Zusammenfassung des Urteils B 2017/152, B 2017/153: Verwaltungsgericht
Das Verwaltungsgericht befasst sich mit einem Fall betreffend Steuererklärungen für das Jahr 2012. A.Y., ein Direktor und Verwaltungsratspräsident zweier Unternehmen, wurde ermessensweise für die Steuern veranlagt, da er auf Aufforderungen nicht reagierte. Nach verschiedenen Einsprüchen und Beschwerden wurde die Nichtigkeit der Veranlagungen festgestellt. Das kantonale Steueramt legte Beschwerde ein, die teilweise gutgeheissen wurde. Es wurde entschieden, dass die Veranlagungen nicht nichtig waren und die Angelegenheit zur weiteren Prüfung zurück an die Vorinstanz verwiesen wird. Die Gerichtskosten werden je zur Hälfte den Parteien auferlegt.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | B 2017/152, B 2017/153 |
Instanz: | Verwaltungsgericht |
Abteilung: | Verwaltungsgericht |
Datum: | 23.05.2018 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Steuerrecht, Nichtigkeit einer Ermessensveranlagung.Im Rahmen einer Ermessensveranlagung hat das Steueramt zwar eine vorsichtige Schätzung durchzuführen, ohne allerdings verpflichtet zu sein, bei der durch das Verhalten des Pflichtigen bedingten Ermessensbetätigung im Zweifelsfall die für ihn günstigste Annahme zu treffen. Wenn der Steuerpflichtige trotz Mahnung der Aufforderung, eine Unklarheit auszuräumen, nicht nachkommt, darf nicht zum Nachteil der Veranlagungsbehörde gereichen. Die Veranlagungsbehörde hat im vorliegenden Fall noch nicht in derart krasser Weise gegen ihre Pflicht, die Gesamtumstände zu untersuchen und die Steuerfaktoren nach pflichtgemässen Ermessen festzulegen, dass die Veranlagungen als nichtig zu qualifizieren wären. Das Verhalten ist jedoch insofern befremdlich, als sie die nicht abgeholte eingeschriebene Sendung nicht umgehend, sondern erst nach einem Monat und damit nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ein zweites Mal zugestellt hat (Verwaltungsgericht, |
Schlagwörter: | Veranlagung; Recht; Entscheid; Ermessen; Vorinstanz; Schuld; Verfahren; Beschwerdegegner; Verfahrens; Veranlagungsbehörde; Bundessteuer; Nichtigkeit; Kanton; Verwaltungsgericht; Kantons; Gemeinde; Ermessensveranlagung; Gemeindesteuern; Verfügung; Steuerpflichtigen; Frist; Steueramt; Gallen; SA“; Einsprache; Behörde; Schulden; Einkommen |
Rechtsnorm: | Art. 127 DBG ;Art. 132 DBG ;Art. 140 DBG ; |
Referenz BGE: | 135 II 260; |
Kommentar: | - |
Entscheid vom 23. Mai 2018
Besetzung
Abteilungspräsident Zürn; Verwaltungsrichterin Bietenharder, Verwaltungsrichter Engeler; Gerichtsschreiberin Blanc Gähwiler
Verfahrensbeteiligte
Kantonales Steueramt, Davidstrasse 41, 9001 St. Gallen,
Beschwerdeführer,
gegen
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Unterstrasse 28, 9001 St.
Gallen, Vorinstanz, und
A.Y.,
Beschwerdegegner,
vertreten durch lic. oec. HSG Jean-Claude Diener, Revisions- und Treuhandbüro,
Teufenerstrasse 12, Postfach 15, 9001 St. Gallen,
sowie
Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Direkte Bundessteuer,
Eigerstrasse 65, 3003 Bern, Beschwerdebeteiligte, Gegenstand
Nichteintreten/Fristwiederherstellung (Kantons- und Gemeindesteuern 2012 sowie direkte Bundessteuer 2012)
Das Verwaltungsgericht stellt fest:
A.Y. (geb. 1961) ist in X. (Politische Gemeinde Z.) wohnhaft und als Direktor und Verwaltungsratspräsident der S. SA sowie der H. SA, beide mit Sitz in K./GE, tätig. Erstere hat eine Zweigniederlassung in X. In der Steuererklärung 2012 deklarierte A.Y. Einkünfte von insgesamt CHF 415‘172 bzw. unter Berücksichtigung der Abzüge ein steuerbares Einkommen von CHF 160‘864.
