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Urteil Appellationsgericht (BS - AUS.2019.96 (AG.2019.905))

Zusammenfassung des Urteils AUS.2019.96 (AG.2019.905): Appellationsgericht

A____, ein irakischer Staatsangehöriger, der sich in Ausschaffungshaft befand, reichte ein Haftentlassungsgesuch ein, da die zwangsweise Rückführung in den Irak aufgrund von Verzögerungen und politischen Unruhen nicht absehbar war. Das Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt hatte die Haft mehrmals verlängert, obwohl die Rückführung nicht konkret geplant war. Die Einzelrichterin entschied, dass die Haft rechtswidrig war aufgrund einer Verletzung des Beschleunigungsgebots und ordnete die sofortige Freilassung von A____ an. Die Gerichtskosten wurden nicht erhoben, und A____ erhielt einen Anwalt auf Kosten des Gerichts.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts AUS.2019.96 (AG.2019.905)

Kanton:BS
Fallnummer:AUS.2019.96 (AG.2019.905)
Instanz:Appellationsgericht
Abteilung:
Appellationsgericht Entscheid AUS.2019.96 (AG.2019.905) vom 18.12.2019 (BS)
Datum:18.12.2019
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Haftentlassungsgesuch
Schlagwörter: Ausschaffung; Haftentlassung; Behörde; Behörden; Beschleunigungsgebot; Einzelrichter; Ausschaffungshaft; Rückführung; Recht; Haftentlassungsgesuch; Verbalnote; Botschaft; Einzelrichterin; Zustimmung; Migration; Vollzug; Wochen; Bundesgericht; Urteil; Ausländer; Frist; Innenministerium; Wegweisung; Verletzung; E-Mail; Hinweis; Basel; Migrationsamt
Rechtsnorm: Art. 76 AIG ;Art. 78 AIG ;
Referenz BGE:124 II 49; 126 II 439; 130 II 56; 133 II 1; 134 I 92;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts AUS.2019.96 (AG.2019.905)

[...]

Appellationsgericht

des Kantons Basel-Stadt

als Verwaltungsgericht

Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im
Ausländerrecht


AUS.2019.96


URTEIL


vom 18. Dezember 2019




Beteiligte


A____, geb. [...], von Irak,

zurzeit im Gefängnis Bässlergut, Freiburgerstrasse48, 4057Basel

vertreten durch [...], Advokat, substituiert durch [...]

gegen


Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt,

Spiegelgasse 12, Postfach, 4001 Basel



Gegenstand


betreffend Haftentlassungsgesuch


Sachverhalt


Der irakische Staatsangehörige A____ befindet sich seit dem 20. Dezember 2018 in der Ausschaffungshaft. Diese wurde zwischenzeitlich insgesamt 7 mal verlängert und jeweils gerichtlich überprüft und gutgeheissen, wenn auch nicht immer für den gesamten Verlängerungszeitraum (vgl. VGE AUS.2018.106 vom 24.Dezember 2018, AUS.2019.3 vom 21. Januar 2019, AUS.2019.20 vom 24. April2019, AUS.2019.34 vom 14. Juni 2019, AUS.201946/48 vom 14. August 2019, AUS.2019.65 vom 20. September 2019, AUS.2019.73 vom 25. Oktober 2919). Die letztmalige Verlängerung der Ausschaffungshaft wurde vom Gericht bis zum 14. Januar 2020 gutgeheissen.


Mit Eingabe vom 12. Dezember 2019 ersucht A____ um Haftentlassung. Das Migrationsamt hat am 13. Dezember 2019 seine Stellungnahme zum Haftentlassungsgesuch eingereicht. An der heutigen Verhandlung ist A____ zur Sache befragt worden und ist sein Rechtsvertreter zum Vortrag gelangt. An dem im Haftentlassungsgesuch gestellten Antrag auf umgehende Haftentlassung wird festgehalten. Für sämtliche Ausführungen wird auf das Protokoll verwiesen. Die Einzelheiten des Sachverhalts und der Parteistandpunkte ergeben sich, soweit für den Entscheid von Relevanz, aus den nachfolgenden Erwägungen.


Erwägungen


1.

