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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2012/168)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:IV 2012/168
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2012/168 vom 30.04.2014 (SG)
Datum:30.04.2014
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 28 IVG. Invalidenrente bei Neurasthenie. Eine Neurasthenie gilt gemäss Rechtsprechung grundsätzlich als überwindbar. Die Kriterien für die ausnahmsweise Annahme einer invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit sind nicht erfüllt (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30.April 2014, IV 2012/168).
Zusammenfassung:Die Beschwerdeführerin A. hat sich an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen gewandt, um Leistungen der Invalidenversicherung zu erhalten. Nach verschiedenen ärztlichen Untersuchungen und Gutachten wurde festgestellt, dass sie unter anderem an einer Neurasthenie und einer Persönlichkeitsstörung leidet, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von 60 % führen. Die IV-Stelle lehnte das Rentengesuch ab, woraufhin A. Beschwerde einreichte. Nach verschiedenen Stellungnahmen und Gutachten wurde entschieden, dass die Beschwerde abgewiesen wird, da keine rechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Die Gerichtskosten von CHF 600 sind von A. zu tragen, und die Beschwerdegegnerin muss A. eine Parteientschädigung von CHF 1'750 zahlen.
Schlagwörter: ähig; Arbeitsfähigkeit; Neurasthenie; Persönlichkeitsstörung; Einschränkung; Arbeitsunfähigkeit; Beschwerden; Haushalt; Rente; Logopädin; Gutachter; Krankheit; Verfügung; Behandlung; Invalidität; Gericht; Gallen; Sicht; Symptomatik; Gutachten; Faktor; IV-Stelle; Störung; ädische
Rechtsnorm: Art. 66 BGG ;
Referenz BGE:125 V 261; 125 V 351; 130 V 352; 139 V 565;
Kommentar:
-
Entscheid
Entscheid Versicherungsgericht, 30.04.2014

Vizepräsidentin Marie-Theres Rüegg Haltinner, Versicherungsrichterinnen Karin Huber- Studerus und Marie Löhrer; Gerichtsschreiber Jürg Schutzbach

Entscheid vom 30. April 2014

in Sachen

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Markus Joos, Marktplatz 4, Postfach 646, 9004 St. Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

betreffend

Rente Sachverhalt: A.

    1. A. meldete sich am 21. November 2009 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an (berufliche Massnahmen). Sie gab an, sie leide akut unter einem Erschöpfungssyndrom mit Panikattacken, einer Schlafstörung, Nesselfieber, Ekzemen, Schmerzen beim Gehen, Schmerzen in Nacken und Schultern sowie an chronischen Luftwegserkrankungen, Depressionen und Ängsten [act. G 6.1/9]). Gegenüber dem RAD der IV-Stelle St. Gallen gab der behandelnde Dr. med. B. , FMH Psychiatrie und Psychotherapie, am 3. Dezember 2009 an, die Versicherte leide an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (F60.8) sowie einer rezidivierenden depressiven Störung. Es bestehe seit 4. Mai 2009 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Logopädin beim Schulamt der Stadt Z. mit Schulhausabklärungen, gutachterlicher Tätigkeit, Gruppengesprächen, Konzeptarbeiten, grösseren Teamsitzungen und Vorträgen. Einzeltherapien als Logopädin Tätigkeiten, die dem Ausbildungsstand der Versicherten entsprechen unter Vermeidung der genannten Tätigkeitsbereiche, seien der Versicherten zu mindestens 50 % zumutbar (act. G 6.1/23). Dr. med. C. , Spezialarzt FMH für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, gab gegenüber dem RAD sodann am

      4. Februar 2010 zu Protokoll, im Januar 2009 sei eine Infiltrationstherapie an der LWS mit anschliessender Besserung der Beschwerden durchgeführt worden. Ein 2008 gemachtes MRT habe multietagere Bandscheibenveränderungen ohne neurale Kontakte gezeigt. Aus chirurgisch-orthopädischer Sicht spreche nichts gegen einen sofortigen Beginn der Wiedereingliederung (act. G 6.1/25). Nachdem sich die Versicherte in der angestammten Tätigkeit nicht mehr arbeitsfähig gesehen und die Rentenprüfung verlangt hatte, schloss die IV-Stelle St. Gallen die Bemühungen um den Arbeitsplatzerhalt und die Prüfung weiterer beruflicher Massnahmen mit Verfügung vom 25. Mai 2010 ab (act. G 6.1/34).

