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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2011/181)

Zusammenfassung des Urteils IV 2011/181: Versicherungsgericht

Die Beschwerdeführerin A. beantragte eine Hilflosenentschädigung aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme, darunter eine chronische Niereninsuffizienz und eine Tibiakopffraktur. Die IV-Stelle lehnte den Antrag ab, da sie keine erhebliche und regelmässige Hilfsbedürftigkeit feststellte. Die Beschwerdeführerin legte Einspruch ein, doch auch dieser wurde abgelehnt. In der gerichtlichen Entscheidung wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführerin nicht in allen alltäglichen Lebensverrichtungen hilflos ist und weitere Abklärungen zur lebenspraktischen Begleitung erforderlich sind. Die Beschwerde wurde teilweise gutgeheissen, die IV-Stelle zur weiteren Abklärung verpflichtet und die Gerichtskosten der IV-Stelle auferlegt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2011/181

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2011/181
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2011/181 vom 05.06.2012 (SG)
Datum:05.06.2012
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 9 ATSG. Art. 42 IVG. Hilflosenentschädigung. Lebenspraktische Begleitung. Eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung setzt eine Hilflosigkeit in mindestens zwei der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen voraus, was vorliegend zu verneinen ist, oder aber den Bedarf an dauernder persönlicher Überwachung. Ein solcher ist nicht bereits gegeben, wenn die versicherte Person nicht alleine gelassen werden will, sondern erst dann, wenn die versicherte Person sich selbst oder andere in Gefahr bringen würde. Lebenspraktische Begleitung ist schliesslich Hilfe zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags im Sinne eines selbständigen Wohnens (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. Juni 2012, IV 2011/181).
Schlagwörter: IV-act; Begleitung; Hilflosigkeit; Abklärung; Lebens; Lebensverrichtung; Hilflosenentschädigung; Haushalt; Überwachung; Hilfe; Lebensverrichtungen; Dritthilfe; Person; Abklärungen; Invalidenversicherung; IV-Stelle; Dialyse; Hilfsmittel; Verrichtung
Rechtsnorm: Art. 15 ATSG ;
Referenz BGE:107 V 136; 133 V 450;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2011/181

Präsidentin Karin Huber-Studerus, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Lisbeth Mattle Frei; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Entscheid vom 5. Juni 2012

in Sachen A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Daniel Ehrenzeller, Engelgasse 214, 9053 Teufen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin, betreffend Hilflosenentschädigung Sachverhalt:

A.

    1. A. wurde aufgrund einer chronischen Niereninsuffizienz Grad III (vgl. IV-

      act. 100) mit Verfügung vom 10. März 2008 eine halbe Rente der Invalidenversicherung mit Wirkung ab 1. Januar 2007 zugesprochen (IV-act. 116).

    2. Im April 2009 zog sich die Versicherte bei einem Sturz eine Fraktur des linken Tibiakopfes zu. Aufgrund der damit verbundenen Komplikationen sowie der unterdessen notwendig gewordenen regelmässigen Hämodialyse (vgl. IV-act. 167 f.) wurde der Versicherten mit Anpassungsverfügung vom 9. Juli 2010 eine ganze Rente mit Wirkung ab 1. Juli 2009 zugesprochen (IV-act. 178).

B.

    1. Am 22. November 2009 meldete sich die Versicherte zum Bezug einer

      Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung bei der IV-Stelle des Kantons

      St. Gallen an. Sie gab im Anmeldeformular an, sich dreimal pro Woche für jeweils vier bis fünf Stunden einer Dialyse unterziehen zu müssen und seit 2009 beim Ankleiden, bei der Körperpflege und in der Fortbewegung eingeschränkt sowie auf lebenspraktische Begleitung angewiesen zu sein (IV-act. 156).

    2. Am 20. November 2009 teilte Dr. med. B. , Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, mit, die Versicherte leide nach dem Sturz im April 2009 und der dabei erlittenen Tibiakopffraktur unter diversen Problemen: Es bestehe der Verdacht auf einen Low Grade-Infekt im Bereich des Osteosynthesematerials, auf eine Läsion am Innenmeniskus und auf eine Instabilität des vorderen Kreuzbandes (IV-act. 159).

