Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2015/49 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 23.05.2016 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Trotz nicht begonnener Behandlung mit anerkannten Therapien wird das Vorliegen des GgV 404 bestätigt (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 23. Mai 2016, IV 2015/49). Aufgehoben durch Urteil des Bundesgerichts 9C_418/2016. |
Zusammenfassung: | Die Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Mutter, kämpft um die Anerkennung eines Geburtsgebrechens für ihre Tochter, die an ADHS leidet. Obwohl die Diagnose vor dem neunten Lebensjahr gestellt wurde, wurde keine anerkannte Behandlung durchgeführt, da die Mutter alternative Therapien bevorzugte. Das Versicherungsgericht entscheidet, dass die Behandlungsbedürftigkeit vor dem neunten Lebensjahr nicht ausreichend ist und weist die Beschwerde ab. Es wird festgestellt, dass die Behandlungskosten nicht von der Invalidenversicherung übernommen werden, da keine anerkannten Therapien durchgeführt wurden. Die Beschwerdeführerin erhält Recht, dass sie an einem Geburtsgebrechen leidet, und die Angelegenheit wird an die IV-Stelle zurückverwiesen. |
Schlagwörter: | Behandlung; Geburt; Geburtsgebrechen; Therapie; Vollendung; Lebensjahres; Stimulanzien; Mutter; Invalidenversicherung; Sinne; Geburtsgebrechens; Anerkennung; IV-act; Gebrechen; Diagnose; Tochter; IV-Stelle; Sachbearbeiterin; Stimulanzientherapie; Verfügung; Behandlungsbedürftigkeit; Regel; Gebrechens; Massnahmen |
Rechtsnorm: | Art. 3 ATSG ; Art. 36 ATSG ; Art. 46 ATSG ; |
Referenz BGE: | 122 V 113; |
Kommentar: | - |
Versicherungsrichterin Monika Gehrer-Hug (Vorsitz), Versicherungsrichterinnen Karin Huber-Studerus und Miriam Lendfers; Gerichtsschreiber Tobias Bolt
Geschäftsnr. IV 2015/49
Parteien
A. ,
Beschwerdeführerin, vertreten durch B. , gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
Gegenstand
medizinische Massnahmen Sachverhalt
A.
A.a A. wurde von ihrer Mutter im September 2014 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 1). Ende Oktober und Mitte Dezember 2012 hatte Dr. med. C. eine neuromotorische und neuropsychologische Abklärung durchgeführt. Er hatte im März 2013 berichtet (IV-act. 5), die Versicherte leide an einem Aufmerksamkeitsdefizit- und an einem situativen Hyperaktivitätssyndrom mit einer verminderten visuellen Erfassungsspanne, einer verminderten auditiv-verbalen Erfassungsspanne, einer reduzierten Raumerfassung, einer grenzwertigen taktil- kinästhetischen Diskriminationsfähigkeit und einer reduzierten Kanalkapazität. Er habe die Mutter über die Ergebnisse seiner Untersuchungen informiert. Vorläufig habe er keine klassische Therapie empfehlen können. Eine Stimulanzientherapie habe die Mutter abgelehnt. Im Juli 2013 hatte Dr. med. D. berichtet (IV-act. 4), er sei von der Mutter der Versicherten um eine Zweitmeinung und um das Aufzeigen von Alternativen zu einer Stimulanzientherapie gebeten worden. Die Versicherte werde homöopathisch behandelt und seit kurzem zusätzlich durch die schulische Heilpädagogin betreut. Aufgrund der eigenen Untersuchungsergebnisse könne er die Diagnose eines Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) bestätigen. Er habe mit der Mutter der Versicherten anschliessend ein längeres Gespräch über verschiedene Therapieoptionen geführt. Eine Ergo- Psychomotoriktherapie sei seines Erachtens nicht indiziert. Pflanzliche Medikamente auf Ginkgobasis nützten erfahrungsgemäss nichts. Die homöopathischen „Kügeli“ zeigten gemäss den Angaben der Mutter bereits eine gute Wirkung. Stimulanzien würden von der Mutter strikte abgelehnt. Eine Psychotherapie wäre sicher sinnvoll. Er empfehle die Weiterführung der homöopathischen Therapie. Die Schulpsychologin lic. phil. E. empfahl im September 2014 den Wechsel zu einer Sonderschulung in einer Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen zum nächstmöglichen Zeitpunkt (IV-act. 6). Im November 2014 teilte Dr. C. der IV-Stelle mit (IV-act. 13), er habe die Versicherte nur im Oktober/ November 2012 untersucht. Damals seien die Kriterien für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV gerade knapp erfüllt gewesen. Da
aber keine spezifische Therapie geplant gewesen sei und da die Mutter bei einer Rückfrage angegeben habe, dass auch keine spezifische Therapie durchgeführt worden sei, seien die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens seines Erachtens nicht erfüllt.
