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Urteil Appellationsgericht (BS - SB.2022.108)

Zusammenfassung des Urteils SB.2022.108: Appellationsgericht

Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt hat das Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen vom 10. Juni 2022 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen, da Zweifel an der Schuldfähigkeit der Berufungsbeklagten bestehen. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. Die Berufungsbeklagte erhält eine Parteientschädigung von CHF 1'991.05 für das Rückweisungsverfahren. Die Entscheidung kann beim Bundesgericht angefochten werden.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts SB.2022.108

Kanton:BS
Fallnummer:SB.2022.108
Instanz:Appellationsgericht
Abteilung: Dreiergericht
Appellationsgericht Entscheid SB.2022.108 vom 09.08.2023 (BS)
Datum:09.08.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Berufung; Berufungsbeklagte; Gericht; Berufungsbeklagten; Vorinstanz; Akten; Schuld; Urteil; Rückweisung; Schuldfähigkeit; Staatsanwaltschaft; Gutachten; Begutachtung; Verfahren; Basel; Berufungsantwort; Tatzeit; Sachverständigen; Gericht; Beweis; Parteien; Sanität
Rechtsnorm: Art. 132 StPO ;Art. 139 StPO ;Art. 177 StGB ;Art. 182 StPO ;Art. 20 StGB ;Art. 285 StGB ;Art. 381 StPO ;Art. 409 StPO ;Art. 42 BGG ;Art. 436 StPO ;Art. 48 BGG ;Art. 54 StGB ;
Referenz BGE:101 IV 247; 119 IV 120; 124 I 40; 140 IV 49; 141 IV 369; 143 IV 408;
Kommentar:
Donatsch, Zimmerlin, Schweizer, Basler 2. Auflage, 2014

Entscheid des Verwaltungsgerichts SB.2022.108



Geschäftsnummer: SB.2022.108 (AG.2023.517)
Instanz: Appellationsgericht
Entscheiddatum: 09.08.2023 
Erstpublikationsdatum: 13.08.2024
Aktualisierungsdatum: 13.08.2024
Titel: mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Beschimpfung
 
 

Appellationsgericht

des Kantons Basel-Stadt

Dreiergericht

 

 

SB.2022.108

 

BESCHLUSS

 

vom 9. August 2023

 

 

Mitwirkende

 

lic. iur. Christian Hoenen,

Prof. Dr. Cordula Lötscher, MLaw Manuel Kreis

und Gerichtsschreiberin Dr. Laura Macula

 

 

 

Beteiligte

 

Staatsanwaltschaft Basel-Stadt                                  Berufungsklägerin

Binningerstrasse 21, 4001 Basel

 

gegen

 

A____, geb. [...]                                                             Berufungsbeklagte

[...]                                                                                          Beschuldigte

vertreten durch [...], Advokat,

[...]

 

 

Gegenstand

 

Berufung gegen ein Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen

vom 10. Juni 2022

 

betreffend mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte

sowie Beschimpfung

 


Sachverhalt

 

Mit Urteil vom 10. Juni 2022 wurde A____ (Berufungsbeklagte) vom Strafgericht Basel-Stadt von der Anklage der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie der Beschimpfung in Anwendung von Art. 19 Abs. 1 des Strafgesetzbuches kostenlos freigesprochen. Der Berufungsbeklagten wurde ferner gemäss Art. 429 der Strafprozessordnung eine Parteientschädigung von CHF 10'657.– zuzüglich CHF 820.60 Mehrwertsteuer zugesprochen.

 

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt mit Eingabe vom 15. Juni 2022 Berufung angemeldet sowie mit Eingabe vom 6. Oktober 2022 an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Berufung erklärt und diese begründet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, das Urteil der Vorinstanz sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung zurückzuweisen; die Vorinstanz sei überdies anzuweisen, ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über die Berufungsbeklagte zwecks Abklärung von deren Schuldfähigkeit erstellen zu lassen. Eventualiter sei die Berufungsbeklagte der Anklage entsprechend wegen Beschimpfung und mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zu verurteilen und zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 120 Tagessätzen je CHF 30.–, Probezeit 2 Jahre, sowie einer Busse in der Höhe von CHF 720.–, bei schuldhaftem Nichtbezahlen ersatzweise einer Freiheitsstrafe von 8 Tagen, zu verurteilen, alles unter Auferlegung der Kosten für das zweitinstanzliche Verfahren. Die Berufungsbeklagte hat innert Frist weder Anschlussberufung erhoben noch Nichteintreten auf die Berufung beantragt, was mit Verfügung vom 9. November 2022 festgestellt wurde. Der instruierende Appellationsgerichtspräsident hat den Parteien sodann mit Verfügung vom 13. Dezember 2022 mitgeteilt, es werde beabsichtigt, das Verfahren schriftlich ohne mündliche Berufungsverhandlung zu führen, weil mit der Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft ausschliesslich Rechtsfragen geltend gemacht worden seien. Weiter setzte er den Parteien Frist zur Stellungnahme. Die Berufungsbeklagte, vertreten durch [...] Advokat, hat sich mit Eingabe vom 16. Januar 2023 mit der Durchführung des schriftlichen Verfahrens einverstanden erklärt. Am 16. März 2023 hat der Rechtsvertreter der Berufungsbeklagten die Berufungsantwort mitsamt seiner Honorarnote eingereicht. Die Berufungsbeklagte beantragt die kostenfällige Abweisung der Berufung; eventualiter die Aufhebung des Urteils des Strafgerichts vom 10. Juni 2022 und Rückweisung der Sache zur neuen Beurteilung an das Strafgericht; subeventualiter Aufhebung des Urteils des Strafgerichts und Rückweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage. In verfahrensmässiger Hinsicht beantragt die Berufungsbeklagte den Beizug der vollständigen Akten «ab Strafgericht» sowie die Gewährung des Duplikrechts. Alles unter o/e Kostenfolge. Mit Eingabe vom 23. März 2023 hat die Staatsanwaltschaft auf Einreichung einer Replik verzichtet.

