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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:IV 2016/154
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2016/154 vom 04.09.2017 (SG)
Datum:04.09.2017
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 21 Abs. 5 ATSG. Rentensistierung während des Strafvollzugs. Materiell- rechtliche und verfahrensrechtliche Auseinandersetzung mit der Rentensistierung. (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. September 2017, IV 2016/154).
Schlagwörter:
Rechtsnorm: Art. 17 ATSG ; Art. 190 BV ; Art. 21 ATSG ; Art. 43 ATSG ; Art. 53 ATSG ; Art. 77b StGB ; Art. 8 BV ;
Referenz BGE:113 V 273; 114 V 143; 137 V 154; 141 V 466;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
Entscheid Versicherungsgericht, 04.09.2017

Entscheid vom 4. September 2017

Besetzung

Versicherungsrichterin Karin Huber-Studerus (Vorsitz), Versicherungsrichterin Monika

Gehrer-Hug, Versicherungsrichter Ralph Jöhl; Gerichtsschreiber Tobias Bolt Geschäftsnr.

IV 2016/154

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch B. , Amt für Justizvollzug, Bewährungshilfe, Oberer Graben 38, 9001 St. Gallen, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin, Gegenstand Rentensistierung Sachverhalt

A.

    1. A. meldete sich im Oktober 2000 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an (IV-act. 2). Sie litt an einer HIV-Infektion, an einer Störung durch Opioide, an einer Eisenmangelanämie sowie an einer Hepatitis B- und C- Infektion (IV-act. 5). Nach einer dreimonatigen beruflichen Abklärung (vgl. IV-act. 17 und 21) hielt ein Berufsberater der IV-Stelle im September 2001 fest (IV-act. 22), die Versicherte könne nur noch halbtags arbeiten, wobei ihre Arbeitsleistung lediglich 80 Prozent der Norm betrage. Die resultierende Arbeitsfähigkeit von 40 Prozent (80 Prozent von 50 Prozent) könne sie nur noch im geschützten Rahmen verwerten, weshalb sie lediglich noch ein Invalideneinkommen von 13'100 Franken erzielen könne. Aus dem Vergleich mit dem Zentralwert der Hilfsarbeiterinnenlöhne von 45'168 Franken resultiere ein Invaliditätsgrad von 71 Prozent. Mit einer Verfügung vom 7. Mai 2002/22. August 2002 sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Wirkung ab dem 1. August 2000 eine ganze Rente zu (IV-act. 27 und 29).

    2. Da die Versicherte im Jahr 2006 ein unerwartet hohes Erwerbseinkommen erzielt hatte, wurde die ganze Rente mit einer Verfügung vom 5. Juni 2007 per 1. August 2007 bei einem Invaliditätsgrad von neu 68 Prozent auf eine Dreiviertelsrente herabgesetzt (IV-act. 45). Am 8. April 2009 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, dass sie weiterhin einen Anspruch auf eine Dreiviertelsrente habe, auch wenn der Invaliditätsgrad nun bloss noch 67 Prozent betrage (IV-act. 55).

    3. Am 16. August 2013 teilte die Zweigstelle der Stadt C. der IV-Stelle mit, dass

      die Versicherte gemäss einer Auskunft des Einwohneramtes D. am 18. Juli 2013 aus

      ihrer Wohnung ausgewiesen worden und dass ihr Aufenthaltsort nun unbekannt sei (IV- act. 57). Die behandelnde Ärztin einer medizinisch-sozialen Hilfsstelle der Stadt C. teilte der IV-Stelle am 2. September 2013 telefonisch mit (IV-act. 58), dass die Versicherte die Behandlung im März 2013 abgebrochen habe, letzte Woche aber nochmals bei ihr gewesen sei. Höchstwahrscheinlich sei die Versicherte obdachlos. Eventuell könne die Sozialhilfe E. weitere Informationen erteilen. Am 26. November 2013 forderte die Klinik für Infektiologie des Kantonsspitals St. Gallen eine Kopie der

      IV-Verfügung an; dem Schreiben lag eine von der Versicherten unterzeichnete Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht bei (IV-act. 59 f.). Am 19. Dezember 2013 erhielt die IV-Stelle dann Kenntnis von der neuen Wohnadresse der Versicherten (IV-act. 62).