A.b Mit einem Vorbescheid vom 1. Dezember 2014 teilte die IV-Stelle der Mutter der Versicherten mit (IV-act. 16), dass sie die Abweisung des Leistungsbegehrens vorsehe. Die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV setze nämlich voraus, dass vor dem neunten Geburtstag mindestens Störungen des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens, der Konzentrationsfähigkeit der Merkfähigkeit ausgewiesen seien. Ausserdem müsse vor dem neunten Geburtstag eine Behandlung dieser Störungen aufgenommen worden sein. Einer internen Notiz lässt sich entnehmen, dass bislang weder eine Ergotherapie noch Therapien mit Substanzen durchgeführt worden seien (IV-act. 15). Gegen den Vorbescheid wandte die Mutter der Versicherten beim Bundesamt für Sozialversicherungen am 5. Januar 2015 ein (Fremdakten), Dr. C. habe vor dem neunten Geburtstag ein ADHS diagnostiziert. Obwohl sie eine Therapie für ihre Tochter gewünscht habe, sei ihr eine solche verweigert worden, weil sie nicht bereit gewesen sei, ihre Tochter mit Stimulanzien behandeln zu lassen. Ein Gesuch um eine Psychotherapie sei abgewiesen worden, weil keine entsprechende ärztliche Verordnung vorgelegen habe. Das Bundesamt für Sozialversicherungen leitete die Eingabe am 9. Januar 2015 an die IV-Stelle weiter. Diese erkundigte sich beim kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst St. Gallen, ob dieser die Versicherte kinderpsychiatrisch behandelt habe (IV-act. 18 f.). Die Anfrage ergab, dass keine solche Behandlung stattgefunden hatte (IV-act. 20 f.). Mit einer Verfügung vom 16. Januar 2015 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren ab (IV-act. 22).
B.
B.a Am 16. Februar 2015 erhob die Mutter der Versicherten eine Beschwerde (act.
G 1). Sie machte geltend, die Sachbearbeiterin der IV-Stelle sei sehr unfreundlich gewesen, habe aber zugesagt, die Unterlagen betreffend die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) einer anderen Sachbearbeiterin zu unterbreiten. Dies habe sie
dann jedoch trotz ihrer Zusage nicht getan. Der Beschwerdeführerin sei vor der Vollendung des neunten Lebensjahres ein ADHS diagnostiziert worden. Der Kinderarzt Dr. C. habe aber keine Therapie angeordnet, weil sie, die Mutter, sich geweigert habe, ihre Tochter mit Stimulanzien behandeln zu lassen. Mittlerweile müsse die Beschwerdeführerin eine Sonderschule besuchen. Die Kosten der Sonderschule könne sie jedoch kaum bezahlen. Sie sehe nicht ein, dass sie ihre Tochter mit Stimulanzien behandeln müsse, wenn es auch andere Wege gebe. Wenn sie gewusst hätte, dass dies eine Leistungsvoraussetzung für die Invalidenversicherung gewesen wäre, hätte sie sich die Stimulanzien verschreiben lassen und diese dann die Toilette runter gespült. Ihre Tochter habe offenbar das Pech, eine Schweizerbürgerin mit einem Schweizer Namen zu sein. Sie habe das Gefühl, Ausländer hätten in der Schweiz mehr Rechte als Schweizer.
