Zusammenfassung des Urteils AH.2020.4 (SVG.2021.79): Sozialversicherungsgericht
Die Beschwerdeführerin war von 1995 bis 2016 bei der Beschwerdegegnerin als abrechnungspflichtige Arbeitgeberin tätig und verwendete fiktive Rechnungen, um Schwarzarbeiter zu entlohnen. Die Eidgenössische Steuerverwaltung stellte dies fest, woraufhin die Beschwerdegegnerin eine Nachtragsabrechnung für Sozialabgaben forderte. Die Beschwerdeführerin legte Einspruch ein, der abgewiesen wurde. Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt entschied, dass die Verjährungsfrist für die Nachforderung bereits abgelaufen war, da die Beitragsforderung aus strafbaren Handlungen resultierte. Die Beschwerde wurde daher gutgeheissen, der Einspracheentscheid aufgehoben und die Beschwerdegegnerin zur Zahlung einer Parteientschädigung verpflichtet.
Kanton: | BS |
Fallnummer: | AH.2020.4 (SVG.2021.79) |
Instanz: | Sozialversicherungsgericht |
Abteilung: |
Datum: | 23.09.2020 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Verjährung einer Nachforderung für Sozialversicherungsbeiträge bereits eingetreten |
Schlagwörter: | Rechnung; Urkunde; Rechnungen; Bericht; Einsprache; Einspracheentscheid; Verjährung; Beiträge; Urkunden; Sozialversicherungsgericht; Forderung; Verfahren; Schwarzarbeit; Verjährungsfrist; Recht; Parteien; Basel; Verfügung; Basel-Stadt; Schwarzarbeiter; Bundesgesetzes; Zahlung; Arbeitgeber; Recht; Hinweis; Entscheid; Bundesgericht; Beschwerdeantwort; Höhe |
Rechtsnorm: | Art. 10 AHVG ;Art. 110 StGB ;Art. 14 AHVG ;Art. 16 AHVG ;Art. 24 ATSG ;Art. 251 StGB ;Art. 42 BGG ;Art. 47 BGG ;Art. 5 AHVG ;Art. 51 AHVG ;Art. 6 AHVG ;Art. 64 AHVG ;Art. 8 AHVG ;Art. 87 AHVG ;Art. 95 BGG ; |
Referenz BGE: | 117 IV 169; 117 IV 38; 119 IV 57; 121 IV 131; 131 IV 125; 138 IV 130; 138 IV 135; |
Kommentar: | Félix Frey, Hans-Jakob Mosimann, Susanne Bollinger, Ort, Art. 16 OR AHVG, 2018 |
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt
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URTEIL
vom 23. September 2020
Mitwirkende
Dr. G. Thomi (Vorsitz), C. Müller, lic. phil. D. Borer
und Gerichtsschreiberin MLaw K. Zimmermann
Parteien
A____
[...]
vertreten durch lic. iur. B____, Advokat, [...]
Beschwerdeführerin
Ausgleichskasse Basel-Stadt
Wettsteinplatz1, Postfach, 4001Basel
Beschwerdegegnerin
Gegenstand
AH.2020.4
Einspracheentscheid vom 20. März 2020
Verjährung einer Nachforderung für Sozialversicherungsbeiträge bereits eingetreten
Tatsachen
I.
a) Die Beschwerdeführerin war vom 1. Juli 1995 bis 31. Dezember 2016 bei der Beschwerdegegnerin als abrechnungspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen und hatte gestützt auf Art. 64 AHVG Sozialversicherungsbeiträge mit der Beschwerdegegnerin abzurechnen.
b) In den Jahren 2006 bis 2009 verbuchte die Beschwerdeführerin fiktive Rechnungen der [...] Gesellschaften [...] und [...] als Aufwand und verwendete das zur Begleichung dieser fiktiven Rechnungen bezogene Bargeld grösstenteils dazu, um im Betrieb beschäftigte Schwarzarbeiter zu entlöhnen. Dieser Sachverhalt wurde von der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) untersucht (vgl. Bericht der ESTV vom [...] [nachfolgend: Bericht], Beschwerdebeilage/BB 3) und ist soweit unbestritten.
c) Mit Schreiben vom 8. Oktober 2019 erstattete die ESTV bei der Beschwerdegegnerin eine Meldung betreffend Schwarzarbeit (Beschwerdeantwortbeilage/AB 1) und ersuchte die Beschwerdegegnerin um nachträgliche Festsetzung der geschuldeten Sozialabgaben sowie um Erstattung einer Strafanzeige (a.a.O.). Daraufhin verfügte die Beschwerdegegnerin am 29. Oktober 2019 eine Nachtragsabrechnung für die Abrechnungsperiode vom 1.Januar 2006 bis 31. Dezember 2008 im Umfang von insgesamt CHF [...] (Nachtragsverfügung, AB 2) und erstattete am 18. November 2019 bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Anzeige (Strafanzeige, AB 3).
d) Eine von der Beschwerdeführerin am 29. November 2019 gegen die Nachtragsabrechnung erhobene Einsprache (BB 5) wurde von der Beschwerdegegnerin mit Einspracheentscheid vom 20. März 2020 abgewiesen.
