E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Versicherungsgericht (SG - AVI 2011/104)

Zusammenfassung des Urteils AVI 2011/104: Versicherungsgericht

A. meldete sich am 27. April 2010 beim RAV an und arbeitete für die B. AG. Die Kantonale Arbeitslosenkasse lehnte rückwirkend ab dem 3. Mai 2010 Arbeitslosenentschädigung ab und forderte zu viel bezogene Taggeldleistungen zurück. Ein Rechtsstreit entstand, da die Versicherte weiterhin bei der B. arbeitete. Die Beschwerdegegnerin zog einige Taggeldabrechnungen in Wiedererwägung, was zu einem Streit über die Arbeitslosenentschädigung führte. Die Beschwerdeführerin hatte ab Mai 2011 erneut Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, da sie bei einem neuen Arbeitgeber beschäftigt war. Nach Prüfung der Umstände wurde die Beschwerde teilweise gutgeheissen und zur weiteren Abklärung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts AVI 2011/104

Kanton:SG
Fallnummer:AVI 2011/104
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:AVI - Arbeitslosenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid AVI 2011/104 vom 29.08.2012 (SG)
Datum:29.08.2012
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 8 Abs. 1 lit. b, Art. 11 Abs. 1 und Art. 95 Abs. 1 AVIG; Art. 25 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG: Anrechenbarer Arbeitsausfall. Wurde das Arbeitsverhältnis ordentlich gekündigt, besteht unabhängig von allfälligen früheren Beschäftigungsschwankungen ein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Nimmt die versicherte Person zur Schadenminderung während ihrer Arbeitslosigkeit bei der gleichen Arbeitgeberin eine Arbeit auf Abruf an, ist grundsätzlich von einem anrechenbaren Arbeitsausfall auszugehen. Die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der bereits ausbezahlten Taggelder waren vorliegend nicht erfüllt (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. August 2012, AVI 2011/104).Versicherungsrichterin Marie Löhrer (Vorsitz), Versicherungsrichterinnen Christiane Gallati Schneider und Lisbeth Mattle Frei, a.o. Gerichtsschreiberin Karin KastEntscheid vom 29. August 201in SachenA. ,Beschwerdeführerin,vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Michael Bührer, St. Leonhard-Strasse 20, Postfach, 9001 St. Gallen,gegenKantonale Arbeitslosenkasse, Davidstrasse 21, 9001 St. Gallen,Beschwerdegegnerin,betreffendRückerstattung von Taggeldleistungen und ArbeitslosenentschädigungSachverhalt:
Schlagwörter: Arbeit; Arbeitsverhältnis; Stunden; Abruf; Arbeitgeber; Verfügung; Arbeitslosenentschädigung; Anspruch; Kündigung; Recht; Arbeitslosenversicherung; Arbeitsvertrag; Arbeitsausfall; Leistung; Einsatz; Arbeitgeberin; Arbeitszeit; Taggeldabrechnung; Arbeitsverhältnisses; Ferien; Kündigungsfrist; Beschäftigung; Bezug; Einsprache; Abklärung; Stundenlohn; Leistungen; Einsatzvertrag
Rechtsnorm: Art. 10 AVIG;Art. 11 AVIG;Art. 29 AVIG;Art. 319 OR ;Art. 335c OR ;Art. 53 ATSG ;Art. 95 AVIG;
Referenz BGE:103 V 128; 107 V 182; 121 V 169; 122 V 272; 125 III 68; 125 V 476; 129 V 110;
Kommentar:
Ueli Kieser, ATSG- 2. Aufl., Zürich, Art. 53 ATSG, 2009

Entscheid des Verwaltungsgerichts AVI 2011/104

A.