Die Veranlagungsbehörde forderte A.Y. mehrmals auf, die Steuererklärung 2012 insbesondere zur Position „KK H. SA“ im Schuldenverzeichnis mit einer Stellungnahme und entsprechender Dokumentation zu ergänzen – zuletzt mit der Androhung, dass ansonsten mit einer Veranlagung nach Ermessen gerechnet werden müsse. Nachdem auf die Aufforderungen nicht reagiert worden war, veranlagte die Steuerbehörde A.Y. mit Verfügungen vom 30. Mai 2016 ermessensweise für die Kantons- und Gemeindesteuern 2012 mit einem steuerbaren Einkommen von CHF 3‘479‘400, ohne steuerbares Vermögen, und für die direkte Bundessteuer 2012 mit einem steuerbaren Einkommen von CHF 3‘478‘500. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass trotz der Aufforderungen keine Unterlagen zur Übernahme der KK-Schuld eingereicht worden seien. Aus diesem Grund werde der Forderungsverzicht bzw. die Schuldübernahme entsprechend dem Einkommen aufgerechnet. Die Veranlagungsverfügungen wurden am 31. Mai 2016 per Einschreiben versandt, am 1. Juni 2016 im Postfach der Zweigniederlassung der S. SA zur Abholung am Schalter avisiert und am 10. Juni 2016 mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ an die Veranlagungsbehörde retourniert. In der Folge wurden die Veranlagungsverfügungen A.Y. am 11. Juli 2016 per A-Post zugestellt, welcher mit Schreiben vom 18. Juli 2016 um Wiederherstellung der Einsprachefrist ersuchte. Mit Entscheid vom 23. November 2016 wies das kantonale Steueramt das Fristwiederherstellungsgesuch ab und trat auf die Einsprachen nicht ein. Dagegen erhob A.Y. Rekurs und Beschwerde bei der Verwaltungsrekurskommission, welche mit Entscheid vom 20. Juni 2017 die Nichtigkeit der Veranlagungen vom 30. Mai 2016 der Kantons- und Gemeindesteuern 2012 sowie der direkten Bundessteuer 2012 feststellte.
Das kantonale Steueramt (Beschwerdeführer) erhob gegen den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission (Vorinstanz) mit Eingabe vom 17. Juli 2017 Beschwerde beim Verwaltungsgericht mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid vom
20. Juni 2017 sei aufzuheben, und der Entscheid vom 23. November 2016 sei zu bestätigen (act. 1). Mit Vernehmlassung vom 25. Juli 2017 schloss die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde und verwies zur Begründung hauptsächlich auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid (act. 6). Am 8. August 2017 nahm A.Y. (Beschwerdegegner) Stellung zum Verfahren und beantragte die Abweisung der Beschwerde (act. 10).
Auf die weiteren Ausführungen der Verfahrensbeteiligten und die Akten wird, soweit wesentlichen, in den Erwägungen eingegangen.
Darüber zieht das Verwaltungsgericht in Erwägung:
Da die Voraussetzungen der Nichtigkeit einer Verfügung allgemeiner Rechtsnatur sind und die Frage daher einheitlich zu beantworten ist, erledigte die Vorinstanz den Rekurs betreffend die Kantons- und Gemeindesteuern einerseits und die Beschwerde betreffend die direkte Bundessteuer anderseits zu Recht im gleichen Entscheid, aber mit getrennten Dispositivziffern; unter diesen Umständen durfte auch der Beschwerdeführer die Beschwerden in einer gemeinsamen Rechtsschrift erheben (BGE 135 II 260, E. 1.3). Ebenso ist es zulässig, dass das Verwaltungsgericht über die Beschwerden im gleichen Urteil entscheidet (vgl. Urteil des Bundesgerichts [BGer] 2C_440 und 441/2014 vom 10. Oktober 2014, E. 1.2).
Die sachliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ist gegeben (Art. 59 Abs. 1 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege, sGS 951.1, VRP; Art. 229 in Verbindung mit Art. 196 Abs. 1 des Steuergesetzes, sGS 811.1, StG; Art. 1 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung zum Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer, sGS 815.1; Art. 145 des Gesetzes über die direkte Bundessteuer, SR 642.11, DBG). Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde legitimiert, und die Eingabe vom 17. Juli 2017 entspricht zeitlich, formal und inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (Art. 229 in Verbindung mit
Art. 194 Abs. 1 StG in Verbindung mit Art. 64 und Art. 48 Abs. 1 VRP; Art. 145 in Verbindung mit Art. 140 Abs. 1 und 2 DBG). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.
