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Urteil Appellationsgericht (BS - BES.2023.101)

Zusammenfassung des Urteils BES.2023.101: Appellationsgericht

Das Amt für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt hat gegen A____ Strafanzeige wegen Betrugs erstattet. Das Strafverfahren wurde eingestellt, da die zu Unrecht bezogenen Leistungen unter CHF 300 pro Monat lagen und die Verjährung eingetreten war. Das Amt hat Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung eingelegt, die vom Appellationsgericht gutgeheissen wurde. Die Sache wurde zur Weiterführung des Strafverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Die Gerichtskosten trägt der Kanton, keine Kosten für das Beschwerdeverfahren.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts BES.2023.101

Kanton:BS
Fallnummer:BES.2023.101
Instanz:Appellationsgericht
Abteilung: Dreiergericht
Appellationsgericht Entscheid BES.2023.101 vom 07.02.2024 (BS)
Datum:07.02.2024
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Staatsanwaltschaft; Recht; Beschuldigte; Verjährung; Verfahren; Verfahren; Einstellung; Beschuldigten; Entscheid; Parteistellung; Deliktsbetrag; Verfahrens; Täuschung; Basel; Anzeige; Einstellungsverfügung; Betrug; Versicherungsträger; Rechtsprechung; Recht; Bundesgericht; Verfügung; Liegenschaften; Auflage; Vorsatz; Gericht
Rechtsnorm: Art. 146 StGB ;Art. 148a StGB ;Art. 42 BGG ;Art. 428 StPO ;Art. 48 BGG ;Art. 79 ATSG ;Art. 87 AHVG ;
Referenz BGE:131 IV 83; 145 IV 42; 146 IV 68; 149 IV 273;
Kommentar:
Donatsch, Schmid, Rickli, Jositsch, Heini, Praxis, 4. Auflage , Art. 319 OR StPO, 2023

Entscheid des Verwaltungsgerichts BES.2023.101



Geschäftsnummer: BES.2023.101 (AG.2024.93)
Instanz: Appellationsgericht
Entscheiddatum: 07.02.2024 
Erstpublikationsdatum: 29.05.2024
Aktualisierungsdatum: 29.05.2024
Titel: Verfahrenseinstellung
 
 

Appellationsgericht

des Kantons Basel-Stadt

Dreiergericht

 

 

BES.2023.101

 

ENTSCHEID

 

vom 7. Februar 2024

 

 

Mitwirkende

 

lic. iur. Christian Hoenen, lic. iur. Liselotte Henz, lic. iur. Marc Oser

und Gerichtsschreiber Dr. Urs Thönen

 

 

 

Beteiligte

 

Amt für Sozialbeiträge                                                Beschwerdeführer

Rechtsdienst

Grenzacherstrasse 62, 4005 Basel  

 

gegen

 

Staatsanwaltschaft Basel-Stadt                            Beschwerdegegnerin

Binningerstrasse 21, 4001 Basel   

 

A____                                                                          Beschwerdegegner

[...]                                                                                         Beschuldigter

 

 

Gegenstand

 

Beschwerde gegen eine Verfügung der Staatsanwaltschaft

vom 5. Mai 2023

 

betreffend Verfahrenseinstellung

 


Sachverhalt

 

Das Amt für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt (ASB; Beschwerdeführer) erhob gegen A____ (Beschuldigter) am 8. Oktober 2020 Strafanzeige wegen Betrugs. Das ASB wirft ihm vor, er beziehe seit 2003 Ergänzungsleistungen (EL) und habe im Gesuch nur eine seiner damals 31 Liegenschaften (bzw. Grundstücke) angegeben, die er im Dorf [...] (Kosovo) besessen und inzwischen zu grossen Teilen verschenkt habe.

 

Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 5. Mai 2023 wurde das Strafverfahren gegen den Beschuldigten zufolge Prozesshindernisses eingestellt, da die zu Unrecht bezogenen Unterstützungsleistungen monatlich unter CHF 300.– lägen, die verkürzte Verjährungsfrist von drei Jahren gelte und die Verjährung eingetreten sei. Die Staatsanwaltschaft sprach dem Beschuldigten eine Genugtuung von CHF 200.– für einen Tag Freiheitsentzug zu. Die Verfahrenskosten wurden auf die Staatskasse genommen. Die Einstellungsverfügung sollte gemäss Vermerk (S. 3) zuerst dem Beschuldigten, «nach Eintritt der Rechtskraft» dann auch dem ASB zugestellt werden.

