Ersatzforderungen im Sinne des Art. 78 ATSG sind gemäss dem Art. 59a IVG bei der IV-Stelle geltend zu machen; diese hat darüber mit einer Verfügung zu entscheiden. In Abweichung von den Art. 52 und 58 ATSG sind alle Verfügungen der kantonalen IV- Stellen direkt beim Versicherungsgericht am Ort der IV-Stelle anzufechten (Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG). Auch das ATSG sieht im Art. 78 Abs. 4 ATSG vor, dass bei Verfügungen betreffend Ersatzforderungen (Art. 78 Abs. 1 und 2 ATSG) kein Einspracheverfahren durchgeführt wird. Vorliegend hat die Beschwerdeführerin eine Ersatzforderung bei der Beschwerdegegnerin geltend gemacht. Diese hat das Begehren mit einer Verfügung abgewiesen, die von der Beschwerdeführerin dann mit einer Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen frist- und formgerecht angefochten worden ist. Auf die Beschwerde ist folglich einzutreten. Den Anfechtungsgegenstand dieses Beschwerdeverfahrens bildet die Verfügung vom 9. Dezember 2016; den Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin gegenüber der Beschwerdegegnerin einen Anspruch auf Schadenersatz hat.

2.

    1. Für Schäden, die von Durchführungsorganen oder einzelnen Funktionären von Versicherungsträgern einer versicherten Person oder Dritten widerrechtlich zugefügt wurden, haften gemäss dem Art. 78 Abs. 1 ATSG die öffentlichen Körperschaften, privaten Trägerorganisationen oder Versicherungsträger, die für diese Organe verantwortlich sind. Eine solche Haftung kann jedoch nur in Frage kommen, wenn die Schädigung nicht im ordentlichen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren hat abgewendet werden können (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 78 N 7, mit Hinweisen). Das Haftungsrecht dient also weder dazu, sozialversicherungsrechtliche Ansprüche statt im ordentlichen Verfahren mittels einer Ersatzforderung geltend zu machen, noch erlaubt es die Korrektur von Versäumnissen im ordentlichen Verfahren (z.B. die Behebung eines „Schadens“, der entstanden ist, weil die versicherte Person eine Rechtsmittelfrist verpasst hat).

    2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Beschwerdegegnerin habe ihr

      widerrechtlich einen Schaden verursacht, weil sie ihrer Leistungspflicht gemäss den

      Art. 13 f. IVG nicht vollumfänglich nachgekommen sei und weil sie, die Beschwerdeführerin, in der Folge habe in die Bresche springen müssen, um die medizinische Behandlung von B. zuhause bei den Eltern weiterhin sicherstellen zu können. Die Widerrechtlichkeit des Verhaltens der Beschwerdegegnerin sei darin zu erblicken, dass diese die Pflegeleistungen zu einem „defizitären“ Tarif vergütet habe, obwohl das Versicherungsgericht in den beiden Entscheiden IV 2012/447 vom 13. August 2013 und IV 2013/215 vom 2. Mai 2014 festgehalten habe, dass die Invalidenversicherung die gesamten Kosten der zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen zu vergüten habe.

    3. Die Beantwortung der Frage, ob die Beschwerdegegnerin widerrechtlich gehandelt hat, setzt zunächst eine kurze Darstellung der wesentlichen Aspekte der Leistungspflicht der Invalidenversicherung im Zusammenhang mit der ambulanten Pflege bei einem Geburtsgebrechen voraus: Die versicherte Person hat gegenüber der Invalidenversicherung einen Anspruch auf jene medizinischen Pflegeleistungen, die sie aufgrund ihres Geburtsgebrechens benötigt. In den beiden von der Beschwerdeführerin erwähnten (und in weiteren) Entscheiden hat das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen festgehalten, dass der Art. 14 IVG weder eine generelle Begrenzung der Leistungspflicht der Invalidenversicherung noch eine irgendwie geartete Kostenbeteiligung der versicherten Person vorsehe, weshalb die Invalidenversicherung grundsätzlich verpflichtet sei, sämtliche notwendigen medizinischen Massnahmen zu vergüten. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, denn die medizinischen Massnahmen stellen typische Sachleistungen im Sinne des Art. 14 ATSG dar, was bedeutet, dass sie an sich von der Invalidenversicherung durchgeführt werden müssten. Da die Invalidenversicherung diese Leistungen aber in der Regel nicht selbst erbringen kann, muss sie sie einkaufen, das heisst sie muss einen Leistungserbringer finden, der diese Leistungen effektiv erbringt, und dann diesen Leistungserbringer bezahlen. Das Verhältnis zwischen der Invalidenversicherung und dem Leistungserbringer ist privatrechtlicher Natur, was sich schon aus dem Umstand ergibt, dass die Invalidenversicherung einen Leistungserbringer nicht mit einer Verfügung zur Leistungserbringung zwingen kann. Die Invalidenversicherung tritt also gegenüber dem Leistungserbringer nicht hoheitlich auf, sondern sie handelt zivil- bzw. vertragsrechtlich. Das seiner Natur nach zivilrechtliche Vertrags- respektive hier Auftragsverhältnis zwischen der Invalidenversicherung und dem Leistungserbringer ist

