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Urteil Verwaltungsgericht (GL - OG.2023.00040)

Zusammenfassung des Urteils OG.2023.00040: Verwaltungsgericht

Zusammenfassung: Die Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus beantragte die Verlängerung der Untersuchungshaft eines Beschuldigten, der verdächtigt wird, am 12. März 2023 eine schwere Körperverletzung begangen zu haben. Es wird festgestellt, dass ein dringender Tatverdacht besteht und die Haftverlängerung bis zum 12. September 2023 gerechtfertigt ist, da Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr bestehen. Der Beschuldigte hat in der Vergangenheit bereits ähnliche Straftaten begangen und es besteht die Gefahr, dass er erneut straffällig wird. Die Kosten- und Entschädigungsfolgen werden im Endentscheid geregelt.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts OG.2023.00040

Kanton:GL
Fallnummer:OG.2023.00040
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:-
Verwaltungsgericht Entscheid OG.2023.00040 vom 14.07.2023 (GL)
Datum:14.07.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Beschuldigte; Beschuldigten; Person; Verfahren; Recht; Wiederholungsgefahr; Staats; Staatsanwalt; Taten; Staatsanwaltschaft; Vergehen; Personen; Flucht; Untersuchung; Verteidigung; Polizei; Verbrechen; Sicherheit; Bundesgericht; Glarus; Untersuchungshaft; Beschwerde; Vorfall; Verfahren; Freiheitsstrafe
Rechtsnorm: Art. 10 StGB ;Art. 103 StGB ;Art. 122 StGB ;Art. 126 StGB ;Art. 129 StGB ;Art. 135 StGB ;Art. 19 BetmG;Art. 221 StPO ;Art. 222 StPO ;Art. 228 StPO ;Art. 396 StPO ;Art. 42 StGB ;Art. 421 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 64 StGB ;
Referenz BGE:137 IV 13; 143 IV 160; 143 IV 330; 143 IV 9;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts OG.2023.00040

Geschäftsnummer: OG.2023.00040 (OGS.2023.152)
Instanz: OG2
Entscheiddatum: 14.07.2023
Publiziert am: 24.08.2023
Aktualisiert am: 24.08.2023
Titel: Haftverlängerung

Resümee:

 

 

Kanton Glarus

 

Obergericht

 

 

Es wirken mit: Obergerichtsvizepräsidentin lic. iur. Marianne Dürst Benedetti, Oberrichterin Monika Trümpi  und Oberrichterin Ruth Hefti  sowie Gerichtsschreiber lic. iur. Sebastian Micheroli.

 

Beschluss vom 14. Juli 2023

 

 

Verfahren OG.2023.00040

 

 

A.______

Beschwerdeführer

und Beschuldigter

 

verteidigt durch lic. iur. Gregor Münch, Münch Singh Rechtsanwälte

Dufourstrasse 32, Postfach 2024, 8024 Zürich

 

 

gegen

 

 

Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus

Postgasse 29, 8750 Glarus

Beschwerdegegnerin

 

vertreten durch den Staatsanwalt

 

 

 

betreffend

 

 

 

Haftverlängerung

 

Rechtsbegehren des Beschwerdeführers und Beschuldigten (gemäss Eingabe vom 26. Juni 2023, act. 13):

 

 

Es sei die Verfügung des Kantonsgerichts Glarus vom 15. Juni 2023 aufzuheben und es sei der Beschwerdeführer – eventuell unter gleichzeitiger Anordnung von Ersatzmassnahmen – umgehend aus der Haft zu entlassen.

 

 

 

Subeventuell sei die Verfügung des Kantonsgerichts Glarus vom 15. Juni 2023 aufzuheben, es sei die Haft stattdessen bis Ende Juli 2023 zu befristen und es sei die Staatsanwaltschaft im Sinne von Art. 226 Abs. 4 Bst. b StPO anzuweisen, umgehend die behauptete Gefährlichkeit des Beschwerdeführers gutachterlich abklären zu lassen.

 

 

 

Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Staatskasse.

 

____________________

 

 

Das Gericht zieht in Betracht:

 

I.

Mit Entscheid vom 15. Juni 2023 im Verfahren SG.2023.00048 hiess das Zwangsmassnahmengericht das Gesuch der Staatsanwaltschaft vom 8. Juni 2023 um Verlängerung der Untersuchungshaft von A.______ um drei Monate, bis am 12. September 2023 (act. 1), gut (act. 8 S. 8 Dispositiv-Ziff. 1).

Dagegen erhob die Verteidigung mit Eingabe vom 26. Juni 2023 beim Obergericht Beschwerde mit den oben genannten Anträgen (vgl. act. 13).

Die Staatsanwaltschaft nahm mit Schreiben vom 3. Juli 2023 Stellung (vgl. act. 16).

Die Verteidigung reichte dem Obergericht am 4. Juli 2023 unaufgefordert eine Eingabe ein (act. 18 f.).

 

II.

1.

Der angefochtene Haftentscheid ist der Beschwerde zugänglich und der Beschuldigte A.______ ist als verhaftete Person beschwerdelegitimiert (vgl. Art. 222 StPO). Die Beschwerdefrist ist eingehalten (vgl. Art. 396 Abs. 1 StPO).