B.b Am 25. Februar 2015 forderte das Versicherungsgericht die Beschwerdeführerin auf, einen Kostenvorschuss zu leisten (act. G 2). Deren Mutter teilte am 5. März 2015 mit (act. G 3), sie werde den Kostenvorschuss nicht bezahlen. Ihr fehlten die finanziellen Mittel dafür. Es könne doch nicht sein, dass sie eine Sucht ihrer Tochter nach Stimulanzien riskieren müsse, um die Kosten der sinnvollen Therapiemassnahmen vergütet zu erhalten. Den Ausländern werfe man Millionenbeträge nach, aber Schweizer behandle man minderwertig, wenn diese nicht hundertprozentig das täten, was man von ihnen verlange. Das Versicherungsgericht interpretierte diese Eingabe als ein Gesuch um eine unentgeltliche Prozessführung und forderte die Beschwerdeführerin deshalb auf, ein entsprechendes Formular auszufüllen und entsprechende Belege einzureichen (act. G 4). Die verlangten Unterlagen trafen am
16. März 2015 ein (act. G 5), weshalb das Gesuch bewilligt werden konnte (act. G 8).
B.c Am 16. April 2015 beantragte die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) die Abweisung der Beschwerde (act. G 7). Zur Begründung führte sie aus, rechtsprechungsgemäss begründeten eine fehlende Diagnose eine fehlende Behandlung eines ADHS vor der Vollendung des neunten Lebensjahres die
„unwiderlegbare Rechtsvermutung“ (Fiktion), das ADHS sei nicht angeboren. Bei der Beschwerdeführerin sei zwar noch vor der Vollendung des neunten Lebensjahres ein ADHS diagnostiziert worden. Eine invalidenversicherungsrechtlich anerkannte Behandlung sei aber nicht erfolgt. Das ADHS könne deshalb nicht als ein
Geburtsgebrechen qualifiziert werden. Die Kosten der von der – nicht anerkannten – Homöopathin abgegebenen Arzneien und der Maltherapie könnten auch nicht in Anwendung des Art. 12 IVG übernommen werden, da es sich dabei nicht um anerkannte medizinische Massnahmen handle. Die Kosten der Sonderschule würden vom Kanton und von der Gemeinde getragen. Die Eltern müssten lediglich einen so genannten Elternbeitrag leisten, der die bei einer Schulung im Internat entfallenden Kosten für Kost und Logis abgelte.
B.d Die Beschwerdeführerin liess am 28. April 2015 an ihren Anträgen festhalten (act.
G 10). Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 12).
B.e Am 26. April 2016 forderte das Versicherungsgericht Dr. C. auf anzugeben, ob im Dezember 2012 seiner Ansicht nach eine Behandlungsbedürftigkeit bestanden habe und, falls dies der Fall gewesen sei, welche Therapien er empfohlen hätte respektive habe (act. G 14). Am 10. Mai 2016 antwortete Dr. C. (act. G 15), die Beschwerdeführerin habe Mühe gehabt, Kontakte zu knüpfen, sich zu integrieren,
„Gspänli“ zu finden. Eine klassische Therapie (Psychotherapie, Psychomotoriktherapie) hätte ihr eventuell helfen können, eine solche habe er aber in jenem Zeitpunkt als nicht notwendig erachtet. Eine medikamentöse Therapie mit Stimulanzien (Ritalin) hätte ihr helfen können. Die schulischen Probleme als zweites Hauptproblem seien damals bereits von einem schulischen Heilpädagogen angegangen worden. Die Promotion sei allerdings nicht gefährdet gewesen. Natürlich hätte eine Stimulanzientherapie insbesondere diesbezüglich eine deutliche Verbesserung zeitigen können. Zusammenfassend habe seines Erachtens eine Behandlungsbedürftigkeit bestanden, weshalb auch bereits sonderpädagogische Therapien durchgeführt worden seien. Zusätzlich habe er einen Therapieversuch mit Stimulanzien empfohlen.
