| Appellationsgericht als Verwaltungsgericht Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht |
AUS.2024.36
URTEIL
vom 8. Juli 2024
Beteiligte
Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt,
Spiegelgasse 12, Postfach, 4001 Basel
gegen
A____, geb. [...], von Nigeria,
zurzeit im Gefängnis Bässlergut, Freiburgerstrasse 48, 4057 Basel
vertreten durch [...], Advokat,
[...]
Gegenstand
Verfügung des Migrationsamtes vom 4. Juli 2024
betreffend Verlängerung Ausschaffungshaft (Art. 76 Abs. 3 AIG)
Sachverhalt
Der nigerianische Staatsangehörige A____, der in der Schweiz über kein Aufenthaltsrecht verfügt, befindet sich seit dem 20. Mai 2024 in Ausschaffungshaft. Die Haftanordnungen des Migrationsamts vom 21. Mai und 6. Juni 2024 wurden mit Urteilen der Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht (nachfolgen Einzelrichterin) vom 24. Mai und 12. Juni 2024 (VGE AUS.2024.26, AUS.204.28) bestätigt, allerdings jeweils nur für wenige Wochen, da A____ psychisch schwer krank ist, weshalb er intensiver medizinischer Betreuung bedarf und sich spezifische Fragen betreffend seine Hafterstehungsfähigkeit sowie die Möglichkeit und Absehbarkeit des Vollzugs seiner Rückführung in sein Heimatland stellen. Für weitere Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die genannten vorgängigen Hafturteile verwiesen.
Mit Verfügung vom 4. Juli 2024 hat das Migrationsamt die Verlängerung der Ausschaffungshaft bis zum 8. Oktober 2024 angeordnet. An der Gerichtsverhandlung ist A____ zu Sache befragt worden und ist sein Rechtsvertreter zum Vortrag gelangt. Er beantragt die umgehende Entlassung von A____ aus der Ausschaffungshaft, eventualiter unter der Auflage einer regelmässigen Meldepflicht. Ein Vertreter des Migrationsamts hat an der Verhandlung ebenfalls teilgenommen. Er beantragt die Bestätigung der Haftverlängerung. Für sämtliche Depositionen wird auf das Protokoll verwiesen. Der Haftentscheid ist A____ am heutigen Tag, dem 8. Juli 2024, mündlich eröffnet worden.
Erwägungen
1.
Die aktuelle Haftanordnung gilt bis und mit 8. Juli 2024. Die heutige gerichtliche Überprüfung der mit Verfügung des Migrationsamts vom 4. Juli 2024 verlängerten Haftanordnung erfolgt damit rechtzeitig.
2.
2.1 Für das Vorliegen eines Wegweisungstitels sowie des Haftgrundes der Untertauchensgefahr (Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff 3 und 4 Ausländer-und Integrationsgesetz [AIG, SR 142.20]) kann grundsätzlich auf die diesbezüglichen Erwägungen im ersten Hafturteil vom 24. Mai 2024 verwiesen werden (AUS.2024.26 E. 2 und 3). Zusammenfassend ist zu wiederholen, dass A____ mit Verfügung des Migrationsamts vom 5. März 2024 aus der Schweiz weggewiesen wurde und sich in der Folge zeigte, dass er nicht gewillt und aufgrund seiner psychischen Krankheit wohl auch gar nicht in der Lage ist, sich an behördliche Anordnungen zu halten und seine Papiere und Ausreise selbständig zu organisieren. An dieser Einschätzung hat auch die heutige Verhandlung nichts geändert, an welcher A____ erstmals durch das Gericht hat befragt werden können, nachdem die erste Gerichtsverhandlung aufgrund seines (wohl psychotischen) Zustands nicht durchgeführt werden konnte und der zuständige Arzt ihn für die zweite Gerichtsverhandlung als nicht verhandlungsfähig erklärt hatte, weshalb einzig sein Rechtsvertreter an dieser teilnahm. A____ scheint nun in persönlicher Hinsicht orientiert und hat berichtet, dass er ab dem Jahr 2003 zuerst in Emden und dann in Bielefeld, Deutschland, gelebt habe. In Bielefeld würden nach wie vor seine vormalige Partnerin sowie seine im Jahr 2013 geborene Tochter, [...], leben. Er hat behauptet, Nigeria würde als Staat nicht mehr existieren, nun gebe es die zwei Staaten Biafra und Niger. Er sei in Biafra zur Welt gekommen. In der Schweiz sei er auf Durchreise, da er zurück nach Biafra habe gehen wollen, um einen Pass zu erhalten. Er habe aber kein Geld mehr und habe niemanden gefunden, der ihm Geld für die Reise ausleihen würde. Auf den Hinweis, dass die Schweiz seine Rückreise nach Nigeria organisieren wolle, erklärte er sich damit einverstanden, machte allerdings auch klar, dass er nicht noch bis Oktober dieses Jahres in Haft und auch nicht im Spital sein wolle.