    1. A. meldete sich erstmals am 27. April 2010 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zum Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung per 1. Mai 2010 an (act. G 6.1/4, 9). Der Arbeitgeberbescheinigung ist zu entnehmen, dass die Versicherte vom 10. Juni 2008 bis zum 30. April 2010 bei der B. AG beschäftigt war. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte durch die Arbeitgeberin am 27. Januar 2010 per 30. April 2010 aufgrund wirtschaftlicher Gründe (act. G 6.1/2, 16). Ab Mai 2010 (act. G 6.1/21)

      arbeitete die Versicherte erneut für die B. und erzielte die folgenden Verdienste

      (jeweils exkl. Ferienentschädigung): Mai 2010: Fr. 1'186.90 (act. G 6.1/22); Juni: Fr. 1'560.40 (act. G 6.1/33); Juli: Fr. 830.-- (act. G 6.1/37); August: Fr. 1'743.--

      (act. G 6.1/43; Bezug von Ferien vom 16. Juli 2010 bis 8. August 2010, act. G 6.1/24, 32) und September: Fr. 2'481.70 (Fr. 2'687.70/108.3%; vgl. act. G 6.1/63).

    2. Die Kantonale Arbeitslosenkasse eröffnete der Versicherten eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug vom 3. Mai 2010 bis 2. Mai 2012; in der Kontrollperiode Mai 2010 erhielt sie Taggeldleistungen von Fr. 2'005.15 (netto; act. G 6.1/20), wovon am 20. Juli 2010 wegen des erzielten Zwischenverdienstes Fr. 870.25 zurückgefordert wurden (act. G 6.1/29), im Juni 2010 von Fr. 948.20 (netto; act. G 6.1/34), im Juli 2010 von

      Fr. 615.95 (netto; act. G 6.1/39), im August 2010 von Fr. 0.00 (act. G 6.1/45) und im September 2010 von Fr. 2'098.25 (netto; act. G 6.1/47).

    3. Am 21. Oktober 2010 meldete sich die Versicherte beim RAV von der Arbeitsvermittlung ab und am 28. April 2011 erneut zum Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung per 1. Mai 2011 an (act. G 6.1/48, 52, 66). Der Arbeitgeberbescheinigung ist zu entnehmen, dass die Versicherte vom 1. Mai 2010 bis

      20. April 2011 bei der B. beschäftigt gewesen sein soll. Die Kündigung bzw. die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte durch die Arbeitgeberin. Diese beendete den Einsatzvertrag und stellte gleichzeitig einen neuen Einsatzvertrag (act. G 6.1/65) aus, wonach die Versicherte weiterhin, aber mit weniger Stunden bei ihr beschäftigt bleibe (act. G 6.1/64).

    4. Mit Verfügung vom 26. Mai 2011 teilte die Kantonale Arbeitslosenkasse der

      Versicherten mit, dass ihr Antrag auf Arbeitslosenentschädigung rückwirkend ab dem

      3. Mai 2010 abgelehnt werde und sie zu viel bezogene Taggeldleistungen im Totalbetrag von Fr. 4'797.30 (netto) der Kasse zurückzuzahlen habe. Aufgrund der Wiederanmeldung zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern per 1. Mai 2011 und den eingereichten Unterlagen habe sie festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis bei der B. seit dem 10. Juni 2008 auf Abruf gewesen sei. Das Arbeitsverhältnis sei zwar durch die Arbeitgeberin auf den 30. April 2010 aufgelöst worden, es handle sich hier jedoch um eine formale Kündigung, weil die Versicherte auch danach weiterhin bei der B. gearbeitet habe und dies wieder im Rahmen eines Abrufverhältnisses. Das

      Arbeitsverhältnis habe in zeitlicher Hinsicht so starke Schwankungen aufgewiesen, dass der Anspruch ab dem 3. Mai 2010 abgelehnt werden müsse, womit ein Rückforderungsanspruch der Kantonalen Arbeitslosenkasse bestehe. Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab dem 1. Mai 2011 werde ebenfalls abgelehnt

      (act. G 6.1/74).

