| Appellationsgericht Kammer |
SB.2020.112
ENTSCHEID
vom 23. November 2023
Mitwirkende
lic. iur. Christian Hoenen, lic. iur. Lucienne Renaud,
Dr. phil. und MLaw Jacqueline Frossard, Prof. Dr. Jonas Weber,
MLaw Anja Dillena und Gerichtsschreiber Dr. Urs Thönen
Beteiligte
A____, Berufungskläger 6
geb. [...] Beschuldigter 6
[...]
vertreten durch [...], Rechtsanwalt,
[...]
gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Berufungsbeklagte
Binningerstrasse 21, 4001 Basel Anschlussberufungsklägerin
Gegenstand
Berufungsurteil vom 16. März 2023
Ersatzansprüche zufolge Freispruch
Sachverhalt
A____ (Kurzname [...]; im Folgenden Beurteilter) wurde am 13. Februar 2019 festgenommen und wegen des Verdachts des Angriffs, eventuell der versuchten Tötung, in Untersuchungshaft versetzt. Er wurde am 21. März 2019 aus der Untersuchungshaft entlassen.
Der Beurteilte wurde mit Urteil des Strafgerichts vom 12. Juni 2020 wegen Angriffs zu 20 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und für 7 Jahre des Landes verwiesen. Mit Berufungsurteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 16. März 2023 wurde er von der Anklage der versuchten vorsätzlichen Tötung kostenlos freigesprochen. Zudem wurde ihm eine Haftentschädigung von CHF 7'200.– aus der Gerichtskasse zugesprochen.
Der Verteidiger von A____ hatte im Berufungsverfahren u.a. folgende Anträge gestellt:
«Es sei sodann zu Lasten der Staatskasse dem Beschuldigten 6 ein Schadenersatz im Umfang von CHF 6'733.46 mit Verzugszins von 5 % seit 1. April 2019 als Lohnersatz zuzusprechen» (Antrag Ziff. 3 betreffend Lohnersatz).
«Es sei sodann dem Beschuldigten zu Lasten der Staatskasse ein Schadenersatz von CHF 9'296.15 für die anwaltliche Vertretung (für die Zeit vor dem 10. Juni 2019) mit Verzugszins von 5 % ab dem 11. Juni 2019 zuzusprechen» (Antrag Ziff. 5 betreffend Kosten der Wahlverteidigung).
Zu diesen Anträgen erwog das Berufungsgericht (Berufungsurteil S. 27 f.):
«Bei gegen den Staat gerichteten Entschädigungsansprüchen ist der Gesuchsteller gehalten, die Ansprüche zu beziffern und zu begründen. Es gilt aber die Untersuchungs- bzw. Offizialmaxime. Entsprechend sieht Art. 429 Abs. 2 StPO vor, dass die Strafbehörde (hier: das Berufungsgericht) den Anspruch von Amtes wegen prüft und die beschuldigte Person auffordern kann, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen (Schmid/Jositsch, a.a.O., Art. 429 N 12 ff.; Griesser, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 2020, Art. 429 N 8 ff.; Wehrenberg/Frank, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 429 N 31 ff.). Eine solche Aufforderung gegenüber A____ ist bisher unterblieben. Sie wird mit der Zustellung der schriftlichen Urteilsbegründung vorgenommen. Anschliessend werden seine offen gebliebenen Ansprüche gegenüber dem Staat mit separatem Entscheid beurteilt.»
Mit Eingabe vom 14. August 2023 hat der Beurteilte seine Entschädigungsanträge begründet und belegt. Die Staatsanwaltschaft hat sich zum Entschädigungsbegehren nicht vernehmen lassen. Das vorliegende Urteil ist auf dem Zirkulationsweg ergangen.
Erwägungen
1. Lohnersatz
1.1 Der Beurteilte war vom 13. Februar bis 21. März 2019 (36 Tage) in Untersuchungshaft. Er beantragt für diese Zeit sowie den darauf folgenden Tag (22. März 2019) Lohnersatz. Nach seinen Ausführungen hat er während der Untersuchungshaft zwar den Lohn erhalten, so dass der Schaden von der Arbeitgeberin, der B____ AG in [...], getragen worden sei. Diese hat dem Beurteilten den Ersatzanspruch zur Geltendmachung abgetreten (Abtretungsvereinbarung vom 8. Mai 2020).
1.2 Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) hat der Freigesprochene Anspruch auf Entschädigung der wirtschaftlichen Einbussen, die ihm aus seiner notwendigen Beteiligung am Strafverfahren entstanden sind. Wie der Beurteilte zutreffend ausführt, ist der Schaden nicht bei ihm, sondern bei seiner Arbeitgeberin eingetreten, die ihm den Lohn während der Untersuchungshaft weiterhin bezahlte. Der Beurteilte hatte als Arbeitnehmer während der ganzen Haftdauer Anspruch auf Lohnfortzahlung.