    3. Am 8. Dezember 2009 teilte der Hausarzt Dr. med. C. mit, die Versicherte leide unter einer Vasculitis der Nieren mit Nierenversagen und Dialyse, einem Status nach geschlossener mehrfragmentärer Tibiakopffraktur mit fraglicher Knochenlyse und einer Osteochondrose der Wirbelsäule. Die Angaben im Anmeldeformular zur Hilflosigkeit und Notwendigkeit lebenspraktischer Begleitung würden mit den Feststellungen von Dr. C. übereinstimmen (IV-act. 162).

    4. Am 10. November 2010 führte die IV-Stelle eine Abklärung im Haushalt der Versicherten durch. Im entsprechenden Bericht wurde unter anderem festgehalten, die Versicherte könne sich mehrheitlich selbständig an- und auskleiden (es sei ihr auch möglich, Knöpfe und Reissverschlüsse zu öffnen und zu schliessen, was auch mit einer Hand kein Problem darstellen sollte), könne selber von einem Stuhl Bett aufstehen, selbständig mit Messer und Gabel essen (beim Zerkleinern von härteren Speisen sei sie auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen), sich selbständig waschen (mit dem Badebrett sollte es ihr möglich sein, in die Badewanne zu steigen; mit weiteren Haltegriffen könnte sie sich zusätzlich festhalten; wenn nötig, gäbe es diverse weitere Hilfsmittel, welche die Reinigung erleichtern würden), die Notdurft selbständig verrichten, sich in der Wohnung selbständig fortbewegen, im Freien kurze Strecken gehen, sich mit ihren Mitmenschen unterhalten, lesen und schreiben. Sodann wisse die Versicherte, was im Haushalt zu tun sei und könne verschiedene Aufgaben delegieren. Sie bedürfe keiner dauernden Hilfe im Rahmen der Grund- Behandlungspflege und auch keiner ständigen persönlichen Überwachung; sie sei sich ihrer Handlungen bewusst und bringe sich andere nicht regelmässig in Gefahr (IV- act. 190).

    5. Auf Anfrage der IV-Stelle hin teilte Dr. med. D. , Fachärztin FMH für Nephrologie und Innere Medizin, am 21. November 2010 mit, die Versicherte sei aufgrund eines Shunts am rechten Oberarm im Tragen schwerer Lasten eingeschränkt; weitere Einschränkungen seien von Dr. D. nicht beobachtet worden (IV-act. 185).

    6. Am 25. Januar 2011 liess die Versicherte mitteilen, dass sie sich nicht in der Lage sehe, den Abklärungsbericht zu unterzeichnen. Sie sei entgegen der Angaben im Bericht bei verschiedenen Lebensverrichtungen zumindest teilweise überwiegend auf fremde Hilfe angewiesen und könnte nicht alleine wohnen. Zudem könne sie nicht

      allein gelassen werden (IV-act. 191–1 f.). Dem Schreiben lag eine Stellungnahme des Sohnes der Versicherten vom 16. Januar 2011 bei, in welchem im Wesentlichen ausgeführt worden war, die Versicherte könne nur wenige Treppenstufen überwinden und sich nur sehr mühsam mit Unterarmstöcken fortbewegen. Zudem könne sie den rechten Arm aufgrund des Shunts nur in sehr eingeschränkter Weise bewegen. Kleider mit Reissverschlüssen und Knöpfen sowie Schuhe könne sie nicht alleine anziehen. Ein Messer könne sie nicht mehr benutzen (IV-act. 191–3 f.).

    7. Zu diesen Einwänden nahm die Abklärungsbeauftragte im Wesentlichen wie folgt Stellung: Die Angaben seien nicht ganz nachvollziehbar gewesen (namentlich die Bewegungseinschränkung wegen des Shunts am rechten Oberarm), weshalb eine Rückfrage an Dr. D. erfolgt sei. Unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht bestehe in keiner der Lebensverrichtungen eine regelmässige und erhebliche Hilfsbedürftigkeit. Auch die Voraussetzungen einer lebenspraktischen Begleitung seien nicht erfüllt (IV-act. 190–7).

    8. Mit Vorbescheid vom 8. Februar 2011 teilte die IV-Stelle mit, dass die Abweisung des Gesuchs um Hilflosenentschädigung vorgesehen sei (IV-act. 194).