    5. Die gegen diese Verfügung von der AXA-ARAG Rechtsschutzversicherung für die Versicherte erhobene Einsprache vom 9. Juni 2011/24. Juni 2011 (act. G 6.1/81, 84) wies die Kantonale Arbeitslosenkasse mit Entscheid vom 10. November 2011 ab. Da die Versicherte seit dem 10. Juni 2008 ununterbrochen bei der gleichen Arbeitgeberin angestellt gewesen sei, wenn auch wiederholt mit geändertem Beschäftigungsgrad, habe sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (act. G 3.1).

B.

    1. Gegen diesen Einspracheentscheid richtet sich die von Rechtsanwalt lic. iur. Michael Bührer, St. Gallen, für die Versicherte eingereichte Beschwerde vom 12. Dezember 2011 mit den Anträgen, der Einspracheentscheid vom 10. November 2011 sei aufzuheben und der Beschwerdeführerin seien die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Abklärung der tatsächlichen Verhältnisse an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen; unter Kosten- und Entschädigungsfolge (act. G 1). Der Arbeitsvertrag zwischen der Versicherten und der B. regle kein Arbeitsverhältnis auf Abruf, sondern ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Anfänglich sei ein Pensum von 15 Stunden vorgesehen gewesen, wobei die Versicherte in den letzten zwölf Monaten vor dem Ende des Arbeitsvertrags durchschnittlich mehr als das Doppelte, nämlich 32.78 Stunden gearbeitet habe. Die Versicherte habe bis zur Kündigung auf den 30. April 2010 stets am gleichen Ort – bei der Firma C. – gearbeitet. Sie habe dort regelmässige, stets gleichbleibende Einsätze geleistet. Die Versicherte habe im Stundenlohn gearbeitet, weshalb die Ferien und Feiertage gemäss Arbeitsvertrag mit einem Zuschlag zum Lohn abgegolten worden seien. Während den Ferien und Feiertagen habe die Versicherte deshalb keinen Lohn bezogen, was erkläre, dass ihr Lohn in den Ferien- und Feiertagsmonaten tiefer gewesen sei als während der übrigen Zeiten. Gegen Ende der Kündigungsfrist sei die Versicherte in der Hoffnung auf eine Weiterbeschäftigung eingesprungen, wenn ihre Arbeitgeberin sich erkundigt habe,

      ob sie zusätzliche Arbeiten übernehmen könnte. Als die C. der B. den Reinigungsauftrag entzogen habe, habe die B. der Versicherten unter Wahrung der Kündigungsfrist gekündigt. Eine Kündigung hätte sich erübrigt, wenn ein Arbeitsverhältnis auf Abruf vorgelegen hätte. Selbst wenn Arbeit auf Abruf vorliegen sollte, wäre der Arbeitsausfall anrechenbar, da die Beschäftigungsschwankungen in den einzelnen Monaten im Verhältnis zu den im Monatsdurchschnitt geleisteten Arbeitsstunden höchstens 20% nach unten oben ausmachen würden. Von Mai 2010 bis September 2010 sei die Beschwerdeführerin auf Abruf für die B. tätig gewesen und habe einen Zwischenverdienst erzielt, womit sie ihrer Schadenminderungspflicht nachgekommen sei. Ab Oktober 2010 sei die Beschwerdeführerin stets am gleichen Ort (Firma D. ) mit der stets gleichen Aufgabe (Kontrolleurin) beschäftigt gewesen, weshalb keine Arbeit auf Abruf vorgelegen habe. Im Weiteren bestreitet der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiedererwägung bzw. Revision (act. G 4).

    2. In der Beschwerdeantwort vom 14. Februar 2012 beantragt die

      Beschwerdegegnerin, die Beschwerde sei abzuweisen (act. G 6).

    3. In der Replik vom 14. März 2012 hält der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin an den Anträgen unverändert fest (act. G 10). Die Beschwerdegegnerin verzichtet auf die Einreichung einer Duplik (act. G 12).