Die Kognition des Verwaltungsgerichts ist auf Rechtsverletzungen beschränkt; die beschwerdeführende Person kann sich sodann auch darauf berufen, die angefochtene Verfügung der angefochtene Entscheid beruhe auf einem unrichtig unvollständig festgestellten Sachverhalt (Art. 61 VRP). Nachdem das Verwaltungsgericht im Steuerrecht nicht an die Begehren der Verfahrensbeteiligten gebunden ist (Art. 196 Abs. 2 StG) und das Novenverbot im Sinne von Art. 61 Abs. 3 VRP in diesem Rechtsbereich nicht gilt (vgl. VerwGE B 2015/168, B 2015/175 vom
23. Februar 2017 E. 1 mit weiteren Hinweisen, www.gerichte.sg.ch), sind die vom
Beschwerdeführer nachgereichten Aktenstücke (Schuldenverzeichnisse 2005-2011,
Vermögensdeklaration und Schuldenverzeichnis 2013 sowie Veranlagungsberechnung 2011) in die Beweiswürdigung des vorliegenden Verfahrens mit einzubeziehen, selbst wenn (und soweit) sie zuvor nicht aktenkundig waren.
3.
Hat der Steuerpflichtige trotz Mahnung seine Verfahrenspflichten nicht erfüllt können die Steuerfaktoren mangels zuverlässiger Unterlagen nicht einwandfrei ermittelt werden, so nimmt die Veranlagungsbehörde die Veranlagung nach pflichtgemässem Ermessen vor. Sie kann dabei Erfahrungszahlen, Vermögensentwicklung und Lebensaufwand des Steuerpflichtigen berücksichtigen (Art. 177 StG bzw. Art. 130
Abs. 2 DBG). Eine Veranlagung nach pflichtgemässem Ermessen kann der Steuerpflichtige – nebst der Möglichkeit einer Revision – nur wegen offensichtlicher Unrichtigkeit anfechten (Art. 180 Abs. 2 StG bzw. Art. 132 Abs. 3 DBG). Der Beschwerdegegner machte im Veranlagungsverfahren für das Jahr 2012 trotz Mahnung und Androhung der Ermessensveranlagung keine näheren Angaben zur Position „KK H. SA“ im Schuldenverzeichnis. Die Veranlagungsbehörde war deshalb berechtigt, eine Ermessensveranlagung durchzuführen, was ausserdem nicht bestritten ist.
Ermessensveranlagungen können innert 30 Tagen angefochten werden (Art. 194 Abs. 1 StG bzw. Art. 140 Abs. 1 DBG). Hinsichtlich des Fristenlaufs kann auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (E. 3 2. Absatz des angefochtenen Entscheids). Unbestritten ist, dass der Beschwerdegegner die am
31. Mai 2016 per Einschreiben versandte und am 1. Juni 2016 im Postfach der Zweigniederlassung der S. SA zur Abholung am Schalter avisierte Sendung nicht abgeholt hat. Damit gilt die sogenannte Zustellfiktion, d.h. dass die Zustellung der eingeschriebenen Sendung spätestens als am siebten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellversuch als erfolgt gilt (vgl. Art. 30 Abs. 1 VRP i.V.m. Art. 138 Abs. 3 lit. a der Schweizerischen Zivilprozessordnung, SR 272). Die siebentägige Abholfrist begann am
2. Juni 2016 zu laufen und endete somit am 8. Juni 2016. Die 30-tägige Rechtsmittelfrist begann entsprechend am 9. Juni 2016 zu laufen und endete am Freitag, 8. Juli 2016 (vgl. BGer 5A_929/2017 vom 14. Februar 2018 E. 2). Da der
Beschwerdegegner innert dieser Frist keine Einsprache eingereicht hat, ist das
Einspracherecht – wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat – verwirkt.
Umstritten ist hingegen, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, die Veranlagungen vom 30. Mai 2016 betreffend Kantons- und Gemeindesteuern 2012 sowie direkte Bundessteuer 2012 seien nichtig.