    4. Am 26. Februar 2014 und am 27. März 2014 forderte die IV-Stelle die Versicherte auf, einen Fragebogen zur Überprüfung des Rentenanspruchs auszufüllen (IV-act. 64). Das Schreiben vom 27. März 2014 wurde mit dem Vermerk „Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden“ retourniert (IV-act. 65). Am 22. April 2014 ging der IV-Stelle dann allerdings der ausgefüllte Fragebogen zusammen mit einem Begleitschreiben der Versicherten zu (IV-act. 66 f.). Am 24. April 2014 forderte die IV- Stelle die Versicherte auf, weitere Fragen zu beantworten (IV-act. 69). Auch dieses Schreiben wurde als unzustellbar retourniert (IV-act. 70; vgl. auch IV-act. 73 und 85). Am 8. Juli 2015 forderte die IV-Stelle die Versicherte zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsabklärung auf und drohte ihr an, die Rentenzahlungen zu sistieren, falls sie die verlangten Auskünfte nicht bis spätestens am 27. Juli 2015 erhalte (IV-act. 86). Auch dieses Schreiben wurde als unzustellbar retourniert (IV-act. 87). Am 29. Juli 2015 stellte die IV-Stelle die Rentenleistungen ein (IV-act. 89). Auch dieses Schreiben wurde als unzustellbar retourniert (IV-act. 90). Am 2. März 2016 teilte die AHV-Zweigstelle der Stadt C. der IV-Stelle die neue Wohnadresse der Versicherten mit (IV-act. 91).

    5. Am 17. März 2016 teilte das Amt für Justizvollzug der IV-Stelle mit (IV-act. 92), dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Rentenleistungen eingestellt worden seien. Die Versicherte habe sich für drei Monate in einer stationären Behandlung befunden. Weil sie ihre Wohnungsmiete nicht bezahlt habe und auch nicht in der Lage gewesen sei, die Bussen und die Geldstrafen zu bezahlen, befinde sie sich momentan für 77 Tage im Gefängnis. Sie werde im Mai 2016 entlassen werden. Die IV-Stelle antwortete

am 24. März 2016, dass während eines Straf- oder Massnahmenvollzugs grundsätzlich keine Versicherungsleistungen ausgerichtet würden, weshalb die Rente sistiert bleiben müsse (IV-act. 93). Mit einer Verfügung vom 19. April 2016 sistierte die IV-Stelle die Rente für die Monate März und April 2016 (IV-act. 100).

B.

    1. Gegen diese Verfügung liess die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) am 10. Mai 2016 eine Beschwerde erheben (act. G 1). Ihre Rechtsvertreterin beantragte die Aufhebung der Rentensistierung. Zur Begründung führte sie aus, wenn die Vollzugsart der verurteilten Person die Möglichkeit biete, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, verbiete sich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine Rentensistierung. Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr Dauer

      würden in der Form einer Halbgefangenschaft vollzogen, wenn die verurteilte Person im Arbeitsprozess stehe, sodass diese weiterhin ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Bei der Beschwerdeführerin sei nur deshalb keine Halbgefangenschaft angeordnet worden, weil sie invaliditätsbedingt nicht im Arbeitsprozess gestanden habe. Mit der Rentensistierung werde sie gegenüber einer nicht invaliden Person benachteiligt, was der Zwecksetzung des Art. 21 Abs. 5 ATSG widerspreche.

    2. Die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) beantragte am 31. Mai 2016 die Abweisung der Beschwerde (act. G 5). Zur Begründung führte sie aus, massgebend sei nur, ob der konkrete Vollzug eine Erwerbstätigkeit zulasse. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weshalb die Rente zu Recht sistiert worden sei.

