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Urteil Versicherungsgericht (SG - AVI 2017/35)

Zusammenfassung des Urteils AVI 2017/35: Versicherungsgericht

A. A. meldete sich beim RAV zur Arbeitsvermittlung an und beantragte Arbeitslosenentschädigung ab dem 1. Januar 2017. Die Unia Arbeitslosenkasse wies den Antrag ab, da A. A. sich vorzeitig pensionieren liess und keine beitragszeitbildende Tätigkeit mehr ausübte. A. A. erhob Einspruch, der abgewiesen wurde. Sie klagte gegen die Entscheidung, da sie unfreiwillig pensioniert wurde. Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass A. A. freiwillig in den Ruhestand gegangen sei. Das Gericht entschied, dass die vorzeitige Pensionierung von A. A. unfreiwillig war, und wies den Fall zur erneuten Prüfung an die Beschwerdegegnerin zurück.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts AVI 2017/35

Kanton:SG
Fallnummer:AVI 2017/35
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:AVI - Arbeitslosenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid AVI 2017/35 vom 09.02.2018 (SG)
Datum:09.02.2018
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 12 Abs. 2 AVIV. Gemäss dem Kreisschreiben des SECO (AVIG-Praxis ALE Rz B178) sind einer versicherten Person, welche nach Erhalt der Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen von der ihr im Vorsorgereglement eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht und die Ausrichtung einer Altersleistung verlangt, auch jene beitragspflichtigen Beschäftigungen als Beitragszeit anzurechnen, welche sie vor der vorzeitigen Pensionierung ausgeübt hat. Dies stellt nach den Materialien und dem Wortlaut eine überzeugende Interpretation von Art. 12 Abs. 2 AVIV dar, weshalb das Gericht auch aus Gründen der Rechtsgleichheit nicht ohne Not davon abweicht (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. Februar 2018, AVI 2017/35).
Schlagwörter: Pension; Pensionierung; Gründen; Person; Kündigung; Vorsorge; Beitragszeit; Arbeitslosenentschädigung; Arbeitsverhältnis; Anspruch; Altersleistung; Arbeitgeberin; Pensionskasse; Bezug; Verordnung; Urteil; Leistung; Rente; Einsprache; Personen; Gericht; Auslegung; Arbeitgeberschaft; Entscheid; Arbeitslosenkasse; Umstrukturierung; Betrieb; Beschäftigung
Rechtsnorm: Art. 13 AVIG;Art. 18c AVIG;Art. 22 AVIG;Art. 9 AVIG;
Referenz BGE:123 V 146; 126 V 393; 126 V 396; 129 V 329; 142 V 425;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts AVI 2017/35

Entscheid vom 9. Februar 2018

Besetzung

Präsidentin Marie Löhrer, Versicherungsrichterinnen Michaela Machleidt Lehmann und

Marie-Theres Rüegg Haltinner; a.o. Gerichtsschreiberin Loriana Krattiger Geschäftsnr.

AVI 2017/35

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführerin,

    gegen

    UNIA Arbeitslosenkasse Kompetenzzentrum D-CH Ost, Strassburgstrasse 11, Postfach, 8021 Zürich 1,

    Beschwerdegegnerin,

    Gegenstand

    Arbeitslosenentschädigung (vorzeitige Pensionierung) Sachverhalt

    A.

    1. A. meldete sich am 14. November 2016 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung an und beantragte Arbeitslosenentschädigung ab dem 1. Januar 2017 (act. G 3.1 I/1 und 2). Die Versicherte war seit dem 1. Mai 2009 bei der B. GmbH als Geschäftsführerin angestellt gewesen. Am 30. September 2016 hatte sie die Kündigung der Arbeitgeberin per 31. Dezember 2016 erhalten.

    2. Mit Verfügung vom 6. April 2017 wies die Unia Arbeitslosenkasse (Arbeitslosen- kasse) den Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 2. Januar 2017 ab. Die Versicherte habe bereits vor der Kündigung vom 30. September 2016 bei der Pensionskasse C. um eine vorzeitige Pensionierung per 1. Januar 2017 ersucht. Demnach habe sie sich freiwillig vor Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters pensionieren lassen und seither keine beitragszeitbildende Tätigkeit mehr ausgeübt. Damit seien aufgrund der fehlenden Beitragszeit die Anspruchsvoraussetzungen für die Arbeitslosenentschädigung nicht gegeben (act. G3.1 II/1).

B.