Erwägungen:

1.

    1. Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person ganz teilweise arbeitslos ist (Art. 8 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG; SR 837.0]) und einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat (Art. 8 Abs. 1 lit. b AVIG).

      1. Als ganz arbeitslos gilt, wer in keinem Arbeitsverhältnis steht und eine Vollzeitbeschäftigung sucht (Art. 10 Abs. 1 AVIG). Als teilweise arbeitslos gilt, wer entweder in keinem Arbeitsverhältnis steht und lediglich eine Teilzeitbeschäftigung

        sucht wer eine Teilzeitbeschäftigung hat und eine Vollzeit- eine weitere Teilzeitbeschäftigung sucht (Art. 10 Abs. 2 AVIG). Nicht als teilweise arbeitslos gilt, wessen normale Arbeitszeit vorübergehend verkürzt wurde (Kurzarbeit; Art. 10 Abs. 2bis AVIG). Unter dem Begriff der Teilzeitbeschäftigung versteht die Rechtsprechung – in Anlehnung an die in Art. 319 Abs. 2 OR enthaltene Umschreibung – die regelmässige Leistung von stunden-, halbtage- tageweiser Arbeit im Rahmen eines ununterbrochenen Arbeitsverhältnisses und im Dienst des Arbeitgebers, zu der sich die arbeitnehmende Person verpflichtet hat. Entscheidend ist nicht der Rhythmus, sondern allein die Dauer des Arbeitsverhältnisses. Auf diese Weise lässt sich die Teilzeitarbeit gegenüber der nur vorübergehend ausgeübten Aushilfs- Abrufertätigkeit abgrenzen, bei der mit dem jeweiligen Einsatz ein neues Arbeitsverhältnis begründet wird (BGE 121 V 169 E. 2c/aa; Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. XIV Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, N 141).

      2. Der Arbeitsausfall ist anrechenbar, wenn er einen Verdienstausfall zur Folge hat und mindestens zwei aufeinander folgende volle Arbeitstage dauert (Art. 11 Abs. 1 AVIG). Rechtsprechungsgemäss ist der Ausfall an normaler Arbeitszeit in der Regel aufgrund der im Beruf Erwerbszweig der versicherten Person allgemein üblichen Arbeitszeit zu ermitteln. Besteht hingegen eine besondere Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, so bemisst sich die normale Arbeitszeit nach der persönlichen Arbeitszeit der versicherten Person.

    1. Ein Arbeitsverhältnis auf Abruf liegt vor, wenn der Zeitpunkt und die Dauer der einzelnen Arbeitseinsätze durch einseitiges Begehren des Arbeitgebers durch Parteivereinbarung bestimmt werden, sich der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin mit anderen Worten verpflichtet, sich zur Arbeitsleistung bereit zu halten. Der Einsatz kann regelmässig erfolgen sporadisch abgerufen werden und das Arbeitsverhältnis kann befristet unbefristet sein (Christoph Senti, Arbeitsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Pikettdienst, in: ZBJV 2006, S. 646; Frank Vischer, Der Arbeitsvertrag, 2. Aufl., Basel 2005, S. 45; Giacomo Roncoroni, Arbeit auf Abruf und Gelegenheitsarbeit, in: AJP 1998, S. 1411; Ullin Streiff/Adrian von Kaenel, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319 - 362 OR, Art. 319 N 18). Die Vertragsparteien vereinbaren den Zeitpunkt und die Dauer der einzelnen Einsätze von

      Mal zu Mal (Einsatzvertrag) innerhalb der Schranken des von ihnen abgeschlossenen

      Rahmenvertrags (Roncoroni, a.a.O., S. 1413).