 

Der vorliegende Beschluss ist auf dem Zirkulationsweg ergangen. Die Vorakten wurden beigezogen. Die Einzelheiten des Sachverhalts und der Parteistandpunkte ergeben sich, soweit für den Beschluss von Relevanz, aus den nachfolgenden Erwägungen.

 

 

Erwägungen

 

1.

1.1      Nach Art. 398 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) ist die Berufung gegen Urteile erstinstanzlicher Gerichte zulässig, mit denen das Verfahren ganz teilweise abgeschlossen wird. Das ist vorliegend der Fall. Die Staatsanwaltschaft ist gemäss Art. 381 Abs. 1 StPO zur Erhebung von Rechtsmitteln legitimiert. Sie hat die Berufungsanmeldung und die Berufungserklärung formgerecht (Art. 385 StPO) sowie innert der gesetzlichen Fristen gemäss Art. 399 Abs. 1 und 3 StPO eingereicht. Zuständiges Berufungsgericht ist gemäss § 88 Abs. 1 sowie § 92 Abs. 1 Ziff. 1 des baselstädtischen Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG, SG 154.100) ein Dreiergericht des Appellationsgerichts.

 

1.2      Die Staatsanwaltschaft beantragt in erster Linie die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz (Art. 409 Abs. 1 StPO). Die Berufungsbeklagte stellt eventualiter einen entsprechenden Antrag. Rückweisungen nach Art. 409 StPO ergehen in Form eines Beschlusses des Berufungsgerichts nach Art. 80 Abs. 1 StPO; ein Sachurteil wird nicht gesprochen (Eugster, in: Basler Kommentar, 2. Auflage, Basel 2014, Art. 409 StPO N 2; Schmid/Jositsch, StPO Praxiskommentar, 3. Auflage, Zürich 2018, Art. 409 N 4; Zimmerlin, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 2020, Art. 409 N 9). Die Durchführung einer Berufungsverhandlung ist nicht in jedem Falle notwendig (Eugster, a.a.O). Wie zu zeigen sein wird, kann vorliegend aufgrund der Akten über die beantragte Rückweisung entschieden werden, zumal sich die damit verbundenen Fragen auf Rechtsfragen beschränken. Daher rechtfertigt es sich, über die Sache ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung und auf dem Zirkularweg zu entscheiden (vgl. Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO). Gegen die Durchführung eines schriftlichen Verfahrens haben schliesslich auch die Parteien keine Einwände vorgebracht (siehe Verfügung vom 13. Dezember 2022; Eingabe der Berufungsbeklagten vom 16. Januar 2023; vgl. Art. 406 Abs. 2 lit. b StPO).

 

2.

2.1      Im Strafbefehl vom 26. April 2021 wird der Berufungsbeklagten zusammengefasst vorgeworfen, sie habe am 18. August 2019 um ca. 22:20 Uhr nach dem Konsum von zwei Flaschen Rotwein in Anwesenheit ihres Ehemannes in der gemeinsamen Wohnung Flaschen und Gläser herumgeworfen und sich mehrere Schnittverletzungen an den am Boden liegenden Glasscherben zugezogen. Als die vom Ehemann alarmierte Sanität in der Wohnung eingetroffen sei, sei die Berufungsbeklagte sehr aufgebracht gewesen und habe Anstalten getroffen, vom Balkon zu springen, wobei sie dem sie zurückhaltenden Rettungssanitäter B____ mit der flachen Hand auf die linke Wange geschlagen habe. Die Sanitäter hätten die Polizei requiriert, welche ebenfalls in der Wohnung eingetroffen sei. Rettung und Polizei hätten die Berufungsbeklagte anschliessend aufgrund ihrer Schnittverletzungen sowie drohender Fremd- und Eigengefährdung ins Universitätsspital Basel bringen wollen, wobei sich die Berufungsbeklagte weiter mit Händen und Füssen um sich schlagend gewehrt habe. Im Universitätsspital angekommen, habe die Berufungsbeklagte den Polizeibeamten Wm C____ mit «You fucking moron!», «Go Fuck yourself, you motherfucker!» und «You’re a bloody abuser!» bezeichnet und den Rettungssanitäter B____ sowie die Polizeibeamte Wm mbA D____ mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, als diese versucht hätten, sie am Aufstehen aus dem Krankenbett zu hindern.

