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Urteil Obergericht/Handelsgericht (AG)

Kopfdaten
Kanton:AG
Fallnummer:AGVE 2012 12
Instanz:Obergericht/Handelsgericht
Abteilung:-
Obergericht/Handelsgericht  Entscheid AGVE 2012 12 vom 24.04.2012 (AG)
Datum:24.04.2012
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:12 Art. 6, 49 Abs. 1 und 2, 65d Abs. 3 und 4 BVG;Für umhüllende Vorsorgeeinrichtungen besteht die Möglichkeit, bereitsbei erst drohender Unterdeckung eine Minder- oder Nullverzinsung nachdem Anrechnungsprinzip durchzuführen.
Schlagwörter:
Rechtsnorm: Art. 14 BV ; Art. 15 BV ; Art. 17 BV ; Art. 17 ZG ; Art. 49 BV ; Art. 4a BV ; Art. 6 BV ; Art. 64 BV ; Art. 65 BV ; Art. 65d BV ;
Referenz BGE:127 V 264; 130 V 369; 132 V 278; 136 V 313; 136 V 65;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid
2012 Versicherungsgericht 74

12 Art. 6, 49 Abs. 1 und 2, 65d Abs. 3 und 4 BVG;
Für umhüllende Vorsorgeeinrichtungen besteht die Möglichkeit, bereits
bei erst drohender Unterdeckung eine Minder- oder Nullverzinsung nach
dem Anrechnungsprinzip durchzuführen.

Aus dem Entscheid des Versicherungsgerichts, 3. Kammer, vom 24. April
2012 in Sachen R.B. gegen Pensionskasse C. (VKL.2011.33).



3.
(...)
3.1. - 3.5. (...)
3.6.
3.6.1.
Die Auffassung, dass eine Minder- oder Nullverzinsung nach
dem Anrechnungsprinzip nur bei Unterdeckung möglich sei, wird
hauptsächlich auf die Weisungen über Massnahmen zur Behebung
von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 27. Oktober
2004 (nachfolgend: Weisungen; BBl 2004 6789 ff.) gestützt
(vgl. ERICH PETER, Nullverzinsung, Unterdeckung und Sanierung -
Minder-/Nullverzinsung und Rentnerbeiträge [nachfolgend: Nullver-
zinsung], AJP 2009, S. 1412 f.).
(...)
3.6.2.
(...)
Auf den 1. Juli 2003 erliess der Bundesrat, bei noch rudimentä-
ren gesetzlichen Grundlagen betreffend Unterdeckungen, gestützt auf
den bis 31. Dezember 2011 in Kraft gewesenen Art. 64 Abs. 2 BVG
erste Weisungen an die Aufsichtsbehörden der beruflichen Vorsorge.
In diesen Weisungen des Bundesrates über Massnahmen zur Behe-
bung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 21. Mai
2003 (nachfolgend: alte Weisungen; BBl 2003 4314 ff.) wurde unter
der Überschrift ,,Minder- oder Nullverzinsung bei umhüllenden Vor-
sorgeeinrichtungen im Beitragsprimat" in Ziff. 33 Abs. 1 festgehal-
2012 Versicherungsgericht 75