    2. Am 25. Mai 2010 stellte die IV-Stelle der Versicherten - diese arbeitete bis zur Arbeitsunfähigkeit im Mai 2009 als Logopädin bei der Stadt Z. in einem rund 70 %-

      Pensum (act. G 6.1/21) - den Fragebogen zur Rentenabklärung betreffend Erwerbstätigkeit/Haushalt zu, den die Versicherte am 4. Juni 2010 ausfüllte (act. G 6.1/37). Im Arztbericht vom 1. Oktober 2010 diagnostizierte Dr. B. eine rezidivierende depressive Störung (F33.0/33.1/33.2) seit spätestens 1994, eine Panikstörung (F41.0) ebenfalls seit 1994, eine Persönlichkeitsstörung,

      differentialdiagnostisch narzisstisch (F60.8) gar Borderline-Typus (F60.31) seit dem frühen Erwachsenenalter, multiple psychosomatische Krankheiten, teils mit fulminanter objektivierbarer Symptomatik (F54). Bei Wiederaufnahme der Behandlung im April 2009 hätten zudem ein Ekzem, eine Urtikaria, ein Colon irritabile, Stuhlretention, Enuresis, ein generalisiertes Schmerzsyndrom, eine lokalisierte Schmerzstörung, massive Müdigkeit sowie Schwindel bestanden. In der angestammten Tätigkeit bestehe eine fragliche Motivation sowie eine fragliche Zumutbarkeit gegenüber Kindern. Es bestehe eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit unbestimmten Ausmasses (act. G 6.1/41.2 ff.).

    3. Am 28. Oktober 2010 wurde der Versicherten mitgeteilt, es sei eine medizinische Abklärung notwendig (act. G 6.1/46). Diese wurde am 13. Dezember 2010 durch

      Dr. med. C. , Spezialarzt FMH für Innere Medizin, speziell Rheumaerkrankungen, und durch Dr. med. D. , Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie,

      durchgeführt. Im psychiatrischen Teilgutachten vom 18. Dezember 2010 diagnostizierte Dr. D. mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Neurasthenie (F48.0), bestehend seit spätestens Frühjahr 2009, sowie eine Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Zügen (F60.4), bestehend seit dem Erwachsenenalter. Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit diagnostizierte Dr. D. eine rezidivierende depressive Störung,

      aktuell weitgehend remittiert (F33.4), bestehend seit spätestens 1994, eine Panikstörung, weitgehend remittiert (F41.0), ebenfalls seit spätestens 1994, sowie psychologische Faktoren bei psychosomatischen Krankheiten (F54.0) seit spätestens Frühjahr 2009 (Ekzem, Urtikaria, Colon irritabile, Stuhlretention, Enuresis [act.

      G 6.1/50.8]). Dr. C. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 19. Januar 2011 mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine Schmerzverarbeitungsstörung mit Schonverhalten bei/mit leichter skoliotischer Fehlhaltung der LWS bei geringem Beckenhochstand links, medialen Bandscheibenprotrusionen L3/4 und L4/5 ohne neurale Kompression sowie anamnestisch rezidivierenden Lumbalgien. Ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit diagnostizierte er unter anderem respiratorische Infekte, anamnestisch mit begleitender