    9. Dagegen liess die Versicherte am 16. März 2011 Einwand erheben und die Aus­ richtung einer Hilflosenentschädigung entsprechend einer Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades beantragen. Auch der Hausarzt bestätige, dass sie nicht alleine leben könnte. Bezüglich des Beinbruchs sei anzumerken, dass es sich um einen „Kniebruch“ gehandelt habe, der nicht zufriedenstellend habe saniert werden können. Im Abklärungsbericht sei zu Unrecht die Prognose der Klinik Valens, das Überwinden von Treppen sollte in Zukunft wieder möglich sein, übernommen worden. Den Ärzten der Klinik Valens seien die späteren Komplikationen nicht bekannt gewesen. Die Versicherte sei zudem in jeder Hinsicht auf lebenspraktische Begleitung angewiesen, im Prinzip auch auf persönliche Überwachung, weil die Einnahme der Medikamente nicht zuverlässig erfolgen würde. Die Mitwirkung von Familienangehörigen dürfe schliesslich nicht überspannt werden (IV-act. 198–1 ff.). Dem Einwand lag ein Schreiben der Tochter der Versicherten vom 13. März 2011 bei, in welchem im Wesentlichen ausgeführt wurde, die Versicherte könne keine Treppen überwinden, müsse Kleider ohne Knöpfe und Reissverschlüsse sowie Schuhe ohne Bändel

      benutzen, könne nicht alleine wohnen, auch aus psychischen Gründen, und müsse regelmässig chauffiert werden (IV-act. 198–4 f.). Weiter lag dem Einwand ein Schreiben von Dr. C. vom 3. März 2011 bei, gemäss welchem die Versicherte nicht alleine zurechtkomme (IV-act. 198–6).

    10. Mit Verfügung vom 7. April 2011 wies die IV-Stelle das Gesuch um Hilflosenentschädigung ab. Die Versicherte könne sich selbständig fortbewegen; dass sie hierfür Stöcke benutzen müsse, sei unerheblich. Durch den Einsatz geeigneter Hilfsmittel sei unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht bezüglich der einzelnen Lebensverrichtungen kein Bedarf an erheblicher und regelmässiger Dritthilfe ausgewiesen. Eine dauernde persönliche Überwachung sei schliesslich ebenfalls nicht notwendig (IV-act. 199).

C.

    1. Dagegen richtet sich die am 27. Mai 2011 erhobene Beschwerde, mit der die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung entsprechend einer Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades und eventualiter eine erneute Abklärung im Haushalt der Be­ schwerdeführerin und allenfalls eine medizinische Begutachtung beantragt werden und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt wird, die Beschwerden und Einschränkungen im Zusammenhang mit der Tibiakopffraktur seien im Abklärungsbericht falsch wiedergegeben worden, die Beschwerdeführerin sei – nur schon für die dreimal wöchentlich zu absolvierenden Dialysen – auf erhebliche fremde Hilfe angewiesen, insgesamt sei die Beschwerdeführerin nicht in der Lage, ein selbständiges Leben zu führen (act. G 1).

    2. Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde. In ihrer Be­ schwerdeantwort vom 11. August 2011 führte sie zur Begründung im Wesentlichen an, Dr. D. habe in einem weiteren Bericht vom 17. Juni 2011 (IV-act. 204) ausgeführt, es bestehe eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit und ausgeprägte Müdigkeit an den Dialysetagen, des Weiteren sei wegen des linken Knies die Gehfähigkeit eingeschränkt; im Rahmen des Beobachtungszeitraums während und um die Dialysebehandlung benötige die Beschwerdeführerin keine zusätzliche Hilfeleistung.

      Eine Hilflosigkeit sei nicht ausgewiesen; hinsichtlich der lebenspraktischen Begleitung

      fehle es an der Unfähigkeit, den eigenen Haushalt selbst zu organisieren (act. G 4).

    3. Replicando hielt die Beschwerdeführerin am 5. September 2011 an den mit Beschwerde vom 27. Mai 2011 gestellten Anträgen fest (act. G 6).

    4. Die Beschwerdegegnerin verzichtete sinngemäss auf eine Duplik (act. G 8).

Erwägungen:

1.