 

Das Einzelgericht in Strafsachen kam in seinem Urteil vom 10. Juni 2022 gestützt auf die Akten sowie das Beweisverfahren anlässlich der Hauptverhandlung zum Schluss, dass der angeklagte Sachverhalt grundsätzlich erstellt sei. Als nicht erstellt erachtete die Vorinstanz allerdings den Umstand, dass die Berufungsbeklagte versucht habe, vom Balkon zu springen, sowie den zweiten Schlag gegen den Rettungssanitäter B____ im Universitätsspital (angefochtenes Urteil, Akten S. 381-388). In rechtlicher Hinsicht folgerte das Einzelgericht in Strafsachen, die Berufungsbeklagte habe die Tatbestände der Beschimpfung sowie der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (in drei Fällen) sowohl in objektiver als auch subjektiver Hinsicht erfüllt (angefochtenes Urteil, Akten S. 387-389). Allerdings hielt die Vorinstanz im Rahmen der Schuld fest, es stelle sich die Frage, ob die Berufungsbeklagte bei den angeklagten Vorgängen vom 18. August 2019 zurechnungsfähig gewesen sei. Die Vorinstanz führte hierzu aus, die Berufungsbeklagte leide unter einer Nebenniereninsuffizienz, welche zu Ausfällen und Anfällen sowie in besonderen Stresssituationen zu einer Verwirrung führen könne. Daneben hätten auch die Schilderungen der befragten Beamten das «Bild einer hochgradig verwirrten Frau» gezeichnet. Hinzu komme, dass die Berufungsbeklagte sich eigenen Angaben zufolge an einen Grossteil der Geschehnisse nicht erinnern könne, weil sie nicht bei Bewusstsein gewesen sein wolle. In der Folge ging die Vorinstanz «von einer massiven, krankheitsbedingten Verwirrung seitens der Beschuldigten im Tatzeitpunkt» aus, die «in dubio pro reo als vollständig aufgehobene Schuldfähigkeit zu interpretieren» sei. Gestützt auf diese Erwägungen sprach die Vorinstanz die Berufungsbeklagte kostenlos von sämtlichen Vorwürfen frei (angefochtenes Urteil, Akten S. 382 und 389).

 

2.2      Die Staatsanwaltschaft lässt in ihrer Berufungserklärung vom 6. Oktober 2022 die erstinstanzlichen Ausführungen zum Tatsächlichen und Rechtlichen unbeanstandet, wendet sich aber gegen den mit der Schuldunfähigkeit der Berufungsbeklagten begründeten Freispruch. Die Staatsanwaltschaft macht geltend, die Berufungsbeklagte habe sich während des gesamten Vorverfahrens darauf beschränkt, den ihr vorgeworfenen Sachverhalt zu bestreiten. Erst anlässlich der Hauptverhandlung sei die vollumfängliche Schuldunfähigkeit der Berufungsbeklagte zur Tatzeit geltend gemacht worden. Die Vorinstanz stütze sich bei ihrem Freispruch infolge Schuldunfähigkeit im Tatzeitpunkt auf Arztberichte, Arztzeugnisse, ein Handbuch des Universitätsspitals sowie Aussagen der Rettungssanitäter und Polizeibeamten. Auf ein Gutachten eines Sachverständigen hingegen könne sich die Vorinstanz nicht stützen. Der Freispruch verstosse somit gegen den klaren Wortlaut von Art. 20 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB, SR 311.0), wonach das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen anordnet, sofern ernsthafter Anlass besteht, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, und sei mithin willkürlich (Akten, S. 400 f.).

 

2.3      Dem entgegnet die Berufungsbeklagte in ihrer Berufungsantwort vom 16. März 2023 im Wesentlichen, gemäss der Lehre könne aus Verhältnismässigkeitsüberlegungen in Bagatellfällen auf eine Begutachtung verzichtet werden. Vorliegend beantrage die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen, was noch genau unter der Grenze des Bagatellfalles liege (mit Hinweis auf Art. 132 Abs. 3 StPO). Ausserdem lasse ein Fachgutachten keinen Erkenntnisgewinn erwarten, da erstellt und unbestritten sei, dass die Berufungsbeklagte an den angegebenen und belegten Krankheiten leide, sie aber im akuten Krankheitszustand zum Tatzeitpunkt nicht psychiatrisch untersucht worden sei, sodass sich das Gutachten auf Spekulationen beschränken müsste (Berufungsantwort, Akten S. 425 ff.). Darüber hinaus macht die Berufungsbeklagte eine Verletzung der Begründungspflicht und mithin ihres rechtlichen Gehörs geltend, da sich das Einzelgericht in Strafsachen mit keinem Wort mit ihren Einwänden, wonach weder Sanität noch Polizei befugt gewesen seien, ihre Freiheit einzuschränken, auseinandergesetzt habe (Berufungsantwort, Akten S. 428 f.). Da überdies die Anklage nicht umschreibe, inwiefern die Handlungen der Beamten innerhalb ihrer Amtsbefugnis gelegen haben, sei der Anklagegrundsatz verletzt (Berufungsantwort, Akten S. 429 f.). Infolgedessen verlangt die Berufungsbeklagte – für den Fall, dass das Berufungsgericht den Freispruch der Berufungsbeklagte nicht bestätigen wolle – eine Rückweisung an die Vorinstanz bzw. eine Rückweisung der Anklage an die Staatsanwaltschaft. Weiter führt die Berufungsbeklagte eingehend aus, die Polizei bzw. Sanität hätten jeweils die Freiheit der Berufungsbeklagten unrechtmässig eingeschränkt, indem sie sie – ohne sich an die Vorschriften für eine Fürsorgerische Unterbringung zu halten – am Betreten des Balkons gehindert, sie zwangsweise ins Universitätsspital verbracht und sie dort zurückbehalten hätten. Damit fehle es für die Handlungen der Polizei bzw. Sanität an einer gesetzlichen Grundlage, weshalb diese keine Amtshandlung im Sinne von Art. 285 StGB darstellten. In der Folge seien die Tathandlungen der Berufungsbeklagten mangels Vorliegen einer Amtshandlung nicht tatbestandlich bzw. durch Notwehr gerechtfertigt gewesen (Berufungsantwort, Akten S. 430 ff.). Mit Blick auf die angeklagte Beschimpfung wäre überdies die Strafbefreiung nach Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB zu beachten (Berufungsantwort, Akten S. 435 f.). Im Übrigen bestreitet die Berufungsbeklagte, dass sie jeweils den subjektiven Tatbestand erfüllt habe, da der Sanitäter B____ bei seiner Befragung vom 10. September 2021 ausgesagt habe, seiner Meinung nach habe die Berufungsbeklagte nicht begriffen, was Sanität und Polizei bezüglich des Spitaleintritts von ihr gewollt hätten. Zuletzt sei gemäss Art. 54 StGB von einer Bestrafung abzusehen, weil die Berufungsbeklagte von den unmittelbaren Folgen ihres Widerstandes erhebliche Körperverletzungen mit bleibenden Schäden davongetragen habe (Berufungsantwort, Akten S. 436 f.).

