Zusammenfassung des Urteils BES.2021.51 (AG.2021.392): Appellationsgericht
Der Beschwerdeführer A____ wurde vom Strafgericht Basel-Stadt zu 7 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und eine Rechtsverzögerungsbeschwerde beim Appellationsgericht erhoben, da ihm das schriftlich begründete Urteil noch nicht zugestellt wurde. Das Appellationsgericht entschied, dass die Verzögerung bei der Urteilsredaktion aufgrund der Komplexität des Falles nicht gegen das Beschleunigungsgebot verstiess. Die Beschwerde wurde abgewiesen, und der unterlegene Beschwerdeführer muss die Gerichtskosten von CHF 800.- tragen.
Kanton: | BS |
Fallnummer: | BES.2021.51 (AG.2021.392) |
Instanz: | Appellationsgericht |
Abteilung: |
Datum: | 02.07.2021 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Rechtsverzögerungsbeschwerde (BGer-Nr. 1B_443/2021 vom 6. Oktober 2021) |
Schlagwörter: | Gericht; Urteil; Verfahren; Beschleunigungsgebot; Basel; Verfahrens; Appellationsgericht; Gericht; Basel-Stadt; Gerichts; Verletzung; Beschleunigungsgebots; Rechtsverzögerung; Urteils; Beschuldigte; Berufung; Prozessordnung; Kommentar; Anklageschrift; Schweiz; Einzelgericht; Staatsanwaltschaft; Entscheid; Erwägungen; Schweizerischen; Basler; Auflage |
Rechtsnorm: | Art. 394 StPO ;Art. 42 BGG ;Art. 428 StPO ;Art. 48 BGG ;Art. 5 StPO ;Art. 84 StPO ; |
Referenz BGE: | 130 I 269; 143 IV 49; |
Kommentar: | Donatsch, Hans, Schweizer, Hansjakob, Lieber, Wohlers, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Art. 5 OR StPO, 2014 |
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Einzelgericht |
BES.2021.51
ENTSCHEID
vom 2. Juli 2021
Mitwirkende
lic. iur. Christian Hoenen
und Gerichtsschreiberin lic. iur. Barbara Noser Dussy
Beteiligte
A____, geb. [...] Beschwerdeführer
c/o Untersuchungsgefängnis Basel-Stadt, Beschuldigter
InnereMargarethenstrasse18, 4051Basel
gegen
Strafgericht Basel-Stadt Beschwerdegegnerin
Schützenmattstrasse20, 4009Basel
Gegenstand
Rechtsverzögerungsbeschwerde
im Verfahren SG.2019.[...]
Sachverhalt
Mit Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt vom 6. November 2020 wurde A____ wegen mehrfachen gewerbsmässigen Betrugs, gewerbsmässiger Hehlerei, mehrfacher Anstiftung und mehrfacher Gehilfenschaft zum Check- und Kreditkartenmissbrauch, Veruntreuung, Sachentziehung, betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage, mehrfacher Urkundenfälschung sowie weiterer Delikte zu 7Jahre Freiheitsstrafe verurteilt, unter Einrechnung der ausgestandenen Haft vom 6.März 2013 bis 7. April 2014, vom 23./24. November 2016 und seit dem 30. Oktober 2018. Es wurde zudem eine Landesverweisung von 8 Jahren ausgesprochen. A____ hat gegen dieses Urteil Berufung angemeldet.
Mit Eingabe vom 8. April 2021 hat A____ (nachfolgend: Beschwerdeführer) Rechtsverzögerungsbeschwerde an das Appellationsgericht erhoben, mit der er eine Verletzung des Beschleunigungsgebots gemäss Art. 5 der Strafprozessordnung und von Art. 84 der Strafprozessordnung geltend macht, weil ihm das schriftlich begründete Urteil noch nicht zugestellt wurde. Die Beschwerde ist dem Strafgericht zur Stellungnahme sowie der Staatsanwaltschaft und dem Advokaten [...], dem amtlichen Verteidiger des Beschwerdeführers im Hauptverfahren, zur Kenntnisnahme zugestellt worden. Mit Stellungnahme vom 23.April 2021 hat das Strafgericht die Abweisung der Beschwerde beantragt. Der Beschwerdeführer hält mit Replik vom 25. Mai 2021 an seinem Rechtsbegehren fest. Die Einzelheiten der Parteistandpunkte ergeben sich, soweit sie für den Entscheid von Bedeutung sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Am 6. Juli 2021 ist das schriftlich begründete Urteil des Strafgerichts beim Appellationsgericht eingegangen.