    1. Mit Schreiben vom 18. April 2017 erhob die Versicherte Einsprache gegen die Verfügung vom 6. April 2017. Sie habe sich aufgrund der Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und einer befürchteten Kündigung bei der Pensionskasse erkundigt, da sie auf jeden Fall eine Altersrente und nicht ein Alterskapital habe beziehen wollen. Sie habe das Arbeitsverhältnis nicht freiwillig aufgelöst. Die im Mai 2016 durch die Pensionskasse C. mitgeteilte Rentenhöhe von ca. Fr. 800.-- pro Monat dürfte eine freiwillige Pensionierung schon widerlegen. Sie sei nicht freiwillig in Pension gegangen sondern aus wirtschaftlichen Gründen pensioniert worden. Zudem habe sie weiterhin arbeiten wollen (act. G3.1 II/2).

    2. Mit Einspracheentscheid vom 10. Mai 2017 wurde die Einsprache abgewiesen. Nach Abklärungen bei der ehemaligen Arbeitgeberin stehe fest, dass der Versicherten seitens der Arbeitgeberin gekündigt worden sei. Grund dafür sei eine Umstrukturierung im Betrieb gewesen. Der Inhaber der Arbeitgeberin habe aufgrund von Veränderungen in seinem eigenen Arbeitsverhältnis mehr Kapazität gehabt und daher die Tätigkeiten, welche die Versicherte ausgeübt habe, übernommen. Die Versicherte sei somit weder aus wirtschaftlichen Gründen noch aufgrund zwingender Regelungen der Pensionskasse frühzeitig pensioniert worden. Eine vorzeitige Pensionierung sei der Versicherten im Rahmen der Kündigung nicht angeboten worden, womit die Pensionierung ausschliesslich auf der Initiative der Versicherten beruhe. Weiter habe sich die Versicherte trotz mehreren Möglichkeiten für die vorzeitige Pensionierung entschieden. Vorliegend handle es sich um eine freiwillige vorzeitige Pensionierung, weshalb nur jene beitragspflichtige Beschäftigung als Beitragszeit angerechnet werden dürfe, welche nach der Pensionierung ausgeübt worden sei. Die Versicherte habe seit der Pensionierung keine beitragszeitbildende Tätigkeit mehr ausgeübt, weshalb die vorgesehene Beitragszeit von zwölf Monaten nicht erfüllt sei und kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung bestehe (act. G3.1 II/3).

C.

    1. Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegend zu beurteilende Beschwerde vom 6. Juni 2017 (Datum Poststempel: 8. Juni 2017) mit den Anträgen, der Einspracheentscheid vom 10. Mai 2017 sei aufzuheben und die vorzeitige Pensionierung als unfreiwillig zu akzeptieren. Sie habe sich weder freiwillig

      pensionieren lassen noch das Arbeitsverhältnis freiwillig aufgelöst, denn es habe ihr

      keine Alternative offen gestanden. Das Formular „Meldung Altersfall“ habe sie erst am

      12. Januar 2017 bei der Pensionskasse eingereicht, womit gezeigt sei, dass sie sich nicht im Mai 2016 habe freiwillig vorzeitig pensionieren lassen. Die Kündigung sei aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund der Umstrukturierung, auf die sie keinen Einfluss gehabt habe, erfolgt. Damit gelte die Pensionierung als unfreiwillig und ihr seien die vor der vorzeitigen Pensionierung ausgeübten beitragspflichtigen Beschäftigungen als Beitragszeit anzurechnen (act. G1).

    2. Mit Beschwerdeantwort vom 4. Juli 2017 beantragt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der Beschwerde. Obwohl die Gründe für den Bezug von Altersleistungen nachvollziehbar seien, könne den Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht gefolgt werden. Die Pensionskasse habe die Beschwerdeführerin auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, insbesondere auf die Auszahlung des Altersguthabens auf ein Freizügigkeitskonto, hingewiesen und dennoch habe sie sich freiwillig für den vollen Rücktritt entschieden. Der Beschwerdeführerin könne demnach nur noch die Beitragszeit, welche sie nach der vorzeitigen Pensionierung ausgeübt habe, angerechnet werden (act. G3).

    3. Mit Replik vom 8. September 2017 hält die Beschwerdeführerin an den gestellten Anträgen fest. Sie sei unfreiwillig aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden. Der Rentenbezug sei nicht ausschlaggebend für die Beurteilung der Freiwilligkeit der Pensionierung (act. G5).