Gemäss Art. 80 Abs. 5 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG, SR 142.20) kann die inhaftierte Person ein Monat nach der Haftüberprüfung ein Haftentlassungsgesuch einreichen. Die Haft wurde letztmals am 25. Oktober 2019 gerichtlich überprüft. Auf das Haftentlassungsgesuch vom 12. Dezember 2019 ist einzutreten. Über das Gesuch ist gemäss der genannten Bestimmung innerhalb von 8 Arbeitstagen aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Die heutige Haftüberprüfung und Verhandlung finden rechtzeitig statt.


2.

2.1 A____ lässt mit dem Haftentlassungsgesuch geltend machen, mit einer Zustimmung der irakischen Behörden zur zwangsweisen Rückführung in den Irak, jedenfalls aber mit der Ausstellung der notwendigen Reisedokumente, sei nicht mehr innert nützlicher Frist zu rechnen, nachdem das Staatsekretariat für Migration (SEM) die angekündigte Verbalnote mit der Aufforderung zur Ausstellung von Reisedokumenten erst am 19. November 2019 der irakischen Botschaft in Bern überreicht habe. Hinzu kämen die politischen Unruhen, welche den Irak derzeit erschüttern würden und zum Rücktritt des Ministerpräsidenten geführt hätten, weshalb eine neue Regierung gebildet werden müsse. Vor diesem Hintergrund sei nicht damit zu rechnen, dass das irakische Innenministerium sich in nächster Zeit mit den Anträgen der Schweiz betreffend zwangsweiser Rückschaffungen irakischer Staatsangehöriger beschäftigen werde. Der zwangsweise Vollzug der Wegweisung sei deshalb nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbar und die Haft damit rechtswidrig. Überdies läge eine Verletzung des Beschleunigungsgebots vor, da das SEM die Verbalnote erst am 19. November 2019 eingereicht habe, nachdem die Einzelrichterin bereits im Entscheid vom 25. Oktober 2019 darauf hingewiesen habe, dass die bereits verstrichenen drei Wochen seit der Anerkennung des A____ am 7. Oktober2019 durch eine irakische Delegation in Bern gerade noch tolerierbar wären, ein rasches Tätigwerden nun aber notwendig sei.


2.2

Das Bundesgericht führt zur Absehbarkeit des zwangsweisen Vollzugs einer Wegweisung in BGer 2C_304/2012 vom 1.Mai2012 (E. 2.3.1) aus: "Die Ausschaffungshaft soll den Vollzug der Entfernungsmassnahme sicherstellen und muss ernsthaft geeignet sein, diesen Zweck zu erreichen, was nicht (mehr) der Fall ist, wenn die Weg- Ausweisung trotz der behördlichen Bemühungen nicht in absehbarer Zeit vollzogen werden kann. Dies gilt auch bei einer missbräuchlichen Weigerung des Betroffenen, in seinen Heimatstaat zurückzukehren (BGE 130 II 56 E. 4.1.2 S. 60 mit Hinweisen). Für den Fall, dass dies nicht möglich ist, hat der Gesetzgeber die Durchsetzungshaft geschaffen, welche ihrerseits jedoch voraussetzt, dass der Weg- Ausweisungsentscheid rechtskräftig und der Betroffene innerhalb der ihm angesetzten Frist nicht ausgereist ist (vgl. Art. 78 Abs. 1 AIG). Die Ausschaffungshaft hat, weil unverhältnismässig, dann als unzulässig zu gelten, wenn triftige Gründe für die Undurchführbarkeit des Vollzugs sprechen praktisch feststeht, dass sich dieser kaum innert vernünftiger Frist wird realisieren lassen (BGE 130 II 56 E. 4.1.3 S. 61 mit Hinweisen). Die Ausschaffungshaft muss verhältnismässig und zweckbezogen auf die Sicherung des Wegweisungsverfahrens ausgerichtet sein; es ist jeweils aufgrund sämtlicher Umstände zu klären, ob sie (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot, d.h. das sachgerechte und zumutbare Verhältnis von Mittel und Zweck, verstösst (zur Ausschaffungshaft: BGE 133 II 1 E. 5.1 S. 5 und unpublizierte E. 7; BGE 126 II 439 ff.; zur Durchsetzungshaft: BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97; 133 II 97 E. 2.2 S. 100)".