Die übrigen Rechtsmittelvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.

Das Obergericht ist für die Behandlung der Beschwerde zuständig (vgl. Art. 17 Abs. 2 Bst. a GOG, GS III A/2).

Auf die Beschwerde ist einzutreten.

 

2.

2.1 Mit Beschwerde können in Bezug auf den angefochtenen Entscheid Rechtsverletzungen und eine unvollständige unrichtige Feststellung des Sachverhalts sowie Unangemessenheit gerügt werden (Art. 393 Abs. 2 StPO).

 

2.2 Die Verteidigung macht betreffend die vorinstanzliche Bejahung (der Verhältnismässigkeit) von (Haft wegen) Wiederholungsgefahr (und Fluchtgefahr) unrichtige Sachverhaltsfeststellung und unrichtige Rechtsanwendung geltend (vgl. act. 13 Ziff. 6 ff.).

 

3.

Die Akten der Verfahren SG.2023.00020 und SG.2023.00048 wurden beigezogen.

 

III.

1.

Untersuchungshaft ist nach Art. 221 Abs. 1 StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass Fluchtgefahr (Bst. a), Kollusionsgefahr (Bst. b) Wiederholungsgefahr (Bst. c) besteht.

 

1.1

1.1.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts liegt ein dringender Tatverdacht i.S.v. Art. 221 Abs. 1 StPO vor, wenn das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die Tatbestandsmerkmale eines Verbrechens Vergehens erfüllen könnte, was mit konkreten Verdachtsmomenten nachzuweisen ist (vgl. z.B. BGE 143 IV 330 E. 2.1).

 

1.1.2 Die Staatsanwaltschaft verdächtigt den Beschuldigten, am 12. März 2023 um ca. 11.00 Uhr beim Bahnhof [...] B.______ (nachfolgend als Opfer bezeichnet) verbal und nonverbal provoziert und ihn schliesslich mehrfach gezielt mit einer beschädigten Glasflasche ins Gesicht gestochen und dadurch schwer verletzt zu haben (act. 1 S. 2). 

 

1.1.3 Die Verletzungen im Gesicht und am Kopf des Opfers sind dokumentiert (vgl. act. 2/11 und im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/4).

Der Beschuldigte gab am 13. März 2023 resp. am 14. März 2023 gegenüber der Polizei resp. der Staatsanwaltschaft zu, dass er zweimal mit einer (zerbrochenen) Glasflasche auf den Kopf des ihm unbekannten Opfers geschlagen resp. gestochen habe. Dabei machte der Beschuldigte sinngemäss geltend, dass er in Notwehr gehandelt habe, da das Opfer ihn mit Fäusten geschlagen habe und ihn vor den einfahrenden Zug auf das Gleis habe werfen wollen (vgl. jeweils im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/1 Ziff. 31 ff., 159 ff. und 209 ff.; sowie act. 2/3 Ziff. 3, 11, 14 ff., 24 f., 27 f., 30, 32 ff., 36 ff. und 67 ff.).

Dem gegenüber stehen namentlich die jeweils kurze Zeit nach dem Vorfall bei der Polizei gemachten Aussagen des Opfers; von C.______, der beim Vorfall ebenfalls anwesend war und ein Kollege des Beschuldigten ist (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/3 Ziff. 5 f.); sowie von zwei unbeteiligten Personen, die den betreffenden Vorfall von einem stehenden Zug aus (teilweise) beobachteten. Nach diesen Aussagen hat der Beschuldigte das Opfer – nach einer vorangegangenen, durch den Beschuldigten provozierten, tätlichen Auseinandersetzung zwischen ihnen – mit einer (zerbrochenen) Flasche angegriffen und dabei gezielt im Gesicht und am Kopf verletzt (vgl. jeweils im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/5 Ziff. 5 ff., 12 f., 17 und 25 ff.; act. 2/6 Ziff. 1 ff., 5 ff., 10 ff., 18 und 21; act. 2/7 Ziff. 7, 16, 18, 21 ff., 37, 39, 43, 46 und 48; sowie act. 2/8 Ziff. 7, 16 f., 21 ff., 33, 36 und 49).

Folglich liegen konkrete Verdachtsmomente dafür vor, dass der Beschuldigte das Opfer mit erheblicher Wahrscheinlichkeit vorsätzlich und rechtswidrig schwer verletzt hat.

Entsprechend besteht ein dringender Tatverdacht, dass der Beschuldigte sich der schweren Körperverletzung i.S.v. Art. 122 StGB strafbar gemacht hat, was die Verteidigung ausdrücklich nicht bestreitet (vgl. act. 13 Ziff. 5).

 

1.2

1.2.1 Nach Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.

Bei diesen früheren gleichartigen Straftaten muss es sich um Verbrechen schwere Vergehen gegen gleiche gleichartige Rechtsgüter gehandelt haben, wie sie im hängigen Strafverfahren massgeblich sind. Die Voraussetzung, dass die tatverdächtige Person früher gleichartige Straftaten verübt hat, ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erfüllt, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die tatverdächtige Person solche Straftaten begangen hat. Den betreffenden Nachweis erachtet das Bundesgericht nicht nur bei rechtskräftigen Verurteilungen als erbracht, sondern auch bei einem glaubhaften Geständnis einer erdrückenden Beweislage bezogen auf Straftaten, die Gegenstand eines noch hängigen Strafverfahrens sind (zum Ganzen BGE 143 IV 9 E. 2.3.1 m.H.).