    2. Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Der Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Die für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung (BGE 122 V 272 E. 2) und finden ebenfalls Anwendung, wenn die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen formlos verfügt worden sind (BGE 107 V 182 E. 2a in

fine). Den formell rechtskräftigen Verfügungen gleichgestellt sind auch die im formlosen Verfahren ergangenen Entscheide, soweit sie eine mit dem Ablauf der Beschwerdefrist bei formellen Verfügungen vergleichbare Rechtsbeständigkeit erreicht haben (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2009, Art. 53 N 10). Taggeldabrechnungen der Arbeitslosenversicherung, die in der Regel nicht in die Form einer formellen Verfügung gekleidet werden, weisen materiell Verfügungscharakter auf (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG, seit 2007 Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 14. Juli 2003, C 7/02, E. 3.1; BGE 125 V 476 E. 1; 122 V 368

E. 2 mit Hinweisen). Nach der neueren Rechtsprechung kann der Versicherungsträger, der einen formlosen Entscheid erlassen hat, diesen nur innerhalb einer Frist von 30 Tagen voraussetzungslos abändern (Kieser, a.a.O., Art. 53 N 28; vgl. BGE 129 V 110). Zu einem späteren Zeitpunkt bedarf demnach das Zurückkommen auf eine faktische Verfügung, z.B. auf eine Taggeldabrechnung, eines Rückkommenstitels in Form einer Wiedererwägung einer prozessualen Revision. Eine zweifellose Unrichtigkeit liegt nicht nur dann vor, wenn die in Wiedererwägung zu ziehende Verfügung aufgrund falscher unzutreffender Rechtsregeln erlassen wurde, sondern auch dann, wenn massgebliche Bestimmungen nicht unrichtig angewandt wurden (ARV 1996/1997 Nr. 28 S. 158 E. 3c), wobei eine gesetzwidrige Leistungszusprechung in der Regel als zweifellos unrichtig gilt (BGE 103 V 128).

2.

Streitig und zu prüfen ist zunächst die Frage, ob die Beschwerdegegnerin die Taggeldabrechnungen von Mai 2010 bis September 2010 zu Recht in Wiedererwägung gezogen hat. Dazu ist vorfrageweise zu klären, ob die Beschwerdeführerin die Anspruchsvoraussetzungen "Arbeitslosigkeit" und "anrechenbarer Arbeitsausfall" für den ab 1. Mai 2010 geltend gemachten Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung erfüllt hat.

    1. Die Beschwerdeführerin schloss mit der B. am 27. Juni 2008 einen schriftlichen "Arbeitsvertrag für Teilzeitangestellte" mit folgendem zusammengefassten Inhalt ab: Die Beschwerdeführerin arbeitet bei der B. als Reinigerin im Objekt C. , wobei sie bei Bedarf auch in anderen Objekten und für andere Tätigkeiten eingesetzt werden kann (Ziff. 1). Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt ca. 15 Stunden und richtet sich nach den Anforderungen des Kunden, weshalb sie variabel ist. Die Beschwerdeführerin ist verantwortlich, dass sie die Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche nicht überschreitet und eine Ruhezeit von 11 Stunden einhält (Ziff. 4). Die Lohnzahlung erfolgt im Stundenlohn, der Fr. 16.60 (exkl. Ferienentschädigung von 8.33%; Ziff. 5) beträgt (act. G 4.1/13 und act. G 6/106a). Gemäss Arbeitgeberbescheinigung vom 18. Mai 2010 betrug die wöchentliche Normalarbeitszeit für die Zeit von Juni 2008 bis April 2010 im Betrieb 40 Stunden pro Woche und es soll mit der Beschwerdeführerin – entgegen dem schriftlichen Arbeitsvertrag – eine vertragliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden pro Woche bei einem Bruttomonatslohn von Fr. 4'038.65 vereinbart worden sein (act. G 6.1/16). Die Lohnabrechnungen von März 2009 bis April 2010 zeigen allerdings, dass die Arbeitgeberbescheinigung nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen kann. Denn die Beschwerdeführerin wurde nicht mit einem Bruttomonatslohn, sondern im Stundenlohn entschädigt (act. G 6.1/12, 13). Aus den Akten ergibt sich im Weiteren, dass die Beschwerdeführerin in den letzten zwölf Monaten ihres Arbeitsverhältnisses im Rahmen eines durchschnittlichen Beschäftigungsgrads von 88.15% tätig war. Der durchschnittliche Beschäftigungsgrad liegt bei 97.73%, wenn lediglich die letzten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt werden (act. G 6.1/18, 19). Zudem ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen des Arbeitsverhältnisses von Juni 2008 bis April 2010 ihre Einsätze stets am gleichen Ort (C. ) geleistet hat (act. G 4 Ziff. 4 f.). Nachdem die C. der B. den Reinigungsauftrag entzogen hatte, kündigte diese das Arbeitsverhältnis mit der