1.3 Wird der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Person liegen, wie Krankheit, Unfall, Erfüllung gesetzlicher Pflichten Ausübung eines öffentlichen Amtes ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert, so hat ihm der Arbeitgeber für eine beschränkte Zeit den darauf entfallenden Lohn zu entrichten (Art. 324a Abs. 1 des Obligationenrechts, OR, SR 220). Gemäss BGE 114 II 274 278 E. 5 ist die Verhinderung an der Arbeitsleistung, welche durch Untersuchungshaft verursacht ist, in der Regel selbstverschuldet im Sinne dieser Bestimmung, wenn das Strafverfahren zu einer Verurteilung führt. Gleich verhält es sich, wenn der Arbeitnehmer die Anschuldigung und die Untersuchungshaft durch falsche widersprüchliche Angaben gegenüber dem Untersuchungsrichter verursachte (BGer 4C.74/2000 vom 16. August 2001 E. 4.b). Daraus lässt sich herleiten, dass bei einer ungerechtfertigten und nicht durch falsche widersprüchliche Angaben verursachten Haft die Verhinderung an der Arbeitsleistung eine unverschuldete im Sinne von Art. 324a Abs. 1 OR ist und demzufolge der Arbeitgeber während dieser Haft bzw. für eine beschränkte Zeit zur Lohnzahlung verpflichtet ist (vgl. Bundesstrafgericht TPF 2014 66 E. 13.5; BK.2004.15 vom 8. März 2006 E. 3.3.2).
Im vorliegenden Fall wird dem Beurteilten nicht vorgeworfen, dass die Untersuchungshaft durch falsche widersprüchliche Angaben gegenüber den Untersuchungsbehörden verursacht worden wäre. Demnach hat er grundsätzlich Anspruch auf Lohnfortzahlung gegenüber seiner Arbeitgeberin. Der Beurteilte war im dritten Dienstjahr seiner Anstellung bei der B____ AG (Zwischenzeugnis vom 23. Februar 2018, Juris-Aktennummer 642), in welchem die Lohnfortzahlungspflicht nach Basler und Berner Skala 2 Monate bzw. 60 Tage dauert (Portmann/Rudolph, in: Basler Kommentar, 7. Aufl., Basel 2020, Art. 324a OR N 20). Damit wird der Beurteilte für die gesamte Haftdauer von 36 Tagen mittels Lohnfortzahlung schadlos gehalten. Eine wirtschaftliche Einbusse der beschuldigten und danach freigesprochenen Person im Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO ist nicht eingetreten.
1.4 Entgegen der Ansicht der Verteidigung werden die dogmatischen Probleme mit der erfolgten Abtretungsvereinbarung vom 8. Mai 2020 zur Geltendmachung vor dem Strafgericht Basel-Stadt nicht ausgeräumt, da sich der Anspruch des Arbeitgebers nicht auf die Strafprozessordnung stützen kann. Der Arbeitgeber erleidet einen Reflexschaden, dessen Causa auch durch die Zession nicht geändert wird und nach den allgemeinen Prinzipien des Schadensrechts nicht zu ersetzen ist (BGE 126 III 521 E. 2a). Allfällige Ansprüche des Arbeitgebers stützen sich allenfalls auf das Staatshaftungsrecht, was im vorliegenden Verfahren aber nicht zu beurteilen ist. Die Forderung des Beurteilten auf Lohnersatz ist demnach abzuweisen.
2. Privatverteidigung
2.1 Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat der Freigesprochene Anspruch auf die Entschädigung seiner Aufwendungen für die angemessene Ausübung seiner Verfahrensrechte. Gemeint ist damit das Honorar der Privatverteidigung, welches (anders als jenes der amtlichen Verteidigung) im Falle eines Schuldspruchs nicht entschädigt wird. Die Entschädigung der Wahlverteidigung bezieht sich gemäss dem Gesetzeswortlaut auf «angemessene» Aufwendungen. Die Bemühungen des Anwaltes müssen im Umfang den Verhältnissen entsprechen, sachbezogen und angemessen sein. Sie müssen in einem vernünftigen Verhältnis zur Komplexität der Sache, zur Schwierigkeit des Falles und zur Wichtigkeit der Sache stehen. Unnötige und übersetzte Kosten sind nicht zu entschädigen (Schmid/Jositsch, StPO Praxiskommentar, 3. Auflage 2018, Art. 429 N 7; Wehrenberg/Frank, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 429 N 12 ff., 15).
2.2 Der Beurteilte liess sich vom 15. Februar 2019 bis zum 8. Juni 2020 durch den privat mandatierten Wahlverteidiger [...] vertreten. Am 10. Juni 2019 ersuchte er darum, dass sein Anwalt sofort als amtlicher Verteidiger eingesetzt werde, weil er sich den vorliegenden Prozess nicht weiter leisten könne (Akten S. 1017). Die Staatsanwaltschaft bewilligte die amtliche Verteidigung mit dem bisherigen Anwalt mit Wirkung ab 10. Juni 2019 (Verfügung vom 28. Juni 2019, Akten S. 1021).