Als hilflos gilt gemäss Art. 9 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) grundsätzlich, wer wegen einer Gesundheitsbeeinträchtigung für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter der persönlichen Überwachung bedarf. Von der Invalidität unterscheidet sich die Hilflosigkeit somit dadurch, dass nicht danach zu fragen ist, ob eine versicherte Person aufgrund einer Gesundheitsbeeinträchtigung die Fähigkeit verliert, erwerblich im Aufgabenbereich (insbesondere im Haushalt) tätig zu sein bzw. Mehrwert zu generieren, sondern vielmehr danach, ob ein gesundheitsbedingter Verlust der Fähigkeit eingetreten ist, die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens selbständig tätigen zu können, das heisst im grundlegendsten Sinne für sich selbst zu sorgen (vgl. Robert Ettlin, Die Hilflosigkeit als versichertes Risiko in der Sozialversicherung, Diss. 1998, S. 101 und S. 130 ff.). Rechtsprechungsgemäss wird zwischen sechs verschiedenen alltäglichen Lebensverrichtungen unterschieden: An- und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft und Fortbewegung (BGE 107 V 136). Teilweise hilflos ist also etwa eine versicherte Person, die gesundheitsbedingt nicht mehr in der Lage ist, sich selbständig zu ernähren sich selbständig fortzubewegen. Mit der Hilflosenentschädigung, die als Geldleistung zu qualifizieren ist (Art. 15 ATSG), sollen die sich aus dem jeweiligen Hilflosigkeitstatbestand ergebenden Kosten als unwiderleglich entstanden vermutet und pauschal abgegolten werden (Ulrich Meyer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 2. Aufl. 2010, S. 429). Wie hinsichtlich sämtlicher übriger Versicherungsleistungen auch, ist bei der Beurteilung eines Anspruchs auf

Hilflosenentschädigung der Schadenminderungspflicht angemessen Rechnung zu tragen (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 9 N 7). Massgebend sind schliesslich die tatsächlichen Verhältnisse und nicht – wie etwa bei der Beurteilung der Invalidität – Hypothesen. Mit anderen Worten ist zu beurteilen, ob die versicherte Person unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls effektiv hilflos ist nicht. Dabei ist insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass vom Ehegatten und nahen Verwandten (namentlich solchen in auf- und absteigender Linie) ein bestimmtes Mass an unentgeltlicher Fürsorge und Betreuung gefordert wird und die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung mithin nur dann in Frage kommt, wenn die erforderliche Dritthilfe das Angehörigen zumutbare Mass an Unterstützung überschreitet (vgl. Robert Ettlin, a.a.O., S. 228).

2.

Gemäss den im Recht liegenden medizinischen Akten leidet die Beschwerdeführerin insbesondere unter einer chronischen Niereninsuffizienz. Derentwegen sind anderem wöchentlich drei Dialysen notwendig, was jeweils eine ausgeprägte Müdigkeit und verminderte körperliche Leistungsfähigkeit nach sich zieht; zudem wurde der Beschwerdeführerin ein Shunt am rechten Oberarm angelegt, der namentlich zu einer Kraftminderung – die Beschwerdeführerin sollte keine schweren Lasten mehr tragen – führt. Ferner besteht ein Status nach mehrfragmentärer intraartikulärer Tibiakopffraktur links, welche die Gehfähigkeit der Beschwerdeführerin beeinträchtigt (vgl. insb. IV- act. 159, 185 und 204). Anerkanntermassen verunmöglichen diese erheblichen Beschwerden jedwede erwerbliche Tätigkeit. In Bezug auf eine allfällige Hilflosigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen (im Sinn der Selbstsorge) sind insbesondere der verminderten Belastbarkeit des rechten Arms und der eingeschränkten Gehfähigkeit Rechnung zu tragen.

3.

    1. In Bezug auf die Lebensverrichtung des An- und Auskleidens ist angesichts der medizinisch ausgewiesenen Beeinträchtigungen keine erhebliche Hilfsbedürftigkeit zu erblicken. Zudem führte die Tochter der Beschwerdeführerin in deren Schreiben vom

      13. März 2011 aus, dass die Beschwerdeführerin lediglich noch Kleidung

      (einschliesslich) Schuhe trage, die ihren Behinderungen angepasst sei, namentlich solche ohne Knöpfe, Reissverschlüsse und Bändel (vgl. IV-act. 198–5). Im Rahmen der Schadenminderungspflicht wäre dies von der Beschwerdeführerin ohnehin zu verlangen (vgl. ZAK 1986, S. 483). Eine Hilflosigkeit hinsichtlich dieser Lebensverrichtung ist daher zu verneinen.

    2. In Bezug auf die Lebensverrichtung des Aufstehens, Absitzens und Abliegens ist eine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes ebenfalls zu verneinen, ist es der Be­ schwerdeführerin doch unbestrittenermassen – wenn auch mit gewissen Anlauf­ schwierigkeiten – möglich, selbständig aufzustehen, abzusitzen und abzuliegen.