Erwägungen
1.
Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, dass sie die zuständige Sachbearbeiterin gebeten habe, die Sache an eine andere Sachbearbeiterin zu übergeben. Darin könnte ein sinngemässes Ausstandsbegehren im Sinne des Art. 36 Abs. 1 ATSG erblickt
werden, das von der Beschwerdegegnerin gemäss dem Art. 36 Abs. 2 ATSG hätte behandelt werden müssen. Der Erlass der angefochtenen Verfügung ohne die vorgängige Behandlung eines solchen Ausstandsbegehrens wäre rechtswidrig. Den Akten lässt sich aber nicht entnehmen, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich bereits vor dem Erlass der angefochtenen Verfügung den Ausstand der zuständigen Sachbearbeiterin (wohl wegen einer befürchteten Voreingenommenheit) beantragt hätte. Erst in ihrer Beschwerdeschrift hat sie darauf hingewiesen. Hätte die Beschwerdeführerin, wie von ihr angegeben, vor dem Erlass der angefochtenen Verfügung telefonisch um den Ausstand der Sachbearbeiterin ersucht, würden die Akten zumindest eine entsprechende Telefonnotiz enthalten, da eine gesetzliche Pflicht zur sorgfältigen, systematischen Aktenführung besteht (Art. 46 ATSG) und da unwahrscheinlich ist, dass die zuständige Sachbearbeiterin diese gesetzliche Pflicht derart gravierend verletzt hätte. Das rechtzeitige Stellen eines Ausstandsbegehrens ist jedenfalls nicht bewiesen, weshalb sich weitere Ausführungen dazu erübrigen.
2.
Eine versicherte Person hat bis zur Vollendung des 20. Altersjahres einen Anspruch auf die zur Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13 Abs. 1 IVG). Nicht jede Krankheit, die bereits bei der vollendeten Geburt bestanden hat (vgl. Art. 3 Abs. 2 ATSG), löst aber eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung aus. Nur für die vom Bundesrat bezeichneten Geburtsgebrechen kann die Invalidenversicherung die im Art. 13 Abs. 1 IVG erwähnten Massnahmen gewähren (Art. 13 Abs. 2 IVG). Die Liste der von der Invalidenversicherung anerkannten Geburtsgebrechen befindet sich im Anhang zur GgV (vgl. Art. 3 IVV und Art. 1 Abs. 2 GgV). Als ein anerkanntes Geburtsgebrechen gelten unter anderem Störungen des Verhaltens bei Kindern mit einer normalen Intelligenz im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität der Kontaktfähigkeit, sofern sie bereits vor der Vollendung des neunten Lebensjahres diagnostiziert und auch behandelt worden sind (Ziff. 404 Anh. GgV). In seinem Leitentscheid BGE 122 V 113 hat das Bundesgericht ausgeführt, ein ADHS (damals noch als psychoorganisches Syndrom [POS] bezeichnet) könne nicht nur angeboren, sondern auch nach der Geburt eingetreten sein. Für die Beantwortung der Frage, ob die Invalidenversicherung die obligatorische Krankenpflegeversicherung leistungspflichtig für die Behandlung des ADHS sei, müsse
im Einzelfall abgeklärt werden, ob ein angeborenes ein (so genannt) erworbenes ADHS vorliege. Dazu sei auf die medizinisch begründete Annahme zurückzugreifen, wonach ein angeborenes ADHS in aller Regel vor der Vollendung des neunten Lebensjahres diagnostiziert und behandelt werde. Diese Annahme habe im Anwendungsbereich der Ziff. 404 Anh. GgV nicht den Charakter einer Beweisregel, sondern sei vielmehr als eine Anspruchsvoraussetzung zu qualifizieren. Werde das ADHS also nicht vor der Vollendung des neunten Lebensjahres sowohl diagnostiziert als auch behandelt, sei nicht zu vermuten, sondern zu fingieren, es handle sich um ein erworbenes ADHS und damit nicht um ein Geburtsgebrechen.