II.
a) Mit Beschwerde vom 22. April 2020 werden beim Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt folgende Rechtsbegehren gestellt:
1. Der Einspracheentscheid vom 20. März 2020 sowie die Verfügung vom 29. Oktober 2019 der Beschwerdegegnerin seien aufzuheben.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolge zu Lasten der Beschwerdegegnerin.
Verfahrensantrag:
Allfällige dieser Beschwerde nicht beigelegte Verfahrensakten seien bei den betreffenden Behörden anzufordern und für dieses Verfahren hinzuzuziehen.
b) Mit Beschwerdeantwort vom 7. Juli 2020 beantragt die Beschwerdegegnerin die Beschwerde sei abzuweisen, eventualiter sei das vorliegende Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens zu sistieren.
c) Die Beschwerdeführerin reicht keine Replik ein.
III.
Innert Frist hat keine der Parteien die Durchführung einer Hauptverhandlung verlangt. Am 23. September 2020 findet die Urteilsberatung durch die Kammer des Sozialversicherungsgerichts statt.
Entscheidungsgründe
1.
1.1. Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt ist gemäss Art. 57 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in Verbindung mit § 82 Abs. 1 des basel-städtischen Gerichtsorganisationsgesetzes vom 3. Juni 2015 (GOG; SG 154.100) und § 1 Abs. 1 des kantonalen Sozialversicherungsgerichtsgesetzes vom 9. Mai 2001 (SVGG; SG 154.200) in sachlicher Hinsicht als einzige kantonale Instanz zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 84 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10).
1.2. Da auch die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt sind, ist auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde einzutreten.
4.4.3. Der Straftatbestand umfasst in Ziff. 1 Abs. 2 zunächst die Fälle, in denen der Täter eine unechte Urkunde herstellt (Urkundenfälschung im engeren Sinne und sog. "Blankettfälschung"). Darüber hinaus fallen darunter aber auch die Fälle, in denen der Täter eine echte aber inhaltlich unrichtige Urkunde herstellt (Falschbeurkundung). Über Ziff. 1 Abs. 3 werden die Fälle erfasst, in denen der Täter von einer unechten unwahren Urkunde Gebrauch macht.
4.5. 4.5.1. Die Beschwerdegegnerin bejahte im angefochtenen Einspracheentscheid den Tatbestand der Urkundenfälschung und machte unter Hinweis auf den Bericht der ESTV vom [...] geltend, dass für die Besorgung der "Geschäfte" mit den Schwarzarbeitern falsche Urkunden erstellt worden seien, und dass die Beteiligten sich an der Sache auch noch persönlich bereichert hätten, weshalb wohl auch noch Vermögensdelikte vorliegen würden (Einspracheentscheid, BB 3, S. 1). 4.5.2. Die Beschwerdeführerin bestreitet das Vorliegen einer Urkundenfälschung im Wesentlichen mit dem Hinweis, dass es den hergestellten unwahren (fiktiven) Rechnungen an der Urkundenqualität fehle. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gemäss BGE 138 IV 135 werde mit einer falschen Rechnung lediglich die Erklärung abgegeben, dass eine Forderung bestehe ohne darüber eine Aussage zu treffen, ob diese Forderung zu Recht zu Unrecht bestehe (Beschwerde, S. 6). 4.5.3. Die Beschwerdegegnerin ist dagegen der Ansicht, im besagten Entscheid werde primär die Frage erörtert, ob und wann der Aussteller einer Gefälligkeitsrechnung eine Falschbeurkundung begehe. Vorliegend stehe aber nicht die Strafbarkeit des Rechnungsstellers, sondern diejenige des buchführungsverantwortlichen Organs der Beschwerdeführerin in Frage. Die Beschwerdeführerin (handelnd durch C____) habe selbst zugegeben, dass sie unter Verwendung und Verbuchung von fiktiven Rechnungen eigentliche Lohnzahlungen an Schwarzarbeiter kaschiert habe (Beschwerdeantwort, S. 3). Daher würden die als Belege der eigenen Buchhaltung dienenden fiktiven Rechnungen ohne weiteres Urkunden darstellen (vgl. a.a.O.). 4.6. 4.6.1. Der Auffassung der Beschwerdegegnerin kann vorliegend aus mehreren Gründen nicht gefolgt werden. 