    4. Die Beschwerdegegnerin bringt in ihrer Duplik vom 16. Oktober 2017 vor, dass aus Sicht der Arbeitslosenkasse kein Ausnahmefall vorliege, auch wenn sich die Versicherte aus persönlichen Gründen gezwungen gesehen habe, sich pensionieren zu lassen und eine Altersrente zu beziehen. Der Beschwerdeführerin sei allerdings insoweit zuzustimmen, dass sie unfreiwillig aus der B. GmbH ausgeschieden sei (act. G7).

Erwägungen

1.

Vorliegend ist strittig, welche Beitragszeiten der Beschwerdeführerin aufgrund der vorzeitigen Pensionierung anzurechnen sind beziehungsweise ob die Beschwerdeführerin die Anspruchsvoraussetzung der genügenden Beitragszeit erfüllt.

    1. In Art. 8 Abs. 1 lit. e des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung (AVIG; SR 837.0) wird als eine Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung die Erfüllung der Beitragszeit genannt. Die Beitragszeit hat erfüllt, wer innerhalb der Rahmenfrist nach Art. 9 Abs. 3 AVIG während mindestens zwölf Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat (Art. 13 Abs. 1 AVIG). Die Rahmenfrist für die Beitragszeit beginnt zwei Jahre vor dem Tag, an welchem die versicherte Person erstmals sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 AVIG).

    2. Nach Art. 13 Abs. 3 AVIG kann der Bundesrat zur Verhinderung eines ungerechtfertigten gleichzeitigen Bezugs von Altersleistungen der beruflichen Vorsorge und von Arbeitslosenentschädigung die Anrechnung von Beitragszeiten für diejenigen Personen abweichend regeln, die vor Erreichen des Rentenalters nach Art. 21 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) pensioniert wurden, jedoch weiterhin als Arbeitnehmende tätig sein wollen. Art. 13 Abs. 3 AVIG will den gleichzeitigen Bezug von Pensionskassenleistungen und Arbeitslosenentschädigung nicht schlechterdings verbieten, sondern nur den ungerechtfertigten Bezug beider Leistungen verhindern (BGE 123 V 146 E. 4b).

    3. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der Bundesrat Art. 12 der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIV; SR 837.02) erlassen. Darin wird festgelegt, dass einer versicherten Person, die vor Erreichung des Rentenalters der AHV pensioniert worden ist, nur jene beitragspflichtigen Beschäftigungen als Beitragszeit angerechnet werden, die sie nach der Pensionierung ausgeübt hat (Art. 12 Abs. 1 AVIV). Davon ist eine Ausnahme zu machen, wenn die versicherte Person aus wirtschaftlichen Gründen auf Grund von zwingenden Regelungen im Rahmen der beruflichen Vorsorge vorzeitig pensioniert wurde (Art. 12 Abs. 2 lit. a AVIV) und einen Anspruch auf Altersleistungen erwirbt, der geringer ist als die Entschädigung, die ihr nach Art. 22 AVIG zustünde (Art. 12 Abs. 2 lit. b AVIV). Dabei gelten als Altersleistungen die Leistungen der obligatorischen und

weitergehenden beruflichen Vorsorge, unabhängig davon, ob es sich um eine ordentliche Altersleistung um eine Vorruhestandsleistung handelt (Art. 12 Abs. 3 AVIV). Mit Urteil vom 25. Februar 2003 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG; seit dem 1. Januar 2007: Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts) die Gesetz- und Verfassungsmässigkeit von Art. 12 AVIV bejaht (BGE 129 V 329 ff. E. 4).

2.

Um zu klären, welche Beitragszeiten vorliegend anzurechnen sind, ist zu prüfen, ob die vorzeitige Pensionierung der Beschwerdeführerin aus einem der in Art. 12 Abs. 2 lit. a AVIV genannten Gründen erfolgte.

    1. Vorab ist zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin aus wirtschaftlichen Gründen

      entlassen worden ist.

      1. Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang geltend, ihr sei von der ehemaligen Arbeitgeberin gekündigt worden, weil deren Inhaber durch Veränderungen in seinem eigenen Arbeitsverhältnis mehr Kapazität gehabt habe und die Tätigkeiten, welche bis anhin sie erledigt habe, selber übernommen habe. Es handle sich dabei um eine Umstrukturierung im Betrieb, welche einen wirtschaftlichen Grund für die erfolgte Kündigung darstelle (act. G3.1 II/2, G1 und G5).