Fehlerhafte Verwaltungsakte sind in der Regel nicht nichtig, sondern nur anfechtbar, und sie werden durch die Nichtanfechtung rechtsgültig. Nichtigkeit, das heisst absolute Unwirksamkeit einer Verfügung wird nur angenommen, wenn sie mit einem tiefgreifenden und wesentlichen Mangel behaftet ist, wenn dieser schwerwiegende Mangel offensichtlich zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel haben nur in seltenen Ausnahmefällen die Nichtigkeit einer Verfügung zur Folge; erforderlich ist hierzu ein ausserordentlich schwerwiegender Mangel. Als Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie schwerwiegende Verfahrensfehler in Betracht. Fehlt einer Verfügung in diesem Sinn jegliche Rechtsverbindlichkeit, so ist das durch jede Behörde, die mit der Sache befasst ist, jederzeit und von Amtes wegen zu beachten (vgl. BGer 2C_938/2016, 2C_939/2016 vom 15. Februar 2017 E. 2.1; vgl.
auch Cavelti/Vögeli, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton St. Gallen, 2003, Rz. 555). Eine Veranlagung nach Ermessen wirft ausserdem die Frage auf, inwiefern es dem Steuerpflichtigen möglich sein soll, trotz zuvor unterbliebener Verfahrenspflichten zur Einreichung weiterer Unterlagen doch noch die Abänderung der von der Veranlagungsbehörde vorgenommenen Einschätzung zu erreichen. Einerseits verlangt die Nichtigkeit ein Ausmass an Willkür, das über die offensichtliche Unrichtigkeit im Sinn von Art. 180 Abs. 2 StG bzw. Art. 132 Abs. 3 DBG hinausgeht. Andererseits ergibt sich aus der allgemeinen Rechtsprechung zur Nichtigkeit, dass diese üblicherweise nicht nur schon aufgrund von schweren inhaltlichen Mängeln angenommen wird, sondern dass vielmehr noch (krasse) Verfahrensfehler dazukommen müssen. Bei diesen Verfahrensfehlern kann es sich nur um aussergewöhnlich schwere bzw. krasse Verstösse gegen die der Veranlagungsbehörde obliegende Untersuchungs- und Überprüfungspflicht handeln (vgl. BGer 2C_679/2016, 2C_680/2016 vom 11. Juli 2017 E. 3.4 ff.).
Die Veranlagungsbehörde bleibt selbst im Rahmen der Ermessensveranlagung verpflichtet, diese nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmen. Die Einschätzung soll dem realen Sachverhalt und der materiellen Wahrheit möglichst nahe kommen. Auch bei unklarem Sachverhalt muss der Pflichtige wirklichkeitsnah gemäss seiner tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit veranlagt werden. Wenn die amtliche Veranlagung nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmen ist, so setzt das eine Würdigung der gesamten Verhältnisse voraus. Das Steueramt hat alle im Zeitpunkt der Einschätzung bekannten Tatsachen zu berücksichtigen und von Amtes wegen allen Unterlagen Rechnung zu tragen, die ihm zur Verfügung stehen. Das gilt selbst für solche Umstände, die möglicherweise nicht in den Akten vermerkt sind, soweit das Amt von ihnen Kenntnis hat. Die Steuerbehörde hat sich bei der durchzuführenden vorsichtigen Schätzung insbesondere über die Plausibilität dieser Annahmen und Vermutungen zu vergewissern. Von der Behörde kann jedoch nicht die Durchführung allzu eingehender Untersuchungen und Abklärungen verlangt werden, insbesondere dann nicht, wenn sie über keine beweiskräftigen Unterlagen verfügt. Ebenso hat das Steueramt im Rahmen der Ermessensveranlagung zwar eine vorsichtige Schätzung durchzuführen, ohne allerdings dazu verpflichtet zu sein, bei der durch das Verhalten des Pflichtigen bedingten Ermessensbetätigung im Zweifelsfall die für diesen günstigste Annahme zu treffen. Es soll vermieden werden, dass derjenige, der für die Möglichkeit der Nachprüfung der von ihm erklärten Verhältnisse Sorge getragen hat, höhere Steuern zu bezahlen hat als derjenige, bei dem eine solche Nachprüfung aus von ihm zu vertretenden Gründen unmöglich ist. Die Verletzung von Verfahrenspflichten darf sich nicht lohnen. Wenn die Ermessensveranlagung aber im Ergebnis doch noch der materiellen Wahrheit möglichst nahe kommen soll, steht es der Behörde nicht zu, eine Einschätzung nach freiem Belieben vorzunehmen. Ebenso wenig darf die Veranlagung aus fiskalischen pönalen Motiven bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen abweichen (BGer 2C_679/2016, 2C_680/2016 vom 11. Juli 2017