      Beschwerdeführerin unter Einhaltung der vereinbarten dreimonatigen Kündigungsfrist ordentlich. Die Beschwerdeführerin arbeitete erst ab dem 20. Mai 2010 wieder für die B. in einem wesentlich geringeren Beschäftigungsumfang und übte ab diesem Zeitpunkt ihre Tätigkeit an verschiedenen Einsatzorten aus (vgl. act. G 6.1/21, 22 und 63 sowie act. G 4 Ziff. 8). Das seit Juni 2008 bestehende Arbeitsverhältnis war somit per Ende April 2010 tatsächlich beendet und ab Mai 2010 wurde ein neues Arbeitsverhältnis mit neuen Bedingungen abgeschlossen. Nachdem der erste Arbeitsvertrag mit der B. somit per Ende April 2010 ordentlich gekündigt und beendet war, war die Beschwerdeführerin grundsätzlich ab Anfang Mai 2010 auch tatsächlich arbeitslos.

    2. Es stellt sich damit die Frage, ob die Beschwerdeführerin wegen ihrer weiteren Arbeitseinsätze für die gleiche Arbeitgeberin ab 20. Mai 2010 keinen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat. So besteht z.B. kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn ein Arbeitsverhältnis innerhalb eines Jahres zwischen den gleichen Parteien wieder aufgenommen nach einer Änderungskündigung fortgesetzt wird, wenn die Arbeitszeit reduziert wurde und die damit verbundene Lohnkürzung überproportional ist die Arbeitszeit beibehalten, der Lohn aber gekürzt wurde (vgl. Art. 24 Abs. 3bis AVIG i.V.m. Art. 41a Abs. 3 der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [Arbeitslosenversicherungsverordnung, AVIV; SR 837.02]). Im vorliegenden Fall fand allerdings keine überproportionale Lohnkürzung statt, vielmehr erhielt die Beschwerdeführerin weiterhin den gleichen Stundenlohn von Fr. 16.60 (vgl. act. G 6.1/22).

    3. Damit bleibt zu prüfen, ob eine Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalls entfällt, weil es sich bei diesen Einsätzen für die gleiche Arbeitgeberin um Arbeit auf Abruf gehandelt hat. In den Akten gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführerin aus freien Stücken einer Arbeit auf Abruf nachgegangen ist. Vielmehr erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass sie diese neuen Arbeitseinsätze bei der gleichen Arbeitgeberin zur Schadenminderung angenommen hat. Gemäss einer Weisung des seco geht der Gedanke der Schadenminderung erst verloren, wenn die neue Arbeitssituation für die versicherte Person zur Normalität wird, was der Fall sein kann, wenn ein Arbeitsverhältnis auf Abruf länger als ein Jahr dauert (vgl. 011-AVIG-

      Praxis 2012/10). Es kann offen bleiben, ob dieser Verwaltungspraxis zu folgen ist. Jedenfalls war im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin nur während fünf Monaten arbeitslos und konnte sich im Oktober 2010 bereits wieder von der Arbeitsvermittlung abmelden. Es ist daher davon auszugehen, dass der von ihr in der Zeit von Mai bis September 2010 erlittene Arbeitsausfall anrechenbar ist. Die Auszahlung von Arbeitslosentaggeldern ab 3. Mai 2010 war jedenfalls nicht zweifellos unrichtig.