      Heiserkeit (Tätigkeit als Sopranistin verhindernd), neurovegetative Beschwerden bei Neurasthenie sowie eine anamnestische Ekzemneigung (act. G 6.1/51.6). In der Konsensbeurteilung kamen die Gutachter zum Schluss, bei der Versicherten bestehe aus somatischer Sicht keine Erkrankung mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, insbesondere in derjenigen einer Logopädin. In psychiatrischer Hinsicht bestehe das Vollbild einer Neurasthenie mit unter recht hochdosiger Medikation (Cipralex) kaum mehr manifester depressiver Symptomatik. In der angestammten Tätigkeit als Logopädin (was auch einer adaptierten Tätigkeit entspreche) bestehe eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit von 60 % seit Mai 2009. Damit seien "einfache" logopädische Behandlungen von 2 Stunden täglich noch zumutbar, wobei auch eine selbstständige, frei einteilbare logopädische Tätigkeit in gleichem Ausmass zumutbar wäre (act.

      G 6.1/51.10 f.).

    4. Am 21. März 2011 fand eine Haushaltsabklärung statt. Diese ergab eine Einschränkung von 22,6 % (act. G 6.1/60.16). Die Gutachter nahmen dazu am 3. Juli 2011 und am 11. Juli 2011 Stellung. Dabei geht Dr. C. davon aus, dass aus rheumatologischer Sicht eine volle Arbeitsfähigkeit im Haushalt bestehe (act. G 6.1/65). Dr. D. erklärte die ermittelte Einschränkung im Haushalt aus psychiatrischer Sicht für plausibel (act. G 6.1/72). Ebenso kam der RAD zum Schluss, dass auf das Gutachten und auf die Haushaltsabklärung abgestellt werden kann (mit der Korrektur, dass 40 % Arbeitsfähigkeit 3,2 Stunden täglich entspreche [act. G 6.1/73.2]). Mit Vorbescheid vom 24. Januar 2012 stellte die IV-Stelle St. Gallen der Versicherten die Abweisung des Rentengesuchs bei einem Invaliditätsgrad von 37 % in Aussicht (act.

G 6.1/76). Trotz dagegen gerichtetem Einwand vom 29. Februar 2012 verfügte die IV- Stelle am 29. März 2012 wie angekündigt (act. G 6.1/80 und 81).

B.

    1. Gegen diese Verfügung richtet sich die vorliegende Beschwerde vom 8. Mai 2012 mit dem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Der Beschwerdeführerin sei sodann eine halbe Rente, eventuell eine Viertelsrente, zuzusprechen. Zwar werde die in Prozent ausgedrückte Arbeitsunfähigkeit von 60 % grundsätzlich anerkannt. Diese sei aber in Lektionen ausgedrückt nicht zutreffend. Das Wochenpensum der Beschwerdeführerin habe 21 von 29 Lektionen, mithin 72,4 % und die

      Haushaltstätigkeit somit 27,6 % betragen. Zwei logopädische Therapiestunden pro Tag ergäben ein Wochenpensum von 10 Lektionen, was bezogen auf das Vollpensum von 29 Lektionen ein noch zumutbares Pensum von 34,5 % ergeben würde. Weiter sei zu berücksichtigen, dass sich die Nebentätigkeiten (Administration, Organisation der Therapielektionen mit Kindergärtnerinnen, Lehrpersonen und Eltern, interne Organisation mit Kolleginnen und Vorgesetzten usw.) nicht proportional zur Höhe des Pensums veränderten. Die Beschwerdegegnerin habe sich sodann darüber hinweg gesetzt, dass die Beschwerdeführerin nicht nur zeitlich, sondern auch fachlich eingeschränkt sei. Es sei deshalb unhaltbar, das Invalideneinkommen einer fachlich begrenzt einsetzbaren Logopädin mit dem Valideneinkommen einer hochqualifizierten Logopädin gleichzusetzen. Insgesamt sei von einem (gewichteten) Invaliditätsgrad in der erwerblichen Tätigkeit von 46,54 % auszugehen. Bei der Berechnung der Einschränkung im Haushalt sei nicht nachvollziehbar, dass dem Ehegatten eine Schadenminderungspflicht auferlegt werde. Zudem habe die Beschwerdeführerin vor Eintritt der Invalidität eine Haushaltshilfe beschäftigt. Die Einschränkung betrage

      39,2 % bzw. gewichtet 10,8 %. Der Gesamtinvaliditätsgrad betrage damit 55,6 % (richtig: 57,34 %). Berücksichtige man zusätzlich, dass die Beschwerdeführerin bereits ihre Erwerbstätigkeit als Gesangslehrerin krankheitsbedingt habe aufgeben müssen, mache ihr Invaliditätsgrad über 60 % aus. Ohne Erkrankung von 1994 und 1998 hätte sie 100 % gearbeitet (act. G 1).