 

3.

3.1      Die Berufung ist grundsätzlich ein reformatorisches Rechtsmittel, das zu einem neuen Urteil führt, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt (Art. 408 StPO). Weist das erstinstanzliche Verfahren allerdings wesentliche Mängel auf, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können, so hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurück (Art. 409 Abs. 1 StPO). Art. 409 Abs. 2 StPO hält dazu fest, dass das Berufungsgericht bestimmt, welche Verfahrenshandlungen im Falle einer Rückweisung zu wiederholen nachzuholen sind. Die kassatorische Erledigung durch Rückweisung an das erstinstanzliche Gericht ist aufgrund des reformatorischen Charakters des Berufungsverfahrens die Ausnahme. Sie rechtfertigt sich nur bei wesentlichen Mängeln, durch die in schwerwiegender Weise in die Rechte der beschuldigten Person anderer Parteien eingegriffen wird, sodass die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte – in erster Linie zur Vermeidung eines Instanzverlusts – unumgänglich ist. Zu denken ist etwa an die nicht richtige Besetzung des Gerichts, fehlende Zuständigkeit, unterbliebene korrekte Vorladung, Verweigerung von Teilnahmerechten, nicht gehörige Verteidigung, das Abstützen des Urteils auf unverwertbare Beweise die unterbliebene Behandlung bzw. Beurteilung aller Anklagepunkte. In solchen Fällen hätte das blosse Nachholen der erstinstanzlich unterbliebenen Vorkehren den Verlust einer Instanz zur Folge, was dem Anspruch auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 0.101) widersprechen würde (zum Ganzen: Eugster, a.a.O., Art. 409 StPO N 1; Schmid/Jositsch, a.a.O., Art. 409 N 2 f.; BGE 143 IV 408 E. 6.1, mit weiteren Hinweisen; AGE SB.2022.43 vom 6. April 2023 E. 2.5.3).

 

3.2

3.2.1   Die Vorinstanz hat die Berufungsbeklagte infolge – aufgrund des Prinzips «in dubio pro reo» anzunehmender – «vollständig aufgehobene[r] Schuldfähigkeit» von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen (angefochtenes Urteil, Akten S. 389).

 

3.2.2   Art. 20 StGB sieht vor, dass die Untersuchungsbehörde das Gericht bei ernsthaftem Anlass zu Zweifeln an der Schuldfähigkeit des Täters die Begutachtung durch einen Sachverständigen anordnet. Damit trifft nach Art. 20 StGB die Untersuchungs- und die urteilende Behörde die Pflicht, eine Begutachtung des Beschuldigten anzuordnen, wenn ernsthafter Anlass besteht, an dessen Schuldfähigkeit zu zweifeln (Bommer, in: Basler Kommentar, 4. Auflage, Basel 2019, Art. 20 StGB N 2). Art. 20 StGB geht damit den in Art. 182 ff. StPO geregelten allgemeinen Voraussetzungen für den Beizug eines Sachverständigen als lex specialis vor (BGE 140 IV 49, 51 E. 2.2), indem bei ernsthaften Zweifeln an der Schuldfähigkeit des Beschuldigten von Gesetzes wegen und unwiderleglich die Vermutung statuiert wird, dass Staatsanwaltschaft und Gericht «nicht über die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Feststellung Beurteilung eines [solchen] Sachverhalts» notwendig sind (vgl. Art. 182 StPO; Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 2). Mit anderen Worten stellt gemäss Art. 20 StGB das Sachverständigengutachten das einzige rechtlich zulässige Beweismittel im Sinne von Art. 139 Abs. 1 StPO zum Nachweis ausgeschlossener eingeschränkter Schuldfähigkeit dar (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 8). Auslöser der Begutachtungspflicht sind nur Zweifel aus «ernsthaftem Anlass», d. h. solche, die sich auf objektive Anhaltspunkte stützen. Liegt aber ein solcher ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Schuldfähigkeit vor, so muss stets eine Begutachtung durchgeführt werden (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 7 f.; Trechsel/Fateh-Moghadam, in: Praxiskommentar StGB, Zürich/St. Gallen 2021, Art. 20 N 2). Anlass zu Zweifeln geben können einerseits in der Tat liegende Umstände, etwa auffällige Begleiterscheinungen, aber auch vor der Tat liegende Umstände, etwa aus den Lebensumständen der Vorgeschichte der beschuldigten Person (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 11 ff.; vgl. Kasuistik bei Trechsel/Fateh-Moghadam, a.a.O. Art. 20 N 10).

