Zusammenfassung des Urteils BES.2020.197 (AG.2021.116): Appellationsgericht
Die Beschwerdeführerin, eine Hebamme, war eine von drei Beschuldigten in einem Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung. Sie kritisierte die Staatsanwaltschaft wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs und forderte eine angemessene Informationsgewährung. Das Appellationsgericht entschied zugunsten der Beschwerdeführerin, wies die Staatsanwaltschaft an, ihr das rechtliche Gehör zu gewähren und sprach ihr eine Entschädigung von CHF 1'700.- zu.
Kanton: | BS |
Fallnummer: | BES.2020.197 (AG.2021.116) |
Instanz: | Appellationsgericht |
Abteilung: |
Datum: | 22.02.2021 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Verletzung des rechtlichen Gehörs |
Schlagwörter: | Staat; Staatsanwalt; Verfahren; Staatsanwalts; Anklage; Recht; Staatsanwaltschaft; Verfahrens; Verfahren; Gehör; Frist; Untersuchung; Verfügung; Stellung; Beweise; Schlusseinvernahme; Beweisanträge; Gericht; Person; Appellationsgericht; Akten; Anzeige; Rechtsvertreter; Anspruch; Anklageerhebung; Abschluss; Gutachten; Untersuchungsverfahren |
Rechtsnorm: | Art. 107 StPO ;Art. 317 StPO ;Art. 318 StPO ;Art. 319 StPO ;Art. 324 StPO ;Art. 393 StPO ;Art. 396 StPO ;Art. 42 BGG ;Art. 428 StPO ;Art. 48 BGG ; |
Referenz BGE: | 143 IV 241; |
Kommentar: | Vest, Basler Kommentar StPO, Art. 107 OR StPO, 2014 |
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Einzelgericht |
BES.2020.197
ENTSCHEID
vom 22. Februar 2021
Mitwirkende
lic. iur. Christian Hoenen
und Gerichtsschreiberin lic. iur. Barbara Noser Dussy
Beteiligte
A____, geb. [...] Beschwerdeführerin
[...] Beschuldigte
vertreten durch [...], Advokat,
[...]
gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Beschwerdegegnerin
Binningerstrasse 21, 4001 Basel
Gegenstand
Beschwerde gegen zwei Verfügungen der Staatsanwaltschaft
vom 2. Oktober 2020 und 13. Oktober 2020
betreffend Verletzung des rechtlichen Gehörs
Sachverhalt
A____ (nachfolgend: Beschwerdeführerin), vertreten durch Advokat [...], ist eine von drei Beschuldigten in einem Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger schwerer Körperverletzung im Zusammenhang mit einer im [...]spital erfolgten Entbindung am 1. März 2014, bei welcher sie als Hebamme mitgewirkt hatte und in deren Folge die Kindsmutter verstorben war und das Kind infolge Sauerstoffmangels eine Hirnschädigung erlitten hatte. Am 27. August 2015 wurde das Strafverfahren gegen sie eröffnet. Mit Verfügung vom 2. Oktober 2020 (Eingang beim Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin: 5. Oktober 2020) kündigte der Staatsanwalt, B____, den Abschluss der Untersuchung an und setzte der Beschwerdeführerin eine nicht erstreckbare Frist zur Beantragung der Akteneinsicht bis 6. Oktober 2020 und eine ebenfalls nicht erstreckbare Frist zur Stellung allfälliger Beweisanträge bis 15. Oktober 2020. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2020 beantragte die Sekretärin des ferienabwesenden Vertreters der Beschwerdeführerin die Zustellung der Akten. Der entsprechende Datenträger (umfassend 16 Bundesordner mit Akten) ging am 12. Oktober 2020 beim Rechtsvertreter ein.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 an den verfahrensleitenden Staatsanwalt B____ beantragte die Beschwerdeführerin, (1.) es sei eine Schlusseinvernahme durchzuführen und danach eine erneute Schlussmitteilung zu erlassen; (2.) die Frist zur Stellung von Beweisanträgen sei um mindestens einen Monat zu erstrecken; (3.) es sei über die Anträge gemäss Ziff. 1 und 2 in einer anfechtbaren Verfügung zu befinden. Diese Begehren wurden vom Staatsanwalt mit Schreiben vom 13. Oktober 2020 allesamt abschlägig beantwortet (Akten S. 3648).
