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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2011/80)

Zusammenfassung des Urteils IV 2011/80: Versicherungsgericht

Die CSS Krankenversicherung AG hat Beschwerde gegen die IV-Stelle des Kantons St. Gallen eingereicht, da diese sich weigerte, die Kosten für die medikamentöse Therapie eines Versicherten zu übernehmen. Es geht um die Frage, ob die Medikamente Teil der Behandlung sind, die die Eingliederungsfähigkeit des Versicherten verbessern. Das Versicherungsgericht entschied, dass die Kosten für die Medikamente ab dem 1. Januar 2007 von der Beschwerdegegnerin zu tragen sind. Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 600.- muss die Beschwerdegegnerin tragen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2011/80

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2011/80
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2011/80 vom 24.08.2011 (SG)
Datum:24.08.2011
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 12 Abs. 1 IVG; Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG. Die IV hat die einem an einer Zwangsstörung erkrankten Kind im Rahmen der Psychotherapie verschriebenen Medikamente (Risperdal und Zoloft) zu übernehmen (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. August 2011, IV 2011/80).
Schlagwörter: Behandlung; Psychotherapie; IV-act; Medikamente; Massnahme; Leiden; Massnahmen; Leidens; Eingliederung; Leistung; Therapie; Versicherung; Erwerbsfähigkeit; Recht; Verfügung; Krankenversicherung; Anspruch; IV-Stelle; Ausbildung; Berufs; Risperdal; Altersjahr; Medikation; Kostengutsprache; Kostenübernahme
Rechtsnorm: Art. 24 ATSG ;Art. 48 ATSG ;Art. 49 ATSG ;Art. 8 ATSG ;
Referenz BGE:105 V 20; 126 V 149; 131 V 425;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2011/80

Entscheid Versicherungsgericht, 24.08.2011

Vizepräsidentin Miriam Lendfers, Versicherungsrichterinnen Karin Huber-Studerus und Monika Gehrer-Hug; Gerichtsschreiber Matthias Burri

Entscheid vom 24. August 2011

in Sachen

CSS Kranken-Versicherung AG, Recht & Compliance, Tribschenstrasse 21, Postfach 2568, 6002 Luzern,

Beschwerdeführerin, und

A. ,

Beigeladener, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin, betreffend

medizinische Massnahmen (Medikation) für A.

Sachverhalt:

A.

    1. A. , geboren 1992, wurde im Juni 2006 unter Hinweis auf eine ausgeprägte Zwangssymptomatik zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 1). Mit Verfügung vom 15. September 2006 bewilligte ihm die IV-Stelle ab

      14. August 2006 bis Ende Schuljahr 2007/2008 interne Sonderbeschulung (IV-act. 24). Für denselben Zeitraum gewährte sie am 3. Oktober 2006 Kostengutsprache für ambulante Psychotherapie (IV-act. 27). Diese verlängerte sie am 5. September 2008 bis

      31. Juli 2010 (IV-act. 42). Am 22. Juli 2009 erteilte sie dem Versicherten Kostengutsprache für die erstmalige berufliche Ausbildung im Rahmen einer Anlehre zum Haustechnikpraktiker vom 10. August 2009 bis 9. August 2011 (IV-act. 46). Nach Vollendung des 18. Altersjahres im April 2010 gewährte sie ihm am 16. April 2010 ab

      1. Mai 2010 ein kleines Taggeld (IV-act. 55; siehe auch IV-act. 67). Die behandelnde Psychotherapeutin Dr. med. B. , Fachärztin FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, bezeichnete im Schreiben vom 27. August 2010 die Fortführung der Psychotherapie zur Unterstützung der beruflichen Massnahmen als indiziert (IV- act. 56). Die IV-Stelle verlängerte die entsprechende Kostengutsprache am 6. Oktober 2010 für den Zeitraum 1. August 2010 bis 31. August 2011 (IV-act. 59).