      unabhängig vom öffentlich-rechtlichen Verhältnis zwischen der Invalidenversicherung und der versicherten Person, denn für die versicherte Person ist nur massgebend, dass ihr die notwendigen medizinischen Massnahmen erbracht werden. Wer genau die Leistungen erbringt und zu welchem Preis, ist für die versicherte Person irrelevant. Die beiden Verhältnisse zwischen der Invalidenversicherung und der versicherten Person einerseits und zwischen der Invalidenversicherung und dem Leistungserbringer andererseits müssen strikt auseinander gehalten werden. Aus diesem Grund kann die Beschwerdeführerin für die vorliegende Sache, die nur das zivilrechtliche Verhältnis zwischen der Invalidenversicherung und dem Leistungserbringer betrifft, aus den sich rein auf das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen der Invalidenversicherung und der versicherten Person beziehenden Entscheiden des Versicherungsgerichtes des Kantons St. Gallen nichts zu ihren Gunsten ableiten. Tarifstreitigkeiten sind nicht durch ein kantonales Versicherungsgericht zu überprüfen (vgl. zum Ganzen den beim Bundesgericht angefochtenen Entscheid IV 2016/217 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 26. Januar 2018, E. 3, mit Hinweisen), denn dabei geht es nur um die Ausgestaltung der Vertragsverhältnisse zwischen der Invalidenversicherung und den Leistungserbringern.

    4. In der Praxis wird gelegentlich geltend gemacht, dass der Tarif, den die Invalidenversicherung bei der Vergütung von medizinischen Pflegemassnahmen anwende, zu tief respektive nicht kostendeckend sei. Verschiedene Kinderspitexorganisationen haben schon versucht, in sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren die Anwendung eines kostendeckenden Tarifs durchzusetzen. Der Tarif wird aber nicht hoheitlich festgesetzt. Er ist in der Regel das Ergebnis von Vertragsverhandlungen zwischen dem Verband der Leistungserbringer (Kinderspitexorganisationen) und der Aufsichtsbehörde der IV-Stellen, dem Bundesamt für Sozialversicherungen (Art. 27 IVG i.V.m. Art. 53 Abs. 2 lit. abis IVG und Art. 24 Abs. 2 bzw. Abs. 3 IVV). Solche Verhandlungen sind kürzlich durchgeführt worden, was zur Folge gehabt hat, dass der Tarif erhöht worden ist. Offenbar erachten einzelne Kinderspitexorganisationen diesen neuen Tarif immer noch als zu tief. Massgebend ist aber, dass sie in dem Sinn an den neuen Tarifvertrag gebunden sind, dass sie keinen höheren Tarif (Preis) für ihre Leistungen fordern dürfen. In jedem Fall, in dem eine IV- Stelle einer versicherten Person eine gewisse Stundenzahl an Kinderspitexleistungen zuspricht, stellt die entsprechende Mitteilung der IV-Stelle durch den Verweis auf den