 

3.2.3   Art. 20 StGB verlangt die Einholung eines amtlichen Gutachtens. Ein durch einen Privatgutachter erstelltes Gutachten genügt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht, da einem Privatgutachten keine Beweismittelqualität zukommt, sondern es bloss Bestandteil der Parteivorbringen bildet. Immerhin kann ein Privatgutachten unter Umständen aber geeignet sein, Zweifel an der Schlüssigkeit eines Gerichtsgutachtens die Notwendigkeit eines (zusätzlichen) Gutachtens zu begründen (zum Ganzen BGer 6B_1363/2019, E. 1.2.5; BGE 141 IV 369, E. 6.2; Trechsel/Fateh-Moghadam, a.a.O., Art. 20 N 5). Bei der blossen schriftlichen Meinungsäusserung eines (bzw. des behandelnden) Arztes handelt es sich demgegenüber noch nicht einmal um ein Privatgutachten (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 18, mit weiteren Hinweisen).

 

3.2.4   Die Vorinstanz hielt im Rahmen der Erwägungen zur Schuld fest, es stelle sich die Frage, ob die Berufungsbeklagte bei den angeklagten Vorgängen vom 18. August 2019 zurechnungsfähig gewesen sei, und führt hierzu aus, die Berufungsbeklagte leide unter einer Nebenniereninsuffizienz, welche zu Ausfällen und Anfällen sowie in besonderen Stresssituationen zu einer Verwirrung führen könne (mit Hinweis auf Arztzeugnisse sowie ein Handbuch des Universitätsspitals, Akten S. 150 ff. und 154 ff.). Daneben hätten auch die Schilderungen der befragten Beamten «ganz klar das Bild einer hochgradig verwirrten Frau» gezeichnet. Diesbezüglich verweist die Vorinstanz auch auf das Lallen, den Umstand, dass die Berufungsbeklagte über Scherben gelaufen sei, auf keinerlei Zureden reagiert habe und sich nicht habe verarzten lassen, sowie auf das körperlich gewalttätige Vorgehen der Berufungsbeklagten, obwohl sie anlässlich der Hauptverhandlung ohne weiteres habe glaubhaft machen können, dass sie ein friedfertiger Mensch sei. Als weiteres Indiz erachtete die Vorinstanz den Umstand, dass die gebürtige Schweizerin und der deutschen Sprache fliessend mächtige Berufungsbeklagte bis zu ihrer Ankunft im Spital ausschliesslich Englisch gesprochen habe (mit Hinweis auf die Aussagen von Wm mbA D____, Akten S. 225 sowie die Aussagen von Wm C____, Akten S. 251). Hinzu komme, dass die Berufungsbeklagte, die aufgrund der sommerlichen Temperaturen ohnehin nur mit Unterwäsche bekleidet gewesen sei, im Wortgefecht mit den Sanitätern auch noch grundlos ihren BH ausgezogen haben solle (mit Hinweis auf Aussagen von Sanitäter B____, Akten S. 265). Und schliesslich sei auf die Angaben der Berufungsbeklagten selbst abzustellen, wonach sie sich eigenen Angaben zufolge an einen Grossteil der Geschehnisse nicht erinnern könne, weil sie nicht bei Bewusstsein gewesen sei. In der Folge ging die Vorinstanz «von einer massiven, krankheitsbedingten Verwirrung seitens der Beschuldigten im Tatzeitpunkt» aus, die «in dubio pro reo als vollständig aufgehobene Schuldfähigkeit zu interpretieren» sei. Gestützt auf diese Erwägungen sprach die Vorinstanz die Berufungsbeklagte kostenlos von sämtlichen Vorwürfen frei (angefochtenes Urteil, Akten S. 382 und 389).

 

3.2.5   Die von der Vorinstanz herausgearbeiteten Aspekte kommen, sofern erstellt, zwar als ernsthafte objektive Anhaltspunkte zur Begründung von Zweifeln an der Schuldfähigkeit der beschuldigten Person im Sinne von Art. 20 StGB in Betracht. Solche Anhaltspunkte lösen allerdings nach dem oben Gesagten (siehe oben E. 3.2.2) die Pflicht des Gerichts aus, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Sie können hingegen nicht ein Gutachten ersetzen. Auch die von der Vorinstanz herangezogenen Arztzeugnisse (Akten S. 150 ff.) und das – von vornherein nicht konkret auf den vorliegenden Fall bezogene – Handbuch des Universitätsspitals (Akten S. 154 ff.) erfüllen die Anforderungen von Art. 20 StGB nicht, welcher wie bereits ausgeführt ein amtliches Sachverständigengutachten verlangt und keine Parteigutachten, geschweige denn blosse Arztzeugnisse genügen lässt (siehe oben E. 3.2.2 f.). Das Bundesgericht hat in BGE 119 IV 120 E. 2. d klargestellt, dass es ausgeschlossen ist, generell ohne psychiatrisches Gutachten verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen. In der Tat ist Art. 20 StGB als prozessuale Regelung der Ausnahme vom «Normalfall Schuldfähigkeit» und als Verpflichtung zur Ermittlung der materiellen Wahrheit, nicht aber als (reine) Schutzbestimmung zugunsten der beschuldigten Person zu verstehen. In diesem Sinne statuiert Art. 20 StGB unter anderem ein Verbot der antizipierten Beweiswürdigung in Form der Wahrunterstellung verminderter gar ausgeschlossener Schuldfähigkeit ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens und damit zugunsten der beschuldigten Person (zum Ganzen Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 20 f.). Vor diesem Hintergrund besteht – gerade auch im Lichte des klaren Gesetzeswortlautes von Art. 20 StGB, kein Raum für die Annahme einer Schuldunfähigkeit «in dubio pro reo», wie die Vorinstanz diese vorgenommen hat.