E. 4.2.2-4.2.4 mit zahlreichen weiteren Hinweisen).
Soweit die Vorinstanz zum Schluss gelangte, für die Aufrechnung eines steuerbaren Einkommens von rund CHF 3 Mio. liege nicht die geringste Grundlage vor, kann ihr nicht gefolgt werden. In der Steuererklärung 2012 wies der Steuerpflichtige eine Schuld gegenüber der „KK H. SA“ aus und wies darauf hin, dass dieses Darlehen am 1. Juli 2011 von der „F. SA“ in M. übernommen worden sei. Gleichzeitig reichte er
eine in französischer Sprache abgefasste Bestätigung der „F. SA S.à.r.l.“ ein (vgl. act. 6/3/16). Da in der Bestätigung lediglich von Schulden („dettes“) jedoch nicht von Gläubigern („créanciers“) die Rede war, und im Schuldenverzeichnis der Betrag der
Schuld auf CHF 0 festgesetzt wurde, ist die Unklarheit der Veranlagungsbehörde, ob es sich um eine Schuldübernahme handelte aber lediglich die Gläubigerin wechselte, durchaus nachvollziehbar. Entsprechend forderte sie den Beschwerdegegner auf, unter anderem die Frage zu beantworten, ob die Schuld neu gegenüber der „F. SA“ bestehe (vgl. act. 7/6/3/11, 12). Dass dieser trotz Mahnung dieser Aufforderung nicht nachkam, darf nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers gereichen. Zwar räumt Art. 172 Abs. 2 StG bzw. Art. 127 Abs. 2 DBG der Veranlagungsbehörde die Möglichkeit ein, bei
Dritten einen Beleg über Schuld- Forderungsverhältnisse einzuholen. Sie ist dazu aber lediglich berechtigt, nicht aber verpflichtet. Die Behörde darf insbesondere im Fall einer Verletzung der Verfahrenspflichten durch den Steuerpflichtigen ohne weiteres zur Ermessensveranlagung schreiten (BGer 2C_679/2016, 2C_680/2016 vom 11. Juli 2017
E. 4.1.3). Dies hat umso mehr zu gelten, wenn der Dritte – wie vorliegend – in einem Vertragsstaat ansässig ist, dessen Recht die Bildung fiktiver Sitze juristischer Personen erfahrungsgemäss begünstigt. Der Beschwerdeführer weist diesbezüglich zu Recht darauf hin, dass die Schuldbestätigung der „F. SA“, unterschrieben von den beiden Schwestern des Beschwerdegegners, in ihrem Inhalt unklar und tendenziell gegen dessen Deklaration sprechend sowie datiert vom 10. Juli 2015 – und damit vier Jahre nach der mutmasslichen Forderungsabtretung – nicht ausreicht, um der den Steuerpflichtigen treffenden besonderen Mitwirkungspflicht nachzukommen (vgl. act. 1
S. 7). Angesichts dessen kann nicht gesagt werden, die Veranlagungsverfügungen des Beschwerdeführers würden insoweit an einem offensichtlichen und ausserordentlich schweren inhaltlichen Mangel leiden, als dass dieser die Nichtigkeit zur Folge haben müsste. Selbst wenn die vom Steueramt vorgenommene Erhöhung ausschliesslich pönal bzw. fiskalisch begründet gewesen sein sollte, und die Ermessensveranlagungen daher als offensichtlich unrichtig einzustufen gewesen wäre, ist dies im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu prüfen. Aufgrund der besagten Aufrechnung von über
CHF 3 Mio. allein verstiess die Behörde jedenfalls noch nicht in derart krasser Weise gegen ihre Pflicht, die Gesamtumstände zu untersuchen und die Steuerfaktoren nach pflichtgemässen Ermessen festzulegen, dass die Veranlagungen als nichtig zu qualifizieren wären (vgl. BGer 2C_679/2016, 2C_680/2016 vom 11. Juli 2017 E. 5.2.4).
Daran ändert nichts, dass die Schuldübernahme der Gläubigerwechsel gemäss den Angaben in der Bestätigung vom 10. Juli 2015 angeblich bereits im Jahr 2011 stattgefunden haben soll. Diese Unklarheit hat ebenfalls der Beschwerdegegner zu vertreten, indem er die umstrittene Bestätigung erst mit der Steuererklärung 2012 eingereicht hat.