      massgebenden IV-Tarif auch eine Offerte an die als Durchführungsstelle in Frage kommende Kinderspitexorganisation dar. Diese Offerte beruht also auf dem tarifvertraglich verbindlichen Preis pro Arbeitsstunde. Beginnt die Kinderspitexorganisation in der Folge damit, Kinderspitexleistungen zu erbringen, kann das nichts anderes als eine konkludente Annahme der Offerte der IV-Stelle sein, was bedeutet, dass der Vertrag beziehungsweise der Auftrag auf der Grundlage des tarifvertraglich vorgesehenen Preises zustande gekommen ist. Vorliegend hat der Zürcher Kinderspitexverein aber offenbar einen Betrag pro Arbeitsstunde verlangt, der den mit der Beschwerdegegnerin vertraglich vereinbarten Preis überstiegen hat. Die Beschwerdegegnerin hat diesen Preis offenbar nicht bezahlt, weil der Vertrag, den sie mit dem Zürcher Kinderspitexverein geschlossen hatte, auf einen tieferen Preis lautete. Möglicherweise hat der Zürcher Kinderspitexverein der Beschwerdegegnerin auch von Anfang an nur die vertraglich vereinbarten Kosten in Rechnung gestellt und die Differenz von der Beschwerdeführerin eingefordert. Das kann offen bleiben, denn massgebend ist vorliegend einzig, ob der Beschwerdeführerin durch die Beschwerdegegnerin widerrechtlich ein Schaden verursacht worden ist. Eine allfällige Rechtswidrigkeit kann nicht mit einer Vertragsverletzung begründet werden, denn die Beschwerdeführerin ist nicht am Vertragsverhältnis zwischen der Beschwerdegegnerin und dem Zürcher Kinderspitexverein beteiligt gewesen. Aus dem Vertragsverhältnis zwischen der Beschwerdegegnerin und dem Zürcher Kinderspitexverein könnte also nur dann eine haftpflichtrechtlich relevante Rechtswidrigkeit resultiert haben, wenn sich die Beschwerdegegnerin beim Vertragsabschluss zum Nachteil des Zürcher Kinderspitexvereins – und damit indirekt zum Nachteil der Beschwerdeführerin – gesetzwidrig verhalten hätte. Sinngemäss wird dies von der Beschwerdeführerin behauptet, wobei sie allerdings fälschlicherweise davon ausgeht, dass das Verhältnis zwischen der Beschwerdegegnerin und dem Zürcher Spitexverein ein hoheitliches sei. Eine Rechtswidrigkeit beim Abschluss des Leistungsvertrages zwischen der Beschwerdegegnerin und dem Zürcher Kinderspitexverein könnte nur dann indirekt auch gegenüber der Beschwerdeführerin eine relevante haftpflichtrechtliche Rechtswidrigkeit bewirkt haben, wenn die Beschwerdeführerin gesetzlich verpflichtet wäre, die von der Beschwerdegegnerin nicht gedeckten Aufwendungen des Zürcher Kinderspitexvereins zu übernehmen. Ob die von der Beschwerdeführerin dazu angeführten Gesetzesbestimmungen (Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG i.V.m. Art. 16 PFG/

      SG, sGs 331.2) diese tatsächlich dazu gezwungen haben, die ungedeckten Aufwendungen des Zürcher Kinderspitexvereins zu übernehmen, ist zu bezweifeln, denn dies würde voraussetzen, dass der Zürcher Kinderspitexverein berechtigt gewesen wäre, einen Vertrag mit der Beschwerdegegnerin auf der Grundlage der einschlägigen Tarifvereinbarung zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherungen und den Spitexorganisationen abzuschliessen und dann den tariflich vorgegebenen Preis nicht einzuhalten, sondern von der Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG mehr zu verlangen. Damit käme dem Tarifvertrag zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherungen und den Spitexorganisationen – entgegen dem Sinn und Zweck der Art. 13/14 IVG – der Sinn zu, zulasten der gemäss Art. 25a Abs. 5 lit. b KVG in zweiter Linie Deckungspflichtigen in der Invalidenversicherung zu

      „sparen“. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen beim Abschluss der Tarifvereinbarung mit den Spitexorganisationen ein solches Ziel verfolgt hätte. Daraus folgt, dass der Kinderspitexverein Zürich mit seinem nicht tarifkonformen Preis pro Arbeitsstunde bzw. mit dem de facto-Einbezug der Beschwerdeführerin in die Finanzierung der Spitexleistungen wohl dem Geist des Tarifvertrages zwischen den Spitexorganisationen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zuwidergehandelt haben dürfte. Damit bestünde wohl kaum eine auf Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG i.V.m. Art. 16 PFG/SG gestützte Pflicht der Beschwerdeführerin, den überschiessenden Teil der Kosten für die Leistungen des Zürcher Kinderspitexvereins zu übernehmen, so dass der Beschwerdeführerin zum Vornherein gar kein im Sinne des Art. 78 ATSG haftpflichtrechtlich relevanter Schaden entstanden sein könnte. Dies alles kann aber ungeklärt bleiben, denn bei diesen Umständen ist es offenkundig, dass die Be-schwerdegegnerin, die sich bei der Leistungsvereinbarung mit dem Zürcher Kinderspitexverein – weisungskonform – an die tariflichen Vorgaben gehalten hat, rechtmässig gehandelt hat. Selbst wenn der

      Beschwerdeführerin entgegen dem oben Ausgeführten doch ein Schaden im Sinne des Art. 78 ATSG entstanden sein sollte, fehlt es gegenüber der Beschwerdegegnerin offenkundig an der notwendigen Widerrechtlichkeit. Damit steht fest, dass die Beschwerdeführerin nicht gestützt auf den Art. 78 ATSG die Beschwerdegegnerin für einen ihr allenfalls entstandenen Schaden haftbar machen kann.