2.2 Damit konnte das Gericht selber feststellen, dass sich A____ dank der eingeleiteten Zwangsmedikation in psychischer Hinsicht stabilisiert hat, schliesslich war eine ruhige Anhörung möglich und A____ hat alle Fragen des Gerichts beantwortet. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass gewisse Antworten nicht der Realität entsprechen; so gibt es den Staat Nigeria tatsächlich, die Republik Biafra hingegen existierte ausschliesslich von 1967 bis 1970. Danach wurde das Gebiet wieder zu einem Teil von Nigeria. In diesen Aussagen manifestiert sich wohl die Krankheit von A____ (s. unten E. 3). Soweit sein Rechtsvertreter allerdings geltend macht, der Haftgrund der Untertauchensgefahr sei nicht gegeben, da die Polizei auch am Tag der Festnahme von A____ in der Lage gewesen sei, ihn innert kürzester Zeit auf dem Bahnhofsgelände aufzufinden, ist darauf hinzuweisen, dass nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass sich A____ nach einer Haftentlassung wiederum dort aufhalten würde. Ohnehin kann den Behörden nicht zugemutet werden, die umfangreichen und kostspieligen Vorbereitungen für seine Rückführung nach Nigeria unter dem Risiko zu organisieren, dass er am Tag seiner Rückreise nicht greifbar wäre. Hinzu kommt, dass aktuell auch aufgrund der ärztlichen Einschätzung (s. unten E. 3) davon auszugehen ist, dass A____ in Freiheit seine Medikamente nicht mehr einnehmen würde und innert kurzer Zeit wieder in einen akut psychotischen Krankheitszustand zurückfallen würde, womit er nicht reisefähig wäre bzw. er in einem Zustand wäre, in welchem die nigerianischen Behörden die Ausstellung eines Laissez-passer ablehnen (s. dazu unten E. 4.2). Damit ist auch keine mildere Massnahme ersichtlich, die sicherstellen kann, dass A____ für die Behörden greifbar bleibt und ihn gleichzeitig in einem reisefähigen Zustand erhält. Die Haft ist folglich notwendig.
3.
Im Vordergrund der vergangenen Haftüberprüfungen stand die Frage der Hafterstehungsfähigkeit, da es sich bei A____ um eine psychisch schwer kranke Person handelt, er in der Haft aber jegliche medizinische Hilfe und die Nahrungsaufnahme verweigerte. Aufgrund dessen wurde er am 7. Juni 2024 auf eine geschlossene Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) verlegt. Am 12. Juni 2024 wurde seitens des Migrationsamts seine zwangsweise Medikation und die Zwangsernährung verfügt bzw. wurden seine behandelnden Ärzte im Bedarfsfall dazu ermächtigt entsprechend vorzugehen. Am 12. Juni sowie am 19. Juni 2024 befand A____ sich ausserdem je für einen Tag im Universitätsspital Basel (USB) zur Stabilisierung seines somatischen Zustands. Gemäss aktuellstem Arztbericht vom 2. Juli 2024 scheint A____ «weiterhin unter einer psychotischen Symptomatik zu leiden, einerseits erkennbar an etwas bizarren, kaum korrigierbaren und sicher unzutreffenden Äusserungen (z.B. er berate den polnischen Präsidenten, er sei Deutscher, er sei Heiler), aber auch an sehr eigenartigem Verhalten (häufiges Ruhen und Schlafen auf dem Boden, Einnahme nur ganz bestimmter Speisen und Getränke, gelegentlich und unvermittelt hochfahrendem Auftreten bei ansonsten Umgänglichkeit und leichten Orientierungsstörungen, vor allem zeitlich)». A____ nehme mehr weniger regelmässig einmal am Tag die angeordnete orale neuroleptische Medikation ein, verweigere aber Blutentnahmen sonstige medizinische Kontrollen. Eine Krankheitseinsicht scheint nicht zu bestehen. Gemäss dem Bericht habe sich aber eine deutliche Verbesserung in der Kommunikation eingestellt und A____ nehme hinreichend Nahrung und Flüssigkeit zu sich. Bezüglich der Körperpflege seien allerdings weiterhin Defizite festzustellen. Aus psychiatrischer Sicht erscheine wichtig, dass es inzwischen keine klaren Hinweise auf akute, psychotisch bedingte und A____ potentiell gefährdende Verhaltensweisen mehr gäbe. Es erscheine aus