Ebenfalls am 12. Oktober 2020, am gleichen Tag wie sie ihre Anträge an Staatsanwalt B____ stellte, erstattete die Beschwerdeführerin eine aufsichtsrechtliche Anzeige gegen Staatsanwalt B____ an den Ersten Staatsanwalt und ersuchte diesen um «Ergreifung der angezeigten und nötigen aufsichtsrechtlichen Massnahmen gegen Staatsanwalt B____». Sie macht geltend, das Vorgehen des Staatsanwalts sei inakzeptabel. Nachdem sie am 24. August 2015, noch vor der formellen Eröffnung des Strafverfahrens gegen sie, letztmals befragt worden sei, sei sie während des gesamten Untersuchungsverfahrens nicht ein einziges Mal einvernommen worden. Insbesondere sei sie nie zu den Ergebnissen der eingeholten Gutachten befragt worden. Auch eine Schlusseinvernahme habe nie stattgefunden. Stattdessen sei direkt die Schlussmitteilung erlassen und ihr eine Frist von (faktisch) 3Tagen eingeräumt worden, um Beweisanträge zu stellen, ohne dass ihr ihrem Verteidiger je vorgehalten worden sei, wodurch sie sich strafbar gemacht haben solle. Ein solches Vorgehen verletze praktisch alle denkbaren Grundsätze der Strafprozessordnung, insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör, und erfordere dringend ein Einschreiten der vorgesetzten Stelle. Mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 ergänzte sie unter Bezugnahme auf das Antwortschreiben von Staatsanwalt B____ vom 13. Oktober 2020, dieses sei in keiner Weise befriedigend und offenbare nur noch deutlicher die gravierenden Verstösse gegen die StPO im genannten Verfahren. Der Erste Staatsanwalt leitete die aufsichtsrechtliche Anzeige mit Schreiben vom 16.Oktober 2020 zuständigerweise an das Appellationsgericht als Beschwerdegericht weiter.
Mit Eingabe vom 23. Oktober 2020 an das Appellationsgericht beantragte die Beschwerdeführerin, es sei Staatsanwalt B____ superprovisorisch und ohne Anhörung vorläufig zu untersagen, vor Rechtskraft des Entscheids im vorliegenden Beschwerdeverfahren Anklage gegen die Beschwerdeführerin zu erheben. Ausserdem sei der Beschwerdeführerin ein Replikrecht zu allfällig eingeholten Stellungnahmen einzuräumen.
Der Instruktionsrichter erkannte mit Verfügung vom 27. Oktober 2020 vorderhand aufschiebende Wirkung zu. Über deren Fortbestand werde nach Eingang der Stellungnahme von Staatsanwalt B____ entschieden, welchem hierfür eine Frist bis 11. November 2020 gesetzt wurde. Der Staatsanwalt wurde zudem aufgefordert, dem Appellationsgericht die Verfahrensakten zuzustellen.
Der Staatsanwalt beantragte mit Eingabe vom 30. Oktober 2020, auf die «aufsichtsrechtliche Anzeige» sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Soweit sie als Beschwerde behandelt werde, sei auf diese mangels Anfechtungsobjekt und gemäss Art. 318 Abs. 3 StPO nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Es sei in Bezug auf die aufschiebende Wirkung kein Replikrecht zu gewähren und es sei bis spätestens 6. November 2020 festzustellen, dass das Erteilen der aufschiebenden Wirkung in der vorliegenden Konstellation gegen Art. 318 Abs. 3, Art. 387 und Art.393 Abs. 1 lit. a StPO verstosse und diese ex tunc dahinfalle. Eventualiter sei die aufschiebende Wirkung ohne Gewährung des Replikrechts spätestens per 6. November 2020 aufzuheben.