Über den Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO hinaus kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts strafprozessuale Haft wegen Wiederholungsgefahr auch zulässig sein, wenn die tatverdächtige Person früher nur eine einzige gleichartige Straftat verübt hat (vgl. Urteil BGer 1B_50/2013 vom 25. Februar 2013 E. 4.2).

Das Bundesgericht lässt strafprozessuale Haft wegen Wiederholungsgefahr gestützt auf Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO ausnahmsweise sogar zu, wenn die tatverdächtige Person keine frühere (gleichartige) Straftat (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) verübt hat. Bei dieser qualifizierten Wiederholungsgefahr setzt das Bundesgericht voraus, dass sich die Risiken als untragbar hoch erweisen (vgl. BGE 137 IV 13 E. 3 und 4; BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).

Für strafprozessuale Haft wegen Wiederholungsgefahr ist eine ungünstige Rückfallprognose erforderlich, aber insofern auch ausreichend. Hierbei stellen sich ähnliche Fragen wie im Zusammenhang mit der Gewährung des bedingten Strafvollzugs nach Art. 42 Abs. 1 StGB. Massgebliche Kriterien bei der Beurteilung der Rückfallgefahr sind insbesondere die Häufigkeit und Intensität der untersuchten Delikte sowie die einschlägigen Vorstrafen. Bei dieser Bewertung sind allfällige Aggravationstendenzen, wie eine zunehmende Eskalation respektive Gewaltintensität eine raschere Kadenz der Taten, zu berücksichtigen. Zu würdigen sind des Weiteren die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person, d.h. insbesondere ihre psychische Verfassung, ihre familiäre Verankerung, die Möglichkeiten einer Berufstätigkeit und ihre finanzielle Situation. Die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens ist zur Beurteilung der Rückfallgefahr nicht in jedem Fall notwendig. Erscheint ein solches im konkreten Fall erforderlich wurde es bereits in Auftrag gegeben, rechtfertigt sich die Aufrechterhaltung der Haft bei gemäss Aktenlage ungünstiger Prognose jedenfalls so lange, bis die Wiederholungsgefahr gutachterlich abgeklärt ist (zum Ganzen BGE 143 IV 9 E. 2.8 und 2.10).

Die nach Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO vorausgesetzte erhebliche Gefährdung der Sicherheit anderer durch drohende Verbrechen schwere Vergehen kann sich grundsätzlich auf Rechtsgüter jeder Art beziehen; im Vordergrund stehen Delikte gegen die körperliche und sexuelle Integrität. Voraussetzung für die Einstufung als schweres Vergehen ist, dass (abstrakt) eine Freiheitsstrafe (bis zu drei Jahren) droht (vgl. zum Ganzen BGE 143 IV 9 E. 2.3.1, 2.6 und 2.7).

In der Regel gilt, je schwerer die drohende Tat ist, desto höher ist auch die Gefährdung der Sicherheit anderer. Betreffend die Anforderungen an die Rückfallgefahr gilt hingegen eine umgekehrte Proportionalität. Dies bedeutet, je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen. Liegen die Tatschwere und die Sicherheitsrelevanz am oberen Ende der Skala, so ist die Messlatte zur Annahme einer rechtserheblichen Rückfallgefahr tiefer anzusetzen (zum Ganzen BGE 143 IV 9 E. 2.9).

 

1.2.2 Die Bundesversammlung hat am 17. Juni 2022 beschlossen, den Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr ausdrücklich zu regeln durch Schaffung eines neuen Absatzes 1bis bei Art. 221 StPO. Diese Bestimmung lautet wie folgt (BBl 2022 1560, 7):

«Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind ausnahmsweise zulässig, wenn:

a. die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen ein schweres Vergehen die physische, psychische sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben; und

b. die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben.»

Nachdem die Referendumsfrist am 6. Oktober 2022 unbenutzt abgelaufen ist, sind die Änderungen der Strafprozessordnung vom 17. Juni 2022 bisher noch nicht in Kraft gesetzt worden (vgl. unter https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/gesetzgebung/aenderungstpo.html, besucht am 3. Juli 2023).

Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 10. Januar 2023 in anderem Sachzusammenhang dennoch entschieden, aufgrund der Revision der Strafprozessordnung vom 17. Juni 2022 seine Rechtsprechung ab sofort dahingehend zu ändern, dass der Staatsanwaltschaft in Haftsachen kein (StPO-)Beschwerderecht mehr zukommt. Dieser Entscheid beruht auf der folgenden Begründung: Im geltenden Recht bestehe keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für das Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft. Das Bundesgericht habe diese Beschwerdemöglichkeit der Staatsanwaltschaft in Ergänzung zum gesetzlichen Wortlaut von Art. 222 StPO durch Richterrecht geschaffen. Der Gesetzgeber habe sich in Kenntnis der bundesgerichtlichen Praxis klar gegen ein solches Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft ausgesprochen und damit die bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht übernommen (vgl. zum Ganzen Urteil BGer 1B_614/2022, 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 E. 2.4).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ebenso die im künftigen Art. 221 Abs. 1bis StPO festgelegten Voraussetzungen bereits jetzt massgebend sind beim Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr, welcher in Ergänzung zum gesetzlichen Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO ebenfalls durch Richterrecht geschaffen wurde (vgl. BGE 137 IV 13 E. 3 und 4; BGE 143 IV 9 E. 2.3.1). Dabei fragt sich namentlich, ob der Umstand, dass die qualifizierte Wiederholungsgefahr nach dem Wortlaut des künftigen Art. 221 Abs. 1bis Bst. b StPO nicht nur eine «ernsthafte», sondern zudem eine «unmittelbare» sein muss, eine Einschränkung des bisherigen Anwendungsbereichs dieses Haftgrundes zur Folge hat. Dies ist aus den nachfolgenden Gründen zu verneinen.

Strafprozessuale Haft wegen Wiederholungsgefahr ist eine vorsorgliche strafprozessuale Massnahme zur Gewährleistung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Sie dient dazu, eine dringend tatverdächtige Person davon abzuhalten, Straftaten zu verüben, bis eine konkret in Aussicht stehende strafrechtliche Sanktion gegebenenfalls diese spezialpräventive Funktion übernimmt. Entsprechend diesem Zweck sowie im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR kann strafprozessuale Haft wegen Wiederholungsgefahr verhältnismässig sein, wenn – gestützt auf eine Rückfallprognose – eine plausible, sanktionenrechtliche Gefahr künftiger Straftaten der tatverdächtigen Person besteht. Die Verhältnismässigkeit von strafprozessualer Haft wegen Wiederholungsgefahr setzt daher nicht voraus, dass eine konkrete und spezifische Straftat der dringend tatverdächtigen Person in naher Zukunft droht. Entsprechend ist der Begriff der Unmittelbarkeit im künftigen Art. 221 Abs. 1bis StPO (sowie im künftigen Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO in der Fassung der Änderung vom 17. Juni 2022; BBl 2022 1560, 7) weit auszulegen, zur Gewährleistung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Folglich sind plausible, sanktionenrechtliche Gefahren, die von dringend tatverdächtigen Personen ausgehen, (als Dauergefahren, die jederzeit akut werden können) auch vom künftigen Art. 221 Abs. 1bis (und Abs. 1 Bst. c) StPO erfasst (zum Ganzen Micheroli/Tag, Anmerkungen zu aktuellen Entwicklungen im Haftrecht, in: Jusletter 16. Mai 2022, Ziff. 64 ff. m.H. und Ziff. 93 ff.). 

Nach dem Ausgeführten erfordert der strafprozessuale Haftgrund der (qualifizierten) Wiederholungsgefahr – auch künftig – keine konkrete und spezifische Gefahr, wie sie beispielsweise beim Straftatbestand der Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB im Hinblick auf eine «unmittelbare Lebensgefahr» vorausgesetzt ist.

Das Bundesgericht hat denn nach Ablauf der Referendumsfrist für die Änderung der Strafprozessordnung vom 17. Juni 2022 daran festgehalten, dass beim Haftgrund (auch) der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine ungünstige Rückfallprognose notwendig, aber insoweit auch ausreichend ist (vgl. Urteile BGer 1B_195/2023 vom 27. April 2023 E. 2.1 f. und 1B_293/2023 vom 19. Juni 2023 E. 3.1). Zudem führte es aus, dass in der erfolgten Revision von Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO am Erfordernis einer «erheblichen unmittelbaren Sicherheitsgefährdung» festgehalten wurde (vgl. Urteil BGer 1B_22/2023 vom 13. Februar 2023 E. 2.3). Der Umstand, dass die (qualifizierte) Wiederholungsgefahr gemäss dem künftigen Art. 221 Abs. 1 Bst. c und Abs. 1bis StPO (BBl 2022 1560, 7) ausdrücklich «unmittelbar» sein muss, ändert somit auch nach Ansicht des Bundesgerichts nichts daran, dass weiterhin – dann auch nach Inkrafttreten der betreffenden Bestimmungen – eine ungünstige Rückfallprognose genügt.

 

1.2.3 Der Beschuldigte wurde zwischen Oktober 2012 und Oktober 2017 wegen zahlreicher zwischen Februar 2012 und April 2017 begangener Straftaten, u.a. wegen Nötigung, Drohung, Tätlichkeiten, Diebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Gewaltdarstellungen (i.S.v. Art. 135 Abs. 1 StGB), Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz (i.S.v. Art. 19 Abs. 1 BetmG), (mehrerer) Vergehen gegen das Waffengesetz (i.S.v. Art. 33 Abs. 1 WG) und (mehrerer) Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes verurteilt (vgl. act. 17).

Zudem liegen viele Strafanzeigen gegen den Beschuldigten betreffend Vorfälle zwischen November 2017 und September 2022 vor (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/9 ff.).

