Zusammenfassung des Urteils IV 2013/251: Versicherungsgericht
Die Beschwerdeführerin A. hat eine Beschwerde gegen die Entscheidungen der IV-Stelle des Kantons St. Gallen bezüglich ihres Taggeldanspruchs erhoben. Es geht darum, ob sie Anspruch auf den Höchstansatz des kleinen Taggeldes hat. Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass gesundheitsbedingte Verzögerungen auch bei der schulischen Ausbildung berücksichtigt werden sollten. Das Versicherungsgericht entscheidet zugunsten der Beschwerdeführerin und hebt die Entscheidungen der IV-Stelle auf. Ab Oktober 2013 wird ihr ein höheres Taggeld zugesprochen. Die Gerichtskosten von CHF 600 trägt die unterliegende Beschwerdegegnerin, und die Beschwerdeführerin erhält eine pauschale Parteientschädigung von CHF 2'500.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2013/251 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 26.09.2014 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 23 Abs. 2 IVG. Art. 23 Abs. 2bis IVG. Gesundheitsbedingte Verzögerungen der schulischen Ausbildung sind bei der Ermittlung des Zeitpunktes des mutmasslichen Abschlusses einer erstmaligen beruflichen Ausbildung ohne Gesundheitsbeeinträchtigung ebenso zu berücksichtigen wie gesundheitsbedingte Verzögerungen der beruflichen Ausbildung (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. September 2014, IV 2013/251). |
Schlagwörter: | Ausbildung; Taggeld; Verzögerungen; IV-act; Taggeldes; Person; Anspruch; Verfügung; Franken; Altersjahr; Regel; Abschluss; Zeitraum; Zeitpunkt; Ansatz; Gesundheitsbeeinträchtigung; IV-Stelle; „kleinen“; Entschädigung; Gallen; Kantons; Berücksichtigung |
Rechtsnorm: | Art. 15 UVG ;Art. 30 MVG; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Vizepräsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Marie Löhrer; Gerichtsschreiber Tobias Bolt
Entscheid vom 26. September 2014
in Sachen
A. ,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt lic. oec. Fritz Dahinden, Blumenbergplatz 1, 9000 St.
Gallen, gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
betreffend
IV-Taggeld Sachverhalt:
A. A. wurde im Juli 1994 unter Hinweis auf ein Geburtsgebrechen erstmals zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 6). Im Juli 1999 berichtete der psychiatrisch-psychologische Dienst des Sozialdepartementes der Stadt B. (IV-act. 17), die Versicherte habe während der ersten drei Lebensjahre immer wieder epileptische Anfälle erlitten. Zudem leide sie unter schweren intrafamiliären Konflikten. Es liege eine Störung des Sozialverhaltens vor. Im September 1999 musste die Versicherte, die sich seit Oktober 1997 in einem Kinderheim befunden hatte, auf eine Kinderstation verlegt werden (IV-act. 18). Im Juli 2000 wurde sie entlassen und in ein anderes Kinderheim überwiesen (IV-act. 26). Einem Schreiben der Jugend- und Familienberatung des Kantons C. vom 29. August 2005 liess sich entnehmen, dass die Versicherte seit Oktober 1997 in verschiedenen Kinderheimen und Institutionen untergebracht worden war (IV-act. 56). Am 7. Oktober 2005 berichtete der Kinderpsychiater Dr. med. D. , die Versicherte leide an einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen mit oppositionellem, distanzlosem Verhalten gegenüber Autoritätspersonen, aggressiven Impulsdurchbrüchen und dissozialen Verhaltensweisen gegenüber Gleichaltrigen sowie verminderter Frustrationstoleranz und Stimmungsschwankungen, was die persönliche und schulische Entwicklung erschwert habe (IV-act. 63). Einem Schreiben der Jugend- und Familienberatung des Kantons C. vom 4. Dezember 2006 liess sich entnehmen, dass die Versicherte seit August 2005 bereits wieder mehrmals hatte versetzt werden müssen (IV-act. 73). Im Sommer 2008 schloss die Versicherte ihre (Sonder-) Schulbildung ab; im September 2009 meldete sie sich für berufliche Massnahmen bei der IV-Stelle des Kantons
St. Gallen an (IV-act. 1). Im Januar 2010 erfuhr die IV-Stelle, dass die Versicherte wieder in einem Heim habe interniert werden müssen (IV-act. 107).