      2. Die Beschwerdegegnerin führt aus, es stehe fest, dass die Arbeitgeberin das

        Arbeitsverhältnis mit der Beschwerdeführerin wegen Umstrukturierung im Betrieb am

        30. September 2016 auf den 31. Dezember 2016 aufgelöst habe. Es handle sich dabei nicht um eine Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen (act. G3.1 II/3).

      3. Beide Parteien gehen von einer Kündigung aufgrund von Umstrukturierungen im Betrieb aus, was von der ehemaligen Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin entsprechend bestätigt wurde (act. G3.1 III/1). Die Beschwerdeführerin wurde folglich nicht aus in ihrer Person liegenden Gründen, sondern gerade aus betriebsbedingten Gründen entlassen. Ihre Stelle wurde nicht wieder besetzt, sondern der Betriebsinhaber übt die Geschäftsführung nun alleine aus. Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin liegt damit eine Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen vor.

    1. Die Beschwerdeführerin hatte im Anschluss an die Kündigung aufgrund des Reglements der Pensionskasse C. die Wahl zwischen einer Austritts- und einer Altersleistung und hat sich am 12. Januar 2017 für die Altersleistung entschieden. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hält im Kreisschreiben (AVIG-Praxis ALE) fest, dass eine unfreiwillige vorzeitige Pensionierung vorliege, wenn die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen auflöst und die versicherte Person von der ihr im Vorsorgereglement eingeräumten Möglichkeit Gebrauch mache, die Ausrichtung einer Altersleistung zu verlangen (AVIG-Praxis ALE Rz B178). Nach ständiger Rechtsprechung sind Verwaltungsweisungen keine Rechtsnormen und daher für das Gericht - im Gegensatz zu den der Aufsichtsbehörde untergeordneten Durchführungsstellen - nicht verbindlich. Das Gericht berücksichtigt die Kreisschreiben und weicht nicht ohne triftigen Grund davon ab, wenn sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben enthalten. Dadurch wird dem Bestreben einer rechtsgleichen Gesetzesanwendung Rechnung getragen (BGE 142 V 425 E. 7.2). Die Auslegung des Gesetzes beziehungsweise der Verordnungsbestimmung durch das SECO ist im Folgenden auf ihre Überzeugungskraft zu prüfen.

      1. Gemäss den von der Beschwerdegegnerin aufgeführten Entscheiden des EVG (BGE 126 V 396 E. 3b/aa und 129 V 327 E. 3.1) fallen nur jene Personen unter die Spezialbestimmung von Art. 12 Abs. 2 AVIV, bei welchen die vorzeitige Pensionierung aufgrund objektiver Umstände erfolgte, ohne dass ihnen eine Alternative offen stand. Die Beschwerdegegnerin verweist weiter darauf, dass für die Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 2 AVIV nicht der unfreiwillige Stellenverlust, sondern die Unfreiwilligkeit der vorzeitigen Pensionierung, mithin des Bezuges einer Altersleistung der beruflichen Vorsorge entscheidend sei (Urteil des EVG vom 23. Juni 2003, C 227/02 E. 3.3; vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. XIV, Soziale Sicherheit, 3. Aufl. Basel 2016, Rz

        226. f.). Diese Urteile des EVG können nicht ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall angewendet werden. In den genannten Fällen lag gerade keine Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen vor. Das EVG führt in diesen Urteilen aus, dass Personen in einem festen Anstellungsverhältnis durch Art. 12 AVIV davon abgehalten werden sollen, ihr Arbeitsverhältnis zu kündigen, um neben der Altersleistung der beruflichen Vorsorge

        auch noch Arbeitslosenentschädigung zu erhalten. Personen, die an ihrer Arbeitsstelle bleiben möchten, dies aber nicht tun können, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen entlassen werden, sollen dagegen nicht unter die Regel von Art. 12 Abs. 1 AVIV fallen. Demgegenüber fallen Personen, deren Arbeitsverhältnis seitens der Arbeitgeberschaft nicht aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt wird, unter Art. 12 Abs. 1 AVIV (vgl. BGE 126 V 393 E. 3 b/bb). Die Einschränkung auf Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen sollte verhindern, dass eine durch die Arbeitgeberschaft erfolgte, jedoch durch die arbeitnehmende Person provozierte Kündigung zu einer Anrechnung der Beitragszeiten nach Art. 12 Abs. 2 AVIV führt, da dies einer Selbstkündigung gleichkommen würde. Das EVG spricht im zitierten Entscheid entgegen dem Wortlaut des Gesetzes („pensioniert“) denn auch von „aus wirtschaftlichen Gründen entlassen/ gekündigt“. Diese Terminologie erscheint zutreffender, da die Arbeitgeberschaft, vorbehältlich eines reglementarischen Zwangs, nie durch eine Kündigung die Pensionierung veranlassen kann (vgl. CHRISTIAN WENGER, Probleme rund um die vorzeitige Pensionierung in der beruflichen Vorsorge, 2009, S. 200 ff.). Entsprechend hat das EVG bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus wirtschaftlichen Gründen entschieden, dass es einen Anwendungsfall von Art. 12 Abs. 2 AVIV darstelle, auch wenn eine versicherte Person die Wahl zwischen der vorzeitigen Pensionierung und einer betriebsbedingten Entlassung habe. Die Tatsache, dass die versicherte Person zwischen den beiden Optionen „wählen“ könne, lasse nicht den Schluss zu, dass sie freiwillig in den Ruhestand gegangen sei (Urteil des EVG vom 13. April 2006, C 12/05 E. 3.2).