    2. Mit Beschwerdeantwort vom 27. August 2012 beantragt die Verwaltung Abweisung der Beschwerde. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, entgegen den Ausführungen in der angefochtenen Verfügung bestehe weder im Erwerb noch im Haushalt eine Invalidität. Vielmehr sei eine Neurasthenie vermutungsweise überwindbar, nachdem vorliegend die Kriterien für eine ausnahmsweise Unüberwindbarkeit nicht erfüllt seien (act. G 6).

    3. Mit Replik vom 2. November 2012 macht die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, die Gutachter erachteten die Arbeitsunfähigkeit als überwindbar, soweit sie auf die Neurasthenie zurückzuführen sei, nicht aber, soweit sie auf den komorbiden Faktor der Persönlichkeitsstörung zurückzuführen sei (act. G 10).

    4. Mit Duplik vom 22. November 2012 macht die Beschwerdegegnerin geltend, gemäss gutachterlicher Feststellung stehe bezüglich Arbeitsunfähigkeit die neurasthenische Symptomatik im Vordergrund. Die Frage, inwieweit eine Arbeitsunfähigkeit aus medizinisch-psychiatrischer Sicht als invalidisierend im rechtlichen Sinn anzuerkennen sei, beurteile sich somit nach der mit BGE 130 V 352 begründeten Rechtsprechung. Zudem seien gemäss Definition in der ICD-Klassifikation die Voraussetzungen für die Annahme einer histrionischen Persönlichkeitsstörung nicht erfüllt, was gegen das Vorliegen einer von der Neurasthenie losgelösten Persönlichkeitsstörung von erheblicher Ausprägung und Intensität spreche (act. G 12).

Erwägungen:

1.

    1. Als Invalidität gilt gemäss Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) die voraussichtlich bleibende

      oder länger dauernde ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit. Nach Abs. 3 derselben Bestimmung gelten Volljährige, die vor der Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen psychischen Gesundheit nicht erwerbstätig waren und denen eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann, als invalid, wenn eine Unmöglichkeit vorliegt, sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen. Nach Art. 28 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) hat die versicherte Person Anspruch auf eine ganze Rente, wenn sie mindestens zu 70%, auf eine Dreiviertelsrente, wenn sie mindestens zu 60%, auf eine halbe Rente, wenn sie mindestens zu 50% auf eine Viertelsrente, wenn sie mindestens zu 40% invalid ist.

    2. Um das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit beurteilen und somit den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist (BGE 125 V 261 E. 4). Das Gericht hat den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen und

demnach zu prüfen, ob die vorliegenden Beweismittel eine zuverlässige Beurteilung des strittigen Leistungsanspruchs gestatten. Die Rechtsprechung hat es mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 125 V 351 E. 3b).

2.

    1. Vorliegend ist die medizinische Beurteilung durch die Gutachter Dres. C. und D. nicht umstritten. Die Beschwerdeführerin anerkennt grundsätzlich auch die gutachterliche Schlussfolgerung, wonach eine (medizinisch-theoretische) Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit von 60 % bestehe. Demgegenüber geht die Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren neuerdings davon aus, die diagnostizierten Leiden vermöchten keine invalidisierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken. Bestritten wird von der Beschwerdeführerin dagegen die erwerbliche Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit im genannten Umfang. Mithin ist zunächst festzustellen, ob die Beschwerdeführerin ein invalidisierendes Leiden geltend machen kann.