Dabei machen zwei Personen unabhängig voneinander geltend, dass sie am 19. November 2017 nachts, zu jeweils unterschiedlichen Zeiten, von dem ihnen damals unbekannten Beschuldigten ohne Grund mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurden. In einem dieser Fälle habe der Beschuldigte noch CHF 200.— gefordert. In den betreffenden Strafanzeigen ist festgehalten, in der Nacht vom 19. November 2017 habe der Chef eines Sicherheitsdienstes der Polizei gemeldet, dass der Beschuldigte Personen angepöbelt und Geld von ihnen gewollt habe. Zudem ist vermerkt, dass die Polizei in der vergangenen Zeit wegen des Beschuldigten vermehrt ausrücken musste, wobei in den meisten Fällen auf eine Anzeigeerstattung verzichtet wurde (vgl. zum Ganzen im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/9 f.).

Eine andere Person wirft dem Beschuldigten vor, sie am 1. Januar 2018 mit einer Glasscherbe in der Hand mehrmals gegen den Kopf geschlagen zu haben. In dieser Strafanzeige sind Aussagen von Auskunftspersonen wiedergegeben, wonach der Beschuldigte diverse Personen angepöbelt, angerempelt und provoziert habe, aggressiv gewesen sei und jemandem mit einer Glasscherbe auf den Kopf geschlagen habe (vgl. zum Ganzen im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/11).

Wieder eine andere Person macht geltend, vom Beschuldigten am 5. März 2019 bedroht und mit einem gefährlichen Gegenstand angegriffen worden zu sein (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/12).

Die Ehefrau des Beschuldigten wirft ihm vor, ihr gegenüber im Zeitraum von Dezember 2018 bis Juli 2021 mehrere Straftaten begangen zu haben, namentlich Vergewaltigung, Nötigung, Drohung und Körperverletzung (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/13 ff.).

Weiter werden dem Beschuldigten in mehreren Fällen von verschiedenen Personen im Zeitraum zwischen März 2019 und September 2021 Diebstahl und Hausfriedensbruch vorgeworfen (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/20 ff.); in einer Strafanzeige ist festgehalten, dass der Beschuldigte geständig sei, am 25. September 2021 aus einem Wohnhaus in [...] eine Schusswaffe gestohlen und dann mit dieser in [...] im Dorf herumgefuchtelt zu haben (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/23 S. 2).

Gegen den Beschuldigten liegen auch Anzeigen wegen Wiederhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im April 2022 und Juni 2022 vor (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/27 f.).

Mehrere Personen werfen dem Beschuldigten vor, dass er sie im Zeitraum zwischen März 2019 und September 2022 (teilweise mit dem Tod) bedroht habe (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/20, 2/25 und 2/29 f.). Dabei wirft eine Person dem Beschuldigten vor, dass er sie am 11. April 2022 und am 12. September 2022 bedroht habe; bei der Drohung am 11. April 2022 habe der Beschuldigte ihr ein Messer gegen die Brust gehalten (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/29); gemäss den Angaben in der Strafanzeige bestätigte ein Kollege der betroffenen Person aufgrund eigener Wahrnehmung des Vorfalls, dass diese am 12. September 2022 vom Beschuldigten mit dem Tod bedroht wurde (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/30).

C.______, der beim Vorfall am 12. März 2023 anwesende Kollege des Beschuldigten (siehe oben E. III Ziff. 1.1.3), äusserte sich bei der Polizei folgendermassen: Es sei ja klar gewesen, dass ein Abend mit dem Beschuldigten bei der Polizei endet. Er sollte in Sibirien Steine klopfen. Er sollte ausgeschafft werden. Zudem sagte C.______ aus, der Beschuldigte habe angeboten, ihm für Geld Kokain zu besorgen (vgl. zum Ganzen im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/6 Ziff. 3, 16 und 21).

Bei der polizeilichen Einvernahme am 13. März 2023 gab der Beschuldigte an, dass er viel Alkohol trinke und etwa einmal pro Woche Cannabis konsumiere (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/3 Ziff. 59 ff.).

Gegenüber der Staatsanwaltschaft machte der Beschuldigte am 14. März 2023 folgende Angaben: In der letzten Zeit habe er ein Alkoholproblem. Seit der Trennung von seiner Frau trinke er sehr viel. Er habe ein Drogenproblem, er nehme Kokain. Seine Mutter habe er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Er dürfe eigentlich gar nicht wissen, wo seine Ex-Frau wohne. Er wisse die Geburtsjahrgänge seiner Kinder nicht genau. Er habe gesundheitliche Probleme wegen Drogen- und Alkoholentzugs; er kriege Paranoia in den Gefängnisräumen; er sehe Sachen in seinem Kopf und höre Stimmen; eine solche Krankheit sei bei ihm bereits diagnostiziert worden. Er sei arbeitslos und habe kein Geld. Sein Vater zahle alles. Im Moment habe er gerade mit seinem Vater ein Problem, weil sie gestritten haben. Er möchte weiterhin mit seinem Vater zusammenarbeiten, aber dies gehe im Moment nicht. Mit den Kindern habe es auch nicht funktioniert, da sei es nicht besser geworden. Die KESB habe ihn und seinen Vater angelogen (vgl. zum Ganzen im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/1 Ziff. 49 ff., 109 ff., 189 ff. und 253 ff.). 

Gemäss pharmakologisch-toxikologischem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich vom 20. April 2023 konnte beim Beschuldigten der Konsum von Kokain und Cannabis nachgewiesen werden (vgl. act. 2/7). 