Zum Beschleunigungsgebot im Wegweisungsverfahren hält das Bundesgericht im Entscheid 139 I 206. (E. 2 S. 211) fest: "Nach Art. 76 Abs. 4 AIG sind die für den Vollzug der Weg- Ausweisung notwendigen Vorkehren umgehend zu treffen. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gilt das Beschleunigungsgebot als verletzt, wenn während mehr als zwei Monaten keinerlei Vorkehren mehr im Hinblick auf die Ausschaffung getroffen wurden (Untätigkeit der Behörden), ohne dass die Verzögerung in erster Linie auf das Verhalten ausländischer Behörden des Betroffenen selber zurückgeht (BGE 124 II 49 E. 3a S. 51 mit Hinweisen; bestätigt in den Urteilen 2C_285/2013 vom 23. April 2013 E. 5.1 und 2C_804/2008 vom 5. Dezember 2008 E. 4). Die Behörden sind gestützt auf das Beschleunigungsgebot nicht gehalten, in jedem Fall schematisch bestimmte Handlungen vorzunehmen. Umgekehrt müssen die angerufenen Vorkehrungen zielgerichtet sein; sie haben darauf ausgelegt zu sein, die Ausschaffung voranzubringen. Die Frist von zwei Monaten ist nicht als Freibrief dafür zu verstehen, dass nach Anordnung der Ausschaffungshaft nichts getan werden müsste auf die erfolgversprechendsten Vorkehrungen verzichtet werden könnte. Das Bundesgericht hat das Beschleunigungsgebot in einem Fall als verletzt erachtet, in dem während dreier Monate mit den Behörden des Landes, aus dem der Betroffene stammen wollte, kein Kontakt aufgenommen und während rund sechs Wochen überhaupt nichts vorgekehrt worden war (so Urteil 2A.115/2002 vom 19.März 2002 E. 3c-e)". Eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes hat in aller Regel sogar dann zur Haftentlassung zu führen, wenn von dem Inhaftierten eine gewisse Gefahr für die Öffentlichkeit ausgeht, da die Haft diesfalls länger als notwendig dauert und unverhältnismässig ist (vgl. Businger, in: Zürcher Studien zum öffentlichen Recht, Die ausländerrechtliche Haft, Dissertation 2015, S. 57).


2.3

Nachdem im vorliegenden Fall die Entsendung einer Schweizer Delegation in den Irak im Sommer 2019, anlässlich welcher die zwangsweise Rückführung des A____ in den Irak ermöglicht und organisiert werden sollte, nicht stattfand, hat das SEM mit E-Mail Schreiben vom 11. September 2019 zusammengefasst mitgeteilt, dass A____ im September 2019 durch eine irakische Behördendelegation abschliessend identifiziert und als irakischer Staatsbürger anerkannt werden solle. In der Folge werde die irakische Botschaft in Bern das benötigte Reisedokument ausstellen und der Vollzug der Wegweisung könne sodann auf allen Stufen, auch mittels Sonderflug, erfolgen. Mit E-Mail Schreiben vom 23. Oktober 2019 teilte das SEM auf entsprechende Nachfragen der Einzelrichterin vor der Haftverlängerungsverhandlung vom 25. Oktober 2019 mit, dass A____ am 26. September 2019 abschliessend durch die irakische Expertendelegation identifiziert worden sei. Die Ausstellung der Reisedokumente erfolge nun durch die irakische Botschaft in Bern. Diese stelle das Dokument jedoch erst aus, wenn die zuständige Stelle des Innenministeriums in Bagdad abschliessend der zwangsweisen Rückführung zugestimmt habe. Diese Anfrage erfolge über die irakische Botschaft in Bern an die zuständige Stelle des irakischen Innenministeriums. Das SEM werde den Antrag auf Zustimmung mittels diplomatischer Verbalnote innerhalb der nächsten zwei Wochen der irakischen Botschaft in Bern übermitteln. Im diesem Schreiben vorgehenden E-Mail Schreiben des SEM vom 21. Oktober 2019 hat das SEM ausserdem erklärt, es sei aufgrund der "schwerfälligen irakischen Administration" schwierig, vorauszusagen, per wann die abschliessende Zustimmung zur zwangsweisen Rückführung zu erwarten sei. Man rechne mit einer Zustimmungsdauer von 4 bis 6 Wochen und damit bis "gegen Ende November 2019". Aus dem E-Mail Schreiben des SEM vom 18.November2019 ergeht, dass das SEM die besagte Verbalnote am 19. November2019 zu deponieren gedachte. Mit Stellungnahme zum Haftentlassungsgesuch vom 12. Dezember 2019 verweist das Migrationsamt auf die Ausführungen in der Verfügung zur Verlängerung der Ausschaffungshaft vom 15. Oktober 2019 sowie auf das E-Mail Schreiben des SEM vom 18. November2019.