 

Gegen diese Einstellungsverfügung hat das ASB am 13. Juli 2023 Beschwerde eingelegt, mit der die Aufhebung der Einstellungsverfügung und die Rückweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zwecks Weiterführung des Strafverfahrens beantragt wird.

 

Mit verfahrensleitender Verfügung vom 18. August 2023 wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verfahrenssistierung abgewiesen.

 

Mit Vernehmlassung vom 1. September 2023 beantragt die Staatsanwaltschaft kostenfälliges Nichteintreten, eventualiter Abweisung der Beschwerde. Das ASB hält mit Replik vom 1. November 2023 an seinen Anträgen fest. Der Beschuldigte hat sich nicht vernehmen lassen.

 

Der vorliegende Entscheid ist aufgrund der Akten ergangen. Die Einzelheiten der Standpunkte ergeben sich, soweit sie für den Entscheid relevant sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.

 

 

Erwägungen

 

1.

1.1      Gegen Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft kann innert zehn Tagen Beschwerde erhoben werden (Art. 322 Abs. 2 und Art. 393 Abs. 1 lit. a der Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO, SR 312.0]). Zu deren Beurteilung ist das Appellationsgericht grundsätzlich als Einzelgericht, in Fällen von besonderer Tragweite als Dreiergericht zuständig (§ 88 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 Ziff. 1 des Gerichtsorganisationsgesetzes [GOG, SG 154.100]). Da im vorliegenden Verfahren eine Frage von erheblicher praktischer Bedeutung geklärt werden muss, ergeht der Entscheid in Dreierbesetzung.

 

1.2      Die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft vom 5. Mai 2023 ging am 6. Juli 2023 beim ASB ein. Die dagegen erhobene Beschwerde vom 13. Juli 2023 ist innert der 10-tägigen Beschwerdefrist und damit rechtzeitig eingelegt worden (Art. 322 Abs. 2 StPO).

 

1.3      Allerdings bestreitet die Staatsanwaltschaft die Parteistellung des ASB im Beschwerdeverfahren. Sobald feststehe, dass der beanzeigte Sachverhalt den Tatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung der Sozialhilfe gemäss Art. 148a des Strafgesetzbuchs (StGB, SR 311.0) nicht erfülle, sei das Amt nicht weiter als Partei im Verfahren zu führen (Vernehmlassung S. 2). Da vorliegend die angefochtene Einstellungsverfügung einzig den Straftatbestand des mehrfachen geringfügigen Betrugs betreffe und Art. 148a StGB nicht zur Anwendung gelange, sei das ASB nicht zur Beschwerde legitimiert.

 

Demgegenüber stellt sich das ASB auf den Standpunkt, dass Art. 148a StGB im Verhältnis zum Betrug nach Art. 146 StGB als Auffangtatbestand konzipiert sei und mit diesem derart zusammenhänge, dass die Parteistellung des Versicherungsträgers auch insoweit gegeben sei. Überdies zeige die Entstehungsgeschichte der Revision des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1), dass die dort genannten Straftatbestände (wie Art. 148a StGB) exemplifizierenden Charakter hätten.

 

1.4      Gemäss Art. 79 Abs. 3 ATSG kann der Versicherungsträger in Strafverfahren wegen Verletzung von Art. 148a StGB und Art. 87 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG, SR 831.10) die Rechte einer Privatklägerschaft wahrnehmen. Nach der Rechtsprechung kommt dem ASB als Versicherungsträger insoweit eine Parteistellung sui generis zu (Art. 321 Abs. 1 lit. d StPO in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 ATSG; AGE BES.2023.27 vom 17. Juli 2023 E. 3.1, BES.2022.133 vom 15. Februar 2023 E. 1.2). Zur sachlichen Umschreibung des Strafverfahrens in Art. 79 Abs. 3 ATSG hat das Beschwerdegericht festgehalten, die in der Anzeige genannten Strafbestimmungen seien nicht entscheidend. Solange sachverhaltsmässig nicht ausgeschlossen sei, dass beim Ausfall des Betrugs auch eine Verurteilung nach Art. 148a StGB Art. 87 AHVG in Frage kommen könnte, sei die Parteistellung des ASB vorläufig nicht entfallen (vgl. KGer SZ BEK 2020 191 vom 26. Februar 2021, in: EGV-SZ 2021, A 5.2, S. 50, 53; AGE BES.2023.27 vom 17. Juli 2023 E. 3.1).