In einer Strafanzeige gegen den Beschuldigten vom 6. Juli 2021 ist vermerkt, dass der Beschuldigte seit längerer Zeit an Depressionen und Schizophrenie leide (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/18 S. 9).

 

1.2.4 Der Beschuldigte wird dringend verdächtigt, am 12. März 2023 beim Bahnhof [...] eine schwere Körperverletzung und damit ein schweres Verbrechen (vgl. Art. 122 StGB i.V.m. Art. 10 Abs. 2 StGB; vgl. auch Art. 64 Abs. 1 StGB) gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit begangen zu haben (siehe oben E. III Ziff. 1.1.3).

Er weist auch eine Verurteilung wegen einer Straftat gegen das Rechtsgut der körperlichen Integrität auf, wobei es sich allerdings (nur) um eine Tätlichkeit und damit um eine Übertretung (vgl. Art. 126 StGB i.V.m. Art. 103 StGB) handelte. Der Beschuldigte wurde aber auch verurteilt, weil er Straftatbestände erfüllte, die mittelbar dem Schutz des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit dienen. Angesprochen sind die Verurteilungen wegen Gewaltdarstellungen (i.S.v. Art. 135 Abs. 1 StGB), Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz (i.S.v. Art. 19 Abs. 1 BetmG) und (mehrerer) Vergehen gegen das Waffengesetz (i.S.v. Art. 33 Abs. 1 WG) (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3). Bei all diesen Straftaten ist resp. war Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren angedroht (für Gewaltdarstellungen i.S.v. Art. 135 Abs. 1 StGB droht seit dem 1. Juli 2023 sogar Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren), womit es sich um schwere Vergehen handelt(e) (siehe oben E. III Ziff. 1.2.1).

Viele verschiedene Personen werfen dem Beschuldigten in vielen verschiedenen Fällen zwischen November 2017 und September 2022 gleichartige Straftaten vor. Zum Teil liegen gemäss den betreffenden Strafanzeigen, wie im vorliegenden Fall vom 12. März 2023 (siehe oben E. III Ziff. 1.1.3), auch Aussagen von Drittpersonen vor, welche die Vorwürfe gegen den Beschuldigten stützen, sowie ein Geständnis des Beschuldigten (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3).

Ferner sagte C.______ (als Kollege des Beschuldigten) sinngemäss aus, dass der Beschuldigte immer wieder bereit war und ist, Straftaten zu begehen (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3).

Unter Berücksichtigung der genannten Umstände besteht der dringende Verdacht, dass der Beschuldigte nicht nur eine schwere Körperverletzung am 12. März 2023 sondern auch die ihm in den erwähnten Strafanzeigen vorgeworfenen Straftaten (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3) begangen hat.

Folglich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte sich ab November 2017 viele Male ohne Grund auch gegenüber ihm unbekannten Personen aggressiv verhalten hat, sie provoziert und teilweise mit gefährlichen Gegenständen angegriffen und insbesondere im Bereich des Gesichts und Kopfs verletzt hat. Zudem ist sehr wahrscheinlich, dass der Beschuldigte im September 2021 eine Schusswaffe gestohlen und diese dann öffentlich getragen resp. zur Schau gestellt hat. Ausserdem ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschuldigte im Zeitraum zwischen März 2019 und September 2022 mehrere Personen (teilweise mit dem Tod) bedroht hat.

Es ergibt sich das Bild einer zunehmenden Eskalation und Intensität der Unberechenbarkeit, Aggressivität und Gewaltbereitschaft des Beschuldigten sowie der von ihm (sehr wahrscheinlich) tatsächlich ausgeübten Gewalt gegen Personen.

Hinzu kommen beim Beschuldigten, wie er selber sagte, ein Alkohol- und Drogenproblem, eine (mögliche) psychische Erkrankung, Arbeitslosigkeit und Geldprobleme sowie allgemein ungeordnete persönliche Verhältnisse, namentlich Probleme mit (der Trennung von) seiner Frau, (dem Kontakt zu) seinen Kindern und seinem Vater (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3).

Nach dem Ausgeführten ist im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (siehe oben E. III Ziff. 1.2.1) darauf zu schliessen, dass vom Beschuldigten eine untragbar hohe (Dauer-)Gefahr ausgeht, dass er (wieder) ein schweres Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit (irgend-)einer Personen verüben wird.

Somit ist – wie bereits das Zwangsmassnahmengericht (sinngemäss) feststellte (vgl. act. 8 S. 3 ff. Ziff. 4); entgegen der Ansicht der Verteidigung (vgl. act. 13 Ziff. 6 ff.) – der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (auch i.S. des künftigen Art. 221 Abs. 1bis StPO) gegeben (siehe oben E. III Ziff. 1.2.1 f.).

Ob der Beschuldigte vorliegend zudem entsprechende Vortaten verübt hat, wie es ansonsten für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr vorausgesetzt ist (siehe oben E. III Ziff. 1.2.1), kann offengelassen werden.