Erwägungen
1.
1.1 Gemäss Art.393 Abs.1 lit.b in Verbindung mit Art.20 Abs.1 lit.a der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO, SR312.0) unterliegen Verfügungen, Beschlüsse und Verfahrenshandlungen der erstinstanzlichen Gerichte (mit Ausnahme von verfahrensleitenden Entscheiden) der Beschwerde an die Beschwerdeinstanz. Mittels Beschwerde gerügt werden können gemäss Art.393 Abs.2 lit.a StPO unter anderem Rechtsverzögerungen.
1.2 Zur Beurteilung von Beschwerden zuständig ist das Appellationsgericht als Einzelgericht (§88 Abs.1 in Verbindung mit §93 Abs.1 Ziff.1 des Gerichtsorganisationsgesetzes; GOG, SG154.100), welches nach Art.393 Abs.2 StPO mit freier Kognition urteilt. Beschwerden wegen Rechtsverweigerung Rechtsverzögerung sind an keine Rechtsmittelfrist gebunden (Art.396 Abs.2 StPO; Guidon, Basler Kommentar StPO, 2.Auflage 2014, Art.396 N17f.).
1.3 Nach Art. 394 StPO ist eine Beschwerde u.a. dann nicht zulässig, wenn Berufung möglich ist. Es stellt sich daher die Frage, ob der Beschwerdeführer seine Rüge nicht im Rahmen seiner Berufung gegen das Urteil des Strafgerichts statt mit Beschwerde vorbringen müsste. Dafür spricht, dass im Zeitpunkt der Beschwerde an das Appellationsgericht das Urteil des Strafgerichts bereits gefällt, wenn auch noch nicht begründet worden war und dass die Beschwerde in dieser Hinsicht quasi vorsorglich und einzig im Hinblick auf die Urteilsbegründung erfolgte (vgl. dazu BGer 1B_429/2018 vom 29. November 2018 E. 2.3). Die Frage kann jedoch offenbleiben, da sich die Rüge jedenfalls als unbegründet erweist, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügte, dass das am 6. November 2020 vom Strafgericht gefällte Urteil (im Zeitpunkt seiner Eingaben) noch nicht schriftlich begründet vorlag. Er erblickte darin einen Verstoss gegen das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 5 StPO sowie gegen Art. 84 StPO.
2.2 Das in Art.29 Abs.1 der Bundesverfassung (BV, SR.101), Art. 6Ziff.1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 101.0) Art.14 Ziff.3 lit.c UNO-Pakt II und Art.5 StPO geregelte Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörde, das Strafverfahren zügig voranzutreiben, um den Beschuldigten nicht unnötig über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen. Es gilt für das ganze Verfahren (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61 mit Hinweisen). Welche Verfahrensdauer angemessen ist, hängt von den konkreten Umständen ab, die in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. Kriterien hierfür bilden etwa die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des Sachverhaltes, die dadurch gebotenen Untersuchungshandlungen, das Verhalten des Beschuldigten und dasjenige der Behörden sowie die Zumutbarkeit für den Beschuldigten (BGE 130 I 269 E. 3.1 S. 273 m.w.H.). Eine Rechtsverzögerung liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde im Verfahren über mehrere Monate hinweg untätig gewesen ist (Wohlers, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 1.Auflage 2014, Art. 5 N 9; Summers, Basler Kommentar StPO, 2.Auflage 2014, Art.5 N14), mithin wenn das Verfahren respektive der Verfahrensabschnitt innert wesentlich kürzerer Zeit hätte abgeschlossen werden können (Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3.Aufl. 2017 Rz.147).