ten: ,,Registrierte Vorsorgeeinrichtungen im Beitragsprimat, die mehr
als die Minimalleistungen des BVG erbringen (sogenannte um-
hüllende Vorsorgeeinrichtungen), können im Fall einer Unterdeckung
auf dem gesamten Sparguthaben eine Minder- oder Nullverzinsung
nach dem Anrechnungsprinzip durchführen". Ziff. 331 Abs. 1 be-
sagte: ,,Eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrech-
nungsprinzip bei einer umhüllenden Vorsorgeeinrichtung im Bei-
tragsprimat ist nur zulässig, sofern sie im Reglement vorgesehen ist
und solange eine Unterdeckung besteht und die Informationspflich-
ten gegenüber den Versicherten und der Aufsichtsbehörde eingehal-
ten sind" (BBl 2003 4319). Das Bundesgericht verwies in BGE 132
V 278 E. 4.6 S. 285 in einem Obiter dictum auf diese alten Weisun-
gen (vgl. ERICH PETER, Unterdeckung und Sanierung - Rechte und
Pflichten der Vorsorgeeinrichtung [nachfolgend: Sanierung], AJP
2009, S. 794), die aktuell nicht mehr in Kraft sind.
3.6.3.
Auf den 1. Januar 2005 traten für den Fall einer Unterdeckung
die erwähnten neuen gesetzlichen Grundlagen in BVG, BVV 2, FZG
in Kraft. Eine ausdrückliche Regelung der Minder- oder Nullver-
zinsung nach dem Anrechnungsprinzip enthalten diese Bestimmun-
gen nicht. Die Botschaft zum Erlass dieser neuen gesetzlichen
Grundlagen, die Botschaft über Massnahmen zur Behebung von
Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge (Änderung des Bundes-
gesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invaliden-
vorsorge) vom 19. September 2003 (nachfolgend: Botschaft; BBl
2003 6399 ff.), enthält zur Minder- oder Nullverzinsung folgende
Ausführungen: ,,Bei umhüllenden Kassen im Beitragsprimat ist eine
reduzierte Verzinsung oder Nullverzinsung nach dem Anrech-
nungsprinzip möglich und zwar in Analogie zum Verzicht auf die
gesetzliche Anpassung der laufenden Invaliden- und Hinterlassenen-
renten (vgl. BGE 127 V 264). Diese Anrechnung ist jedoch nur so-
lange möglich, als die reglementarischen Austrittsleistungen diejeni-
gen nach Art. 17 FZG und der BVG-Schattenrechnung übersteigen.
Sie finden somit nach heutiger Rechtslage ihre gesetzliche Schranke
in den Zinspflichten nach Art. 17 Abs. 1 und 4 FZG bzw. Art. 6
Abs. 2 FZV" (BBl 2003 6409).
2012 Versicherungsgericht 76

Eine explizite Beschränkung der Minder- oder Nullverzinsung
auf die Unterdeckung findet sich hierbei nicht. Im Gegenteil wurden
die Grenzen dieser Massnahme zwar ausdrücklich thematisiert (,,[...]
nur so lange möglich, als [...]"), diese jedoch lediglich in der BVG-
Schattenrechnung, jedoch nicht (mehr) in der fehlenden Unter-
deckung gesehen. In diesem Zusammenhang kann auch auf die par-
lamentarische Beratung verwiesen werden, bei der im Zusammen-
hang mit der Massnahme der Unterschreitung des Mindestzinssatzes
gemäss Art. 65d Abs. 4 BVG bestätigt wurde, eine Zinsnullrunde
bleibe unabhängig von dieser Massnahme nach wie vor möglich,
wenn eine Kasse das (obligatorische) Alterskapital plus Zins ge-
währleiste. Da die meisten Kassen im Überobligatorium seien, werde
es damit weiterhin möglich sein, Zinsnullrunden zu fahren. Das Ge-
setz konzentriere sich auf den Schutz des obligatorischen Teils (Vo-
tum Kommissionssprecher David, AB 2004 S 61).
3.6.4.
Gleichzeitig mit dem Erlass der neuen gesetzlichen Grundlagen
setzte der Bundesrat neue Weisungen über Massnahmen zur Behe-
bung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 27. Ok-
tober 2004 (BBl 2004 6789 ff.) in Kraft. Die Überschrift zu Ziff. 31
dieser Weisungen lautet neu: ,,Minder- oder Nullverzinsung bei um-
hüllenden Vorsorgeeinrichtungen im Beitragsprimat bei Unter-
deckung" (BBl 2004 6794). Ziff. 31 besagt sodann: ,,Registrierte
Vorsorgeeinrichtungen im Beitragsprimat, die mehr als die Mindest-
leistungen des BVG erbringen (umhüllende Vorsorgeeinrichtungen)
und im Fall einer Unterdeckung auf dem gesamten Sparguthaben
eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrechungsprinzip
durchführen, haben die untenstehenden Schranken einzuhalten".
Diese Schranken regelt Ziff. 311 Abs. 1: ,,Eine Minder- oder Null-
verzinsung nach dem Anrechnungsprinzip bei einer umhüllenden
Vorsorgeeinrichtung im Beitragsprimat ist zulässig, sofern sie im
Reglement vorgesehen ist und die Informationspflichten gegenüber
dem Versicherten und der Aufsichtsbehörde eingehalten sind. Die
Anwendung eines Negativzinssatzes ist für sämtliche dem FZG un-
terstellten Vorsorgeeinrichtungen (d.h. auch für sogenannte Kader-
kassen) ausgeschlossen (Art. 15 und 17 FZG)".
2012 Versicherungsgericht 77