Mit Verfügung vom 9. November 2020 ordnete der Instruktionsrichter an, dass die Staatsanwaltschaft der Verteidigung eine nicht erstreckbare Frist von mindestens 30Tagen zum Stellen allfälliger Beweisanträge zu setzen habe, und gewährte der Beschwerdeführerin Frist zur Replik bis 7. Dezember 2020.
In der Replik vom 3. Dezember 2020 beantragte die Beschwerdeführerin, die Staatsanwaltschaft sei in Gutheissung der Beschwerde anzuweisen, die Beschwerdeführerin in geeigneter Form darüber zu informieren, aufgrund welcher Taten Unterlassungen sie welche Straftat begangen haben soll. Eventualiter sei festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin und ihr Recht auf Verteidigung verletzt habe.
Die Einzelheiten der Parteistandpunkte ergeben sich, soweit sie für den vorliegenden Entscheid von Bedeutung sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Erwägungen
1.
1.1 Der Erste Staatsanwalt hat die an ihn gerichtete aufsichtsrechtliche Anzeige der Beschwerdeführerin als Verfahrensbeschwerde gemäss Art.393 ff. der Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) zuständigerweise an das Appellationsgericht weitergeleitet. Er hat dies damit begründet, dass die Beschwerdeführerin dem verfahrensleitenden Staatsanwalt gravierende Verstösse gegen die Strafprozessordnung vorwerfe. Die Beschwerde nach Art. 393 ff. StPO lasse eine umfassende Rüge der Verfahrenshandlungen unter Einschluss von Unterlassungen, Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung zu. Abgesehen von primär disziplinarrechtlich relevantem Verhalten, das keinen unmittelbaren Konnex zu einer Verfahrenshandlung habe, gehe angesichts des weiten Anwendungsgebiets von Art. 393 ff. StPO die Verfahrensbeschwerde vor.
Gemäss § 68 des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG, SG 154.100) kann wegen Verletzung von Amtspflichten bei der Staatsanwaltschaft bei der betreffenden Aufsichtsbehörde bzw. der vorgesetzten Behörde eine aufsichtsrechtliche Anzeige eingereicht werden (Abs. 1). Die aufsichtsrechtliche Anzeige ist ausgeschlossen, wenn soweit Rechtsmittel andere Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen (Abs. 2). Ist die angerufene Behörde sachlich unzuständig, so überweist sie die aufsichtsrechtliche Anzeige von Amtes wegen an die zuständige Behörde (Abs. 3).
Wie der Erste Staatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, wirft die Beschwerdeführerin dem verfahrensleitenden Staatsanwalt B____ ausschliesslich strafprozessuales Fehlverhalten vor. Gemäss Art.393Abs.1lit.a StPO unterliegen Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft der Beschwerde an das Appellationsgericht. Dieses ist als Einzelgericht für die Beurteilung zuständig (§93Abs.1 GOG) und urteilt gemäss Art.393Abs.2StPO mit freier Kognition. Da mit der Beschwerde somit ein geeignetes Rechtsmittel zur Verfügung steht, ist die aufsichtsrechtliche Anzeige ausgeschlossen. Der Erste Staatsanwalt hat diese zu Recht zuständigerweise an das Appellationsgericht überwiesen. Sie ist als Beschwerde entgegenzunehmen.
1.2 Die Frist zur Einreichung von Beschwerden beträgt 10 Tage (Art. 396 Abs. 1 StPO). Sie gilt auch dann als gewahrt, wenn die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist bei einer nicht zuständigen schweizerischen Behörde zu deren Handen bei der Schweizerischen Post eingeht (Art.91 Abs. 2 und 4 StPO). Es ist somit vorliegend auf das Datum des Eingangs der aufsichtsrechtlichen Anzeige beim Ersten Staatsanwalt resp. bei der Post abzustellen. Die Beschwerde richtet sich gegen die Verfügung vom 2. Oktober 2020 (Eingang beim Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin am 5. Oktober 2020) sowie gegen das Schreiben von Staatsanwalt B____ vom 13. Oktober 2020 (Eingang am 14. Oktober 2020). Die aufsichtsrechtliche Anzeige vom 12. Oktober 2020 ging am 14. Oktober 2020, die Ergänzung aufgrund des Schreibens von Staatsanwalt B____ vom 13. Oktober 2020 am 16.Oktober 2020 beim Ersten Staatsanwalt ein. Die für die Beschwerde massgebende Frist wurde somit eingehalten.