    3. Was die Lebensverrichtung des Essens betrifft, so ist zwar angesichts der Kraftminderung des rechten Armes denkbar, dass die Beschwerdeführerin namentlich im Umgang mit dem Messer Mühe hat. Doch dürfte dies – wie von ihr auch geltend ge­ macht – lediglich die Zerkleinerung härterer Speisen betreffen; die meisten Speisen sollte die Beschwerdeführerin gemäss der Einschätzung von Dr. D. ohne Dritthilfe zerkleinern und zu sich nehmen können. Hilflosigkeit beim Essen ist unter diesen Um­ ständen nicht gegeben.

    4. Die Verrichtung der Notdurft ist der Beschwerdeführerin unbestrittenermassen

      selbständig möglich. Indizien für die gegenteilige Annahme sind nicht ersichtlich.

    5. Hinsichtlich der Körperpflege macht die Beschwerdeführerin geltend, sie könne nicht mehr selbständig duschen und baden. Diesbezüglich scheint nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführerin der Einstieg in die Badewanne und der Ausstieg aus derselben aufgrund der Beeinträchtigungen im Bereich des linken Beines und des rechten Armes schwerfällt. Es stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin allenfalls Anspruch auf entsprechende Hilfsmittel hat. Gemäss Ziff. 14.04 des Anhangs zur Ver­ ordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI;

      SR 831.232.51) haben Versicherte nämlich unter bestimmten Voraussetzungen An­ spruch auf bauliche Anpassungen bei den sanitären Einrichtungen, namentlich auf das Anbringen von Haltestangen, Handläufen und Zusatzgriffen. Ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf entsprechende Hilfsmittel hat, bildet allerdings nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Jedenfalls sollte es der Beschwerdeführerin zumindest

      unter Berücksichtigung geeigneter Hilfsmittel mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumutbar sein, die Körperpflege selbständig zu verrichten, weshalb eine diesbezügliche Hilflosigkeit zu verneinen ist.

    6. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass die Beschwerdeführerin für die Fortbewegung, namentlich ausser Haus, dauernd der Hilfe Dritter bedürfte, wofür gewisse Anhaltspunkte bestehen, wäre dies vorliegend nicht von Belang. Gemäss Art. 37 Abs. 3 lit. a der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201)

      wird nämlich für eine zu einem Anspruch auf eine Entschädigung führende Hilflosigkeit eine dauernde Hilfsbedürftigkeit in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen vorausgesetzt; Hilflosigkeit in lediglich einer alltäglichen Lebensverrichtung vermittelt mithin keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung.

    7. Die Notwendigkeit dauernder Überwachung ist schliesslich ebenfalls zu verneinen, geht es doch nicht darum, ob die Beschwerdeführerin Angst davor hat, alleine gelassen zu werden, sondern vielmehr darum, ob sie sich andere in Gefahr bringen würde, wenn sie nicht überwacht würde. Anhaltspunkte für eine solche mögliche Gefährdung liegen nur bezüglich der Medikamenteneinnahme vor, da die Beschwerdeführerin offenbar die Medikamente nicht zu sich nimmt, wenn sie nicht dazu angehalten wird (vgl. IV-act. 169–4). Allerdings ist eine psychische geistige Beeinträchtigung, welche für eine entsprechende Selbstgefährdung verantwortlich sein könnte, nicht ausgewiesen. Somit ist ein Bedarf an dauernder Überwachung nicht gegeben.

4.

    1. Gemäss Art. 42 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) gilt auch als hilflos, wer wegen einer Gesundheitsbeeinträchtigung dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung liegt vor, wenn eine versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge der Beeinträchtigung ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbständig wohnen kann, für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (Art. 38 Abs. 1 IVV). Ziel der lebenspraktischen Begleitung

      muss es sein, zu verhindern, dass Personen schwer verwahrlosen und/oder in ein Heim eine Klinik eingewiesen werden müssen (Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH], Rz. 8040). Die betroffene Person muss auf Hilfe bei der Tagesstrukturierung, auf Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen auf Anleitung zur Erledigung des Haushalts (mit Überwachung/ Kontrolle) angewiesen sein (KSIH, Rz. 8050). Bei ausserhäuslichen Verrichtungen liegt ein Bedarf nach lebenspraktischer Begleitung vor, wenn diese notwendig ist, damit die betroffene Person in der Lage ist, das Haus für bestimmte notwendige Verrichtungen und Kontakte (Einkauf, Freizeitaktivitäten, Kontakte mit Amtsstellen, Arztbesuche, Coiffeurbesuche) zu verlassen (KSIH, Rz. 8051). Eine lebenspraktische Begleitung zur Vermeidung einer dauernden Isolation setzt voraus, dass sich die Isolation und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes bereits manifestiert haben. Die lebenspraktische Begleitung besteht hier in beratenden Gesprächen und in der Motivation zur Kontaktaufnahme (KSIH, Rz. 8052). Die lebenspraktische Begleitung beinhaltet weder die (direkte indirekte) Dritthilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen noch die Pflege Überwachung, sondern stellt vielmehr ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar (vgl. BGE 133 V 450 E. 9 S. 466 mit Hinweisen). Der Begriff „Begleitung“ schliesst dabei eine direkte Dritthilfe nicht aus. Führt die Begleitperson die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten selber aus, wenn die versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung und Überwachung/ Kontrolle nicht in der Lage ist, kann dies mitberücksichtigt werden (vgl. BGE 133 V 450 E. 10.2 S. 467).