    2. Im Auftrag der CSS Versicherung, der Krankenversicherung des Versicherten, beantragte die IV-Koordination des Schweizerischen Verbandes für Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherer (SVK) bei der IV-Stelle am 26. Oktober 2010 die Übernahme der medikamentösen Therapie (IV-act. 60). Die Krankenversicherung reichte der IV-Stelle zudem am 29. November 2010 einen Rückforderungsbeleg betreffend vom Hausarzt Dr. med. C. im Herbst 2010 erbrachte Leistungen ein (IV-act. 61). Mit Schreiben vom 9. Dezember 2010 teilte die

IV-Stelle der Krankenversicherung unter anderem mit, sie übernehme nur die Kosten

für die Psychotherapie, nicht jene für die Medikamente (IV-act. 62). Unter Berücksichtigung einer Stellungnahme der zuständigen Ärztin des IV-internen Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 14. Dezember 2010 (IV-act. 63) hielt die IV- Stelle gegenüber der SVK am 21. Dezember 2010 zudem fest, dass es sich um eine Behandlung handle, die auch unabhängig von der Psychotherapie und von der schulischen Situation und beruflichen Perspektiven medizinisch indiziert sei (Behandlung des schweren psychiatrischen Leidens an sich). Daher könnten die Kosten nicht übernommen werden (IV-act. 64). Die Krankenversicherung bestand mit Schreiben vom 14. Januar 2011 auf die Kostenübernahme der medikamentösen Therapie mit Risperdal und Zoloft (IV-act. 68), woraufhin die IV-Stelle die Kostenübernahme für Medikamente im Rahmen der Psychotherapie am 21. Januar 2011 verfügungsweise verweigerte (act. G 1.1.1).

B.

    1. Gegen diese Verfügung richtet sich die Beschwerde der Krankenversicherung vom 23. Februar 2011. Sie beantragt unter Kosten- und Entschädigungsfolgen die Aufhebung der Verfügung und die Übernahme der Kosten der im Rahmen der Psychotherapie ärztlich verordneten Medikamente. Gemäss der behandelnden Psychotherapeutin sei eine Kombination aus psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung angezeigt. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die Medikamente seien als zwingender Teil der Behandlung anzusehen. Die Behandlung sei auf die Zeit der Berufsausbildung konzentriert, sodass nicht ernsthaft behauptet werden könne, sie diene lediglich der Therapie des psychischen Leidens selbst. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit sei belegt, dass die Medikamente – zusammen mit

      der Psychotherapie – dem Versicherten gerade dazu dienten, seine Erwerbsfähigkeit zu steigern zumindest vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Sodann liege beim Versicherten auch keine Krankheit vor, die ohne andauernde Behandlung nicht gebessert werden könnte (act. G 1).

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragt in der Beschwerdeantwort vom 18. April 2011 die Abweisung der Beschwerde. Die Behandlung mit den fraglichen Medikamenten geschehe "lediglich" unterstützend und bekämpfe vornehmlich Symptome. Diese hätten sich durch verhaltenstherapeutische Massnahmen offenbar nur sehr geringfügig

      beeinflussen lassen, hätten sich mit der Behandlung durch Risperdal und Zoloft aber gebessert. Ausserdem würden die Zwangsstörungen auch praktisch alle Lebensbereiche beschlagen, so beispielsweise die Wahrnehmung von Freizeitaktivitäten die Sozialkompetenz. Es sei also bei Weitem nicht nur die Ausbildungsfähigkeit betroffen. Bei der medikamentösen Behandlung handle es sich folglich um eine Behandlung, die der Versicherte unabhängig von seiner Ausbildung und den damit zusammenhängenden Anforderungen erhalten müsse (act. G 4).

    3. Die Beschwerdeführerin lässt in der Replik vom 19. Mai 2011 an ihren Anträgen festhalten. Es könne nicht ernsthaft behauptet werden, dass nur die Physiotherapie (gemeint wohl: Psychotherapie) dazu diene, die Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers zu steigern. Vielmehr sei belegt, dass gerade die Medikamente zusammen mit der Psychotherapie dem Versicherten den Einstieg ins Berufsleben erleichtern sollten (act. G 7).

    4. Die Beschwerdegegnerin hielt am 25. Mai 2011 an ihrem Abweisungsantrag fest und verzichtete auf weitere Ausführungen (act. G 9).

    5. Am 26. Mai 2011 wurde der Versicherte zum Prozess beigeladen. Die Frist zur Stellungnahme liess er ungenutzt verstreichen (act. G 10; 11).

Erwägungen:

1.