3.6.5.
In der Lehre wird mit Verweis auf die Mitteilungen über die Be-
rufliche Vorsorge des BSV die Auffassung vertreten, es sei kein
Hinweis vorhanden, dass gemäss den neuen Weisungen eine Minder-
oder Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip auch ohne das
Vorliegen einer Unterdeckung erlaubt sein solle (ERICH PETER, Null-
verzinsung, a.a.O., S. 1412 f.). In den Mitteilungen über die beruf-
liche Vorsorge Nr. 82 vom 24. Mai 2005 Rz. 482 gab das BSV dazu
an, die bisherigen Ziffern 33 und 331 (der alten Weisungen) ent-
sprächen neu den Ziffern 31 und 311 (der neuen Weisungen). Nach
ihrem Dafürhalten sei die Rechtsprechung zur Minder- oder Nullver-
zinsung nach dem Anrechnungsprinzip auch auf diese neuen Wei-
sungen respektive Ziffern anwendbar.
Ob das BSV bei diesen kurzen Ausführungen bewusst eine
Aussage zur Beschränkung der Minder- oder Nullverzinsung nach
dem Anrechnungsprinzip auf die Unterdeckung machen wollte, ist zu
bezweifeln. Die Beschränkung auf die Unterdeckung wurde in den
Mitteilungen nicht thematisiert. Hingegen gab das BSV in den er-
wähnten späteren Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 94
vom 28. September 2006 ohne weitere Bemerkung ein Urteil wieder,
indem bei einem Deckungsgrad von 100 % eine Verzinsung von 0.0
% geschützt wurde. In einem Obiter dictum in BGE 132 V 278 E. 4.6
S. 285, das zu der vom BSV erwähnten Rechtsprechung gehört,
wurde zwar ausgeführt: Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass
eine Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip nicht zur Dis-
kussion stehe, weil dabei - was vorliegend nicht der Fall sei - ,,der
Mindestzinssatz unter Anrechnung von Gutschriften aus dem weiter-
gehenden Bereich der beruflichen Vorsorge unterschritten würde,
was im Fall einer Unterdeckung unter bestimmten Voraussetzungen
zulässig wäre". Aus dem Umstand, dass hierbei mit Verweis auf die
alten Weisungen die Unterdeckung in einem Nebensatz als Be-
dingung erwähnt wurde, kann allerdings nicht gefolgert werden,
damit habe eine Rechtsprechung zur Frage der Beschränkung auf die
Unterdeckung begründet werden sollen. In diesem Fall war eine sol-
che Beschränkung irrelevant. Weitere Rechtsprechung zu den alten
Weisungen im Zusammenhang mit der Minder- oder Nullverzinsung
2012 Versicherungsgericht 78