    2. Gemäss bidisziplinärem Gutachten vom 19. Januar 2011 leidet die Beschwerdeführerin seit Mai 2009 an einer Neurasthenie (F48.0), seit dem Erwachsenenalter an einer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Zügen (F60.4), an einer Schmerzverarbeitungsstörung mit Schonverhalten bei/mit leichter skoliotischer Fehlhaltung der LWS bei geringem Beckenhochstand links, medialen Bandscheibenprotrusionen L3/4 und L4/5 ohne neurale Kompression sowie anamnestisch rezidivierenden Lumbalgien (M54.9, M51.3 [act. G 6.1/51.9]). Nachdem es sich sowohl bei der Neurasthenie als auch bei der Schmerzverarbeitungsstörung um pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage handelt, ist mit der Beschwerdegegnerin in Anwendung der einschlägigen Rechtsprechung (BGE 130 V 352; 131 V 49; Entscheid des

      Bundesgerichts vom 28. April 2010 [9C_98/2010] E. 2.2.2; BGE 139 V 565 f. E. 9.1) grundsätzlich von der Überwindbarkeit der vorhandenen Beschwerden auszugehen. Zu prüfen ist, ob vorliegend ausnahmsweise eine invalidisierende Wirkung der geltend gemachten Beschwerden angenommen werden kann. Zum Vorliegen der sogenannten

      Foerster-Kriterien nahm der psychiatrische Gutachter Stellung. Dazu führte er aus, dass sich zur Zeit keine relevante Depression finde, dass hingegen depressive Phasen und die Neigung, depressiv zu dekompensieren, bekannt seien. Eine schwere körperliche Begleiterkrankung bestehe nicht, hingegen seien vielfältige psychosomatische Beschwerden und die Neigung gegeben, unter Stress psychosomatisch zu dekompensieren. Der Krankheitsverlauf habe im Zeitpunkt des Gutachtens eindreiviertel Jahre gedauert, bezüglich der Depressivität sei es zu einer relativen Besserung gekommen. Ein sozialer Rückzug habe teilweise stattgefunden, eine Flucht in die Krankheit sei zumindest nicht auszuschliessen und eine ambulante psychiatrische Behandlung werde seit gut anderthalb Jahren wieder durchgeführt. Die beschriebene Persönlichkeitsstörung könne als weiterer psychischer komorbider Faktor betrachtet werden, da Anpassungs- und Teamfähigkeit sowie adäquate Konfliktbewältigung dadurch behindert seien. In Anbetracht all dieser Faktoren gäbe es doch deutliche Hindernisse, die einer Überwindung der Beschwerden im Wege ständen, allerdings seien diese nicht absoluter Natur. Es sei eine dauerhafte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 60 % gegeben (act. G 6.1/50.9 f.).

    3. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass selbst gemäss psychiatrischem Experten momentan nicht von einem relevanten depressiven Geschehen auszugehen ist. Demgemäss ist die anamnestisch bekannte Depression unter medikamentöser Behandlung weitgehend remittiert. Eine anhaltende Depressivität wurde auch von der Beschwerdeführerin in der Untersuchung nicht angegeben (act. G 6.1/50.9). An anderer Stelle geht Dr. D. davon aus, dass unter Umständen schon bei den früheren Krankheitsphasen eine Neurasthenie anstelle einer Depression hätte diagnostiziert werden können (act. G 6.1/50.10). Auch die anamnestische Panikstörung (F41.0) war zum Untersuchungszeitpunkt weitgehend remittiert (act. G 6.1/50.8). Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann eine psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer auch nicht in der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung erblickt werden. Insbesondere trifft nicht zu, dass der psychiatrische Gutachter, bzw. die Gutachter in der interdisziplinären Besprechung, die postulierte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 60 % allein mit der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung begründet hätten. Zwar bezeichnet Dr. D. diese als psychisch komorbiden Faktor, dem er "in Anbetracht all dieser Faktoren", also auch den zuvor aufgezählten, mit der Neurasthenie zusammenhängenden, eine Wirkung auf