1.3 Entgegen der Argumentation von Staatsanwalt B____ in seiner Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 hat die Beschwerde durchaus ein Anfechtungsobjekt, nämlich die Verfügung vom 2. Oktober 2020 sowie das Schreiben des Staatsanwalts vom 13. Oktober 2020, resp. die darin nach Ansicht der Beschwerdeführerin zum Ausdruck gekommenen Verfahrensfehler des Staatsanwalts. Es trifft zwar zu, dass gemäss Art. 318 Abs. 3 StPO Mitteilungen über den Abschluss der Untersuchung als solche nicht anfechtbar sind. Offenbart sich aber in einer solchen Mitteilung eine Verletzung von grundlegenden Verfahrensvorschriften wie des rechtlichen Gehörs, dann muss diese Verletzung anfechtbar sein. So hat das Appellationsgericht bereits verschiedentlich erkannt, dass das in Art. 318 StPO geregelte Mitwirkungsrecht der Parteien im Ermittlungsverfahren seiner eigentlichen Substanz beraubt würde, wenn die Modalitäten seiner Ausübung nicht überprüft werden könnten und es der Staatsanwaltschaft ohne gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit freistünde, es beispielsweise durch unrealistisch kurze Fristansetzungen ohne Erstreckungsmöglichkeit zur Makulatur werden zu lassen. Damit würde der Anspruch auf rechtliches Gehör mit dem Teilgehalt, vor Abschluss der Untersuchung Beweisanträge stellen zu können, faktisch dem Belieben der Strafverfolgungsbehörden überlassen (AGE BES.2020.204 vom 5. Februar 2021 E. 1.2, BES.2017.26 vom 2. Mai 2017 E.1.3, BES.2012.16 vom 17. Oktober 2012 E.1.2 und 2.5.2). Dementsprechend hat auch im vorliegenden Verfahren der Instruktionsrichter den Staatsanwalt mit Verfügung vom 9. November 2020 verpflichtet, der Beschwerdeführerin eine Frist von mindestens 30 Tagen zum Stellen allfälliger Beweisanträge zu setzen.
1.4 Der Einwand des verfahrensleitenden Staatsanwalts, er habe die Verfahrensanträge, welche die Beschwerdeführerin im Nachgang zu seiner Verfügung vom 2.Oktober 2020 gestellt habe, noch gar nicht beantwortet und es könne nicht sein, dass die Beschwerdeinstanz entscheide, bevor die erste Instanz entschieden habe, geht fehl. In seinem Schreiben vom 13. Oktober 2020 hat der Staatsanwalt sowohl das von der Beschwerdeführerin gestellte Fristerstreckungsgesuch wie auch die beantragte Durchführung einer Schlusseinvernahme abgelehnt und den Erlass einer anfechtbaren Verfügung verweigert. Er hat mit keinem Wort zum Ausdruck gebracht, dass er über diese Anträge später noch entscheiden werde. Auf die Beschwerde ist nach dem Gesagten einzutreten.
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin moniert, der verfahrensleitende Staatsanwalt habe ihr rechtliches Gehör und ihr Recht auf Verteidigung verletzt, indem er den Abschluss des Untersuchungsverfahrens angekündigt habe, ohne ihr zuvor in einer Schlusseinvernahme auf andere Weise unter Bezugnahme auf die erhobenen Beweise mitgeteilt zu haben, was ihr genau vorgeworfen werde, und ihr Gelegenheit gegeben zu haben, dazu Stellung zu nehmen. Der weiteren Rüge der Beschwerdeführerin, die zur Stellung von Beweisanträgen gesetzte Frist sei willkürlich kurz angesetzt worden, hat der Instruktionsrichter mit seiner Verfügung vom 9. November 2020 bereits Rechnung getragen.