    5. Hinzu kommt, dass der Art. 78 ATSG eine ganz spezifische Verantwortlichkeit jener Organisationseinheit oder sogar jenes „Funktionärs“ vorsieht, die oder der den

      Schaden verursacht hat, was bedeutet, dass sich eine Ersatzforderung gegen jene Organisationseinheit oder gegen jenen „Funktionär“ richten muss, die oder der verantwortlich ist (vgl. dazu KIESER, a.a.O., Art. 78 N 52 f.). Selbst wenn also durch die zwischen dem Zürcher Kinderspitexverein und der Beschwerdegegnerin geschlossenen Leistungsvereinbarung auf der Grundlage eines nicht kostendeckenden, aber vereinbarungskonformen Tarifs der Beschwerdeführerin widerrechtlich ein Schaden entstanden wäre, bestünde gegenüber der Beschwerdegegnerin kein Anspruch der Beschwerdeführerin auf einen Schadenersatz, denn der Tarifvertrag ist vom Bundesamt für Sozialversicherungen und nicht von der Beschwerdegegnerin unterzeichnet worden. Die Beschwerdegegnerin hat lediglich als weisungsgebundene Behörde gehandelt, ohne dass sie bezüglich des Tarifs über einen Ermessensspielraum verfügt hätte. Sie hat nämlich die Leistungsvereinbarung mit dem Zürcher Kinderspitexverein nur auf der Grundlage dieses Tarifs abschliessen können, nicht nur weil sie weisungsgebunden gewesen ist, sondern auch weil sie sich nicht in die zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherungen und den Spitexorganisationen geschlossene Tarifvereinbarung hat einmischen können. Das Schadenersatzbegehren hätte sich insofern gegen das Bundesamt für Sozialversicherung respektive für die dort zuständige Stelle für Tariffragen richten müssen.

    6. Das sich auf den Art. 78 ATSG stützende Schadenersatzbegehren ist zusammenfassend mangels einer Passivlegitimation der Beschwerdegegnerin (die ja nicht Partei der Tarifverhandlung war), mangels einer Widerrechtlichkeit und mangels eines Schadens abzuweisen. Insofern erweist sich die angefochtene Verfügung im Ergebnis als rechtmässig, weshalb die Beschwerde im Hauptpunkt abzuweisen ist.

3.

Die Beschwerdeführerin beantragt eventualiter, die Beschwerdegegnerin sei von der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen als öffentlich-rechtlicher Anstalt anzuweisen, ihre ungerechtfertigte Bereicherung in einem bestimmten Betrag zurückzuerstatten. Da die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen nicht die Aufsichtsbehörde der Beschwerdegegnerin und auch nicht Partei des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist, muss das Begehren dahingehend umgedeutet werden, dass die Beschwerdegegnerin selbst zur Rückerstattung einer ungerechtfertigten