 

3.2.6   Die Berufungsbeklagte wendet gegen die gesetzliche Pflicht zur Begutachtung der Berufungsbeklagten ein, ein Fachgutachten lasse vorliegend keinen Erkenntnisgewinn erwarten. Es sei erstellt und unbestritten, dass die Berufungsbeklagte an den angegebenen und belegten Krankheiten leide, sie aber im akuten Krankheitszustand zum Tatzeitpunkt nicht psychiatrisch untersucht worden sei. Damit müsste sich ein Gutachten auf Spekulationen beschränken (Berufungsantwort, Akten S. 425 ff.). Damit wendet sie sich letztlich gegen die Verhältnismässigkeit im weiteren Sinne der Anordnung eines Gutachtens, genauer gegen dessen Erforderlichkeit.

 

Dem ist zu entgegnen, dass eine Begutachtung nur dann mangels Erforderlichkeit nicht angeordnet zu werden braucht, wenn sie nach Lage der Dinge den Erkenntnisstand über die Schuldfähigkeit der beschuldigten Person im Tatzeitpunkt nicht einmal zu verbessern vermöchte (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 22, mit weiteren Hinweisen), namentlich, weil bereits hinreichende psychiatrische Gutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der beschuldigten Person zur Tatzeit vorliegen (BGE 101 IV 247, E. 2). Vorliegend geht die Vorinstanz von einem medizinisch-psychiatrisch betrachtet offenbar sehr komplexen und aussergewöhnlich erscheinenden Zustand der Berufungsbeklagten zum Tatzeitpunkt aus (siehe oben E. 3.2.4), welcher für medizinische Laien nicht aus sich heraus nachvollziehbar erscheint. Gänzlich ungeklärt erscheint zudem, ob die von der Berufungsbeklagten und ihren behandelnden Ärzten geltend gemachten Episoden bzw. allfällige Folgezustände überhaupt aus forensisch-psychiatrischer Sicht geeignet sind, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der betroffenen Person vollständig auszuschliessen – ob nicht vielmehr von verminderter gar von unbeeinträchtigter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Berufungsbeklagten auszugehen ist. Fraglich erscheint auch, ob bzw. inwiefern eine allfällige, nach einem akuten Zustand der Bewusstlosigkeit eingetretene «Verwirrung» während der gesamten Dauer der angeklagten Tathandlungen andauern konnte. Zu diesen zentralen Fragen äussern sich die Arztzeugnisse der Berufungsbeklagten (Akten S. 150 ff.) und auch das eingereichte Handbuch zur Therapie mit cortisolhaltigen Medikamenten (Akten S. 154 ff.) nicht – zumal diese nach dem oben Gesagten (E. 3.2.3) von vornherein nicht als Ersatz für ein Sachverständigengutachten dienen können. Demgegenüber erscheint ein psychiatrisch-forensisches Sachverständigengutachten durchaus geeignet und auch erforderlich, um diese Fragen zu klären und so den Erkenntnisstand über die Schuldfähigkeit der Berufungsbeklagten zu verbessern. Dem Vorbringen der Berufungsbeklagten, wonach sich ein nachträgliches Gutachten auf Spekulationen beschränken müsste, ist zu entgegnen, dass solche Gutachten in aller Regel erst im Nachgang zur fraglichen Tat erstellt werden können. In den seltensten Fällen wird eine Begutachtung zum Tatzeitpunkt bzw. unmittelbar danach überhaupt möglich sein. Dieser Umstand allein vermag den Nutzen eines Gutachtens daher nicht in Zweifel zu ziehen.

 

3.2.7   Die Berufungsbeklagte macht zudem geltend, gemäss der Lehre könne aus Verhältnismässigkeitsüberlegungen in Bagatellfällen auf eine Begutachtung verzichtet werden. Vorliegend beantrage die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen, was noch genau unter der Grenze des Bagatellfalles liege (mit Hinweis auf Art. 132 Abs. 3 StPO). Damit wendet sie sich gegen die Verhältnismässigkeit der Begutachtung im engeren Sinne, also deren Angemessenheit.

 

Ein Begutachtungsverzicht unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismässigkeitsprinzips im engeren Sinne wird in der Lehre indessen lediglich dann erwogen, wenn die Begutachtung in keinem Verhältnis zur Schwere des Tatvorwurfs stünde. Zugleich wird betont, dies dürfte nur selten der Fall sein, zumal die Verpflichtung, sich für eine psychiatrische Begutachtung zur Verfügung zu halten, nach der Rechtsprechung grundsätzlich keinen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit darstelle (BGE 124 I 40, E. 5 a), es sei denn, die Begutachtung lasse sich nicht ambulant, sondern nur stationär durch Einweisung in eine psychiatrische Klinik durchführen (zum Ganzen Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 23). Vorliegend ist die Verhältnismässigkeit nicht etwa zu verneinen, weil – wie die Berufungsbeklagte geltend macht – die beantragte Strafe knapp unterhalb der Definition eines Bagatellfalls im Sinne von Art. 132 Abs. 3 StPO ausfällt. Zunächst einmal lässt Art. 132 Abs. 3 StPO Raum dafür, dass auch Fälle von unter 120 Tagessätzen nicht mehr als Bagatelle gelten, da die Norm lediglich besagt, ein Bagatellfall läge «jedenfalls dann nicht mehr vor», wenn eine Strafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten sei. Vor allem aber bezieht sich Art. 132 Abs. 3 StPO einzig auf den Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung und stellt nicht etwa eine für das gesamte Straf(prozess)recht gültige, schematische Definition von Bagatellfällen dar, bei deren Vorliegen sich jegliche (Beweis)massnahmen schematisch als unverhältnismässig erweisen würden. Demgegenüber geht das Bundesgericht selbst im Rahmen weniger einschneidender Delikte von einer Pflicht zur Begutachtung nach Art. 20 StGB aus (so etwa BGer 6B_810/2015 vom 12. Mai 2016 E. 1.3, in welchem eine bedingte Geldstrafe von lediglich 50 Tagessätzen zu Fr. 60.–, bei einer Probezeit von 2 Jahren, wegen des Vorwurfs der mehrfachen üblen Nachrede zur Diskussion stand). Im Lichte dieser Rechtsprechung und der dargelegten Literatur ist nicht ersichtlich, inwiefern die – vorliegend ohne Weiteres ambulant und ohne schwere Eingriffe in die Persönlichkeit der Berufungsbeklagten mögliche – Begutachtung der Berufungsbeklagten ausser Verhältnis zur Schwere des Tatvorwurfs der Beschimpfung und der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte bzw. zur geforderten Strafe von 120 Tagessätzen stehen soll. Vor diesem Hintergrund kann kein ausnahmsweises Zuwiderhandeln der rechtsanwendenden Behörden gegen den klaren Gesetzeswortlaut von Art. 20 StGB aus Verhältnismässigkeitsgründen gefordert werden.