Anhand der vorliegenden Akten steht zweifelsfrei fest, dass die Beschwerdeführerin an einem ADHS leidet und dass dieses bereits (kurz) vor der Vollendung des neunten Lebensjahres von Dr. C. überzeugend begründet diagnostiziert worden ist. Zwar hat Dr. C. ausgeführt, er habe keine „klassische“ Therapie empfehlen können. Dabei scheint er aber verkannt zu haben, dass auch die von ihm empfohlene Stimulanzientherapie zu den „klassischen“ Therapien zählt, denn die Stimulanzientherapie gilt invalidenversicherungsrechtlich als eine anerkannte
Therapiemassnahme, das heisst als eine „Behandlung“ im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV (vgl. den Anhang 7 zum Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME], FN 3). Hätte die Mutter der Beschwerdeführerin dieser Stimulanzientherapie zugestimmt, wäre die Beschwerdeführerin bereits vor der Vollendung des neunten Lebensjahres behandelt worden. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV wären damit erfüllt gewesen. Nun hat sich die Mutter der Beschwerdeführerin allerdings geweigert, ihre Tochter mit Stimulanzien behandeln zu lassen. Der Kinderarzt Dr. C. hat damals keine alternative Behandlungsform als indiziert erachtet, weil die Beschwerdeführerin seines Wissens bereits sonderpädagogisch behandelt wurde, weshalb effektiv keine anerkannte Behandlung erfolgt ist. Nach der Vollendung des neunten Lebensjahres hat Dr. D. dann zwar eine Psychotherapie empfohlen. Dazu ist es in der Folge aber offenbar nie gekommen. Auch er hat der Mutter der Beschwerdeführerin dazu geraten, ihre Tochter mit Stimulanzien behandeln zu lassen, was diese aber wiederum strikt abgelehnt hat. Die homöopathische Behandlung durch eine nicht anerkannte Homöopathin und die Maltherapie gelten nicht als eine Behandlung im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV. Die
Beschwerdeführerin ist also zweifelsfrei nicht vor der Vollendung des neunten Lebensjahres im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV behandelt worden.
Der Wortlaut der Ziff. 404 Anh. GgV verlangt ausdrücklich eine Diagnose und eine Behandlung eines ADHS vor der Vollendung des neunten Lebensjahres als Voraussetzungen für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne dieser Ziffer. Laut Bundesgericht entspricht es einer medizinischen Erfahrungstatsache, dass ein angeborenes ADHS in der Regel vor der Vollendung des neunten Lebensjahres, ein erworbenes ADHS dagegen in der Regel erst später diagnostiziert wird (vgl. BGE 122 V 113). Überzeugende Quellen für diese behauptete Erfahrungstatsache hat das Bundesgericht, soweit ersichtlich, bis heute nicht genannt. Im Gegenteil scheint das Bestehen eines solchen Zusammenhangs in der medizinischen Fachliteratur umstritten zu sein. Wenn überhaupt könnte die angebliche Erfahrungstatsache aber ohnehin nur eine entsprechende Vermutung, jedoch keine Fiktion begründen. Der Behandlungsbeginn sagt per se nichts über den Zeitpunkt des Eintrittes des Gebrechens aus, denn der Zeitpunkt der Behandlungsaufnahme hängt vorwiegend von anderen Umständen als dem Eintritt eines ADHS ab. Hingegen kann eine zeitnahe Aufnahme einer Behandlung nach der Diagnosestellung ein Indiz dafür sein, dass das Gebrechen eine gewisse Schwere aufweist. Das Erfordernis der Behandlungsaufnahme vor der Vollendung des neunten Lebensjahres kann folglich zwei Zwecke verfolgen. Einerseits kann es dem Ausschluss eines geringfügigen Gebrechens im Sinne des Art. 13 Abs. 2 IVG dienen: Ein nicht behandlungsbedürftiges