Gemäss Art. 59 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) ist zur Beschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung Änderung hat. Als Spezialbestimmung regelt Art. 49 Abs. 4 ATSG, dass ein Versicherungsträger eine Verfügung, die die Leistungspflicht eines anderen Trägers berührt, auch ihm zu eröffnen hat, woraufhin dieser dieselben Rechtsmittel ergreifen kann wie die versicherte Person. Die Beschwerdeführerin ist die Krankenversicherung des Versicherten. Verneint die Beschwerdegegnerin ihre Leistungspflicht für die im Rahmen der Psychotherapie verschriebenen Medikamente, so wird die Beschwerdeführerin

diesbezüglich leistungspflichtig. Sie ist von der angefochtenen Verfügung also berührt und demnach zur Beschwerdeführung legitimiert.

2.

Streitig und im vorliegenden Verfahren zu überprüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin die Kosten für die dem Beschwerdeführer verschriebenen Medikamente (Psychopharmaka) zu übernehmen hat. Sollte eine Leistungspflicht bejaht werden, wäre der Leistungsbeginn gesondert zu überprüfen.

3.

    1. Gemäss Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) haben invalide von einer Invalidität bedrohte Versicherte einen Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern (lit. a), und die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind (lit. b). Zu den Eingliederungsmassnahmen gehören unter anderem die medizinischen Massnahmen (Art. 8 Abs. 3 lit. a IVG). Nach Art. 12 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Abs. 1).

    2. Die Einschränkung "bis zum vollendeten 20. Altersjahr" wurde bei im Übrigen unverändertem Wortlaut mit der 5. IV-Revision ab 1. Januar 2008 in Art. 12 Abs. 1 IVG eingefügt. Unter der Geltung von Art. 12 IVG in der bis Ende 2007 gültig gewesenen Fassung durfte sich die medizinische Massnahme bei Erwachsenen nicht auf die Behandlung des Leidens an sich richten. Um eine Behandlung des Leidens an sich gehe es in der Regel bei der Heilung Linderung labilen pathologischen Geschehens, so das Eidg. Versicherungsgericht (EVG; seit 2007: sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts; AHI 2003, 104 E. 2). Die Rechtsprechung kannte von

      dieser Regel jedoch eine Ausnahme für nichterwerbstätige Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr. Diese gelten als invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen psychischen Gesundheit voraussichtlich eine ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 2 ATSG). Nach der vor Inkrafttreten der 5. IV-Revision gültigen Rechtsprechung konnten medizinische Vorkehren bei Jugendlichen deshalb schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der IV übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung die Erwerbsfähigkeit beide beeinträchtigt würden (AHI 2003

      S. 104 E. 2; EVGE I 484/02 vom 27. Oktober 2003 und I 16/03 vom 6. Mai 2003; BGE 105 V 20). Diese Praxis legte aArt. 12 Abs. 1 IVG also in Bezug auf unter 20-Jährige gegen den Wortlaut aus. Die Kosten einer Behandlung von Versicherten vor dem vollendeten 20. Altersjahr wurden von der IV getragen, wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden gar verunmöglichenden stabilen pathologischen Zustand führen konnte. Im Rahmen der 5. IV-Revision sollte Art. 12 IVG nach dem Willen des Bundesrats ersatzlos gestrichen und sämtliche medizinischen Massnahmen sollten bei der Krankenversicherung angesiedelt werden (vgl. Ziff. 1.6.3.2 der Botschaft des Bundesrats vom 22. Juni 2005 zur Änderung des IVG, BBl 2005 4459, 4540 ff.). Das Parlament folgte diesem Vorschlag nicht und sprach sich dafür aus, dass die IV weiterhin bis zum 20. Altersjahr der versicherten Person im Rahmen der beruflichen Eingliederung für die medizinischen Massnahmen aufkommen müsse. Die Praxis, wonach bei Kindern und Jugendlichen selbst bei labilem Leidenscharakter bzw. Behandlung des Leidens an sich medizinische Massnahmen übernommen wurden, wenn ohne diese eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, sollte beibehalten werden (vgl. dazu auch Ulrich Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2010, S. 133 f.). Der seit 1. Januar 2008 in Kraft stehende Art. 12 Abs. 1 IVG ist daher nicht seinem Wortlaut getreu anzuwenden. Der dort festgeschriebene Grundsatz, dass die medizinische Massnahme nicht auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sein darf, wie dies vor Inkrafttreten der 5. IV-Revision praxisgemäss ausschliesslich bei über 20-Jährigen der Fall war, kann folglich nicht ohne weiteres auf unter 20-Jährige