 

3.2.8   Vorliegend ist nicht materiell zu beurteilen, ob anhand der vorhandenen Beweismittel hinreichende, objektive Anhaltspunkte für Zweifel an der Schuldfähigkeit der Berufungsbeklagten bestehen, da im Rückweisungsverfahren kein Urteil in der Sache gefällt wird (siehe oben E. 1.2). Da die Vorinstanz aber Zweifel an der Schuldfähigkeit der Berufungsbeklagten bejaht hat, war sie nach dem Erwogenen dazu verpflichtet, ein entsprechendes Sachverständigengutachten anzuordnen. Insofern ist der Staatsanwaltschaft darin zuzustimmen, dass der angefochtene Freispruch zufolge Schuldunfähigkeit ohne forensisch-psychiatrisches Gutachten gegen den klaren Gesetzeswortlaut von Art. 20 StGB verstösst.

 

3.2.9   Es ist weiter zu prüfen, ob dieser Mangel zu einer Rückweisung an die Vorinstanz führt. Gemäss dem Wortlaut von Art. 409 Abs. 1 StPO sind drei kumulative Voraussetzungen für eine Rückweisung erforderlich: Der Mangel muss sich auf das Verfahren beziehen, er muss wesentlich sein und im Berufungsverfahren nicht mehr geheilt werden können (Zimmerlin, a.a.O., Art. 409 N 2 ff.).

 

Art. 20 StGB greift als Regel über die Beweisführung ins Prozessrecht ein (Trechsel-Fateh-Moghadam, a.a.O., Art. 20 N 1). Er stellt sozusagen das «prozessrechtliche Spiegelbild der Bestimmungen über die ausgeschlossene und verminderte Schuldfähigkeit dar» (Bommer, a.a.O., Art. 20 StGB N 2 und 8). Dementsprechend beschlägt der dargelegte Mangel das Verfahren.

 

Käme sodann das einzuholende Sachverständigengutachten zum Schluss, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Berufungsbeklagten zum Tatzeitpunkt nicht nur teilweise aufgehoben war, so wäre ein Urteil möglich, das dem angefochtenen im Ergebnis diametral entgegensteht. Damit erscheint der Mangel auch als wesentlich.

 

Was die Heilung im Berufungsverfahren angeht, so führt der Umstand, dass das Berufungsgericht weitere Beweise abnimmt bzw. deren Abnahme für notwendig hält, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht automatisch zur Rückweisung (BGer 6B_253/2013, E. 1.2; Eugster, a.a.O., Art. 409 StPO N 1), sondern nur, wenn die damit verbundenen Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens derart gravierend sind, dass die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte unumgänglich erscheint (BGer 6B_253/2013, E. 1.2, mit weiteren Hinweisen). So drängt sich eine Rückweisung zur Ergänzung Wiederholung des Beweisverfahrens etwa dann auf, wenn ansonsten der Grundsatz, wonach das Beweisverfahren im Berufungsverfahren nur punktuell zu ergänzen ist, unterlaufen würde (Hug, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 2020, Art. 409 StPO N 7). Würde erst das Appellationsgericht ein forensisch-psychiatrisches Gutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Berufungsbeklagten zum Zeitpunkt der Tat einholen und die Tat unter Berücksichtigung dieses potenziell zentralen Beweismittels anders als die Vorinstanz beurteilen, so gingen die Parteien, insbesondere auch die erstinstanzliche vollumfänglich freigesprochene Berufungsbeklagte und Beschuldigte, in Bezug auf eine zentrale Sachfrage einer Instanz verlustig. Demgegenüber würde eine Rückweisung an die Vorinstanz der Berufungsbeklagten und Beschuldigten sowie auch der Staatsanwaltschaft den vollen Instanzenzug gewährleisten. Die erstinstanzlich freigesprochene Berufungsbeklagte mag zwar durch die entstehende Verzögerung betroffen sein, letztere erweist sich aber angesichts des dadurch erhaltenen Instanzenzugs insgesamt nicht als unzumutbar. Zudem ist die Berufungsbeklagte in ihrem Eventualbegehren selbst der Auffassung, für den Fall, dass «das Berufungsgericht, aus welchem Grund auch immer, den Freispruch der Berufungsbeklagten nicht bestätigen» wollte, könne «das angefochtene Urteil nur aufgehoben und zur neuen Beurteilung an das Strafgericht zurückgewiesen werden», wobei sie die Rückweisung primär mit einer Verletzung des rechtlichen Gehörs infolge unzureichender Begründung seitens der Vorinstanz und einer Verletzung des Akkusationsprinzips begründet (Berufungsantwort, Akten S. 428 ff.). Auf letztere Vorbringen braucht vorliegend nicht eingegangen zu werden, da die Rückweisung an die Vorinstanz bereits mit der Verletzung von Art. 20 StGB begründet werden kann. Die Sache ist mithin in Gutheissung des Hauptbegehrens der Staatsanwaltschaft an die Vorinstanz zurückzuweisen.