    2. Die Beschwerdegegnerin hat bezüglich des Bedarfs der Beschwerdeführerin an lebenspraktischer Begleitung keine Abklärungen getätigt. Nachdem die Abklärungsbeauftragte in ihrem Bericht vom 31. Januar 2011 festgehalten hatte, es sei der Beschwerdeführerin möglich, die notwendigen Aufgaben im Haushalt an die restlichen Familienmitglieder zu delegieren, und es beständen keine kognitiven Einschränkungen (IV-act. 190–6), die dies verunmöglichen würden, erachtete die Beschwerdegegnerin weitere Abklärungen offenbar als überflüssig. Dabei verkannte sie, dass nicht entscheidend ist, ob kognitive Einschränkungen vorliegen nicht, sondern vielmehr, ob die Beschwerdeführerin angesichts ihrer gesundheitlichen Situation selbständig und ohne Dritthilfe wohnen könnte nicht. Die Beschwerdegegnerin hätte daher vertieft prüfen müssen, ob die Beschwerdeführerin

      aufgrund ihrer multiplen Einschränkungen derart beeinträchtigt ist, dass sie den alltagspraktischen Anforderungen nicht gewachsen wäre und die üblichen Haushaltarbeiten nicht selber verrichten könnte, so dass sie ohne Dritthilfe in einem Heim leben müsste. Anhand der im Recht liegenden Akten kann diese Frage nicht zuverlässig beantwortetet werden. Die Beschwerdegegnerin hat daher diesbezüglich weitere Abklärungen zu machen. Dabei hat sie zu berücksichtigen, dass rechtsprechungsgemäss eine enge Zusammenarbeit mit den Fachärzten verlangt wird (BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468 sowie Urteil des Bundesgerichts 8C_374/2008 vom

      30. Januar 2009 E. 6.1 in fine). Die Ergebnisse weiterer Abklärungen im Haushalt der

      Beschwerdeführerin wären daher medizinisch zu validieren.

    3. Sollten diese Abklärungen einen Bedarf der Beschwerdeführerin an Dritthilfe im Sinn der lebenspraktischen Begleitung ergeben, müsste ferner geprüft werden, inwiefern es die Schadenminderungspflicht gebietet, die Mithilfe von Familienangehörigen zu beanspruchen. Diese Mithilfe geht zwar weiter als die ohne Gesundheitsschaden üblicherweise zu erwartende Unterstützung, jedoch darf den Familienangehörigen keine unverhältnismässige Belastung entstehen (vgl. dazu Urteil des Bundesgerichts 9C_410/ 2009 vom 1. April 2010 E. 5.5 mit Hinweisen).

5.

Demnach ist die angefochtene Verfügung in teilweiser Gutheissung der Beschwerde vom 27. Mai 2011 aufzuheben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen und anschliessender Neuverfügung zurückzu­ weisen. Da die Rückweisung zu weiteren Abklärungen praxisgemäss hinsichtlich Kosten- und Entschädigungsfolgen als volles Obsiegen der Beschwerde führenden Partei zu qualifizieren ist, sind die gemäss Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und angesichts des durchschnittlichen Aufwands auf Fr. 600.-- festzusetzenden Gerichts­ kosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen, und ist diese zu verpflichten, die Be­ schwerdeführerin mit Fr. 3’500.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht entschieden:

  1. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird die Verfügung vom 7. April 2011 aufgehoben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zur Durchführung weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen und anschliessender Neuverfügung zurück­ gewiesen.

  2. Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- zu bezahlen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss in gleicher Höhe zurückerstattet.

  3. Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin mit Fr. 3’500.--

(einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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