Bereicherung zu verpflichten sei. Da das Verfahrensrecht der Sozialversicherung immer noch recht lückenhaft ist, wird in der Lehre und der Rechtsprechung immer wieder die Frage nach einer analogen Anwendung privatrechtlicher Normen in der Form allgemeiner Rechtsgrundsätze gestellt. Effektiv handelt es sich dabei natürlich um ausfüllungsbedürftige Lücken im Sozialversicherungsrecht, die durch eine analoge Anwendung privatrechtlicher Normen gefüllt werden sollen, so dass die „Schaffung“ passender allgemeiner Rechtsgrundsätze eigentlich überflüssig ist. Das gilt auch für die analoge Anwendung der privatrechtlichen Bestimmungen über die Rückerstattungspflicht bei ungerechtfertigten Bereicherungen (Art. 63 ff. OR). Ein möglicher Fall einer ausfüllungsbedürftigen Gesetzeslücke im Sozialversicherungsrecht ist die Leistungskoordination. Tatsächlich beruft sich die Beschwerdeführerin auf eine ungerechtfertigte Bereicherung der Invalidenversicherung als Folge der Ausrichtung nicht geschuldeter Leistungen durch die Krankenversicherung beziehungsweise über die Restfinanzierung durch das Gemeinwesen, also auf eine fehlerhafte intersystemische Koordination. Die Beschwerdeführerin geht also davon aus, dass die Beschwerdegegnerin und nicht sie diese Leistungen hätte ausrichten müssen und dass die Beschwerdegegnerin dadurch bereichert sei. Daraus will die Beschwerdeführerin durch eine analoge Anwendung der passenden privatrechtlichen Normen einen Rückerstattungsanspruch ableiten. Offenbar geht diese Analogie in den Augen der Beschwerdeführerin so weit, dass sie glaubt, diesen Anspruch direkt bei Gericht geltend machen zu können. Dies würde allerdings voraussetzen, dass ein Rückerstattungsanspruch auf dem privatrechtanalogen Forderungs- und Klageweg, also ohne eine entsprechende Verfügung, geltend zu machen wäre und dass das zur Behandlung der „Rückerstattungsklage“ sachlich und örtlich zuständige Gericht das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wäre. Tatsächlich hätte die Beschwerdeführerin eine entsprechende Rückerstattungsforderung natürlich mittels einer Verfügung geltend machen müssen. Dagegen hätte die Beschwerdegegnerin eine Beschwerde erheben können. Das ist unterblieben, so dass der zwingend notwendige Anfechtungsgegenstand fehlt. Auf die „direkte“ Beschwerde in der Form des Eventualbegehrens der Beschwerdeführerin kann natürlich nicht eingetreten werden. Könnte auf das Eventualbegehren eingetreten werden, müsste es wohl abgewiesen werden, da die Beschwerdegegnerin nicht bereichert ist. Die (angeblich nicht geschuldeten) Leistungen der Beschwerdeführerin sind nämlich formal an B. und

effektiv an die Zürcher Kinderspitex geflossen. Wenn diese Leistungen, wie von der Beschwerdeführerin behauptet, nicht durch Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG i.V.m. Art. 16 PFG/SG abgedeckt gewesen sein sollten, läge keine ungerechtfertigte Bereicherung, sondern formal ein unrechtmässiger Leistungsbezug (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG) von B. vor, wobei sich die Rückforderung wohl gegen die wirtschaftlich bevorteilte Person, nämlich gegen die Zürcher Kinderspitex, richten würde. Auf jeden Fall läge offensichtlich kein unrechtmässiger Leistungsbezug der Beschwerdegegnerin vor.

4.

Grundsätzlich ist das Beschwerdeverfahren kostenlos, da es nach der (restriktiven) Praxis des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen nicht die Bewilligung oder Verweigerung von IV-Leistungen betrifft (Art. 69 Abs. 1bis IVG i.V.m. Art. 61 lit. a ATSG). Auch ein Anspruch auf eine Parteientschädigung besteht grundsätzlich nicht (Art. 61 lit. g Satz 1 ATSG). Laut dem Art. 61 lit. a zweiter Halbsatz ATSG können allerdings ausnahmsweise eine Spruchgebühr und die Verfahrenskosten auferlegt werden, wenn sich eine Partei mutwillig oder leichtsinnig verhält. Rechtsprechungsgemäss liegt ein mutwilliges Verhalten vor, wenn eine Partei bei der ihr zumutbaren vernunftgemässen Überlegung ohne Weiteres hätte erkennen können, dass ihr Verhalten aussichtslos ist (vgl. die Rechtsprechungshinweise bei UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 61 N 68). Die Beschwerdegegnerin hat sich im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung bzw. bei der vertraglichen Leistungsvereinbarung mit dem Zürcher Kinderspitexverein derart offensichtlich rechtmässig verhalten, dass die Aussichtslosigkeit der vorliegenden Beschwerde für jede notwendigerweise einschlägig rechtskundige Gemeinde ins Auge gesprungen wäre. Dasselbe muss für das Eventualbegehren gelten, dass sich ganz offensichtlich zu Unrecht gegen die Beschwerdegegnerin richtet. Damit liegt eine mutwillige Prozessführung im Sinne der Rechtsprechung vor, was es rechtfertigt, der Beschwerdeführerin Gerichtskosten von 600 Franken aufzuerlegen und sie zu verpflichten, der Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung von 1’500 Franken auszurichten.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie eingetreten werden kann.

2.

Die Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten von 600 Franken zu bezahlen.

3.

Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin mit 1’500 Franken zu

entschädigen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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