Diese rechtliche Beurteilung ändert nichts daran, dass das Verhalten der Steuerbehörde befremdlich erscheint. So stört insbesondere, dass sie gegenüber dem Steuerpflichtigen in formalistischer Weise auf die Einhaltung der Einsprachefrist beharrt, selber jedoch die nicht abgeholte eingeschriebene Sendung nicht umgehend, sondern diese erst nach einem Monat und damit nach Ablauf der Rechtsmittelfrist zugestellt hat. Hätte die Veranlagungsbehörde die Sendung nach der Retournierung am 10. Juni 2016 diese dem Steuerpflichtigen – wie in der Praxis üblich – umgehend per A-Post zugestellt, wäre es ihm allenfalls möglich gewesen, noch während laufender Rechtsmittelfrist zu reagieren und die Unklarheit aus dem Weg zu räumen.
Zusammengefasst ergibt sich, dass die Vorinstanz zu Unrecht von der Nichtigkeit der Veranlagungsverfügungen vom 30. Mai 2016 ausgegangen ist. Die Beschwerde ist dementsprechend sowohl hinsichtlich der Kantons- und Gemeindesteuern 2012 als auch der direkten Bundessteuer 2012 teilweise gutzuheissen und der Entscheid der Vorinstanz vom 20. Juni 2017 ist aufzuheben. Da im angefochtenen Entscheid offengelassen wurde, ob hinreichende Gründe gegeben sind, aufgrund derer die versäumte Einsprachefrist wiederherzustellen wäre, ist die Angelegenheit gestützt auf Art. 64 i.V.m. Art. 56 Abs. 2 VRP zur Prüfung der Rechtsmittel gegen die vom Beschwerdeführer vorgenommene Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs vom 23. November 2016 an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zu berücksichtigen wird in diesem Zusammenhang unter anderem die Behauptung der Inhaberin der Postfachadresse sein, wonach sie für den an den Beschwerdegegner adressierten Brief keine Abholungseinladung erhalten habe (vgl. act. 7/6/3/3). Beweispflichtig hierfür ist jedoch der Beschwerdegegner. Zu prüfen sein wird ausserdem, ob der Steuerpflichtige verpflichtet gewesen wäre, der Veranlagungsbehörde seine längere Ortsabwesenheit mitzuteilen (sog. Empfangspflicht).
Bei diesem Ausgang des Verfahrens – der angefochtene Entscheid ist zwar vollumfänglich aufzuheben, jedoch kann der diesem zugrunde liegende Entscheid des Beschwerdeführers vom 23. November 2016 nicht bestätigt werden – sind die amtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner je zur Hälfte aufzuerlegen (Art. 95 Abs. 1 VRP). Eine Entscheidgebühr für das Beschwerdeverfahren von CHF 2‘000 erscheint angemessen (Art. 7 Abs. 1 Ingress und Ziff. 222 der Gerichtskostenverordnung, sGS 941.12).
Bei der Verlegung der amtlichen Kosten je zur Hälfte auf den Beschwerdeführer und den Beschwerdegegner besteht nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung kein Anspruch auf die Entschädigung ausseramtlicher Kosten (Art. 98 Abs. 1 und 98bis VRP, R. Hirt, Die Regelung der Kosten nach st. gallischem Verwaltungsrechtspflegegesetz, St. Gallen 2004, S. 183 f.).
Demnach erkennt das Verwaltungsgericht zu Recht:
1. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Kantons- und Gemeindesteuern 2012
(B 2017/152) teilweise gutgeheissen, der angefochtene Entscheid der Vorinstanz vom
20. Juni 2017 aufgehoben und die Angelegenheit zur Prüfung des Rekurses gegen die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs vom 23. November 2016 im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Die Beschwerde wird hinsichtlich der direkten Bundessteuer 2012 (B 2017/153) teilweise gutgeheissen, der angefochtene Entscheid der Vorinstanz vom 20. Juni 2017 aufgehoben und die Angelegenheit zur Prüfung der Beschwerde gegen die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs vom 23. November 2016 im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführer und der Beschwerdegegner bezahlen die amtlichen Kosten
des Beschwerdeverfahrens von CHF 2‘000 je zur Hälfte.
Für das Beschwerdeverfahren werden keine ausseramtlichen Kosten entschädigt.
Der Abteilungspräsident Die Gerichtsschreiberin Zürn Blanc Gähwiler
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