    3. Mit einer Replik vom 16. Juni 2016 liess die Beschwerdeführerin an ihrem Antrag festhalten (act. G 7). Ihre Rechtsvertreterin führte aus, die Gleichbehandlung von invaliden und validen Personen würde verunmöglicht, wenn der Argumentation der Beschwerdegegnerin gefolgt würde. Eine Invalidität verunmögliche immer eine Halbgefangenschaft, und wenn eine Rentensistierung dann unumgänglich sei, wäre eine invalide Person letztlich schlechter gestellt als eine gesunde inhaftierte Person.

    4. Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 9).

Erwägungen

1.

Das Dispositiv der angefochtenen Verfügung vom 19. April 2016 lautet: „Ihre Rente bleibt für die Monate März 2016 und April 2016 sistiert“. Offenbar ist die Beschwerdegegnerin davon ausgegangen, infolge des Strafvollzuges „verlängere“ sich der am 29. Juli 2015 gestützt auf Art. 43 Abs. 3 ATSG verfügte Leistungsstop um weitere zwei Monate. Diese Ansicht ist aber als unzutreffend zu qualifizieren, denn einem vorsorglichen Leistungsstop und einer Rentensistierung während eines Strafvollzugs liegen verschiedene Sachverhalte und unterschiedliche Rechtstitel zugrunde; es handelt sich um zwei voneinander völlig unabhängige Anordnungen, weshalb ein vorsorglicher Leistungsstop nicht für die Dauer eines Strafvollzugs

„verlängert“ werden kann. Entgegen dem Wortlaut ihres Dispositivs hat die angefochtene Verfügung vom 19. April 2016 deshalb nur die Rentensistierung für die Monate März und April 2016 wegen der Verbüssung einer Haftstrafe zum Gegenstand. Der am 29. Juli 2015 verfügte vorsorgliche Leistungsstop kann vom Versicherungsgericht nicht beurteilt werden (wobei allerdings nichts mehr gegen eine Nachzahlung der im Sinne einer superprovisorisch und damit nicht empfangsbedürftig verfügten vorsorglich zurückbehaltenen Rentenleistungen für die Monate August 2015 bis und mit Februar 2016 sprechen dürfte, wenn sich der Verdacht einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin im Revisionsverfahren nicht bestätigt haben sollte).

2.

    1. Trotz der missverständlichen Bezeichnung „Sistierung“ handelt es sich bei der Rentensistierung gemäss dem Art. 21 Abs. 5 ATSG nicht um eine vorsorgliche Massnahme, denn ansonsten käme es notwendigerweise zu einer Nachzahlung nach dem Ende eines Strafvollzugs. Mit einer Rentensistierung in Anwendung des Art. 21 Abs. 5 ATSG wird der Rentenanspruch an sich also materiell bleibend modifiziert. Verfahrensrechtlich kann die Rentensistierung des Art. 21 Abs. 5 ATSG weder eine Revision im Sinne des Art. 17 Abs. 1 ATSG noch eine Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) oder eine sogenannt prozessuale Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) sein, denn ein nachträglicher Haftantritt ändert weder etwas an der leistungsbegründenden Invalidität noch lässt er die ursprüngliche Rentenzusprache als qualifiziert unrichtig erscheinen.

      Dass der eigentliche Rentenanspruch durch eine Sistierung nicht verändert wird, zeigt sich nur schon im Umstand, dass die Kinderrenten von der Rentensistierung unberührt bleiben (Art. 21 Abs. 5 Satz 2 ATSG). Da das ATSG nur die drei erwähnten Instrumente zur Korrektur einer formell rechtskräftigen Rentenverfügung kennt, da keines dieser drei Instrumente für eine Rentensistierung während des Strafvollzugs angewandt werden kann und da eine Rentensistierung aber dennoch eine (in aller Regel vorübergehende) Modifikation der formell rechtskräftigen Rentenverfügung erfordert, erweist sich die Regelung des ATSG als lückenhaft. Es muss nämlich ein weiteres Korrekturinstrument existieren, das die Rentensistierung verfahrensrechtlich regelt.