      übertragen werden (vgl. auch die Entscheide IV 2011/62 vom 24. August 2011 und IV 2009/443+457 des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. August 2010, E. 3; letzterer bestätigt durch den Bundesgerichtsentscheid 9C_809/2010 vom

      23. Dezember 2010).

    3. Zur Beantwortung der Frage, ob bei labilen Gesundheitsverhältnissen mittels medizinischer Massnahmen einem Defektzustand vorgebeugt werden kann, welcher die Berufsbildung Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erheblich beeinträchtigen würde, bedarf es im Allgemeinen eines fachärztlichen Berichts, der sich nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die mögliche Verbesserung Erhaltung von Berufs- und Erwerbsfähigkeit begnügen darf, sondern sich auch ausdrücklich zur Prognose zu äussern hat. Ein stabiler Defektzustand kann bereits dann zu befürchten sein, wenn das Gebrechen den Verlauf einer prägenden Phase der Kindesentwicklung derart nachhaltig stört, dass letztlich ein uneinholbarer Entwicklungsrückstand eintritt, der wiederum die Bildungs- und mittelbar auch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt (EVGE

      I 302/05 vom 31. Oktober 2005 E. 3.2.3; bzw. Urteil 8C_269/2010 des Bundesgerichts

      vom 12. August 2010).

    4. Der Leistungsumfang der Invalidenversicherung bezüglich medizinischer Massnahmen ist in Art. 14 IVG geregelt. Gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG umfassen die medizinischen Massnahmen auch die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien. Art. 4bis der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) hält fest, die Versicherung übernehme die Analysen, Arzneimittel und pharmazeutischen Spezialitäten, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt seien und den Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben.

4.

    1. Die Beschwerdegegnerin bezahlt seit 2006 ambulante Psychotherapie für den Versicherten. Gemäss Mitteilung vom 6. Oktober 2010 ist die Kostengutsprache bis

      31. August 2011 befristet (IV-act. 59). Diese Kostenübernahme wird von keiner der Parteien in Frage gestellt. Zu prüfen ist, ob zusätzlich die von der Psychotherapeutin verordneten Medikamente von der Beschwerdegegnerin zu bezahlen sind. Letztere ist

      der Ansicht, nicht leistungspflichtig zu sein, weil die medikamentöse Therapie eine Behandlung darstelle, die auch unabhängig von der Psychotherapie und von der schulischen Situation und beruflichen Perspektive medizinisch indiziert sei (Behandlung des schweren psychiatrischen Leidens an sich).

    2. Nach Lage der Akten nimmt der Versicherte seit mehreren Jahren Medikamente zur Behandlung der Zwangsstörung ein, offenbar Zoloft und Risperdal. Im Bericht der Klinik D. vom 29. August 2006 wurde darauf hingewiesen, dass weder eine Steigerung der Floxyfral-Dosis noch die Umstellung auf Zoloft eine zufriedenstellende Wirkung gebracht hätten. Erst die Umstellung auf Risperdal ab März 2006 habe eine spürbare Verhaltensänderung gebracht. Die Denkstrukturen des Versicherten hätten geordneter geschienen, er habe insgesamt präsenter gewirkt und sei weniger leicht ablenkbar gewesen, jedoch hätten die Zwänge tendenziell eher wieder zugenommen. Daher sei schliesslich mit einer kombinierten Therapie mit Risperdal und Zoloft begonnen worden. Der Versicherte habe dies gut vertragen und insgesamt eine positive Entwicklung gemacht. Es sei ihm häufiger gelungen, alltägliche Verrichtungen in angemessener Zeit zu bewältigen. Vor der Umstellung auf die Kombinationstherapie sei die Beschulung sehr schwierig gewesen, eine Wissensvermittlung im engeren Sinn sei nicht möglich gewesen. Erst nach der medikamentösen Umstellung hätten die schulischen Anforderungen schrittweise gesteigert werden können. Man empfehle dringend regelmässige ambulante Psychotherapie und die längerfristige Fortsetzung der medikamentösen Behandlung (IV-act. 18-3 f.). Am 26. August 2008 informierte Dr. B. darüber, dass der Gesundheitszustand des Versicherten sich unter der Behandlung (Psychotherapie und Medikation) weiter gebessert habe, was jedoch noch nicht ausreiche. Eine Fortsetzung der Behandlung im entsprechenden Setting sei weiterhin dringend angezeigt, insbesondere im Zusammenhang mit der bevorstehenden erstmaligen Berufsausbildung. Die Prognose sei unter einer Fortsetzung der Behandlung weiter besserungsfähig (IV-act. 39-3). Im Bericht vom

      1. Oktober 2010 wies Dr. B. auf einen Rückfall mit vermehrten Zwangshandlungen nach einem Wechsel des Ausbildungsbereichs Anfang 2010 hin. In enger Zusammenarbeit mit der Ausbildungsstelle habe die Situation schliesslich gut aufgefangen werden können (medikamentös, Krisenintervention, danach psychotherapeutisch; IV-act. 57).