Im Urteil vom 25. Oktober 2019 hat die Einzelrichterin darauf hingewiesen, dass die vom Bundesgericht für den Regelfall eingeräumte Frist von zwei Monaten, innert welcher die Schweizer Behörden grundsätzlich Vorkehrungen im Hinblick auf die Ausschaffung von inhaftierten Ausländern zu treffen haben, nicht unbesehen in jedem Fall zur Anwendung zu kommen hat (VGE AUS.2019.73 E. 3.4). Dies entspricht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wonach diese zwei Monate keinen Freibrief dafür bedeuten, erfolgsversprechende Vorkehrungen nicht vorzunehmen bzw. unnötig zu verzögern. Die Einzelrichterin hat darauf hingewiesen, dass die zum Zeitpunkt der Urteilsfindung bereits vergangenen drei Wochen seit der Anerkennung des A____ durch die irakische Behördendelegation im Hinblick auf die bei der irakischen Botschaft zu deponierende Verbalnote gerade noch toleriert werden könne. Heute ist festzustellen, dass die Verbalnote nach der gerichtlichen Bestätigung der Haftverlängerung am 25. Oktober 2019 gleichwohl nicht umgehend der irakischen Botschaft überreicht wurde. Vielmehr hat sich das SEM dazu bis zum 19. November 2019 und damit gut zusätzliche drei Wochen Zeit gelassen. Damit hat das SEM die eigens angekündigte Zeitplanung, bis Ende November 2019 eine Zustimmung zur zwangsweisen Rückführung von der zuständigen Behörde im Innenministerium zu erhalten, selbst verunmöglicht. Eine Erklärung, weshalb nach Anerkennung des A____ Ende September 2019 durch die irakische Behördendelegation fast zwei Monate bis zu Platzierung der Verbalnote durch das SEM in Anspruch genommen wurden, wird - trotz des Hinweises der Einzelrichterin auf die Dringlichkeit der Sache im Urteil vom 25. Oktober 2019 - nicht vorgebracht. Nach dem Gesagten liegt eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vor. Festzustellen bleibt, dass die notwendige Zustimmung zur zwangsweisen Rückführung des irakischen Innenministeriums gemäss den Akten auch bis zum heutigen Datum nicht vorliegt. Nachdem das SEM seit der Inhaftierung des A____ vor fast einem Jahr regelmässig keine konkreten Aussagen über den Zeitpunkt der Rückführung des Inhaftierten in seine Heimat hat machen können und sich die Angaben des SEM zur geplanten Art und Weise der Organisation sowie zum ungefähren Zeitrahmen im Nachhinein regelmässig als falsch erwiesen haben, ist zudem äusserst fraglich, ob eine zwangsweise Rückführung überhaupt noch in absehbarer Zeit tatsächlich möglich ist. Nachdem eine Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliegt, muss dies allerdings nicht abschliessend beantwortet werden. A____ ist aufgrund der Verletzung des Beschleunigungsgebotes auf freien Fuss zu setzen.


3.

A____ wurde mit Instruktionsverfügung vom 13. Dezember 2019 die unentgeltliche Rechtsverbeiständung gewährt. Sein Rechtsvertreter wird gemäss der dazu eingereichten Honorarnote aus der Gerichtskasse entschädigt.


Demgemäss erkennt die Einzelrichterin:


[1]://: A____ ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.


Dem unentgeltlichen Rechtsvertreter des A____, [...], werden ein Honorar von CHF 945.- und ein Auslagenersatz von CHF 12.05, zuzüglich 7.7% MWST von CHF 73.70, aus der Gerichtskasse bezahlt.


Es werden keine Gerichtskosten erhoben.


Mitteilung an:

- A____

- Migrationsamt

- Staatssekretariat für Migration


VERWALTUNGSGERICHT BASEL-STADT


Die Einzelrichterin für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht

lic. iur. Barbara Grange


Rechtsmittelbelehrung


Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 82 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben werden. Die Beschwerdeschrift ist fristgerecht dem Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, einzureichen. Diese ist mit einem Antrag und einer Begründung zu versehen. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.


Hinweis

Dieses Urteil wurde dem Ausländer am heutigen Tag mündlich erläutert und schriftlich ausgehändigt.



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