    2. Die Rentensistierung während eines Strafvollzugs weist technisch betrachtet eine grosse Ähnlichkeit mit einer koordinationsrechtlich begründeten Leistungsmodifikation auf. In beiden Fällen führt nämlich eine Sachverhaltsveränderung, die mit dem eigentlichen Versicherungsverhältnis und damit auch mit dem laufenden Rentenanspruch nichts zu tun hat, zu einer Modifikation der laufenden Rente. Bezieht beispielsweise eine versicherte Person eine Rente der Invalidenversicherung, wird ihr Rentenanspruch gestützt auf den Art. 43 IVG rein koordinationsrechtlich modifiziert, sobald ihr Ehegatte stirbt und die Person zur Witwe oder zum Witwer wird. Der Tod des Ehegatten hat dabei mit der Invalidität selbstverständlich nichts zu tun. Es handelt sich um ein Ereignis, das völlig ausserhalb des Versicherungsverhältnisses zwischen der Invalidenversicherung und der versicherten Person liegt. Trotzdem ist die Folge davon, dass die bisherige (tiefere) Invalidenrente durch die höhere Witwenrente ersetzt wird. Derselbe Mechanismus spielt sich ab, wenn eine versicherte Person nach einem Unfall eine Invalidenrente der Unfallversicherung bezieht und später eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen erhält: Obwohl sich an der für die Unfallversicherung massgebenden Invalidität nichts ändert und obwohl die Zusprache einer Rente der Invalidenversicherung mit dem Versicherungsverhältnis zwischen der Unfallversicherung und der versicherten Person nichts zu tun hat, wird die laufende Invalidenrente der Unfallversicherung allenfalls auf eine (echte) Komplementärrente reduziert. Beim Antritt eines Strafvollzuges verhält es sich ähnlich: Dabei handelt es sich um einen völlig ausserhalb des Versicherungsverhältnisses zwischen der Invalidenversicherung und der versicherten Person liegenden Umstand, der an der leistungsbegründenden Invalidität nichts ändert, aber trotzdem zu einer Modifikation des Rentenanspruchs führt. Das lässt darauf schliessen, dass auch hier eine

      verfahrensrechtliche Gesetzeslücke vorliegt, weil ein Korrekturinstrument zwingend notwendig ist. Diese Lücke kann in weitgehender Analogie zur Lückenfüllung im Verfahren des Koordinationsrechts ausgefüllt werden: Eine laufende Rente der Invalidenversicherung kann beim Antritt des Strafvollzugs modifiziert werden.

    3. Zum oben (E. 2.2) erwähnten Koordinationsfall des Zusammentreffens je einer Rente der Invaliden- und der obligatorischen Unfallversicherung existiert eine verfahrensrechtliche Regelung in den Art. 31 ff. UVV, was beweist, dass ein Bedarf nach koordinationsrechtlichen Verfahrensregeln besteht. Dieser Bedarf besteht aber nicht nur im Zusammenhang mit der sogenannten Komplementärrente der Unfallversicherung, sondern auch in anderen Koordinationsfällen, denn unabhängig von der materiell-rechtlichen Konstellation muss die – für die Komplementärrente in den Art. 31 ff. UVV beantwortete – Frage nach dem korrekten verfahrensrechtlichen

      Vorgehen beantwortet werden. Diesbezüglich enthält das ATSG also offensichtlich eine echte Lücke. Diese Lücke muss auf dem Interpretationsweg modo legislatoris gefüllt werden. Das Koordinationsrecht des ATSG muss also richterrechtlich durch eine Norm ergänzt werden, die eine rein koordinationsrechtlich begründete Modifikation einer formell rechtskräftig zugesprochenen Sozialversicherungsleistung erlaubt. Diese richterrechtlich geschaffene Norm kann bei der Ausfüllung der verfahrensrechtlichen Lücke im Zusammenhang mit der Anwendung des Art. 21 Abs. 5 ATSG analog angewendet werden.