 

1.3

1.3.1 Die Annahme von Fluchtgefahr setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich durch Flucht dem Strafverfahren der zu erwartenden Sanktion entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 Bst. a StPO). Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Es müssen Gründe bestehen, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe ist zwar ein Indiz für Fluchtgefahr, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Miteinzubeziehen sind die familiären und sozialen Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und die Kontakte zum Ausland (zum Ganzen BGE 143 IV 160 E. 4.3 m.H.).

 

1.3.2 Der Beschuldigte ist Staatsangehöriger des Kosovos. Er gab bei der Hafteinvernahme am 14. März 2023 an, er sei kurz nach der Geburt in der Schweiz gewesen und hier aufgewachsen. «In der zweiten Klasse» sei er zwei Jahre weg gewesen. Dann sei er bis zur siebten Klasse wieder in der Schweiz gewesen. Nach der siebten Klasse, als er etwa dreizehn Jahre alt gewesen sei, habe er für zehn Monate im Kosovo gelebt. Er sei jetzt drei bis vier Jahre nicht mehr im Kosovo gewesen und habe niemanden dort. Gleichzeitig erwähnte der Beschuldigte aber auch, dass er auf Seiten seiner Mutter Familienangehörige im Kosovo habe, die er seit 21 Jahren nicht mehr gesehen habe. Zudem sagte der Beschuldigte, es sei geplant gewesen, dass er im Dezember 2023 nach Mekka gehe und dort länger bleibe, nachdem er bereits in letzter Zeit einmal in Mekka gewesen sei, um mit Gott in Kontakt zu treten resp. zu beten (vgl. zum Ganzen im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/1 S. 1 und S. 3 f. Ziff. 69 ff.).

Schwere Körperverletzung wurde nach Art. 122 StGB in der Fassung vor dem 1. Juli 2023 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft (seit dem 1. Juli 2023 droht Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren). Hinzu kommen die Strafdrohungen für die Straftaten, welche dem Beschuldigten in den anderen hängigen Straffällen vorgeworfen werden. Mithin steht eine mehrjährige Freiheitsstrafe konkret in Aussicht und droht zudem eine Landesverweisung (vgl. Art. 66a Abs. 1 Bst. b StGB), wie das Zwangsmassnahmengericht ausführte (vgl. act. 8 S. 6 Ziff. 5).

Es erscheint sehr zweifelhaft, ob persönliche Beziehungen des Beschuldigten in der Schweiz ihn von einer Flucht abhalten würden, zumal eben insbesondere Probleme beim Kontakt mit seinen Kindern bestehen (siehe oben E. III Ziff. 1.2.3 f.; vgl. auch die betreffenden Ausführungen des Zwangsmassnahmengerichts, act. 8 S. 6 Ziff. 5). So fragte sich am 12. März 2023 bei der polizeilichen Einvernahme auch C.______ (als Kollege des Beschuldigten), was den Beschuldigten in der Schweiz halte (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/6 Ziff. 21).

Die Verteidigung bringt vor, dass der Beschuldigte nicht flüchten und damit seine Niederlassungsbewilligung riskieren werde; der Beschuldigte habe sich den Behörden in der Vergangenheit immer zur Verfügung gehalten und unmittelbar nach dem Vorfall am 12. März 2023 versucht, beim Polizeiposten in [...] vorstellig zu werden (vgl. act. 13 Ziff. 16 sowie act. 18 f.).

Diese Vorbringen der Verteidigung ändern nichts daran, dass eine mehrjährige Freiheitsstrafe konkret in Aussicht steht und zudem eine Landesverweisung droht. Folglich droht auch das Erlöschen der Widerruf der Niederlassungsbewilligung (vgl. Art. 61 Abs. 1 Bst. e AIG und Art. 63 Abs. 1 Bst. a AIG). Weiter ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte sich – namentlich aufgrund der Aktenlage und auch der bisherigen Untersuchungshaft – dem Ernst der Lage bewusst ist. Seiner Sachverhaltsdarstellung, wonach er in Notwehr gehandelt habe, steht eben der dringende Tatverdacht entgegen, dass er sich der schweren Körperverletzung i.S.v. Art. 122 StGB strafbar gemacht hat (siehe oben E. III Ziff. 1.1.3). Es erscheint durchaus möglich, dass der Beschuldigte gleich nach dem Vorfall am 12. März 2023 von etwas anderem ausging. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Beschuldigte nach dem betreffenden Vorfall sowieso damit rechnen musste, bald von der Polizei aufgesucht zu werden, war doch sein Kollege C.______ anwesend, der ihn identifizieren konnte. Der Beschuldigte selber sagte aus, er sei zu einer Kollegin gegangen und habe auf die Polizei gewartet, nachdem er beim Polizeiposten niemanden angetroffen habe (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/3 Ziff. 3, 5 und 54).

Nach dem Ausgeführten liegen ernsthafte Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschuldigte sich durch Flucht dem Strafverfahren resp. der zu erwartenden Sanktion entziehen könnte.

Folglich ist Fluchtgefahr i.S.v. Art. 221 Abs. 1 Bst. a StPO – entgegen der Ansicht der Verteidigung (vgl. act. 13 Ziff. 14 ff.) – zu bejahen.

 

2.