2.2 Der Staatsanwalt stellt sich auf den Standpunkt, das rechtliche Gehör sei der Beschwerdeführerin umfassend gewährt worden, sowohl bezüglich Gutachterauswahl, Ergänzungsfragen, Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme zu den Gutachten als auch bezüglich ihre Befragung zum Sachverhalt. Eine Schlusseinvernahme sei nicht zwingend vorgeschrieben. Beweisanträge könnten zudem auch vor Gericht noch gestellt werden. Ausserdem könnte das Gericht - sofern es eine Beurteilung noch nicht als möglich erachten sollte - das Verfahren immer noch zurückweisen. Eine Benachteiligung ergebe sich dabei auch formell offensichtlich nicht.
2.3 Mit dieser Argumentation verkennt der Staatsanwalt die Bedeutung des Untersuchungsverfahrens. Für die Strafprozessordnung gilt der Grundsatz der beschränkten Unmittelbarkeit. Das Gericht stellt grundsätzlich auf die im Untersuchungsverfahren erhobenen Beweise ab, ohne diese nochmals zu erheben. Dementsprechend verpflichtet Art.308Abs.3StPO die Staatsanwaltschaft, dem Gericht die für die Beurteilung von Schuld und Strafe wesentlichen Grundlagen zu liefern. Die Beweiserhebung hat im Untersuchungsverfahren so zu erfolgen, dass der Anklage eine möglichst komplette Beweislage zugrunde liegt. Aus diesem Grund dürfen von der Verteidigung im Rahmen des Untersuchungsabschlusses gestellte Beweisanträge nur unter den restriktiven Voraussetzungen von Art.318Abs.2StPO abgelehnt werden (Hauri, in: Basler Kommentar StPO, 2.Auflage 2014, Art.343N12 f. [zum stark beschränkten Unmittelbarkeitsprinzip der StPO]; STEINER, in: Basler Kommentar StPO, 2.Auflage 2014, Art.318 N10; NIKLAUS SCHMID, Praxiskommentar StPO, 2.Auflage, Zürich 2013, Art.318 N6). Gemäss Art. 317 soll die Staatsanwaltschaft in umfangreichen und komplizierten Vorverfahren die beschuldigte Person vor dem Abschluss der Untersuchung nochmals in einer Schlusseinvernahme befragen und sie auffordern, zu den Ergebnissen Stellung zu nehmen. Der Sinn der Schlusseinvernahme liegt zum einen darin, dass die Deliktsvorwürfe und die Haltung der beschuldigten Person dazu in «konzentrierter, übersichtlicher Form» festgehalten werden, wodurch der im weiteren Verfahrensverlauf mit den Akten befassten Strafbehörde ermöglicht werden soll, sich sofort ein Bild über den Fall zu machen. Die Schlusseinvernahme bildet damit einen Beitrag zur Vorbereitung und Durchführung der Gerichtsverhandlung (Steiner, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 317 StPO N 2 mit Hinweis auf die Botschaft). Ein weiterer Sinn der Schlusseinvernahme liegt in der Wahrung des rechtlichen Gehörs. Gerade bei umfangreichen Akten und komplizierten Beweiserhebungen soll der beschuldigten Person bereits vor Anklageerhebung aufgezeigt werden, welche Sachverhalte nach Ansicht der Untersuchungsbehörde anklagegenügend bewiesen sind. Die Beweise müssen der beschuldigen Person vorgehalten und erläutert und es muss ihr die Möglichkeit gegeben werden, dazu Stellung zu nehmen (Steiner, a.a.O., Art. 317 N 3).
Der Staatsanwalt verkennt den Sinn der Schlusseinvernahme, wenn er in seinem Schreiben vom 13. Oktober 2020 an den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin festhält, «in Verfahren, in denen dermassen viele Gutachten eingeholt wurden, der Sachverhalt umfassendst abgefragt wurde und der so erhobene Sachverhalt vom Gericht ohne weiteres gewürdigt werden kann, ist auf Schlusseinvernahmen zu verzichten».