B.
Am 27. Juni 2012 meldete sich die Versicherte erneut für berufliche Massnahmen bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen an (IV-act. 133). Bereits davor hatte die IV- Stelle verschiedene Abklärungen getätigt und Leistungen der Invalidenversicherung erbracht. Unter anderem hatte sie am 5. Januar 2010 die Jugendpsychiaterin Dr. med. E. beauftragt, ein fachärztliches Gutachten zu erstatten. Diese hatte am 8. März 2010 berichtet (IV-act. 121), die Versicherte leide an einer schweren Persönlichkeitsentwicklungsstörung mit emotional-instabilen Zügen (Borderline-Typus), Selbstverletzungen, dissozialem Verhalten, chronischer Suizidalität und schädlichem Gebrauch mehrerer Suchtmittel auf dem Hintergrund einer vermuteten pränatalen Suchtmittelexposition, multipler Beziehungsabbrüche und einer extrem dysfunktionalen familiären Situation. Die Kindheit der Versicherten sei von vielfältigen massiven Belastungen geprägt gewesen. Insbesondere diverse Beziehungsabbrüche und die äusserst destruktiven familiären Beziehungsmuster hätten zu einer schweren Störung der Persönlichkeitsentwicklung geführt. Eine berufliche Eingliederung sei deshalb zwar beeinträchtigt, aber nicht ausgeschlossen. Die Versicherte werde möglicherweise mehr Zeit als üblich und mehrere Anläufe benötigen, bis eine zufriedenstellende berufliche Integration gelinge. Zumindest anfangs benötige sie einen geschützten Rahmen. Auch sei eine enge Zusammenarbeit zwischen den Ausbildnern und den Betreuungspersonen am Wohnort nötig.
Die IV-Stelle übernahm in der Folge die Kosten für eine berufliche Abklärung im Zeitraum vom 23. April bis 31. Juli 2012 (IV-act. 136). Im Rahmen dieser Abklärung wurde eine grundsätzliche Eignung für eine erstmalige berufliche Ausbildung festgestellt und die Durchführung eines Vorbereitungsjahres empfohlen (IV-act. 142). Am 22. Oktober 2012 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, dass sie die Mehrkosten für das Vorbereitungsjahr (1. August 2012 bis 31. Juli 2013) übernehme (IV-act. 154). Am 15. Mai 2013 teilte sie ihr mit, dass sie auch die Mehrkosten der beruflichen Ausbildung (1. August 2013 bis 31. Juli 2016) übernehme (IV-act. 166). Mit einer Verfügung vom 24. Mai 2013 sprach sie ihr für den Zeitraum vom 1. August 2013 bis zum 31. Dezember 2013 ein Taggeld von 34,60 Franken zu (IV-act. 168).
C.
Am 6. Juni 2013 erhob die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Beschwerde gegen diese Verfügung (act. G 1). Sie machte geltend, ihre IV-Beraterin habe ihr die Zusprache des Höchstansatzes des kleinen Taggeldes ab dem 1. August 2013 zugesichert. Diese Zusage habe sie erhalten, weil sie im Jahr 2000 eingeschult worden sei und bloss aufgrund ihrer Krankheit erst im Jahr 2011 die neunte Klasse habe beenden können. Sie ersuche deshalb um eine Überprüfung der Akten und der Verfügung. Am 26. August 2013 liess die nun vertretene Beschwerdeführerin ergänzend ausführen (act. G 9), in den Akten sei deutlich ausgewiesen, dass sie schon
seit früher Kindheit an massiven psychischen Defiziten leide und deshalb erst verspätet im Jahr 2012 eine berufliche Ausbildung habe in Angriff nehmen können. Als Gesunde hätte sie die Schule spätestens Ende Juli 2010 (unter Berücksichtigung eines Repetitions- eines zehnten Schuljahres) und damit eine ordentliche Lehre spätestens Ende Juli 2013 abgeschlossen. Folglich habe sie ab dem 1. August 2013 einen Anspruch auf den Höchstansatz des kleinen Taggeldes. Zudem habe sie auf die Auskunft, sie werde ab dem 1. August 2013 ein entsprechendes Taggeld erhalten, vertrauen dürfen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte am 9. September 2013 die Abweisung der Beschwerde (act. G 11). Zur Begründung führte sie aus, es könne nicht generell gesagt werden, wann eine nichtbehinderte Person ihre Schulausbildung abgeschlossen hätte. Dies sei von Person zu Person unterschiedlich. Der Zeitpunkt der Einschulung sei deshalb irrelevant. Hinzu komme, dass nicht mehr eruiert werden könne, welche Verzögerungen gesundheitsbedingt und welche aufgrund der psychosozialen Belastungsfaktoren eingetreten seien. Letztere würden im vorliegenden Fall eine immens grosse Rolle spielen, doch habe die Invalidenversicherung dafür nicht einzustehen. Alles in allem sei es sachgerecht, auf den Abschluss der obligatorischen Schulzeit abzustellen, um zu ermitteln, wann eine nicht behinderte Person die Ausbildung abgeschlossen hätte. Auf den Vertrauensschutz könne sich die Beschwerdeführerin nicht berufen, weil sie keine Vertrauensdisposition getätigt habe.