    4. Mit dem effektiven Haftantritt im März 2016 ist ein Ereignis eingetreten, das in Anwendung der oben erwähnten lückenfüllenden verfahrensrechtlichen Normen eine Abänderung der formell rechtskräftigen Rentenverfügung erlaubt hat. Dasselbe gilt sinngemäss für den Wegfall der Rentensistierung mit dem Austritt aus der Haft im Mai 2016. In rein verfahrensrechtlicher Hinsicht erweist sich das Vorgehen der Beschwerdegegnerin deshalb als rechtmässig.

3.

    1. Befindet sich eine versicherte Person im Straf- oder Massnahmenvollzug, so kann während dieser Zeit die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter eingestellt werden (Art. 21 Abs. 5 ATSG). Diese Regelung entspricht dem früheren Art.

      13 MVG. Den Gesetzesmaterialien zum Art. 21 Abs. 5 ATSG und zum früheren Art. 13 MVG lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Rentensistierung die Gleichbehandlung der invaliden Inhaftierten mit den nicht invaliden Inhaftierten bezweckt hat (vgl. die vertiefte Stellungnahme des Bundesrates zur Parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht vom 17. August 1994, Sonderdruck, S. 17; JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung, 2000, Art. 13 N 2, mit Hinweisen; BGE 113 V 273; BGE 114 V 143; BGE 137 V 154 E. 3.3 S. 158 mit

      zahlreichen Hinweisen). Mit dem Haftantritt verliert eine nicht invalide Person die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und ein entsprechendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Etwas anderes gilt nur, wenn sie ihre Haftstrafe in Halbgefangenschaft verbüssen kann, denn diese erlaubt es ihr, tagsüber weiterhin ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der historische Gesetzgeber hat diese Auswirkungen einer Haftstrafe auf die Möglichkeit einer validen Person, ein Erwerbseinkommen erzielen zu können, auf den Rentenanspruch einer invaliden Person übertragen wollen, da er angenommen hat, mit der Invalidenrente als Erwerbsersatz müsse es sich während einer Haftstrafe aus Gleichbehandlungsgründen genau gleich wie mit einem Erwerbseinkommen verhalten. Der Art. 21 Abs. 5 ATSG sieht also vor, dass eine Rente während einer Haftstrafe grundsätzlich sistiert werden muss, ausser die Haftstrafe könne in Halbgefangenschaft verbüsst werden. Das lässt sich zwar nicht direkt dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 5 ATSG entnehmen, welcher der Verwaltung als sogenannte

      „Kann-Vorschrift“ ein weitgehendes Ermessen einzuräumen scheint. Aus den oben erwähnten Materialien geht aber eindeutig hervor, dass für die Anordnung einer Rentensistierung während eines Strafvollzugs nur entscheidend ist, ob die Freiheitsstrafe in Halbgefangenschaft verbüsst werden kann; der Sistierungsentscheid liegt also nicht im freien Ermessen des Versicherungsträgers (vgl. auch BGE 141 V 466

      E. 4.3 S. 469 mit Hinweisen).

    2. Laut den Art. 77b und 79 StGB hängt der Entscheid, ob eine Strafe in Halbgefangenschaft verbüsst werden kann, massgebend davon ab, ob die zu inhaftierende Person effektiv erwerbstätig ist (vgl. dazu BSK Strafrecht I-BAECHTOLD, Art. 77b N 8 sowie Art. 79 N 4 und 10; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, 2. Aufl. 2006, §4 N 29, mit Hinweisen). Folglich ist die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Zeitpunkt des Haftantritts auch das entscheidende Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob eine allfällige Rente der