2.1 Untersuchungshaft ist eine Zwangsmassnahme und darf nur angeordnet werden, wenn sie verhältnismässig ist, namentlich wenn das damit angestrebte Ziel nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann und wenn die Bedeutung der Straftat die Haft rechtfertigt (vgl. Art. 197 Abs. 1 Bst. c und d StPO).

 

2.2 Vorliegend können die mit der Untersuchungshaft angestrebten Ziele – Verhinderung von (weiteren) schweren Straftaten des Beschuldigten; sowie Sicherung dessen Anwesenheit im Strafverfahren und der zu erwartenden Sanktion – nicht mit milderen Mitteln erreicht werden.

Eine Abstinenzkontrolle, wie von der Verteidigung vorgeschlagen (vgl. act. 13 Ziff. 12 f.), kann die bestehende Wiederholungsgefahr nicht genügend sicher abwenden, zumal gar nicht klar ist, ob und gegebenenfalls inwieweit diese Gefahr mit dem Konsum von Alkohol und Drogen in Zusammenhang steht.  

Zudem besteht Fluchtgefahr. Ersatzmassnahmen, namentlich die Sperre resp. der Rückbehalt von Schriften und Ausweisen, bieten keine zureichende Sicherheit für die weitere Anwesenheit des Beschuldigten.

 

2.3 Der Beschuldigte befindet sich seit dem 12. März 2023 in Haft (vgl. im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/2). Ausgehend vom vorliegenden dringenden Tatverdacht, der sich (u.a.) auf ein schweres Verbrechen bezieht, steht eine längere Freiheitsstrafe konkret in Aussicht (siehe oben E. III Ziff. 1.2.4 und 1.3.2). Folglich droht keine Überhaft, wenn die Untersuchungshaft bis am 12. September 2023 verlängert wird.

Die Strafverfolgungsbehörden waren nach der Verhaftung des Beschuldigten am 12. März 2023 nicht untätig. Vielmehr erfolgten verschieden Einvernahmen und Abklärungen (vgl. act. 2/1 bis 2/11 und 2/17 sowie im Verfahren SG.2023.00020 act. 2/1 und 2/3 bis 2/8).

Die Staatsanwaltschaft teilte im Haftverlängerungsgesuch vom 8. Juni 2023 mit, dass für den Abschluss der Untersuchung noch Zeit benötigt werde. Der Polizeirapport zum Vorfall vom 12. März 2023 werde in den kommenden Tagen bei der Staatsanwaltschaft eingehen. Anschliessend sei die Durchführung verschiedener parteiöffentlicher Einvernahmen geplant. Zudem werde die Staatsanwaltschaft die Wiederholungsgefahr resp. die Gefährlichkeit des Beschuldigten gutachterlich abklären lassen (vgl. zum Ganzen act. 1 S. 3).

Unter diesen Umständen ist es – entgegen dem Antrag der Verteidigung – nicht angezeigt, die Staatsanwaltschaft noch anzuweisen, ein entsprechendes Gutachten einzuholen; und/oder die Haftverlängerung zu verkürzen.

Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem Beschuldigten die momentanen Haftbedingungen im Gefängnis Glarus (vgl. act. 2/16) nicht zugemutet werden können, zumal auch die Verteidigung nichts Gegenteiliges vorbringt.

Nach dem Ausgeführten rechtfertigt die Bedeutung der Straftat(en), welcher der Beschuldigte verdächtigt wird, die Verlängerung der Untersuchungshaft bis am 12. September 2023.

 

3.

Im Ergebnis sind vorliegend beim Beschuldigten die Voraussetzungen für Untersuchungshaft bis am 12. September 2023 erfüllt.

Die Beschwerde des Beschuldigten ist vollumfänglich abzuweisen.

Der Beschuldigte kann bei der Staatsanwaltschaft jederzeit ein Gesuch um Haftentlassung stellen (vgl. Art. 228 Abs. 1 StPO).

 

IV.

Die Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen hat im Endentscheid zu er-folgen (vgl. Art. 421 Abs. 1 StPO). Die Gerichtsgebühren sind zuhanden der das Strafverfahren abschliessenden Strafbehörde in Beachtung der Bemessungskriterien von Art. 6 der Zivil- und Strafprozesskostenverordnung des Kantons Glarus (GS III A/5) festzusetzen und zu den Untersuchungskosten im Sinne von Art. 326 Abs. 1 Bst. d StPO zu schlagen. Die Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren ist gestützt auf Art. 8 Abs. 2 Bst. b der Zivil- und Strafprozesskostenverordnung des Kantons Glarus auf CHF 800.— festzusetzen. Es bleibt bei der von der Vorinstanz getroffenen Kostenregelung (vgl. Art. 428 Abs. 3 StPO e contrario).

 

____________________

 

 

 

 

Das Gericht beschliesst:

 

1.

Die Beschwerde gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Glarus vom 15. Juni 2023 im Verfahren SG.2023.00048 wird vollumfänglich abgewiesen.

 

 

2.

Die Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren wird zuhanden der das Strafverfahren abschliessenden Behörde auf CHF 800.— festgesetzt.

 

 

3.

Die Regelung der Kostenauflage und allfälliger Entschädigung wird dem Endentscheid vorbehalten.

 

 

4.

Schriftliche Mitteilung an:

 

[...]

 



 
Quelle: https://findinfo.gl.ch
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