Am 20. Januar 2014 erhob die Beschwerdeführerin eine Beschwerde gegen eine weitere Verfügung, mit der ihr für die Dauer des Jahres 2014 ein Taggeld von 34,60 Franken zugesprochen worden war (act. G 14.1), wobei sie eine Vereinigung der beiden Beschwerdeverfahren beantragte (act. G 14). Am 24. März 2014 liess sie an ihrem
Beschwerdeantrag festhalten und zur Begründung ergänzend ausführen (act. G 19), zur Ermittlung des Zeitpunktes, in dem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hätte, wenn sie nicht gesundheitlich beeinträchtigt gewesen wäre, müsse von einem Regelfall auch bezüglich der schulischen Ausbildung ausgegangen werden. Damit sei der Anspruch auf den Höchstansatz des kleinen Taggeldes bereits ab dem Lehrbeginn im August 2013 entstanden. Unverständlich sei jedenfalls, weshalb die Beschwerdegegnerin nicht wenigstens ab August 2014 ein entsprechendes Taggeld zugesprochen habe. Ausserdem habe die Beschwerdeführerin einige Dispositionen getroffen, die sie nicht getroffen hätte, wenn ihr nicht die Zusprache des höheren Taggeldes zugesichert worden wäre. Die Beschwerdegegnerin liess sich nicht mehr vernehmen.
Erwägungen:
1. Streitig ist der Taggeldanspruch im Zusammenhang mit der im August 2013 be gonnenen erstmaligen beruflichen Ausbildung. Mit der ersten Verfügung vom 24. Mai 2013 hat die Beschwerdegegnerin für einen ersten Zeitraum (1. August 2013 bis
31. Dezember 2013) ein Taggeld von 34,60 Franken zugesprochen; mit der zweiten Verfügung vom 20. Dezember 2013 hat sie für den daran anschliessenden Zeitraum (1. Januar 2014 bis 31. Dezember 2014) ebenfalls ein Taggeld von 34,60 Franken zu
gesprochen. Da ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden erwähnten Verfügungen besteht und sich dieselbe Rechtsfrage stellt, können die beiden Beschwerdeverfahren vereinigt werden. Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens bildet folglich der Taggeldanspruch vom 1. August 2013 bis zum 31. Dezember 2014.
2.