 

3.3      Da im Rahmen einer Rückweisung kein Urteil in der Sache ergeht (siehe oben E. 1.2), ist im Übrigen auch nicht auf die Vorbringen der Berufungsbeklagten einzugehen, wonach Polizei bzw. Sanität die Freiheit der Berufungsbeklagten unrechtmässig eingeschränkt hätten, indem sie sie am Betreten des Balkons gehindert sowie sie zwangsweise ins Universitätsspital verbracht und dort zurückbehalten hätten, weshalb die Tathandlungen der Berufungsbeklagten mangels Amtshandlung nicht tatbestandlich bzw. durch Notwehr gerechtfertigt gewesen seien. Gleiches gilt mit Blick auf die geltend gemachte Strafbefreiung nach Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB im Rahmen der Beschimpfung, die Bestreitung des Vorliegens des subjektiven Tatbestandes bei der Berufungsbeklagten sowie das beantragte Absehen von einer Bestrafung in Anwendung von Art. 54 StGB (zum Ganzen Berufungsantwort, Akten S. 430 ff.). Diese Rügen kann die Berufungsbeklagte gegenüber der Vorinstanz sowie im Rahmen eines allfälligen Berufungsverfahrens auch nochmals gegenüber dem Berufungsgericht vorbringen.

 

3.4      Nach dem Gesagten ist das vorinstanzliche Strafurteil vom 10. Juni 2022 aufzuheben. Die Sache ist nach Art. 409 Abs. 1 StPO an das Einzelgericht in Strafsachen zurückzuweisen, welches ein forensisch-psychiatrisches Gutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Berufungsbeklagten zur Tatzeit einzuholen, eine zweite Hauptverhandlung durchzuführen sowie ein neues bzw. ergänzendes Urteil zu fällen hat.

 

4.

4.1      Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind für das vorliegende Rückweisungsverfahren keine Kosten zu erheben.

 

4.2      Kassiert die Rechtsmittelinstanz einen Entscheid nach Art. 409 StPO, haben die Parteien Anspruch auf eine angemessene Entschädigung für ihre Aufwendungen im Rechtsmittelverfahren und im aufgehobenen Teil des erstinstanzlichen Verfahrens (Art. 436 Abs. 3 StPO). Die Rechtsmittelinstanz spricht die Entschädigung für die im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens entstandenen Aufwendungen nach Ermessen zu (Wehrenberg/Frank, in: Basler Kommentar, 2. Auflage, Basel 2014, Art. 436 N 16). Mit Blick auf das vorliegende Rückweisungsverfahren hat der Privatverteidiger der Berufungsbeklagten mit seiner Berufungsantwort auch seine Honorarnote vom 16. März 2023 eingereicht. Er macht einen Aufwand von 7,1667 Stunden zu einem Stundenansatz von CHF 300.– sowie Auslagen von CHF 57.–, jeweils zuzüglich Mehrwertsteuer von 7,7%, geltend. Dies erscheint grundsätzlich angemessen. Allerdings ist der Aufwand des Privatverteidigers zum üblichen Stundenansatz von CHF 250.– zu entschädigen. Ein höherer Ansatz kann nur berücksichtigt werden, wenn es sich um einen besonders komplizierten Sachverhalt um eine besonders schwierige Rechtsproblematik handelt. Solches wird vorliegend nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich. Die zu entrichtende Parteientschädigung beläuft sich mithin auf CHF 1'848.70 (einschliesslich Auslagen), zuzüglich Mehrwertsteuer in Höhe von CHF 142.35, d.h. insgesamt CHF 1'991.05.

 

Was sodann eine allfällige Parteientschädigung der Berufungsbeklagen für das erstinstanzliche Verfahren angeht, so können im vorliegenden Rückweisungsverfahren der Ausgang der Streitsache und dementsprechend auch die hiervon abhängigen Fragen, ob und in welcher Höhe der Berufungsbeklagten eine Parteientschädigung für das erstinstanzliche Verfahren zuzusprechen ist, noch nicht beurteilt werden. Vielmehr wird die Vorinstanz diese Fragen anlässlich der zweiten Hauptverhandlung bei Vorliegen des Gutachtens zu entscheiden haben.

 

 

Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Dreiergericht):

 

://:        Das Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen vom 10. Juni 2022 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

 

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

 

Der Berufungsbeklagten werden für das Rückweisungsverfahren eine Parteientschädigung von CHF 1'991.05 (einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer) aus der Gerichtskasse entrichtet.

 

Mitteilung an:

-       Staatsanwaltschaft Basel-Stadt

-       Berufungsbeklagte

-       Strafgericht Basel-Stadt

 

APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT

 

Der Präsident                                                            Die Gerichtsschreiberin

 

 

lic. iur. Christian Hoenen                                         Dr. Laura Macula

 

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung

 

Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.

 



 
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