ADHS gilt, unabhängig davon, wann es eingetreten ist, nicht als ein eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung auslösendes Geburtsgebrechen. Andererseits kann es aber auch einen Rückschluss auf den frühen Verlauf des Gebrechens erlauben, wenn nämlich medizinisch davon ausgegangen werden muss, dass ein Geburtsgebrechen in der Regel schon vor der Vollendung des neunten Lebensjahres bereits eine Schwere erreicht, die eine Behandlungsbedürftigkeit auslöst, während ein erworbenes Gebrechen regelmässig erst später einen behandlungsbedürftigen Schweregrad erreicht. Einem anderen Zweck kann das Erfordernis einer vor der Vollendung des neunten Lebensjahres begonnenen Behandlung aber nicht dienen. Die Indikation für eine (anerkannte) Behandlung vor der Vollendung des neunten Lebensjahres belegt zusammen mit der Diagnose eines ADHS also, dass ein ADHS vorliegt, das bereits vor der Vollendung des neunten Lebensjahres eine den Beginn einer Behandlung rechtfertigende Schwere erreicht hat. Gemäss der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist folglich zu vermuten, dass es sich um ein Geburtsgebrechen handelt. Das Bundesgericht behauptet zwar, dass es sich dabei nicht nur um eine Vermutung, sondern vielmehr um eine (unwiderlegbare) Fiktion handle. Dies ist allerdings nicht überzeugend, weil damit der Nachweis, dass es sich im konkreten Einzelfall anders als im medizinischen Regelfall (der Ausnahmen kennt) verhält, zum Vorneherein ausgeschlossen wird. Selbst wenn eine versicherte Person also – trotz fehlender rechtzeitiger Diagnose und Behandlung – nachweisen könnte, dass sie an einem angeborenen ADHS leidet, müssten ihr die Leistungen der Invalidenversicherung gestützt auf eine (in der Rechtsprechung nicht näher erläuterte bzw. belegte) medizinische Empirie also verweigert werden, was stossend wäre. Dies wirkt sich allerdings auf den vorliegenden Fall nicht aus, denn die Diagnose und die Behandlungsbedürftigkeit sind bereits vor der Vollendung des neunten Lebensjahres festgehalten worden, was von Dr. C. in seiner Stellungnahme vom 10. Mai 2016 nochmals deutlich bestätigt worden ist. Entscheidend ist in diesem Verfahren vielmehr, dass die Behandlungsbedürftigkeit zwar – wie die Diagnose eines ADHS – bereits vor der Vollendung des neunten Lebensjahres festgehalten, dass in der Folge aber effektiv keine anerkannte Behandlung aufgenommen worden ist. Gemäss der Rz. 404.3 des KSME (die den Wortlaut der Ziff. 404 Anh. GgV wiedergibt) genügt dies nicht für die Anerkennung des Geburtsgebrechens im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV. Dies lässt sich nicht rechtfertigen, denn der effektive Beginn der Behandlung sagt nichts in Bezug auf den Zeitpunkt des Eintrittes des Gebrechens in Bezug auf die Schwere des Gebrechens aus. Auch kann die Anerkennung eines Geburtsgebrechens nicht davon abhängen, ob es effektiv mittels einer anerkannten Therapie behandelt wird, denn auch ein nicht behandeltes Geburtsgebrechen ist ein Geburtsgebrechen. Es wäre unsinnig, von der Beschwerdeführerin sinngemäss zu verlangen, eine „Alibitherapie“ durchzuführen, nur damit das ADHS als Geburtsgebrechen anerkannt werden kann. Dies lässt sich jedenfalls nicht mit der massgebenden gesetzlichen Regelung des Art. 13 IVG vereinbaren. Der Gesetzgeber hat dem Verordnungsgeber zwar ein weites Ermessen hinsichtlich der Liste der anerkannten Geburtsgebrechen eingeräumt und ihn darüber hinaus ermächtigt, geringfügige Gebrechen von der Leistungspflicht der Invalidenversicherung auszuschliessen. Selbst dieses weite Ermessen kann aber keine geradezu willkürlich anmutenden Erfordernisse an das Vorliegen eines in der Liste der Geburtsgebrechen enthaltenen Gebrechens rechtfertigen. Das Erfordernis nicht nur