Versicherte in der erstmaligen beruflichen Ausbildung haben gemäss Art. 22
Abs. 1bis IVG einen Anspruch auf ein Taggeld, wenn sie ihre Erwerbsfähigkeit ganz teilweise einbüssen. Bei kinderlosen Versicherten entspricht das Taggeld der Grundentschädigung (Art. 22 Abs. 2 IVG). Die Grundentschädigung beträgt 30 Prozent des Höchstbetrages des Taggeldes nach Art. 24 Abs. 1 IVG (der gemäss Art. 15 Abs. 3 UVG i.V.m. Art. 22 Abs. 1 UVV 126’000 Franken pro Jahr bzw. 346 Franken pro Tag beträgt) für Versicherte, die das 20. Altersjahr vollendet haben und ohne Invalidität
nach abgeschlossener Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätten (Art. 23
Abs. 2 IVG), und höchstens 30 Prozent – bzw. (genau) zehn Prozent (Art. 23 Abs. 2 bis Satz 2 IVG i.V.m. Art. 22 Abs. 1 IVV) – des Höchstbetrages des Taggeldes für Versicherte, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben und noch nicht erwerbstätig gewesen sind (Art. 23 Abs. 2bis Satz 1 IVG). Dieses pauschal festgelegte Taggeld wird in der Praxis als „kleines Taggeld“ bezeichnet. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem eine versicherte Person „ohne Invalidität“ eine Ausbildung abgeschlossen (und eine Erwerbstätigkeit aufgenommen) hätte, wird der niedrigere Ansatz dieses „kleinen“ Taggeldes ausgerichtet; ab dem Zeitpunkt des mutmasslichen Abschlusses der beruflichen Ausbildung ohne Gesundheitsbeeinträchtigung wird der höhere Ansatz ausgerichtet, sofern die versicherte Person in diesem Zeitpunkt das 20. Altersjahr bereits vollendet hat. Entscheidend ist also, wann die betroffene versicherte Person das 20. Altersjahr vollendet und wann sie ihre berufliche Ausbildung abgeschlossen hätte, wenn sie gesundheitlich nicht beeinträchtigt wäre.
Die Beschwerdeführerin hat ihr 20. Altersjahr im Oktober 2013 vollendet. Für die Monate August und September 2013 hat sie folglich lediglich einen Anspruch auf den niedrigeren Ansatz des „kleinen“ Taggeldes. Erst ab Oktober 2013 hat sie allenfalls einen Anspruch auf den höheren Ansatz des „kleinen“ Taggeldes begründen können, wobei diesbezüglich entscheidend ist, wann sie ohne Gesundheitsbeeinträchtigung ihre berufliche Ausbildung abgeschlossen hätte. Die Beschwerdegegnerin vertritt die Auffassung, entscheidend sei, wann die Beschwerdeführerin ohne Gesundheitsbeeinträchtigung vom effektiven Abschluss ihrer schulischen Ausbildung an gerechnet eine berufliche Ausbildung abgeschlossen hätte. Da die Beschwerdeführerin die obligatorische Schulzeit im Juli 2011 beendet hat und demzufolge ab August 2011 eine berufliche Ausbildung hätte antreten können, hätte sie eine ordentliche, dreijährige Ausbildung erst im Juli 2014 abschliessen können. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen vor, bereits ihre schulische Ausbildung sei durch ihre Gesundheitsbeeinträchtigung verzögert worden. Ohne Gesundheitsbeeinträchtigung hätte sie die Schule und damit auch eine daran anschliessende berufliche Ausbildung zwei Jahre früher abschliessen können. Ob gesundheitsbedingte Verzögerungen der schulischen Ausbildung ebenso wie gesund heitsbedingte Verzögerungen der beruflichen Ausbildung zu berücksichtigen sind, ist auf dem Interpretationsweg zu ermitteln. Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 IVG spricht für die Berücksichtigung von gesundheitsbedingten Verzögerungen der schulischen
Ausbildung, denn die Rede ist vom Abschluss der Ausbildung und nicht von der Dauer der beruflichen Ausbildung. Der Zeitpunkt des Abschlusses der Ausbildung hängt natürlich nicht nur von der Dauer der beruflichen, sondern eben auch von der Dauer der schulischen Ausbildung ab. Gesundheitsbedingte Verzögerungen der schulischen Ausbildung können den Zeitpunkt des Abschlusses ebenso hinausschieben wie solche der beruflichen Ausbildung. Die Erwähnung des Abschlusses anstelle der Dauer der Ausbildung spricht also dafür, darauf abzustellen, wann eine versicherte Person ihre schulische und berufliche Ausbildung abgeschlossen hätte, wenn es bezüglich beider Teile der Ausbildung nicht zu gesundheitsbedingten Verzögerungen gekommen wäre. Dies gilt umso mehr, als in Art. 23 Abs. 2 IVG kein Bezug auf die berufliche Ausbildung genommen wird, sondern vielmehr unspezifisch von „Ausbildung“ die Rede ist. Die teleologische Auslegung des Art. 23 Abs. 2 IVG führt zum selben Ergebnis. Das „kleine“ Taggeld soll den gesundheitsbedingten Erwerbsausfall der betroffenen versicherten Person entschädigen. Für die Festsetzung der (pauschalen) Entschädigung wird die tatsächliche, gesundheitsbedingt verzögerte „Ausbildungskarriere“ mit einer „normalen Ausbildungskarriere“ – nämlich ohne gesundheitsbedingte Verzögerungen – verglichen. Für den Zeitraum, in dem die versicherte Person sich ohne Gesundheitsbeeinträchtigung noch in der beruflichen Ausbildung befunden hätte, soll das kleine Taggeld den hypothetischen Lehrlingslohn ersetzen; für den Zeitraum, in dem die versicherte Person ihre Ausbildung bereits abgeschlossen hätte, soll es den hypothetischen „vollen“ Lohn einer Erwerbstätigkeit ersetzen. Würden bloss Verzögerungen der beruflichen Ausbildung berücksichtigt, blieben gesundheitsbedingte Verzögerungen, die sich schon während der Schulzeit auf die
„Ausbildungskarriere“ ausgewirkt haben, unberücksichtigt. Die Entschädigung fiele folglich ungenügend aus. Der vom Gesetzgeber angestrebte Zweck der Entschädigung von Erwerbsausfällen aufgrund gesundheitsbedingter Verzögerungen des Abschlusses der Ausbildung würde also nicht vollständig erreicht, ohne dass dafür ein nachvollziehbarer Grund ersichtlich wäre. In systematischer Hinsicht ist auf Art. 30 MVG hinzuweisen, wonach die Militärversicherung einer versicherten Person eine Entschädigung für den verspäteten Eintritt ins Erwerbsleben ausrichtet, wenn die Berufsausbildung wegen einer versicherten Gesundheitsschädigung um mindestens sechs Monate verzögert wird. In Art. 30 MVG wird explizit von der Berufsausbildung und nicht unspezifisch von der Ausbildung gesprochen. Dennoch werden
praxisgemäss auch Entschädigungen ausgerichtet, wenn sich die Erlangung der Matura verzögert, obwohl das Gymnasium klar der schulischen und nicht der beruflichen Ausbildung zuzurechnen ist (vgl. Jürg Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung, Bern 2000, Art. 30 N 7). Der Vergleich mit dieser Regelung (andere Sozialversicherungszweige kennen keine wesensähnliche Entschädigungen) spricht ebenfalls für eine Berücksichtigung von gesundheitsbedingten Verzögerungen der schulischen Ausbildung. Die bei der systematischen Interpretation zu berücksichtigende Einschränkung, dass vor der Vollendung des 18. Altersjahres kein Anspruch auf ein Taggeld bestehe (Art. 22 Abs. 4 IVG), bedeutet sodann nicht, dass vor der Vollendung des 18. Altersjahres eingetretene Verzögerungen der Ausbildung und damit des Ausbildungsabschlusses nicht zu berücksichtigen seien. Ansonsten müsste nämlich auch ein gesundheitsbedingter Abbruch der Berufslehre im ersten zweiten Lehrjahr in aller Regel unberücksichtigt bleiben, weil sich junge Erwachsene, die das 18. Altersjahr vollenden, in der Regel bereits im dritten Lehrjahr befinden. Gemeint ist mit Art. 22 Abs. 4 IVG vielmehr, dass der Anspruch an sich nicht vor der Vollendung des 18. Altersjahres entstehen soll. Die systematische Auslegung führt also zusammenfassend ebenso wie die grammatikalische und die teleologische Interpretation zum Ergebnis, dass auch Verzögerungen der schulischen Ausbildung berücksichtigt werden müssen. Einzig die historische Auslegung führt – fraglich – zu einem anderen Ergebnis: In seiner Botschaft zur 2. IV-Revision, mit welcher der Taggeldanspruch für Versicherte in erstmaliger beruflicher Ausbildung geschaffen worden ist, hat der Bundesrat augenscheinlich bloss Verzögerungen der beruflichen Ausbildung im Blick gehabt (vgl. BBl 1985 I 42 ff.). So heisst es etwa, die bestehende Regelung sei unbefriedigend, weil sie der Situation der Versicherten, die „invaliditätsbedingt eine Lehre abbrechen und eine neue (erstmalige) berufliche Ausbildung beginnen müssen, nicht gerecht wird“ (BBl 1985 I 42). Die ausschliessliche Bezugnahme auf Verzögerungen der beruflichen Ausbildungen bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass der Gesetzgeber Verzögerungen
der schulischen Ausbildung nicht hätte Rechnung tragen wollen. Genauso gut liesse sich nämlich die Auffassung vertreten, er habe die seltenen Fälle, in denen eine Ver zögerung der schulischen Ausbildung ebenfalls zu einem verspäteten Eintritt ins Er werbsleben führt, übersehen. Die fehlende Erwähnung von schulischen Verzögerungen in den Gesetzesmaterialien spricht also nicht gegen deren Berücksichtigung.