2.4 Es trifft zwar zu, dass Art. 317 StPO lediglich eine Ordnungsvorschrift und die Durchführung einer Schlusseinvernahme somit nicht zwingend ist (Steiner, a.a.O., Art.317 N 5). Das gilt aber nicht für den Anspruch der beschuldigten Person, dass ihr vor einer Anklageerhebung im Einzelnen vorgehalten wird, mit welchen Verhaltensweisen sie welches Delikt begangen haben soll und auf welche Beweise sich die diesbezügliche Überzeugung der Staatsanwalt stützt. Dieser Informationsanspruch sowie das Recht der beschuldigten Person, zu den entsprechenden Vorhalten Stellung zu nehmen und sich dagegen zu verteidigen, ergibt sich direkt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör. Art. 107 StPO konkretisiert diesen Anspruch, indem er (nicht abschliessend) dessen hauptsächliche Bestandteile aufführt. Darüber hinaus fliesst der Anspruch auf das rechtliche Gehör auch aus anderen Bestimmungen, insb. in allgemeiner Form aus Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO. Das rechtliche Gehör stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht der Parteien dar, welche nicht als blosse Verfahrensobjekte, sondern als Subjekte wahrgenommen werden sollen (Vest/Horber, in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage 2014, Art. 107 StPO N 3). Es umfasst somit auch den Anspruch der beschuldigten Person, vor der Anklageerhebung unter Bezugnahme auf die erhobenen Beweise konkret darüber informiert zu werden, welche Delikte ihr aufgrund welcher konkreter Handlungen Unterlassungen vorgehalten werden, und sich zu diesen Vorhaltungen zu äussern. Diese umfassende Information über die vorhandenen Beweismittel und deren Würdigung durch die Staatsanwaltschaft ist auch Voraussetzung des in Art. 318 StPO statuierten Rechts der Parteien, vor dem Abschluss der Untersuchung Beweisanträge zu stellen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst zudem die Pflicht der Behörden, von den Äusserungen der Parteien Kenntnis zu nehmen und diese beim Entscheid (vorliegend über Einstellung Anklageerhebung) in gebührender Weise zu berücksichtigen (Vest/Horber, a.a.O., Art. 107 StPO N 32). Kommt die Staatsanwaltschaft diesem Informations- und Äusserungsanspruch der beschuldigten Person nicht mit der Durchführung einer Schlusseinvernahme nach, so muss dies auf andere Art und Weise geschehen.
2.5 Die Beschwerdeführerin wurde am 13. und 24. August 2015 zu den Umständen der am 1. März 2014 erfolgten Entbindung befragt, bei welcher sie als Hebamme mitgewirkt hatte und in deren Folge die Kindsmutter verstorben war und das Kind einen Hirnschaden erlitten hatte (Akten S. 1924 ff., 1936 ff.). Beide Einvernahmen erfolgten noch im Stadium des polizeilichen Ermittlungsverfahrens, vor der formellen Eröffnung der Untersuchung und vor der Erhebung der wesentlichen Beweise, namentlich der Einholung der Gutachten. Spätere Einvernahmen fanden nicht statt. Dies genügt nach dem Gesagten nicht. Vielmehr gebietet es der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dass ihr nach der Beweiserhebung und vor einer vorgesehenen Anklageerhebung vorgehalten wird, inwiefern die Beweise den Anfangsverdacht erhärtet haben und aus welchen Gründen die Staatsanwaltschaft Anklage erheben will. Da das rechtliche Gehör ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht darstellt, kommt dieser Informations- und Äusserungsanspruch der Beschwerdeführerin als beschuldigten Person persönlich zu.