2.3 Gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO stellt das Gericht, wenn es das Urteil begründen muss, innert 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, der beschuldigten Person und der Staatsanwaltschaft das vollständige begründete Urteil zu. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine das Beschleunigungsgebot konkretisierende Ordnungsvorschrift. Mit der Missachtung dieser Bestimmung geht jedoch nicht zwingend auch eine Verletzung des Beschleunigungsgebots einher, und sie hat auch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gültigkeit die Rechtskraft des Urteils. Sie kann allerdings ein Indiz für eine Verletzung des Beschleunigungsgebots darstellen, insbesondere aufgrund einer nicht erklärbaren, nicht zu rechtfertigenden Periode der Untätigkeit (BGer 6B_955/2017 vom 11. Januar 2018 E.1.3, 6B_731/2017 vom 16.November2017 E.3.3 m.w.H.; Brühschweiler, in: Basler Kommentar StPO, 2.Aufl. 2014, N9 zu Art.84StPO; Schmid/Jositsch, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3.Aufl.2017, N 597).
2.4 Im vorliegenden Fall wurde das Urteil des Strafgerichts am 6. November 2020 gefällt. Das ausgefertigte Urteil ist am 6. Juli 2021 beim Appellationsgericht eingegangen. Es trifft zwar zu, dass mit der Ausfertigungsdauer von 8 Monaten die gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO für komplexe Fälle massgebliche Frist von 90 Tagen erheblich überschritten wurde. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich vorliegend um einen aussergewöhnlich umfangreichen Fall handelt. Die Akten umfassen 58 Bundesordner und es liegen zwei umfangreiche Anklageschriften mit zahlreichen einzelnen Anklagepunkten vor (insgesamt 105 Seiten, zumeist in Tabellenform). Da viele der Anklagepunkte vom Beschwerdeführer bestritten waren, musste im Urteil auf jeden der entsprechenden Unteranklagepunkte eingehend eingegangen werden und mussten die Schuldsprüche ausführlich begründet werden. Das Protokoll der Hauptverhandlung umfasst 271 Seiten. Zu beurteilen waren insgesamt acht Beschuldigte, wovon drei Berufung erhoben haben. Dies alles führte dazu, dass die Urteilsredaktion aussergewöhnlich zeitraubend war. Das schriftliche Urteil umfasst 293 Seiten (einschliesslich der 105 Seiten Anklageschriften). Bei einem derart komplexen und umfangreichen Fall ist eine Urteilsredaktion innert 90 Tagen nicht realistisch. Die effektive Redaktionsdauer von 8 Monaten ist zwar sehr lange, stellt angesichts der genannten Umstände jedoch keine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar. Eine nicht zu rechtfertigende Periode der Untätigkeit lag nicht vor.
Bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot verletzt wurde, ist die gesamte Verfahrensdauer vor einer Instanz massgebend. Diesbezüglich legt der vorinstanzliche Verfahrensleiter dar, dass beim Strafgericht Ende Oktober 2019 die erste Anklageschrift und anfangs Dezember 2019 die ergänzende Anklageschrift gegen den Beschwerdeführer und Konsorten eingegangen ist. Die Hauptverhandlung fand vom 19.Oktober bis 6.November 2020 statt, am 6. Juli 2021 lag das erstinstanzliche Urteil vor. Die Gesamtverfahrensdauer am Strafgericht von rund 20 Monaten stellt angesichts des Umfangs und der Komplexität des Verfahrens ebenfalls keineswegs eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der unterlegene Beschwerdeführer gemäss Art. 428 Abs. 1 StPO die Verfahrenskosten zu tragen. Es ist ihm eine Urteilsgebühr von CHF 800.- aufzuerlegen (§ 21 Abs. 2 des Gerichtsgebührenreglements; SG 154.810).
Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Einzelgericht):
://: Die Beschwerde wird abgewiesen.
Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten mit einer Gebühr von CHF 800.-.
Mitteilung an:
- Beschwerdeführer
- Strafgericht Basel-Stadt
- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt (z.K.)
- Advokat [...] (z.K.)
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Der Präsident Die Gerichtsschreiberin
lic. iur. Christian Hoenen lic. iur. Barbara Noser Dussy
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.
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