die Arbeitsfähigkeit im Umfang von 60 % zubilligt. Indessen geht er selber davon aus, dass bezüglich Arbeitsfähigkeit die neurasthenische Symptomatik - rasche Erschöpfbarkeit, vermehrtes Erholungsbedürfnis, Unfähigkeit sich zu entspannen, verminderte Konzentrationsfähigkeit, Ablenkbarkeit, Ineffizienz - ganz im Vordergrund stehe. Er geht weiter davon aus, dass die gesamte Symptomatik der Beschwerdeführerin dem klassischen Vollbild einer Neurasthenie entspreche. Dazu erwähnt Dr. D. explizit, dass die seiner Ansicht nach (im Untersuchungszeitpunkt) immerhin bestehenden Hindernisse für die Überwindung der Beschwerden nicht absoluter Natur, mithin also veränderlich eben letztlich doch überwindbar sind. Jedenfalls erhält die Diagnose der Persönlichkeitsstörung in der psychiatrischen Beurteilung von Dr. D. kein eigenständiges Gewicht neben jener der Neurasthenie (act. G 6.1/50.8 ff.). Im Übrigen ist mit der Beschwerdegegnerin festzustellen, dass die Beschwerdeführerin trotz dieser seit dem (frühen) Erwachsenenalter bestehenden Störung zwei Ausbildungen (Logopädiestudium, Gesangsstudium) sowie eine Vielzahl von Weiterbildungen [act. G 6.1/7 und 8]) absolvieren konnte und auch auf ihren Berufen gearbeitet hat. Somit ist nicht von einer schwerwiegenden psychischen Komorbidität (auch nicht der Persönlichkeitsstörung) auszugehen. Entgegen der Ansicht von Dr. D. reichen auch die übrigen von ihm aufgeführten Umstände nicht aus, um ausnahmsweise eine invalidisierende Arbeitsunfähigkeit in erheblichem Ausmass zu begründen. So bestehen gemäss seinen Ausführungen keine eigentlichen körperlichen Krankheiten, wenngleich vielfältige psychosomatische Beschwerden ge­ geben sind, wie die Neigung, unter Stress psychosomatisch zu dekompensieren (act. G 6.1/50.9 f.). Auch der rheumatologische Gutachter konnte aus somatischer Sicht keine Erkrankung mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, insbesondere jener einer Logopädin, erkennen. Es fanden sich lediglich diskrete degenerative Abnützungs­ erscheinungen an der Lendenwirbelsäule (act. G 6.1/51.6 und 51.9). Eine Flucht in die Krankheit ist ebenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgewiesen. Des weiteren kann - selbst unter Anerkennung der in Bezug auf Neurasthenien nur beschränkten Therapiemöglichkeiten - nicht von einer Ausschöpfung der möglichen psychotherapeutischen Massnahmen resp. vom Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person ausgegangen werden. So schlägt Dr. D. die Fortführung der laufenden Behandlung

bei Dr. B. vor (act. G 6.1/50.10). Dieser selbst schlug in seinem Bericht vom 26. August 2010 eine stationäre Psychotherapie in einer auf Borderline-Störungen/ Essstörungen/Psychosomatik spezialisierten Klinik vor, wobei auch er auf die begrenzten Behandlungsmöglichkeiten hinwies (act. G 6.1/80.9). Ein gewisser sozialer Rückzug mag stattgefunden haben, insbesondere natürlich im beruflichen Umfeld. Gemäss psychiatrischem Gutachten pflegt die Beschwerdeführerin aber Kontakte mit einigen guten Freundinnen, die sie ab und zu zum Mittagessen trifft. Zudem geht die Beschwerdeführerin zusammen mit ihrem Ehemann gelegentlich in die Oper an ein Konzert (act. G 6.1/50.6). Es kann somit nicht von einem sozialen Rückzug in sämtlichen Belangen des Lebens gesprochen werden. Ein chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter progredienter Symptomatik ohne länger dauernde Rückbildung lässt sich ebenfalls nicht genügend belegen. Dr. D. geht von einer Dauer der neurasthenischen Beschwerden von eindreiviertel Jahren aus (seit Frühjahr 2009), wobei es bezüglich Depressivität zu einer relativen Besserung gekommen sei (act. G 6.1/50.10). Selbst wenn, würde dieser Umstand iv-rechtlich allein nicht ausreichen, um eine Arbeitsunfähigkeit von 60 % in der adaptierten Tätigkeit zu begründen (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 28. April 2010 [9C_98/2010] E. 2.2.2). Die von der Beschwerdeführerin angegebenen Zustände vermehrter Müdigkeit, rascher Erschöpfbarkeit nach geistigen Anstrengungen mit