2.6 Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wurden die eingeholten Gutachten am 14. November 2019 zugestellt, mit Frist zur fakultativen Stellungnahme (Akten S.3523). Mit Eingabe vom 22.Januar 2020 beantragte der Rechtsvertreter, das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin sei einzustellen, da das Gutachten von Prof. Dr. med. [...] sie vollumfänglich entlastet habe. Es seien gemäss diesem Gutachten keine Handlungen Unterlassungen der Beschwerdeführerin ersichtlich, welche in irgendeiner Weise kausal für den Tod der Kindsmutter sein könnten (Akten S. 3530). Mit einem kurzen Antwortschreiben vom 23. Januar 2020 beschied der verfahrensleitende Staatsanwalt, der Einstellungsantrag werde vorgemerkt und es werde darüber bei Abschluss des gesamten Verfahrens entschieden (Akten S. 3535). In der Folge wurden bis zur Ankündigung der Anklage vom 2.Oktober 2020 weder die Beschwerdeführerin noch ihr Rechtsvertreter von der Staatsanwaltschaft kontaktiert. In der Ankündigung der Anklage, welche lediglich rund eine Seite umfasst und für alle drei Beschuldigen und die Strafantragsteller gleich lautet, wird nicht dargelegt, aus welchen Gründen gegen die Beschwerdeführerin Anklage erhoben werden soll (Akten S. 3640). Auf dieser Grundlage ist es der Beschwerdeführerin nicht möglich, fundierte Beweisanträge zu stellen.
2.7 Es ist damit festzustellen, dass der verfahrensleitende Staatsanwalt das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin in mehrfacher Hinsicht verletzt hat. Einerseits indem er der Beschwerdeführerin selbst nicht vorgehalten hat, was ihr aufgrund der Beweiserhebung vorgehalten wird, und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme dazu gegeben hat. Andererseits indem der Einstellungsantrag ihres Rechtsvertreters mit der Anklageerhebung ohne Begründung (konkludent) abgelehnt wurde, wodurch auch das Recht zur Stellung von Beweisanträgen nicht sinnvoll ausgeübt werden kann.
3.
3.1 In seinem Schreiben vom 13. Oktober 2020 an den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin schrieb der Staatsanwalt, «die angepeilte Anklage gegen Ihre Mandantin hat, im heutigen Zeitpunkt und mit heutigem Wissensstand, einzig verfahrensstrategische Gründe. Es sollen alle Beteiligten gleich behandelt werden und es sollen Einwände bezüglich Ungleichbehandlung Einwände, wonach eine andere Person dafür verantwortlich wäre, diese Person aber nicht angeklagt worden sei, verhindert werden.» Die Beschwerdeführerin bezeichnet dieses Vorgehen als rechtsmissbräuchlich, da ohne erhärteten Tatverdacht keine Anklage erhoben werden dürfe. Verfahrensstrategische Gründe rechtfertigten eine Anklageerhebung nicht. Der Staatsanwalt stellt sich demgegenüber in seiner Eingabe vom 30. Oktober 2020 auf den Standpunkt, auch wenn von einer sehr untergeordneten Rolle der Beschwerdeführerin auszugehen sei, deren Relevanz zudem fraglich sei, müsse er sie gemäss dem Grundsatz «in dubio pro duriore» anklagen.
3.2 Gemäss Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt. Die in Art. 319 Abs. 1 lit. a bis d aufgeführten Fallgruppen führen zwingend zur Verfahrenseinstellung (Grädel/Heiniger, in: Basler Kommentar Strafprozessordnung, 2. Auflage 2014, Art. 319 StPO N 6). Zwar hat sich die Staatsanwaltschaft beim Entscheid über eine Einstellung des Verfahrens in Zurückhaltung zu üben und im Zweifelsfall das Verfahren in Beachtung des ungeschriebenen, sich aus dem Legalitätsprinzip ergebenden Grundsatzes in dubio pro duriore weiterzuführen und an das Gericht zu überweisen. Eine Verfahrenseinstellung ist jedoch dann anzuordnen, wenn ein Freispruch ein vergleichbarer Entscheid des Sachgerichts sicher doch sehr wahrscheinlich erscheint. Lediglich wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint zumindest genauso wahrscheinlich wie ein Freispruch, ist Anklage zu erheben (BGE 143 IV 241 E. 2.2.1, mit weiteren Hinweisen, 138 IV 186 E. 4 S.191 ff.; AGEBES.2020.75 vom 23. Dezember 2020, E. 3.1, BES.2020.38 vom 18.Mai 2020 E. 2.1).