    4. Unter den gegebenen Umständen hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin zu Recht ab 3. Mai 2010 eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet und ihr in der Folge unter Anrechnung ihres Zwischenverdienstes Arbeitslosenentschädigung ausbezahlt. Für die Taggeldabrechnungen vom 20. Juli 2010 für den Monat Mai 2010, vom 12. August 2010 für den Monat Juni 2010 und vom

6. September 2010 für den Monat Juli 2010 fehlt es damit an einem Rückkommmenstitel, weshalb eine Rückforderung dieser ausbezahlten Taggelder unzulässig ist. Einzig die Taggeldabrechnung vom 5. Oktober 2010 für den Monat September 2010 erscheint zweifellos unrichtig, da sie den von der Beschwerdeführerin in diesem Monat erzielten Zwischenverdienst nicht berücksichtigt (vgl. act. G 6.1/47, 63). Die Arbeitslosenentschädigung für den Monat September betrug Fr. 2'283.60 brutto, womit der Zwischenverdienst offenbar höher als die mögliche Arbeitslosenentschädigung war (vgl. vorne A.b). Die Sache ist daher bezüglich der Taggeldabrechnung für den Monat September 2010 zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

3.

Streitig und zu prüfen ist im Weiteren die Frage, ob die Beschwerdeführerin ab dem

1. Mai 2011 erneut Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat. Anspruchsberechtigt ist sie, wenn sie im Zeitpunkt der Anmeldung zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung unter anderem arbeitslos war und einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat.

    1. Die Beschwerdeführerin meldete sich per 22. Oktober 2010 von der Arbeitsvermittlung ab (act. G 6.1/49). Gemäss Meldung an das RAV vom 21. Oktober 2010 hatte sie ab Oktober 2010 bei der B. eine Festanstellung (G 6.1/48) und zwar

      als Kontrolleurin bei der Firma D. (vgl. act. G 4 Ziff. 10). Die Beschwerdeführerin war während dieses Anstellungsverhältnisses im Stundenlohn beschäftigt und wies einen durchschnittlichen Beschäftigungsgrad von über 100% auf (Lohn für 100% Beschäftigung = Stundenlohn Fr. 19.40 x 44 Stunden [Normalarbeitszeit] / 5 x 21.7 =

      Fr. 3'705.--; effektive Monatseinkommen: Fr. 4'127.85 im Oktober 2010, Fr. 3'981.45

      im November 2010, Fr. 4'443.65 im Dezember 2010, Fr. 4'538.20 im Januar 2011, Fr.

      5'419.60 im Februar 2011, Fr. 5'163.25 im März 2011 und Fr. 2'888.90 im April 2011

      [bis 20. April 2011]; vgl. act. G 6.1/60, 63).

    2. Die B. löste dieses Arbeitsverhältnis am 12. April 2011 per 20. April 2011 auf und stellte die Beschwerdeführerin ab dem 21. April 2011 frei. Sie bestätigte sodann der Beschwerdeführerin, dass sie ab 1. Mai 2011 nur noch für 25 Stunden monatlich beschäftigt werden könne (act. G 6.1/80). Tatsächlich umfasste dieser neue Einsatzvertrag im Haushalt der Familie Z. jedoch fix 24.5 Stunden pro Monat: Von Mai bis und mit September 2011 arbeitete die Beschwerdeführerin dort jeweils am Dienstagmorgen und erzielte dabei ein konstantes Monatseinkommen von Fr. 475.30 zuzüglich Ferienentschädigung (vgl. act. G 6.1/79, 85, 90, 93, 95). Damit handelte es sich beim neuen Einsatzvertrag ab Mai 2011 um eine Festanstellung, so dass in jedem Falle ab 1. Mai 2011 von einem anrechenbaren Arbeitsausfall auszugehen ist.