abnehmender Arbeitsleistung, verminderter Effizienz, selbst bei Bewältigung alltäglicher Aufgaben, mit unangenehmem Eindringen von ablenkenden Gedankengängen, Konzentrationsschwäche und allgemeiner Unsicherheit sind damit mangels rechtserheblichem (psychischem) Gesundheitsschaden nicht versichert. Dies gilt auch für den Aufgabenbereich. Diesbezüglich begründete die Beschwerdeführerin die Einschränkungen im Wesentlichen mit den diversen Schmerzen am Bewegungsapparat (act. G 6.1/60.10). Nachdem diese jedoch gemäss den Angaben von Dr. C. vom

  1. Juli 2011 nicht im geltend gemachten Umfang plausibilisiert werden können (act.

    G 6.1/65) und auch Dr. D. die ermittelte Einschränkung von (lediglich) 22,56 % aus neurasthenischen Gründen als plausibel erachtet (act. G 6.1/72), ist auch im Aufgabenbereich nicht von einer rechtlich relevanten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit auszugehen. Mithin kann auch das Ausmass der Mitwirkungspflicht des Ehemannes offen

    gelassen werden.

    3.

    1. Im Ergebnis ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang hat grundsätzlich die Beschwerdeführerin die Kostenfolgen zu tragen. Indessen ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdegegnerin die relevante Verneinung eines invalidisierenden Gesundheitsschadens erst im vorliegenden Beschwerdeverfahren vorgebracht hat, wenngleich sie auch in der angefochtenen Verfügung von einer Abweisung des Rentengesuchs mit anderer Begründung ausgegangen ist. Die Beschwerdeführerin hätte zwar auch bei richtiger Begründung der Verfügung Beschwerde erheben müssen, um die beantragten Leistungen der Invalidenversicherung zu erhalten. Indessen hätte sie in diesem Fall die nunmehr erst in der Replik abgegebene Stellungnahme betreffend die Frage der Überwindbarkeit bereits in der Beschwerde vorbringen können. Durch das widersprüchliche Verhalten der Beschwerdegegnerin ist der Beschwerdeführerin ein unnötiger Zusatzaufwand entstanden, der von der Beschwerdegegnerin zu entschädigen ist. Es rechtfertigt sich somit, die Kosten der Rechtsvertretung trotz Obsiegens zur Hälfte der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Hätte die Beschwerdeführerin vollständig obsiegt, wäre praxisgemäss von einer mittleren Parteientschädigung von Fr. 3'500.-- (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) auszugehen. Dementsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Beschwerdeführerin mit Fr. 1'750.-- (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen (vgl. Entscheid des Bundesgerichts vom

      2. Dezember 2013 8C_139/2013] E. 3 mit Hinweis auf Art. 66 Abs. 3 BGG).

    2. Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Ver­ fahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.-- bis

Fr. 1'000.-- festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.--

erscheint bei dem vorliegenden durchschnittlichen Beurteilungsaufwand angemessen. Der unterliegenden Beschwerdeführerin sind die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 600.-- aufzuerlegen (vgl. Art. 95 Abs. 1 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege [VRP/ sGS 951.1]). Mit dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 600.-- sind die Gerichtskosten beglichen.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

entschieden:

  1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

  2. Die Beschwerdeführerin hat eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.-- zu bezahlen.

    Diese ist mit dem in gleicher Höhe geleisteten Kostenvorschuss beglichen.

  3. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 1'750.-- (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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