Die Beurteilung, ob im Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin ein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, ist doch noch gar nicht Anklage erhoben worden und die Anklageerhebung gemäss Art. 324 Abs. 2 StPO nicht anfechtbar. Es ist jedoch mit Nachdruck festzuhalten, dass nur ein erhärteter Tatverdacht zu einer Anklage führen darf und das Verfahren einzustellen ist, wenn aufgrund der erhobenen Beweise ein Freispruch der Beschwerdeführerin als sicher sehr wahrscheinlich gilt. Allein verfahrensstrategische Gründe das Bestreben, Diskussionen mit den anderen Beschuldigten zu vermeiden, dürfen nicht zu einer Anklage führen. Dies verbietet sich schon aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, stellt doch eine Anklage für die beschuldigte Person eine enorme psychische Belastung dar, vor allem wenn es um so gravierende Anschuldigungen wie fahrlässige Tötung im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit geht.
4.
4.1 Zusammenfassend ist die Beschwerde gutzuheissen und die Staatsanwaltschaft anzuweisen, die Beschwerdeführerin in geeigneter Form darüber zu informieren, durch welche Handlungen Unterlassungen sie aufgrund der im Untersuchungsverfahren erhobenen Beweise welche Straftat begangen haben soll, und ihr hierzu das rechtliche Gehör zu gewähren.
4.2 Dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens entsprechend sind dafür keine ordentlichen Kosten zu erheben und ist der Beschwerdeführerin aus der Gerichtskasse eine angemessene Entschädigung für ihre Rechtsvertretung auszurichten (Art. 428 StPO). Massgebend für die Bemessung der vom Staat zu entrichtenden Entschädigung ist indessen nicht der zwischen dem Anwalt und seiner Mandantschaft vereinbarte Stundenansatz, sondern der zulässige Überwälzungstarif. Grundlage hierfür ist im Kanton Basel-Stadt die Honorarordnung für Anwältinnen und Anwälte des Kantons Basel-Stadt (HO) in der bis 31. Dezember 2020 geltenden Fassung (vgl. die Übergangsbestimmung in §26 Abs. 2 des seit 1. Januar 2021 geltenden Honorarreglements, SG 291.400). Der entsprechende Honorarrahmen liegt gemäss §14 Abs.1HO zwischen CHF180.- und CHF400.- pro Stunde. Innerhalb dieses Rahmens ist der angemessene Stundenansatz nach Massgabe der Schwierigkeit des Falles und der notwendigen juristischen Kenntnisse zu bemessen. Dabei beträgt das zu vergütende Stundenhonorar einer Strafverteidigung nach der Praxis des Appellationsgerichts in durchschnittlichen Fällen ohne besondere Schwierigkeiten CHF250.- (Beschluss des Appellationsgerichts vom 27. Januar 2014). Dementsprechend ist die der Beschwerdeführerin zuzusprechende Entschädigung auf 6 Stunden zu CHF 250.- zuzüglich CHF78.- Auslagenentschädigung und 7,7 % MWST, insgesamt somit CHF1'700.-, zu bemessen.
Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Einzelgericht):
://: In Gutheissung der Beschwerde wird die Staatsanwaltschaft angewiesen, die Beschwerdeführerin in geeigneter Form darüber zu informieren, durch welche Handlungen Unterlassungen sie aufgrund der im Untersuchungsverfahren erhobenen Beweise welche Straftat begangen haben soll, und ihr hierzu das rechtliche Gehör zu gewähren.
Für das Beschwerdeverfahren werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine Parteientschädigung von CHF 1'700.- zugesprochen.
Mitteilung an:
- Beschwerdeführerin
- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Der Präsident Die Gerichtsschreiberin
lic. iur. Christian Hoenen lic. iur. Barbara Noser Dussy
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.
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