 

1.5      Art. 148a StGB trat am 1. Oktober 2016 in Kraft. Er ist auf die vorgeworfenen Handlungen in der Strafanzeige vom 8. Oktober 2020 teilweise anwendbar, nämlich soweit dem Beschuldigten eine Täuschungshandlung gegenüber dem ASB im Jahr 2018 vorgeworfen wird. Insoweit ist die Parteistellung des ASB offensichtlich gegeben. Die früheren Strafvorwürfe – Täuschungen in den Jahren 2003, 2008, 2012 und 2015 – sind nach Art. 146 Abs. 1 StGB zu beurteilen, soweit sie nicht verjährt sind. Die diesbezügliche Verjährungsfrist beträgt 15 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. b StGB).

 

Der die Parteistellung begründende Art. 79 Abs. 2 ATSG trat am 1. Oktober 2019 in Kraft und bildete im Zeitpunkt der Strafanzeige vom 8. Oktober 2020 geltendes Recht. Die Parteistellung des ASB ist eine verfahrensrechtliche Frage, welche vom materiell-rechtlichen Rückwirkungsverbot nicht berührt wird (vgl. Jositsch/Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 4. Auflage 2023, N 70 ff.; BGE 117 IV 369 E. 4d, 98 IV 73 E. 2, 70 IV 86 E. 3). Dies bedeutet mit anderen Worten, dass das ASB in der Strafanzeige dem Beschuldigten auch Taten vorwerfen darf, die er vor Inkrafttreten von Art. 79 Abs. 2 ATSG begangen hat. Insoweit erweisen sich die früheren Tatvorwürfe, soweit sie nicht länger als 15 Jahre zurückliegen und verjährt sind, als zulässig.

 

Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass dem ASB als Versicherungsträger in Anwendung von Art. 79 Abs. 2 ATSG und Art. 104 Abs. 2 StPO Parteistellung zukommt. Wird ihm die Parteirolle im Strafverfahren verweigert, so kann der Versicherungsträger gegen die entsprechende Verfügung Beschwerde gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO erheben (Weiss, Sozialversicherungsträger als Privatklägerschaft, in: forumpoenale 6/2022 S. 436, 440). Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde des ASB ist demnach einzutreten.

 

2.

2.1      Das ASB wirft dem Beschuldigten in der Strafanzeige vom 8. Oktober 2020 vor, er habe das ASB in seinem Gesuch um Ergänzungsleistungen im April 2003 sowie bei den Überprüfungen in den Jahren 2008, 2012, 2015 und 2018 über seine Vermögenslage getäuscht. Die Rückforderung von unberechtigt bezogenen Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen (PV) im Zusammenhang mit den verschwiegenen Liegenschaften belaufe sich auf CHF 11'203.–.

 

2.2      Die Staatsanwaltschaft macht geltend, es sei wegen der monatlichen Auszahlungsweise nicht auf den Gesamtbetrag der zu Unrecht bezogenen Unterstützungsleistungen abzustellen. Der jeweils monatlich zu viel bezahlte Betrag liege unter CHF 300.–. Es könne dem Beschuldigten auch nicht ein auf einen höheren Betrag gerichteter Vorsatz zur Last gelegt werden, da der gesamte Wert seiner rund 30 Liegenschaften nie vollständig habe beziffert werden können. Daher handle es sich um geringfügige Vermögensdelikte nach Art. 172ter Abs. 1 StGB, welche gemäss Art. 109 StGB nach drei Jahren verjährten. Die zuletzt am 29. Februar 2020 begangene Handlung sei somit bereits verjährt. 