Im erstinstanzlichen Verfahren wurde der Beurteilte schuldig gesprochen. Dem amtlichen Verteidiger wurde gestützt auf die Honorarrechnung Nr. 6639 (amtliche Verteidigung; Zeitraum vom 10. Juni 2019 bis 8. Juni 2020) eine Entschädigung aus der Strafgerichtskasse von CHF 20’170.– (zuzüglich CHF 1’553.10 Mehrwertsteuer) und eine Spesenvergütung von CHF 82.95 (zuzüglich CHF 6.40 Mehrwertsteuer), insgesamt also CHF 21'812.45 zugesprochen. Die Honorarforderung Nr. 6640 für die Privatverteidigung im früheren Zeitraum (ab 15. Februar 2019) musste der Beurteilte nach damaliger Beurteilung des Strafgerichts (Schuldspruch) selber tragen. Der Beurteilte ist arbeitstätig. Er hat die Verteidigung nach dem Prinzip der Subsidiarität zunächst selber bestellt und trug insoweit auch das wirtschaftliche Risiko. Im Berufungsverfahren erfolgte sodann ein Freispruch, weshalb die Entschädigung für die Kosten der Wahlverteidigung im Zeitraum vom 15. Februar 2019 bis zum 9. Juni 2019 jetzt erstmals zu beurteilen ist. Sie bezieht sich auf einen Zeitraum von knapp vier Monaten.
2.3 In der Honorarnote Nr. 6640 werden 33,3 Stunden Aufwand à CHF 250.– sowie Auslagen im Betrag von CHF 306.50 geltend gemacht. Massstab für die Beurteilung bildet das Honorarreglement des Kantons-Basel-Stadt (HoR, SG 291.400) und die entsprechende Gerichtspraxis, welche für die Entschädigung der Wahlverteidigung einen Stundenansatz von CHF 250.– vorsieht (sog. Überwälzungstarif; AGE SB.2019.33 vom 14. November 2022 E. 6.3 mit Hinweis auf SB.2018.72 vom 21. April 2020 E. 6.2, SB.2021.22 vom 19. Oktober 2021 E. 8.2, SB.2018.87 vom 20. August 2019 E. 4.2, SB.2016.135 vom 5. September 2017 E. 5.2).
Der geleistete Aufwand kann im Umfang von 31,8 Stunden anerkannt werden. Die Position vom 4. Juni 2020 (1,5 Stunden) betrifft den Zeitraum, in dem die amtliche Verteidigung bereits bewilligt war, und ist deshalb nicht zu entschädigen. Die übrigen Positionen scheinen jedenfalls nicht unangemessen. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Verteidiger vom Strafgericht bereits mit CHF 21'812.45 (Strafgerichtsurteil vom 12. Juni 2020) und vom Appellationsgericht mit CHF 18'227.30 (Berufungsurteil vom 16. März 2023) für seine Bemühungen als amtlicher Verteidiger entschädigt wurde und dass die vorliegende Entschädigung als Ergänzung zu den bereits geleisteten Zahlungen zu verstehen ist. Für die Zeit vor der Bewilligung der amtlichen Verteidigung ergibt sich demnach ein Honorar von CHF 7'950.– (31,8 Stunden à CHF 250.–). Der zu entschädigende Aufwand beläuft sich auf CHF 238.50 (Auslagenpauschale von maximal 3 % des Honorars gemäss § 23 Abs. 1 HoR), alles zuzüglich 7,7 % Mehrwertsteuer von insgesamt CHF 630.50. Somit ergibt sich ein Gesamtbetrag von CHF 8'819.–.
Die Forderung ist wie beantragt ab dem 11. Juni 2019 mit 5 % zu verzinsen (Art. 73 Abs. 1 OR; BGer 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 2.2.3 mit Hinweisen).
3. Kosten
Der Beurteilte wurde mit Berufungsurteil vom 16. März 2023 kostenlos freigesprochen. Der vorliegende Entscheid ergeht in Ergänzung dieses Berufungsurteils und ist ebenfalls kostenlos.
Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Kammer):
://: Dem freigesprochenen A____ wird gemäss Art. 429 Abs. 1 der Strafprozessordnung aus der Gerichtskasse eine Entschädigung für Wahlverteidigung von CHF 8'819.–, einschliesslich Mehrwertsteuer, zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 11. Juni 2019 zugesprochen.
Sein Antrag auf Entschädigung für Lohnersatz wird abgewiesen.
Für den vorliegenden Entscheid werden keine Kosten erhoben.
Mitteilung an:
- Berufungskläger 6
- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
- Strafgericht Basel-Stadt
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Der Präsident Der Gerichtsschreiber
lic. iur. Christian Hoenen Dr. Urs Thönen
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.