psychiatrischer Sicht aber nicht zuletzt aufgrund der bislang kurzen Behandlungsdauer empfehlenswert, die neuroleptische Behandlung weitere ein bis zwei Wochen fortzusetzen. Dies um den Behandlungserfolg zu sichern und eventuell weiter zu verbessern. Die Behandlung sollte aus ärztlich-psychiatrischer Sicht gegebenenfalls auch mittels Zwangsmedikation fortgesetzt werden, um eine erneute akute Gefährdung abzuwenden bzw. dieser vorzubeugen, da aktuell nicht zu erwarten sei, dass A____ sich aus eigener Einsicht werde weiter behandeln lassen. Damit ist festzustellen, dass A____ im aktuellen Setting der UPK als hafterstehungsfähig erachtet werden kann.
4.
4.1 Die Vorbereitungs- und die Ausschaffungshaft nach Art. 75 bis 77 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG, SR 142.20) sowie die Durchsetzungshaft nach Art. 78 AIG dürfen zusammen in der Regel sechs Monate nicht überschreiten (Art. 79 Abs. 1 AIG). Die Haft ist zu beenden, wenn feststeht, dass der Vollzug der Wegweisung nicht (mehr) durchführbar ist, da ihr Zweck darin besteht, den Vollzug der Wegweisung sicherzustellen. Die Feststellung der Nichtdurchführbarkeit kann sich aus rechtlichen tatsächlichen Gründen ergeben, (s. Businger, in: Zürcher Studien zum öffentlichen Recht, Ausländerrechtliche Haft, Zürich/Basel/Genf 2015, S. 58). Im Entscheid 2C_658/2014 vom 7. August 2017 führt das Bundesgericht zur tatsächlichen Undurchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs aus: «Von einer tatsächlichen Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs im Sinne von Art. 80 Abs. 6 AuG (Ausländergesetz, seit 1. Januar 2019 AIG) ist nicht schon dann auszugehen, wenn er schwierig erscheint. Wie es sich mit der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs im Einzelnen verhält, bildet Gegenstand einer Prognose. Massgeblich ist, ob die Ausschaffung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit innert absehbarer Zeit möglich wird nicht. Die Haft hat unter dem Aspekt von Art. 80 Abs. 6 AuG dann, weil unverhältnismässig, als unzulässig zu gelten, wenn triftige Gründe für die Undurchführbarkeit des Vollzugs sprechen praktisch feststeht, dass er sich innert vernünftiger Frist kaum wird realisieren lassen; sie dient diesfalls nicht mehr dem ihr vom Gesetz zugewiesenen Zweck, den Wegweisungsvollzug zu sichern (BGE 130 II 56 E. 4.1.3 zum mit Art. 80 Abs. 6 AuG übereinstimmenden Art. 13 c Abs. 5 lit. a des Ende 2007 ausser Kraft gesetzten Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG]; Urteile 2C_168/2013 vom 7. März 2013 E. 3.1, 2C_101/2013 vom 21.Februar 2013 E. 2.2.3 und 2C_749/2012 vom 28. August 2012 E. 3.1.1) ».
4.2 Das Staatssekretariat für Migration (SEM) beantwortete mit Schreiben vom 31. Mai 2024 die seitens der Einzelrichterin gestellten Fragen zu den geplanten Modalitäten der Rückführung von A____ nach Nigeria und stellte dazu in Aussicht, dass er allenfalls über die schweizerische Botschaft in Abuja in Empfang genommen und in Nigeria in einer geeigneten psychiatrischen Klinik untergebracht werden aber von Angehörigen in Empfang genommen werden könnte. Die nigerianischen Behörden würden ein Laissez-passer ausstellen, wenn A____ «psychisch einigermassen stabil» sei und ein Rückflug werde nötigenfalls unter medizinischer Betreuung erfolgen. Das Migrationsamt befindet sich seither im Austausch mit dem SEM. Es hat an der Verhandlung ausgeführt, dass der zuständige Mitarbeiter des SEM, der sich in der Sache engagiert habe, seit letzter Woche aus persönlichen Gründen abwesend sei, wobei nicht bekannt sei, wann er wieder an den Arbeitsplatz zurückkomme. Grundsätzlich sei nun abzuklären, ob die nigerianische Botschaft aufgrund des jetzt in psychischer Hinsicht stabilisierten Zustands von A____ bereit sei, ein Laissez-passer für ihn auszustellen und es sei der Empfangsraum für A____ in Nigeria konkret vorzubereiten.