 

2.3      Demgegenüber wendet das ASB ein, es sei nicht möglich, die in der Rechtsprechung zur Gewerbsmässigkeit entwickelten Kriterien für den Deliktsbetrag auf die Frage der Geringfügigkeit eines Vermögensdelikts zu beziehen. Überdies habe der Beschuldigte seine Liegenschaften gegenüber dem ASB jahrelang verschwiegen. Als er dann mit dem Vorwurf des Verschweigens konfrontiert worden sei, habe er den Liegenschaftsbesitz geleugnet und die Liegenschaftsanteile verschenkt. Unter diesen Umständen sei eine Beschränkung seines Vorsatzes auf eine Summe von maximal CHF 300.– nicht haltbar.

 

3.

3.1      Gemäss Art. 319 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens, wenn (a) kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt, (b) kein Straftatbestand erfüllt ist, (c) Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen, (d) Prozessvoraussetzungen definitiv nicht erfüllt werden können Prozesshindernisse aufgetreten sind, (e) nach gesetzlicher Vorschrift auf Strafverfolgung Bestrafung verzichtet werden kann. Die Staatsanwaltschaft darf das Strafverfahren nach ständiger Rechtsprechung nur bei «klarer» Straflosigkeit «offensichtlich fehlenden» Prozessvoraussetzungen einstellen (BGE 146 IV 68 E. 2.1 S. 69, 143 IV 241 E. 2.2.1 S. 243, 138 IV 186 E. 4.1 S. 190, 137 IV 219 E. 7.1 S. 226).

 

Die vorliegende Verfahrenseinstellung beruht auf einer angeblich abgelaufenen Verjährungsfrist für geringfügige Vermögensdelikte als definitiv nicht erfüllte Prozessvoraussetzung (lit. d). In solchen Konstellationen ist das Verfahren nach dem Grundsatz «in dubio pro duriore» weiterzuführen, wenn das Vorliegen der Prozessvoraussetzung zweifelhaft ist. Eine Einstellung ist nur bei klarer Rechtslage zulässig. Bei zweifelhafter Rechtslage hat nach der Rechtsprechung mithin nicht die Untersuchungs- Anklagebehörde über den Verjährungseintritt zu entscheiden, sondern das für die materielle Beurteilung zuständige Gericht. So darf etwa eine Einstellung infolge Verjährung nur ergehen, wenn die Verjährung offensichtlich ist (BGE 146 IV 68 E. 2.1 mit Hinweisen). Das Erfordernis der Offensichtlichkeit und Eindeutigkeit der Sach- und Rechtslage ist beim vorliegenden Einstellungsgrund nach lit. d auch in den Kommentierungen unbestritten (Jositsch/Schmid, StPO Praxiskommentar, 4. Auflage 2023, Art. 319 N 8; Heiniger/Rickli, in: Basler Kommentar StPO, 3. Auflage 2023, Art. 319 N 13/13a; Landshut/Bosshard, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 2020, Art. 319 N 24).

 

3.2      Zum Rechtlichen ist vorauszuschicken, dass mit der Formulierung von Art. 172ter Abs. 1 StGB, wonach sich die Tat auf einen geringen Vermögenswert Schaden richten muss, der Vorsatz des Täters in dem Sinne umschrieben wird, dass er sich von Anfang an auf einen geringen Wert der Sache (Bereicherung) bzw. auf eine geringe Höhe des Schadens bzw. wirtschaftlichen Nachteils (Entreicherung) richtet (BGE 122 IV 156, 159 f. E. 2 m. N.; 123 IV 113 E. 3f S. 119; vgl. auch Botschaft, in: BBl 1991 II S. 969, 1076 f.). Eventualvorsatz genügt (BGE 122 IV 156 E. 2a S. 160; 123 IV 155 E. 1a; zum Eventualvorsatz BGE 119 IV 1 E. 5a m. N.). Entscheidend für die Privilegierung ist somit nicht der Taterfolg, sondern die Vorstellung des Täters (Weissenberger, in: Basler Kommentar Strafrecht, 4. Auflage 2019, Art. 172ter N 35). Überdies können bei Serien- und Mehrfachtaten nicht einfach Kriterien aus anderen Zusammenhängen – wie Verjährung Strafantrag – entlehnt werden, welche für das Problem der Summierung von Beutewert und Schaden nicht geeignet sind (Weissenberger, a.a.O., Art. 172ter N 49). Für die Anwendbarkeit Art. 172ter Abs. 1 StGB ist das subjektive Kriterium des Willens und nicht der Erfolg massgebend (BGer 6B_651/2018 vom 17. Oktober 2018 E. 2.3.2 mit Hinweisen). Der Grenzwert für den geringen Vermögenswert wie den geringen Schaden liegt bei CHF 300.– (BGE 123 IV 113 E. 3d S. 118 f.).