      Invalidenversicherung für die Dauer des Strafvollzugs zu sistieren sei. Das bedeutet, dass jene Invalide, die ihre allfällige Resterwerbsfähigkeit im Zeitpunkt des Haftantritts effektiv verwerten, ihre Rente weiter beziehen können, während die Rente jener Invaliden, die ihre Resterwerbsfähigkeit nicht verwerten oder die überhaupt nicht mehr erwerbsfähig sind, für die Dauer des Strafvollzugs sistiert wird. Nun hängt der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung aber gar nicht davon ab, ob eine allfällige Resterwerbsfähigkeit effektiv verwertet wird. Der Rentenanspruch einer versicherten Person ändert sich nicht, wenn diese eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, verliert oder aufgibt. Ihr Rentenanspruch bleibt also auch von einer vorübergehenden haftbedingten Unmöglichkeit, eine allfällige Resterwerbsfähigkeit zu verwerten, unberührt. Der Bedarf eines effektiv erwerbstätigen Versicherten nach einer Rente der Invalidenversicherung unterscheidet sich (bei ansonsten identischen tatsächlichen Verhältnissen) nicht vom Bedarf eines nicht erwerbstätigen Versicherten. Die effektive Ausübung einer Erwerbstätigkeit kann also kein sachlich geeignetes Kriterium zur Ungleichbehandlung von invaliden Inhaftierten sein, da sie mit dem Leistungsbedarf nichts zu tun hat. Die Ungleichbehandlung von inhaftierten Invaliden, die ihre allfällige Resterwerbsfähigkeit effektiv verwerten, und jenen inhaftierten Invaliden, die nicht erwerbstätig sind, lässt sich folglich sachlich nicht rechtfertigen, weshalb sie das Gleichbehandlungsgebot des Art. 8 BV verletzt. In seinem Bestreben, eine rechtsgleiche Behandlung von validen und invaliden Inhaftierten zu ermöglichen, hat der historische Gesetzgeber also paradoxerweise eine Regelung geschaffen, welche die rechtsgleiche Behandlung aller invaliden Inhaftierten verunmöglicht.

    3. Damit stellt sich die Frage, ob ein anderes sachliches Kriterium existiert, das eine unterschiedliche Behandlung von invaliden Inhaftierten rechtfertigen könnte (beziehungsweise dazu zwingen würde). Dafür fällt die Unterscheidung zwischen Voll- und Teilinvalidität in Betracht, denn auf den ersten Blick scheint ein Haftantritt für einen Teilinvaliden andere Wirkungen zu zeitigen als für einen Vollinvaliden. Mit einem Haftantritt verliert nämlich ein nicht erwerbstätiger Teilinvalider für die Dauer des Strafvollzugs die Möglichkeit, doch noch eine Erwerbstätigkeit auszuüben, während der Vollinvalide definitionsgemäss auch dann keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könnte, wenn er keine Haftstrafe verbüssen müsste. Doch wie ist dieser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten des nicht erwerbstätigen Teilinvaliden aus invalidenversicherungsrechtlicher Sicht zu werten? Er muss irrelevant sein. Für den

      Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung spielt es nämlich keine Rolle, ob die Möglichkeit zu einer effektiven Verwertung einer allfälligen Resterwerbsfähigkeit besteht, denn die Rente bezieht sich ja nicht auf jenen Teil der Erwerbsfähigkeit, der allenfalls noch verwertet werden könnte, sondern im Gegenteil auf jenen Teil, der infolge einer Gesundheitsbeeinträchtigung sowieso nicht (mehr) vorhanden ist. Auch eine unterschiedliche Behandlung von Voll- und Teilinvaliden liesse sich folglich sachlich nicht rechtfertigen, weshalb auch sie gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 8 BV verstossen würde.

    4. Ein anderes Kriterium, das eine Ungleichbehandlung von invaliden Inhaftierten rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Bezüglich des Bedarfs nach einer Rente der Invalidenversicherung erweist sich die Verbüssung einer Haftstrafe folglich in jedem Fall als irrelevant. Ein Strafvollzug kann mit Blick auf den Rentenanspruch keine unterschiedlichen Folgen für bestimmte Kategorien von Invaliden zeitigen, weshalb sich eine Ungleichbehandlung von invaliden Inhaftierten nicht rechtfertigen lässt. Konsequenterweise muss also jede Invalidenrente während der Dauer eines Strafvollzugs sistiert werden.