nach dem Anrechnungsprinzip und Unterdeckung existiert - soweit
ersichtlich - nicht.
Mehrere Argumente sprechen hingegen dafür, dass in den neuen
Weisungen keine Aussage für den Fall einer Überdeckung gemacht
werden sollte. Der Inhalt der Ziff. 31 und 311 Abs. 1 der aktuellen
Weisungen ist zwar im Wesentlichen identisch mit den früheren Wei-
sungen. Auffallend ist allerdings, dass in einem Bereich eine Än-
derung vorgenommen wurde, nämlich die Formulierung ,,nur (...)
solange eine Unterdeckung besteht" der alten Weisungen wurde in
Ziff. 311 Abs. 1 der Weisungen entfernt. Auch in der französischen
Version der Weisungen wurde die Formulierung ,,n'est licite que (...)
seulement durant la période pendant laquelle existe un découvert"
gestrichen (vgl. BBl [französische Version] 2003 3868 und BBl 2003
6388). Gleiches gilt für die italienische Weisungen (BBl [italienische
Version] 2003 3724 und BBl 2004 6034). Zudem wurde die Formu-
lierung in Ziff. 33 Abs. 1 der alten Weisungen (...) Vorsorgeeinrich-
tungen (...) können im Fall einer Unterdeckung auf dem gesamten
Sparguthaben eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrech-
nungsprinzip durchführen" ersetzt durch ,,(...) Vorsorgeeinrichtun-
gen (...), die (...) im Fall einer Unterdeckung auf dem gesamten
Sparguthaben eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem An-
rechungsprinzip durchführen, haben die untenstehenden Schranken
einzuhalten" (Ziff 31 der Weisungen). Diese Änderungen sprechen
für die bewusste Vermeidung einer Aussage zur Überdeckung. Die
aktuellen Weisungen wurden so abgeändert, dass im Gegensatz zu
den alten Weisungen daraus kein Umkehrschluss mehr gezogen wer-
den kann, bei fehlender Unterdeckung sei eine Minder- oder Null-
verzinsung nach dem Anrechnungsprinzip nicht zulässig.
In der Lehre wird ebenfalls der Standpunkt vertreten, die For-
mulierung der alten Weisungen, wonach eine Nullverzinsung nach
den Anrechnungsprinzip nur zulässig war, solange eine Unter-
deckung bestanden habe, sei bewusst gestrichen worden
(HANSPETER KONRAD, Minder- bzw. Nullverzinsung in Vorsorgeein-
richtungen: auch bei Überdeckung möglich, AJP 2010, S. 128). Ge-
stützt wird diese Annahme durch die Aussage des (ehemaligen) BSV-
Vizedirektors Anton Streit gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung
2012 Versicherungsgericht 79

(NZZ) am 9. Januar 2010, wonach das BSV in den letzten Jahren
stets die Meinung vertreten habe, eine Vorsorgeeinrichtung könne,
um aus einer Unterdeckung herauszukommen oder um zu ver-
hindern, dass die Kasse in eine finanziell schwierige unstabile Lage
gerät, eine Minder- oder Nullverzinsung durchführen, wenn das
gesetzlich obligatorische Leistungsniveau gewahrt bleibe. Es sei gut
möglich, zu den Weisungen einige Präzisierungen anzubringen. Aus
der aktuellen Formulierung in den Weisungen könne jemand den
Schluss ziehen, dass etwas verboten sei, nur weil es nicht explizit
erwähnt sei (SIMON GEMPERLI, Kontroverse um Nullverzinsung im
BVG, NZZ, 9. Januar 2010 S. 11; AB 5). Diese Angaben des BSV
lassen sich im vorliegenden Verfahren nicht weiter verifizieren
(vgl. Art. 4a BVV 1). Sie stehen jedoch im Einklang mit dem davor
Ausgeführten.
Die gesamten bundesrätliche Weisungen beziehen sich nur auf
die Situation bei Unterdeckungen, wie bereits aus dem Titel der Wei-
sungen ersichtlich ist (vgl. auch Überschrift zu Ziff. 31 der Weisun-
gen). Regeln für den Fall fehlender Unterdeckung im überobliga-
torischen Bereich können daraus nicht abgeleitet werden. Der über-
obligatorische Bereich sollte und konnte mit diesen Weisungen nicht
geregelt werden.
3.6.6.
In der Lehre wird eingewendet, wenn bereits einschränkende
Bestimmungen bei Unterdeckung für die Minder- oder Nullverzin-
sung nach dem Anrechnungsprinzip gelten würden (Ziff. 311 Abs. 1
der Weisungen), wäre es unlogisch, wenn bei Fehlen einer Unter-
deckung keine Einschränkungen gelten sollten (ERICH PETER, Null-
verzinsung, a.a.O., S. 1413 f.). Diese Folgerung ist zwar grundsätz-
lich nachvollziehbar, allerdings bestehen die rechtlichen Schranken
gemäss Ziff. 311 Abs. 1 der Weisungen lediglich darin, dass die In-
formationspflichten gegenüber den Versicherten und der Aufsichts-
behörde zu wahren sind und die Minder- oder Nullverzinsung im
Reglement vorzusehen ist (wobei eine allgemeine Kompetenz des
obersten paritätisch zusammengesetzten Organs genügt, den jeweili-
gen Zins aufgrund des Jahresergebnisses festzusetzen; vgl. ERICH
PETER, Sanierung, a.a.O., S. 794). Die gleichen rechtlichen Schran-
2012 Versicherungsgericht 80