4.6.2. Insofern als die Beschwerdegegnerin von den verdeckten Gewinnausschüttungen an das Aktionariat (vgl. dazu die Ausführungen im Bericht auf S. 24 und 46) auf das Vorliegen von Vermögensdelikten schliesst, ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei Rechnungen grundsätzlich um blosse Behauptungen des Rechnungsstellers handelt. Da Rechnungen weder bestimmt noch geeignet sind, Tatsachen von rechtlicher Bedeutung zu beweisen, stellen sie im Regelfall keine Urkunden im Sinne von Art. 110 Abs. 4 StGB dar (Christof Riedo/Donat Riedo, Strafbare Falschbeurkundung bei Rechnungsstellung, Bemerkungen im Anschluss an BGE 138 IV 130, in: BR 2013, S. 10 mit Hinweis auf BGE 131 IV 125, E. 4.2; 126 IV 68, E. 2; 125 IV 23, E. 2a; 121 IV 131, E. 2c; 117 IV 35, E. 2b; BGer 6B_60/2012 (12.9.2012), E. 1.5; vgl. auch die Regeste von BGE 138 IV 130, wonach Rechnungen im Verhältnis zwischen Rechnungsaussteller und Rechnungsempfänger nur unter besonderen Umständen als Urkunden anzusehen sind, da sie in der Regel blosse Behauptungen des Ausstellers über die vom Empfänger geschuldete Leistung enthalten). Vor diesem Hintergrund ist das Ausstellen einer falschen Rechnung in der Regel ohne strafrechtliche Relevanz. Beispielhaft sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Bundesgericht eine Falschbeurkundung bei einer Rechnung für eine nicht ausgeführte Reparatur verneint hat (vgl. BGE 117 IV 38 f.). Das Gleiche gilt für fiktive Rechnungen im Zusammenhang mit einem Scheidungsverfahren (BGE 121 IV 131) sowie fiktive Rechnungen im Zusammenhang mit Geschäften einer renommierten Kunstgalerie (BGer 6B_1096/2015 E. 3.5; weitere Beispiele bei Stefan Trechsel/Lorenz Erni in: Stefan Trechsel/Mark Pieth (Hrsg). Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018, Art. 251 StGB N 9). 4.6.3. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn einer Rechnung aufgrund der konkreten Umstände im Einzelfall eine erhöhte Glaubwürdigkeit zukommt (Christof Riedo/ Donat Riedo, a.a.O., mit Hinweisen). So bejahte die Rechtsprechung die Urkundenqualität bei einem von einem Arzt unrichtig ausgestellten Krankenschein (BGE 117 IV 169 f. m.H.) sowie für vom bauleitenden Architekten bestätigte falsche Rechnungen (BGE 119 IV 57). In Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles ist eine erhöhte Glaubwürdigkeit der falschen Rechnungen zu verneinen. 4.7. Insofern als die Beschwerdegegnerin darauf verweist, dass die fiktiven Rechnungen auch für nichtfiskalische Zwecke erstellt worden seien, mithin mit dem Zweck, Lohnzahlungen an Schwarzarbeiter zu kaschieren und sich damit der Beitragspflicht zu entziehen (vgl. Beschwerdeantwort, S. 3 mit Hinweisen) ist darauf hinzuweisen, dass dieses strafrechtlich relevante Verhalten bereits mit Art. 87 AHVG als lex specialis zu Art. 251 StGB erfasst wird. Die dortige Strafandrohung beträgt indes lediglich Geldstrafe bis 180 Tagessätze so dass sich im vorliegenden Fall eine Verlängerung der Verjährungsfrist nicht darauf stützen lässt. 4.8. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die ESTV im Bericht vom [...] selber davon ausgegangen ist, die aufgrund der Schwarzarbeit geschuldeten Sozialabgaben und Quellensteuern für die Jahre 2006-2009 seien bereits verjährt (vgl. die Tabelle unter Ziffer 3.4.4 auf S. 33 des Berichts).Demgemäss erkennt das Sozialversicherungsgericht:
://: In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid vom 20. März 2020 aufgehoben.
Das Verfahren ist kostenlos.
Die Beschwerdegegnerin bezahlt der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von CHF 3300.00 (inkl. Auslagen) zuzüglich Mehrwertsteuer von 7,7% von CHF 254.10.
Sozialversicherungsgericht BASEL-STADT
Der Präsident Die Gerichtsschreiberin
Dr. G. Thomi MLaw K. Zimmermann
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht werden (Art. 100 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht [Bundesgerichtsgesetz, BGG]). Die Beschwerdefrist kann nicht erstreckt werden (Art. 47 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegründe sind in Art. 95 ff. BGG geregelt.
Die Beschwerdeschrift ist dem Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, in dreifacher Ausfertigung zuzustellen. Die Beschwerdeschrift hat den Anforderungen gemäss Art. 42 BGG zu genügen; zu beachten ist dabei insbesondere:
a) Die Beschwerdeschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten;
b) in der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt;
c) die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in Händen hat, ebenso der angefochtene Entscheid.
Geht an:
- Beschwerdeführerin
- Beschwerdegegnerin
- Bundesamt für Sozialversicherungen
Versandt am:
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