      2. Diese Auslegung der Verordnungsbestimmung ergibt sich auch aus den Materialien. In der bundesrätlichen Botschaft zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980 heisst es zum heute bestehenden Art. 13 Abs. 3 AVIG (Art. 12 Abs. 3 des Entwurfs entspricht dem Gesetz gewordenen Art. 13 Abs. 3 AVIG in seiner ursprünglichen Fassung [vgl. BBl 1980 III 652 mit AS 1982 2188]), dass dieser die Rechtsgrundlage dafür biete, dass unter Umständen auf dem Verordnungswege für vorzeitig Pensionierte strengere Anforderungen an die vorgängige Beitragspflicht gestellt werden könne. Es soll damit verhindert werden, dass diese unmittelbar im Anschluss an ihre Pensionierung zusätzlich zur Pension noch Arbeitslosenentschädigung beziehen können, ohne dass sie ihre weitere

        Vermittlungsfähigkeit und vor allem Vermittlungswilligkeit unter Beweis stellen (BBl 1980 III 563). Es bestand demnach die Vermutung, dass die Vermittlungsfähigkeit und insbesondere der Vermittlungswille nach der Pensionierung nicht mehr gegeben und durch eine neue Beitragszeit unter Beweis zu stellen sind. Der Verordnungsgeber hat dabei angenommen, dass eine versicherte Person, welche aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden ist, also aus Gründen, die ausserhalb ihrer Person stehen, weiterhin vermittlungsfähig und vor allem vermittlungsbereit ist, da sie die Arbeitsstelle nicht freiwillig aufgeben wollte. Art. 12 Abs. 2 lit. a AVIV wurde denn auch erst im Rahmen der 3. Teilrevision des AVIG ergänzt durch „oder aufgrund von zwingenden Regelungen im Rahmen der beruflichen Vorsorge“. Damit wurde der Personenkreis von Art. 12 Abs. 2 AVIV erweitert durch jene, die beispielsweise aufgrund einer bestimmten Zugehörigkeitsdauer zur entsprechenden Vorsorgeeinrichtung zwingend pensioniert wurden. Damit sollte nicht ein kumulativ zu erfüllendes Kriterium neben jenes der Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen hinzukommen. Dies zeigt sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung, indem „oder“ und nicht „und“ verwendet wurde. Würde für die Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 2 AVIV verlangt, dass die versicherte Person nach der Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen ohne Alternative pensioniert wird, sie also keine Wahlmöglichkeit haben dürfte, würde das Kriterium der wirtschaftlichen Gründe hinfällig werden, da die Arbeitgeberschaft - vorbehältlich eines reglementarischen Zwangs - durch die Kündigung keine Pensionierung veranlassen kann. Vielmehr wird in einer solchen Situation zur Veranlassung der Pensionierung immer ein Antrag der versicherten Person benötigt (vgl. WENGER, a.a.O., S. 200; GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz [AVIG], Bd. 3, Bern 1993, S. 1184).

      3. Dieselbe Meinung vertritt auch RUBIN (BORIS RUBIN, Commentaire de la loi sur l’assurance-chômage, 2014, Art. 13 Rz 34). Er geht klar davon aus, dass eine versicherte Person, die aus wirtschaftlichen Gründen entlassen wurde und von der im Vorsorgereglement vorgesehenen Wahlmöglichkeit einer vorzeitigen Pensionierung Gebrauch macht, in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 AVIV fällt.