Gesamthaft spricht eine umfassende Auslegung des Art. 23 Abs. 2 IVG jedenfalls klar für eine Berücksichtigung gesundheitsbedingter Verzögerungen auch bei der schulischen Ausbildung.
Die Argumentation der Beschwerdegegnerin, die Dauer der schulischen Ausbildung könne aufgrund verschiedener Faktoren auch bei Gesunden variieren, überzeugt nicht, weil auch die Dauer einer beruflichen Erstausbildung unterschiedlich ausfallen kann und dennoch auf einen Regelfall (nämlich eine dreijährige Berufslehre unmittelbar nach Schulabschluss) abgestellt wird, sofern nicht eine effektiv begonnene Berufslehre gesundheitsbedingt abgebrochen werden musste. Weshalb bezüglich der schulischen Ausbildung nicht auf einen Regelfall abgestellt werden soll, während bezüglich der beruflichen Ausbildung jeweils ohne Weiteres ein Regelfall zum Vergleich herangezogen wird, leuchtet nicht ein. Ebenfalls nicht überzeugend sind die Ausführungen der Beschwerdegegnerin zu den psychosozialen Umständen, denn es ist in den Akten deutlich ausgewiesen, dass diese schon seit der frühesten Kindheit zu einer schweren Störung der Persönlichkeitsentwicklung geführt haben, die Krankheitswert hat. Worauf eine Gesundheitsbeeinträchtigung (mit eigenständigem Krankheitswert) zurückzuführen ist, ist für die Invalidenversicherung als finale Versicherung irrelevant. Entscheidend ist, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bewiesen ist, dass die Beschwerdeführerin (zumindest auch) gesundheitsbedingt nicht in der Lage gewesen ist, ihre schulische Ausbildung innerhalb der Regeldauer von neun Jahren abzuschliessen. Da ein im August 2000 eingeschultes Kind im Regelfall die obligatorische Schulzeit im Juli 2009 und eine Berufslehre dementsprechend im Juli 2012 abgeschlossen hätte, hat die im August 2000 eingeschulte Beschwerdeführerin diese Voraussetzung für die Ausrichtung eines dem höheren Ansatz des „kleinen“ Taggeldes entsprechenden Taggeldes ab August 2012 erfüllt. Da sie das 20. Altersjahr aber erst im Oktober 2013 vollendet hat, hat sie erst ab Oktober 2013 einen Anspruch auf ein dem höheren Ansatz des „kleinen“ Taggeldes entsprechenden Taggeld gehabt. Die beiden angefochtenen Verfügungen erweisen sich also insofern als rechtswidrig, als die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin für den Zeitraum von Oktober 2013 bis und mit Dezember 2014 bloss den niedrigeren Ansatz des „kleinen“
Taggeldes zugesprochen hat
3. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde sind die beiden Verfügungen vom
24. Mai und 20. Dezember 2013 also aufzuheben. Die Beschwerdeführerin hat ab dem
1. Oktober 2013 einen Anspruch auf ein Taggeld von 103,80 Franken. Die gemäss
Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und angesichts des durchschnittlichen Aufwandes auf 600 Franken festzusetzenden Gerichtskosten hat die unterliegende Beschwerdegegnerin zu bezahlen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine angesichts des unterdurchschnittlichen Aufwandes ihres Rechtsvertreters reduzierte pauschale Parteientschädigung von 2’500 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) auszurichten.
Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:
Die Verfügungen vom 24. Mai 2013 und vom 20. Dezember 2013 werden aufge
hoben; die Beschwerdeführerin hat ab dem 1. August 2013 bis 30. September 2013 Anspruch auf ein Taggeld von Fr. 34.60 und ab dem 1. Oktober 2013 Anspruch auf ein Taggeld von Fr. 103.80.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- zu bezahlen; der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-- zurückerstattet.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 2’500.-- zu bezahlen.
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