    5. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 8 BV verlangt darüber hinaus auch eine rechtsgleiche Behandlung von inhaftierten und nicht inhaftierten Invaliden. An sich müsste deshalb danach gefragt werden, ob es sich denn sachlich überhaupt rechtfertigen lasse, die Rente eines inhaftierten Invaliden zu sistieren. Das ist nicht der Fall, da sich die Verbüssung einer Haftstrafe wie oben dargelegt nicht auf den Leistungsbedarf respektive auf den Leistungsanspruch gegenüber der Invalidenversicherung auswirken kann. Der Invaliditätsgrad bleibt von einem Haftantritt unberührt. Auch der in der Rechtsprechung wiederholt erwähnte Umstand, dass der Staat während der Dauer einer Haftstrafe für den Unterhalt der inhaftierten Person aufkomme, kann keine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, denn das mag zwar für Kost und Logis zutreffen, aber nicht für die übrigen laufenden Unkosten der invaliden Person. Gerade während einer nur relativ kurzen Haftstrafe wird die invalide Person nicht umhin kommen, ihre Wohnungsmiete, die Prämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung, die Steuern etc. weiter bezahlen zu müssen. Für diese Unkosten kommt der Staat während einer Haftstrafe nicht auf. Aus der Sicht der invaliden Person ändert sich folglich mit einem Haftantritt weder auf der Einnahmen-

      noch auf der Ausgabenseite etwas; ihr Leistungsbedarf bleibt unverändert. Die Sistierung der Rente für die Dauer des Strafvollzugs lässt sich deshalb nicht mit dem im Art. 8 BV verankerten Gleichbehandlungsgebot in Übereinstimmung bringen, weshalb der Art. 21 Abs. 5 ATSG an sich als verfassungswidrig qualifiziert werden müsste. Der Art. 190 BV verpflichtet aber die rechtsanwendenden Behörden und die Gerichte zur Anwendung der Bundesgesetze, was bedeutet, dass der Art. 21 Abs. 5 ATSG ungeachtet seiner Verfassungskonformität angewendet werden muss. Die Auslegung dieser Bestimmung muss aber so verfassungskonform und damit auch so rechtsgleich wie möglich erfolgen. Da es also Fälle geben muss, in denen eine Rente oder eine andere Geldleistung mit Erwerbsersatzcharakter zu sistieren ist, und da es keine Kriterien zur (dem Gleichbehandlungsgebot genügenden) Unterscheidung einzelner Fallkonstellationen gibt, kann die möglichst rechtsgleiche Behandlung nur darin bestehen, ausnahmslos alle Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter während der Dauer eines Strafvollzugs zu sistieren.

    6. Da die Beschwerdeführerin im massgebenden Zeitraum eine Haftstrafe verbüsst hat, hat ihre Rente der Invalidenversicherung folglich ohne Weiteres sistiert werden müssen. Zum selben Ergebnis würde man (zufälligerweise) auch gelangen, wenn man das vom historischen Gesetzgeber geschaffene und vom Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung befolgte Regel-Ausnahme-Modell anwenden würde. Die Beschwerdeführerin ist nämlich im Zeitpunkt des Haftantritts nicht erwerbstätig gewesen, weshalb sie nicht in den Genuss einer Halbgefangenschaft gekommen ist. Folglich hat keine Ausnahme vorgelegen, die die Nichtsistierung der Rente gerechtfertigt hätte. So oder anders erweist sich die angefochtene Verfügung deshalb im Ergebnis als rechtmässig.

4.

Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen. Die gemäss dem Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und angesichts des durchschnittlichen Verfahrensaufwandes auf 600 Franken festzusetzenden Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Diese hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Die Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- zu bezahlen

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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