 

3.3      Tatsächliche Ausgangslage bildet vorliegend der Vorwurf der mehrfachen unvollständigen Vermögensdeklaration, welche zu unrechtmässigen Bezügen von EL-Beiträgen geführt habe. Die Rückforderung wird vom ASB in der Strafanzeige für die Periode von Mai 2015 bis Mai 2020 auf CHF 11'203.– beziffert. Dieser Betrag liegt deutlich über dem Grenzwert für geringfügige Vermögendelikte von CHF 300.–. Es besteht demnach keine offensichtliche und eindeutige Sach- und Rechtslage für die Annahme eines geringfügigen Vermögensdelikts nach Art. 172ter Abs. 1 StGB, welches im heutigen Zeitpunkt bereits verjährt wäre. 

 

Bei dieser Ausgangslage kann der Ansicht der Staatsanwaltschaft, dass sich der mass­gebliche Deliktsbetrag auf eine Monatsperiode beschränke, nicht gefolgt werden. Die Staatsanwaltschaft verkennt zunächst die Vorsatzlage anlässlich der periodisch wiederkehrenden Falschdeklarationen der wirtschaftlichen Verhältnisse. Es besteht kein Zweifel, dass ein Antragsteller in dieser Situation um die Unterstützung für einen gewissen Zeitraum – nicht für bloss einen Monat – ersucht. Im vorliegenden Fall sind seit April 2003 über Jahrzehnte Informationen über eine grosse Zahl von Liegenschaften bzw. Grundstücken im Ausland ausgeblieben und auf Vorhalt permanent verschwiegen worden. Schon deshalb kann sich der Vorsatz des Beschuldigten nicht lediglich auf einen Deliktsbetrag einer einzigen Monatsperiode von maximal CHF 300.– gerichtet haben, sondern auf einen mehrjährigen Zeitraum und einen höheren Deliktsbetrag (ebenso AGE BES.2023.102 bis 104 vom heutigen Tag).

 

3.4      Sodann erweisen sich auch die von der Staatsanwaltschaft angeführten Präjudizien nicht als einschlägig. BGE 131 IV 83 äussert sich zum Lauf der Verjährung bei einem altrechtlichen EL-Delikt, die mangels Vorliegens einer natürlichen Handlungseinheit für jede Täuschungshandlung separat zu laufen beginne. Wie gesagt sind Kriterien aus dem Verjährungszusammenhang für das vorliegende Problem der Summierung von Beutewert und Schaden nicht geeignet (Weissenberger, a.a.O., Art. 172ter N 49). Dem Entscheid lassen sich keine Hinweise zur Frage der Summierung von unberechtigterweise bezogenen Sozialleistungen und der entsprechenden Schädigung entnehmen. BGE 131 IV 83 sagt einzig, dass die Täterin auf jährliche Aufforderung der Behörde, ihrer Meldepflicht nachzukommen, jeweils geschwiegen und dadurch jeweils eine neue Täuschungshandlung begangen hat, welche für den Lauf der Verjährung beachtlich ist. Sodann fällt auf, dass der nicht verjährte Zeitraum in diesem Urteil mehr als ein Jahr beträgt, also deutlich über einer Monatsperiode liegt, und das Bundesgericht hier keine Aufteilung in monatliche Einzelbeträge verlangt. Vielmehr enthält das Urteil weder zum Deliktsbetrag noch zum Problem des geringfügigen Vermögendelikts irgendwelche Ausführungen. Zudem scheint die Staatsanwaltschaft die Täuschungshandlung (anlässlich der periodischen Vermögensdeklaration) mit den dadurch bewirkten monatlichen Vermögensverfügungen zu verwechseln. In der Rechtsprechung wird der mehrfache Betrug nicht deshalb angenommen, weil die ertrogenen Leistungen monatlich ausbezahlt werden, sondern vielmehr deshalb, weil die täuschenden Angaben der Gesuchsteller periodisch (nämlich typischerweise im Jahresrhythmus) erfolgen.