      4. Zu berücksichtigen sind bei der Auslegung von Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen jeweils auch von der Schweiz unterzeichnete Staatsverträge und Übereinkommen. Am 17. Oktober 1991 ist für die Schweiz das

        Übereinkommen Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vom 21. Juni 1988 (nachfolgend Übereinkommen; SR 0.822.726.8) in Kraft getreten. Gemäss dessen Art. 20 lit. g können Leistungen, auf die eine geschützte Person bei Voll- Teilarbeitslosigkeit Anspruch hätte, in einem vorgeschriebenen Masse verweigert, entzogen, zum Ruhen gebracht gekürzt werden, solange die betreffende Person eine andere Leistung der Einkommenssicherung erhält, die in der Gesetzgebung des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehen ist, vorausgesetzt, dass der ruhende Teil der Leistung die andere Leistung nicht übersteigt. Damit soll auf Seiten der Versicherten die Einkommenssicherung gewährleistet werden und auf Seiten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Verhinderung einer Überentschädigung geboten werden. Bei einer völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 12 Abs. 2 lit. a AVIV können keine überhöhten Anforderungen an die wirtschaftlichen Gründe an die zwingenden Regelungen im Rahmen der beruflichen Vorsorge gestellt werden, da ansonsten die Einkommenssicherung nicht mehr gewährleistet wäre. Insbesondere kann nicht entgegen dem Wortlaut der Bestimmung und den Materialien davon ausgegangen werden, dass neben einer Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen seitens der Arbeitgeberschaft auch ein Zwang zur Pensionierung aus dem Vorsorgereglement der beruflichen Vorsorge vorliegen muss. Dies würde den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 AVIV in einer zu restriktiven Weise beschränken, die nicht mehr mit Art. 20 lit. g des Übereinkommens vereinbar wäre.

      5. Im zur Publikation vorgesehenen Urteil vom 12. Januar 2018 (8C_465/2017) bejahte das Bundesgericht den gleichzeitigen Bezug einer Teilrente aus der beruflichen Vorsorge und von Arbeitslosenentschädigung bei einem befristeten Arbeitsverhältnis, welches mit Ablauf der Frist endete, wobei anschliessend eine selbstgewählte Teilpensionierung erfolgte. Das Bundesgericht hielt fest, die Arbeitslosenkasse habe durch die Teilpensionierung tiefere Arbeitslosenentschädigungen zu entrichten, weil die ausbezahlten Leistungen aus der beruflichen Vorsorge in Abzug gebracht werden könnten (vgl. Art. 18c Abs. 1 AVIG). Die vom Versicherten gewählte Teilpensionierung stelle daher eine Schadenminderung dar (E. 4.3.3 dieses Urteils). Die geringe Höhe der erworbenen Rente aus der beruflichen Vorsorge der Beschwerdeführerin von Fr.

809.15 ist zweifellos nicht existenzsichernd. Vielmehr ist auch die Beschwerdeführerin durch die Wahl der vorzeitigen Pensionierung ihrer Schadenminderungspflicht

nachgekommen. Denn sie hat ohne Verschulden ihre Arbeitsstelle verloren, obwohl sie weiterarbeiten wollte und aus finanziellen Gründen auch musste. Durch den Bezug der Rente aus der beruflichen Vorsorge verringert sich auch bei der Beschwerdeführerin aufgrund von Art. 18c Abs. 1 AVIG die Höhe der Arbeitslosenentschädigung.

2.2.6 Insgesamt stellt das Kreisschreiben des SECO (AVIG-Praxis ALE Rz B178) eine überzeugende Interpretation des Gesetzes dar, weshalb auch das Gericht aus Gründen der Rechtsgleichheit nicht ohne Not davon abweicht. Damit sind der Beschwerdeführerin auch Beitragszeiten, welche sie vor der Pensionierung ausgeübt hat, anzurechnen. Bei einer vom Kreisschreiben des SECO abweichenden Auslegung der Verordnungsbestimmung wäre der Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht zu prüfen. Denn die Verwaltungsbehörden sind an die Weisungen des SECO gebunden, womit vorliegend wohl eine langjährige Praxis besteht, wonach bei Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen seitens der Arbeitgeberschaft die anschliessende Ausübung der im Vorsorgereglement eingeräumten Möglichkeit als unfreiwillige vorzeitige Pensionierung qualifiziert und entsprechend Taggelder ausgerichtet werden.

3.

    1. Im Sinne der Erwägungen ist die Beschwerde damit gutzuheissen, der Einspracheentscheid vom 10. Mai 2017 aufzuheben und die Sache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    2. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a des Bundesgesetzes über den

Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]).

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid vom 10. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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