ken ergeben sich - mit Ausnahme der Information der Aufsichtsbe-
hörde - im überobligatorischen Bereich bereits aus den allgemeinen
vertragsrechtlichen und verfassungsmässigen Rechtsgrundsätzen.
Strengere Voraussetzungen zur Durchführung von Minder- oder
Nullverzinsungen bei Unterdeckung im Vergleich zu Fällen bei
Überdeckung sind daher nicht ersichtlich.
3.6.7.
Insgesamt ergibt sich damit der Schluss, dass der Wortlaut der
aktuellen Weisungen, dessen Veränderungen von den alten hin zu den
neuen Weisungen und die Materialien (vorhandene Stellungnahmen
von Bundesrat, BSV und Parlament) eine Minder- oder Nullverzin-
sung nach dem Anrechnungsprinzip bei Überdeckung zumindest
nicht verbieten.
3.6.8.
Wenn argumentiert wird, die Weisungen enthielten keine Hin-
weise darauf, dass eine Minder- oder Nullverzinsung nach dem An-
rechnungsprinzip ohne Vorliegen einer Unterdeckung erlaubt sein
solle (ERICH PETER, Nullverzinsung, a.a.O., S. 1413), wird von der
falschen Annahme ausgegangen, die Vorsorgeeinrichtung benötigten
eine solche Erlaubnis. Dies widerspräche dem Grundkonzept des
BVG, wonach die Vorsorgeeinrichtungen in der weitergehenden Vor-
sorge grundsätzlich frei sind (BGE 130 V 369 E. 6.4 S. 376). Aus
den Mindestvorschriften des BVG können keine Ansprüche abgelei-
tet werden, die über die entsprechenden Leistungsgarantien des Ge-
setzes hinausgehen. Vielmehr wäre für gesetzliche Reglementierun-
gen und Beschränkungen der Vorsorgeeinrichtungen in der weiterge-
henden Vorsorge eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage voraus-
gesetzt, wie sie Art. 49 Abs. 2 BVG darstellt. Eine gesetzliche
Grundlage für das Verbot der Minder- oder Nullverzinsung nach dem
Anrechnungsprinzip, bei der die gesetzlichen Mindestleistungen
gemäss BVG garantiert sind, besteht jedoch nicht.
Der Bundesrat führte dazu bereits am 26. September 2003 aus,
sowohl Art. 14 BVG (Umwandlungssatz) als auch Art. 15 BVG
(Mindestzinssatz) fehlten im Katalog der nach Art. 49 Abs. 2 BVG
im Überobligatorium zwingend anwendbaren Gesetzesbestimmun-
gen. Deshalb hätten in den letzten Jahren zahlreiche Vorsorgeein-
2012 Versicherungsgericht 81