 

Ähnliches gilt für das von der Staatsanwaltschaft bemühte Präjudiz AGE SB.2013.52 vom 23. Juli 2014 mit seinen Ausführungen zur Gewerbsmässigkeit (E. 3.2.4). Auch in diesem Fall wird der Schuldspruch wegen mehrfachen Betrugs über einen mehrjährigen Deliktszeitraum nicht in Frage gestellt, sondern explizit bestätigt. Dabei wird keine Berechnungsweise des Deliktsbetrags auf Monatsbasis gefordert. Das Gericht verwirft lediglich der Qualifikation der Gewerbsmässigkeit (im Sinne des Handelns nach der Art eines Berufs zur Erzielung eines regelmässigen Einkommens), äussert sich aber nicht zum Problem des geringfügigen Vermögendelikts. 

 

Was schliesslich den zitierten Entscheid des Obergerichts des Kantons Solothurn STBER.2016.73 vom 4. Januar 2018 angeht, so ist zunächst festzuhalten, dass dieser Entscheid vom Bundesgericht mit BGer 6B_181/2018 vom 20. Dezember 2018 teilweise aufgehoben wurde (publ. als BGE 145 IV 42). Die von der Staatsanwaltschaft zitierte E. IV/2.2 bezieht sich auf Einzeldiebstähle an insgesamt sieben verschiedenen Tagen. Dieser Sachverhalt ist mit dem vorliegenden Vorwurf der Täuschung eines Versicherungsträgers über die Vermögensverhältnisse zur Erwirkung unberechtigter, überhöhter Leistungen in einem Versicherungssystem mit monatlichen Auszahlungen nicht vergleichbar. 

 

3.5      Aus der Rechtsprechung ergibt sich weiter, dass der Deliktsbetrag unrechtmässig bezogener Leistungen zur Ermittlung eines leichten Falls nach Art. 148a Abs. 2 StGB nicht aufgrund einzelner Monatsraten, sondern aufgrund der gesamten Bezugsperiode zu ermitteln ist (BGE 149 IV 273 E. 1.5; BGer 6B_1246/2020 vom 16. Juli 2021 E. 4). Ein leichter Fall liegt jedenfalls bei Deliktssummen von unter CHF 3’000.– vor (BGE 149 IV 273 E. 1.5). Im Unterschied zu den vorzitierten Präjudizien, bei denen es um die Verjährung die Gewerbsmässigkeit von Täuschungen geht (Handeln nach Art eines Berufes bzw. damit vergleichbare Einkunftserzielung), legt BGE 149 IV 273 die betragsmässige Berücksichtigung längerer Zeiträume nahe. Das Bundesgericht trägt dem Umstand Rechnung, dass in der Praxis relativ schnell grössere Summen an Sozialhilfe- Sozialversicherungsbeiträgen ausbezahlt werden, und legt die Betragsschwelle explizit mittels Vervielfachung eines durchschnittlichen Monatslohns fest (BGE 149 IV 273 E. 1.5.2, 1.5.6). Auch in diesem Zusammenhang wird keine monatliche Stückelung des Deliktsbetrags verlangt.

 

4.

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen, die Verfahrenseinstellung aufzuheben und die Sache zur Weiterführung des Strafverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind vom Kanton zu tragen, so dass keine Kosten zu erheben sind (Art. 428 Abs. 4 StPO). 

 

 

Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Dreiergericht):

 

://:        In Gutheissung der Beschwerde wird die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 5. Mai 2023 aufgehoben. Die Sache wird zur Weiterführung des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

 

Für das Beschwerdeverfahren werden keine Kosten erhoben.

 

Mitteilung an:

-       Beschwerdeführer

-       Staatsanwaltschaft Basel-Stadt

-       Beschuldigter

 

APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT

 

Der Präsident                                                            Der Gerichtsschreiber

 

 

lic. iur. Marc Oser                                                      Dr. Urs Thönen

 

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung

 

Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.

 



 
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