    3. Aus den zitierten Berichten ergibt sich, dass Dr. B. die medikamentöse Therapie als Teil ihrer Behandlung der Zwangsstörung betrachtet. Gemäss den Indikationshinweisen im Arzneimittelkompendium der Schweiz sollte die medikamentöse Therapie mit Risperdal denn auch im Rahmen eines integrierten Konzepts mit sozial- und psychotherapeutischen Behandlungen erfolgen. Dass die Medikamenteneinnahme sinnvoll und notwendig ist und grundsätzlich die Kriterien der Einfachheit und Zweckmässigkeit in Bezug auf den angestrebten Eingliederungserfolg erfüllt, bestreitet auch die Beschwerdegegnerin nicht. Die zuständige Ärztin des RAD sieht die medikamentöse Therapie jedoch als eine Behandlung, die auch unabhängig von der Psychotherapie und von der schulischen Situation und beruflichen Perspektive medizinisch indiziert sei. Sie betrachtet die medikamentöse Therapie als eine Behandlung des Leidens an sich (IV-act. 63-2). Dass die Medikamente sich als Teil der Behandlung der Zwangsstörung des Versicherten positiv auf die (berufliche) Eingliederungsfähigkeit auswirken, erscheint jedoch offenkundig und wird durch die Akten hinreichend belegt. So war etwa in der akuten Rückfallsituation im Winter 2010, die sich nach den ersten Lehrmonaten im Nachgang an einen Wechsel des Ausbildungsbereichs einstellte und zu vermehrten Zwangshandlungen führte (die den Versicherten daran hinderten, seiner Arbeit zeitgerecht und adäquat nachzugehen, die auch provozierend wirkten vereinzelt potentiell gefährlich waren), im Rahmen der Krisenintervention eine Anpassung der Medikation notwendig. Erst in einem zweiten Schritt konnte die Problematik psychotherapeutisch angegangen werden (vgl. IV-

act. 57-1 f.). Selbst wenn die Indikation zur Medikamenteneinnahme von der Psychotherapie unabhängig wäre, wäre dies entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin unerheblich. Wie oben erläutert, ist es bei Kindern und Jugendlichen entgegen dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 IVG nicht von Belang, ob eine Behandlung des Leidens an sich bzw. eine Symptombekämpfung erfolgt, solange das Eingliederungsziel im Zentrum steht und durch die Massnahme positiv beeinflusst wird. Dass die Zwangsstörung auch andere Lebensbereiche betrifft als die Berufsausbildung und mit der Behandlung auch diese eine positive Beeinflussung erfahren, ist sicherlich zutreffend, kann aber nicht den Schluss zulassen, dass die Medikation nicht im Rahmen von Art. 12 IVG übernommen werden könnte. Die berufliche Eingliederung kann mit der Psychotherapie allein nicht in ausreichendem Mass begünstigt werden, sondern bedarf ebenso der Medikation. Diese ist im Behandlungsplan notwendiger

Bestandteil und dient durch den damit und mit den Therapien erzielten Erfolg der Eingliederung des Versicherten. Eine günstige Prognose wurde ärztlicherseits gestellt, was von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten wird. Folglich kann auch nicht davon ausgegangen werden, die medikamentöse Behandlung richte sich gegen ein in Bestand und Verlauf nicht zu beeinflussendes Grundleiden. Eine Pflicht zur Kostenübernahme ist daher gestützt auf Art. 12 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG zu bejahen.

5.