4.3 Damit erscheint eine Rückführung rechtlich sowie tatsächlich möglich. Allerdings ist festzuhalten, dass aufgrund der nun erfolgten Stabilisierung umgehend mit der nigerianischen Botschaft die Ausstellung der Dokumente abzuklären ist sowie die Flugplanung anzugehen und Rückführungsmodalitäten konkret zu planen sind, um der Verhältnismässigkeit in der konkreten Situation gerecht zu werden. Es ist ausdrücklich festzuhalten, dass A____ nebst der Haft mit der Zwangsmedikation einen weiteren und massiven Eingriff in seine persönliche Freiheit erleiden muss. Auch wenn ohne Behandlung der psychischen Krankheit von A____ eine Rückführung in sein Heimatland gar nicht erst möglich wäre, und ein öffentliches Interesse an seiner Ausschaffung besteht, da er bis zu seiner Festnahme in der Schweiz verwahrlost auf der Strasse lebte und in der Öffentlichkeit negativ auffiel (s. VGE AUS.2024.26 E. 3.2) , rechtfertigt es sich nicht, die Zwangsmedikation als äussert schweren Eingriff in die persönliche Freiheit von A____ länger als absolut notwendig aufrecht zu erhalten. Der Ausfall eines Mitarbeiters des SEM kann kein Grund darstellen, dass die Sache auch nur ein Tag länger ruht. Vielmehr sind die genannten organisatorischen Schritte sofort einzuleiten. Die Haft wird deshalb für die Dauer von 6 Wochen bis und mit 19. August 2024 verlängert, wobei dannzumal konkret aufzuzeigen sein wird, wann und wie die Rückführung stattfinden kann, sofern sie dannzumal nicht bereits stattgefunden hat und eine weitere Verlängerung der Haft angestrebt wird. Sodann bleibt darauf hinzuweisen, dass die Angaben von A____ betreffend seine vormalige Partnerin und seine Tochter glaubhaft erscheinen und es sich allenfalls lohnen könnte, diesbezüglich Nachforschungen nach Angehörigen zu betreiben, da allenfalls auf diesem Weg etwas über die Familie von A____ in der Heimat herausgefunden werden kann.
5.
Das Verfahren ist kostenlos und der unentgeltliche Rechtsbeistand ist gemäss der eingereichten Honorarnote, zuzüglich 2 Stunden für die Gerichtsverhandlung und den Weg, aus der Gerichtskasse zu entschädigen. Für die Einzelheiten wird auf das Dispositiv verwiesen.
Demgemäss erkennt die Einzelrichterin:
://: Die über A____ angeordnete Ausschaffungshaft ist bis und mit 19. August 2024 rechtmässig und angemessen.
Es werden keine Kosten erhoben.
Dem unentgeltlichen Rechtsvertreter von A____, [...], Advokat, werden ein Honorar von CHF 916.– und ein Auslagenersatz von CHF 15.50, zuzüglich 8.1 % MWST von CHF 75.45, aus der Gerichtskasse bezahlt.
Mitteilung an:
- A____
- Migrationsamt
- Staatssekretariat für Migration
VERWALTUNGSGERICHT BASEL-STADT
Die Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht
lic. iur. Barbara Grange
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 82 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben werden. Die Beschwerdeschrift ist fristgerecht dem Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, einzureichen. Diese ist mit einem Antrag und einer Begründung zu versehen. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.
Der inhaftierte Ausländer kann einen Monat nach der Haftüberprüfung ein Haftentlassungsgesuch einreichen beim Verwaltungsgericht Basel-Stadt, Bäumleingasse 1, 4051 Basel.
Hinweis
Dieses Urteil wurde dem Ausländer am heutigen Tag mündlich erläutert.