einer Behandlungsbedürftigkeit vor der Vollendung des neunten Lebensjahres, sondern auch der effektiven Aufnahme einer Behandlung muss aber als eine willkürliche, weil sachlich nicht gerechtfertigte Voraussetzung qualifiziert werden. Die Antwort auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin an einem ADHS im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV leidet, kann nicht davon abhängen, ob ihr bereits vor dem neunten Geburtstag Stimulanzien verabreicht worden sind, zumal Dr. C. im November 2014 nochmals explizit darauf hingewiesen hat, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne der Ziff. 404 Anh. GgV (abgesehen von der effektiven Behandlung und wenn auch nur „gerade knapp“) erfüllt gewesen seien. Entgegen des Wortlautes der Ziff. 404 Anh. GgV ist das Vorliegen eines Geburtsgebrechens deshalb gesamthaft zu bejahen.
3.
Die Anerkennung eines Geburtsgebrechens stellt nur ein Teilelement bezüglich einer Leistungspflicht der Invalidenversicherung gestützt auf den Art. 13 IVG dar. Eine Vergütung der Behandlungskosten setzt darüber hinaus die Anerkennung der Notwendigkeit einer spezifischen Behandlung, der Behandlungsform und des Leistungserbringers sowie weitere Teilelemente voraus. Gemäss den Akten sind bislang noch keine Massnahmen durchgeführt worden, die eine Vergütungspflicht der Invalidenversicherung auslösen könnten. Die Kosten für die Sonderschulung können nämlich zum Vorneherein nicht erfasst sein, weil diese Kosten seit der Neuregelung des Finanzausgleichs per 2008 nicht mehr zum Leistungskatalog der Invalidenversicherung gehören. Auch die Kosten für nicht anerkannte Therapiemassnahmen (z.B. Maltherapie) sind nicht von der Invalidenversicherung zu vergüten. Die homöopathische Therapie hätte vergütet werden können, wenn sie von einer von der Krankenkasse anerkannten Homöopathin durchgeführt worden wäre, was aber nicht der Fall gewesen ist. In der Zukunft könnten allerdings Therapien durchgeführt werden, die von der Invalidenversicherung anerkannt sind. Dies könnte aufgrund der Anerkennung eines Geburtsgebrechens eine entsprechende Leistungspflicht der Invalidenversicherung auslösen. Die Sache ist deshalb an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Diese wird allfällige künftige Rechnungen für Behandlungen des Geburtsgebrechens prüfen und gegebenenfalls vergüten.
4.
Die Beschwerde, mit der sinngemäss die Aufhebung und die Korrektur der angefochtenen Verfügung beantragt worden ist, ist folglich gutzuheissen. Die gemäss dem Art. 69 Abs. 1 bis IVG anfallenden Gerichtskosten sowie die Kosten für die Rückfrage bei Dr. C. (100 Franken; vgl. act. G 15.1) sind der unterlegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Die nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung.
Entscheid
1.
In Aufhebung der angefochtenen Verfügung wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin am Geburtsgebrechen Ziff. 404 Anh. GgV leidet; die Sache wird zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens im Sinne der Erwägungen an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
2.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- sowie die Kosten für die Abklärung bei Dr. C. von Fr. 100.-- zu bezahlen.
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