    1. Zu prüfen bleibt, ob eine rückwirkende Kostenübernahmepflicht der Beschwerdegegnerin besteht. Die via SVK eingereichte Aufstellung der von der Beschwerdeführerin bezahlten Medikamentenkosten betrifft den Zeitraum 12. August 2008 bis 13. August 2010 (mit Unterbrüchen; IV-act. 60-2). Die Beschwerde enthält den Antrag, es seien "im Rahmen der zugesprochenen Psychotherapie" auch die Medikamentenkosten zu übernehmen. Kostengutsprache für ambulante Psychotherapie wurde nach Lage der Akten erstmals ab 14. August 2006 erteilt (IV-

      act. 27). Zu jener Zeit nahm der Versicherte die Psychopharmaka bereits ein (vgl. IV- act. 18-3).

    2. Der Anspruch auf ausstehende Leistungen erlischt gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG fünf Jahre nach dem Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war. Der im Rahmen der 5. IV-Revision per 1. Januar 2008 aufgehobene Art. 48 IVG sah eine kürzere Verwirkungsfrist vor. Meldete sich eine versicherte Person mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs an, so wurden die Leistungen in Abweichung von Art. 24 Abs. 1 ATSG lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet. Weitergehende Nachzahlungen wurden erbracht, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten nach Kenntnisnahme vornahm.

    3. Nach den allgemeinen übergangsrechtlichen Grundsätzen ist bei Fehlen einer die Frage regelnden Übergangsbestimmung die Verwirkungsordnung des neuen Rechts auf unter dem alten Recht entstandene (fällige) Ansprüche anwendbar, sofern diese bei Inkrafttreten des neuen Rechts noch nicht verwirkt sind (vgl. BGE 131 V 425 E. 5.2).

      Dies bedeutet grundsätzlich, dass in Fällen, bei denen bis zum 1. Januar 2008 – dem Inkrafttreten des neuen Rechts – keine Anmeldung des Anspruchs erfolgt war, ab diesem Zeitpunkt die Verwirkungsfrist von aArt. 48 Abs. 2 IVG nicht mehr anwendbar war. Ab dem 31. Dezember 2007 waren also gestützt auf diese Bestimmung alle Ansprüche verwirkt, die bis zum 1. Januar 2007 entstanden waren. Mit dem Ausserkrafttreten von aArt. 48 Abs. 2 ATSG wurde somit Art. 24 Abs. 1 ATSG sofort anwendbar, d.h. es gilt eine fünfjährige Verwirkungsfrist ab Entstehung des – am

      1. Januar 2008 nach altem Recht noch nicht verwirkten – Anspruchs auf die einzelne Leistung (IV-Rundschreiben des Bundesamts für Sozialversicherungen [BSV] Nr. 300 vom 15. Juli 2011).

    4. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass grundsätzlich die Verwirkungsfrist des Art. 24 Abs. 1 ATSG zur Anwendung gelangt, allerdings die Einjahresfrist nach altem Recht insofern Beachtung findet, als alle Ansprüche am 31. Dezember 2007 verwirkt waren, die bis zum 1. Januar 2007 entstanden waren. Folglich hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin die Kosten für die im Rahmen der Psychotherapie als indiziert bezeichnete medikamentöse Behandlung ab 1. Januar 2007 zu bezahlen. Sie wird sich die effektiv angefallenen Kosten ab diesem Zeitpunkt noch belegen lassen.

6.

    1. Gemäss den vorstehenden Erwägungen ist die Beschwerde unter Aufhebung der Verfügung vom 21. Januar 2011 gutzuheissen. Die Beschwerdegegnerin hat rückwirkend ab 1. Januar 2007 die Kosten für die dem Versicherten im Rahmen der Psychotherapie verschriebenen Medikamente zu übernehmen.

    2. Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.- bis Fr. 1000.- festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.- erscheint als angemessen. Die Beschwerdegegnerin unterliegt und hat deshalb die gesamte Gerichtsgebühr zu bezahlen. Der obsiegenden Krankenversicherung ist der geleistete Kostenvorschuss zurückzuerstatten. Sie hat hingegen als mit öffentlich-rechtlichen

Aufgaben betraute Organisation keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (BGE 126 V 149 E. 4a).

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:

  1. Die Beschwerde wird unter Aufhebung der Verfügung vom 21. Januar 2011 gutgeheissen. Die Beschwerdegegnerin hat rückwirkend ab 1. Januar 2007 die Kosten für die im Rahmen der Psychotherapie verordneten Medikamente zu übernehmen.

  2. Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.- zu bezahlen. Der Beschwerdeführerin wird der Kostenvorschuss von Fr. 600.- zurückerstattet.

  3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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