    3. Aus den Akten ergibt sich nicht, ob der Arbeitsvertrag für den Einsatz bei der

  1. in schriftlicher Form abgeschlossen worden ist. Ohne schriftliche Vereinbarung hätte die Kündigungsfrist – nachdem die Beschwerdeführerin seit 2008 fast ununterbrochen bei der B. angestellt war – mindestens zwei Monate betragen (Art. 335c Abs. 1 OR; vgl. Streiff/von Kaenel, a.a.O., Art. 335c N 5). Selbst im Rahmen eines schriftlichen Vertrags hätte die Kündigungsfrist zwingend einen Monat betragen müssen (vgl. Art. 335c Abs. 2 OR). Die gesetzlichen Mindestkündigungsfristen können ausser im Falle eines echten Vergleichs auch nicht durch einen Aufhebungsvertrag zu Lasten der Arbeitnehmenden abgekürzt werden (vgl. Streiff/von Kaenel, a.a.O., Art. 335c N 4 mit Hinweisen). Auch bei einer Arbeit auf Abruf darf zudem der bisher übliche Abrufumfang während der Kündigungsfrist nicht einseitig reduziert werden (vgl. Streiff/ von Kaenel, a.a.O., Art. 335 N 11 mit Hinweis auf BGE 125 III 68). Die Beschwerdegegnerin wird folglich noch zu prüfen haben, ob bzw. in welchem Umfang der Beschwerdeführerin wegen nicht fristgemässer Kündigung ab 1. Mai 2011

    Lohnansprüche gegenüber der B. zustehen. Diesfalls hätte die Beschwerdeführerin allenfalls dennoch Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab 1. Mai 2011 gestützt auf Art. 29 AVIG. Sollte demgegenüber ein rechtsgültiger Aufhebungsvertrag vorliegen, hätte die Beschwerdegegnerin zu prüfen, ob aufgrund des Verzichts auf die Kündigungsfrist allenfalls eine einstellungsrelevante selbstverschuldete frühzeitige Arbeitslosigkeit vorliegt (Art. 30 lit. a AVIG; vgl. dazu Nussbaumer, a.a.O., N 836 mit Hinweisen). Die Sache ist daher zur weiteren Abklärung der Anspruchsberechtigung ab

    1. Mai 2011 und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

4.

    1. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen, und der angefochtene Einspracheentscheid vom 10. November 2011 ist aufzuheben. Die Sache ist bezüglich der Taggeldabrechnung für den Monat September 2010 sowie des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung ab 1. Mai 2011 zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    2. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG).

    3. Die obsiegende beschwerdeführende Partei hat Anspruch auf Ersatz der Parteikosten, wobei die Rückweisung zur weiteren Abklärung praxisgemäss als volles Obsiegen gilt. Die Parteientschädigung wird vom Versicherungsgericht festgesetzt und ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen (Art. 61 lit. g ATSG). In der Verwaltungsrechtspflege beträgt das Honorar vor Versicherungsgericht nach Art. 22 Abs. 1 lit. b der Honorarordnung für Rechtsanwälte und Rechtsagenten (HonO;

sGS 963.75) pauschal Fr. 1'000.-- bis Fr. 12'000.--. Im vorliegenden Fall erscheint eine pauschale Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- (inklusive Barauslagen und Mehrwertsteuer) als angemessen.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:

  1. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird der angefochtene Einspracheentscheid vom 10. November 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung bezüglich der Taggeldabrechnung für den Monat September 2010 sowie des Anspruchs auf

    Arbeitslosenentschädigung ab 1. Mai 2011 an die Beschwerdegegnerin

    zurückgewiesen.

  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

  3. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung

von Fr. 3'000.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.