richtungen als Sanierungsmassnahme entweder das überobligatori-
sche Guthaben nicht verzinst oder sogar das ganze Altersguthaben
einer Nullverzinsung unterworfen. Letzteres sei dort möglich gewe-
sen, wo die Nachführung der Schattenrechnung den Nachweis er-
bracht habe, dass die gesetzlichen obligatorischen Leistungen trotz
Nullzinsrunde sichergestellt seien (Stellungnahme des Bundesrates
vom 26. September 2003 zum Postulat betreffend Rückkommen auf
die Genehmigung des Modells ,,Winterthur" der Kommission für
soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates, 03.3437, vom
4. September 2003; vgl. auch CARL HELBLING, Zur Sanierung von
Pensionskassen, in: Der Schweizer Treuhänder 4/2003, S. 219).
3.6.9.
In der Lehre wird teilweise die Auffassung vertreten, die Min-
der- oder Nullverzinsung nach dem Anrechungsprinzip gehöre zu
den ,,anderen Massnahmen" gemäss Art. 65d Abs. 3 BVG, womit
eine gesetzliche Grundlage bestünde (CHRISTINA RUGGLI-WÜEST,
Die Aufgaben der Aufsichtsbehörden bei Unterdeckung, SZS 2009,
S. 564). Gemäss dieser Bestimmung kann die Vorsorgeeinrichtung,
sofern ,,andere Massnahmen" nicht zum Ziel führen, während der
Dauer einer Unterdeckung bestimmte Massnahmen ergreifen, die bei
fehlender Unterdeckung im Widerspruch zu den Vorgaben des BVG
stehen, wie die Erhebung von Sonderbeiträgen von Arbeitgebern,
Arbeitnehmern und Rentnern (Art. 65d Abs. 3 BVG).
Das spricht allerdings noch nicht gegen eine Anwendung der
,,andere(n) Massnahmen" auch bei Überdeckung der Vorsorgeein-
richtung. Zu solchen ,,andere[n] Massnahmen" im Sinn von Art. 65d
Abs. 3 BVG werden in der Botschaft etwa die Reduktionen von
Mehrverzinsungen und gesetzlich nicht vorgeschriebenen Erhöhun-
gen laufender Renten sowie der Widerruf von Überbrückungsfinan-
zierungen, Beitragspausen, Beitragsreduktionen usw. gezählt
(BBl 2003 6408 f.). Diese Massnahmen sind unbestritten auch bei
Überdeckung möglich. Art. 65d Abs. 3 BVG bildet damit nicht eine
(unbestimmte) gesetzliche Grundlage zur Beschränkung der Vorsor-
geeinrichtungen im überobligatorischen Bereich. Zweck von Art. 65d
Abs. 3 BVG ist nicht, eine gesetzliche Grundlage für die ,,andere[n]
Massnahmen" zu schaffen. Vielmehr wird damit klargestellt, dass in
2012 Versicherungsgericht 82

der Kaskade der zu ergreifenden Massnahmen zunächst die üblichen
und zulässigen ,,andere[n] Massnahmen" zu ergreifen sind, bevor die
Vorsorgeeinrichtungen die speziellen gesetzlichen Sanierungsmass-
nahmen von Art. 65d Abs. 3 lit. a und b BVG (Erhebung von Son-
derbeiträgen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Rentnern) an-
wenden können und schliesslich, wenn auch diese Massnahmen sich
als ungenügend erweisen sollten, nach Art. 65d Abs. 4 BVG als
weitere gesetzliche Sanierungsmassnahme ausnahmsweise den Min-
destzinssatz unterschreiten dürfen. Art. 65d Abs. 3 BVG bildet die
gesetzliche Grundlage für diese speziellen Sanierungsmassnahmen
und nicht für die dort erwähnten ,,andere[n] Massnahmen". Bei der
Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip handelt
es sich, wie bei den anderen genannten Beispielen in der Botschaft,
nicht um eine Sanierungsmassnahme, die im Widerspruch zu den
Regelungen des BVG steht und für deren (ausnahmsweise) Anwen-
dung eine besondere gesetzliche Grundlage zu verlangen ist (vgl.
Bericht des Bundesrates zuhanden der Bundesversammlung über die
Zukunft der 2. Säule vom 24. Dezember 2011, Ziff. 11.1, S. 115).
Das Anrechnungsprinzip ist im Gegenteil ein genereller Grundsatz,
der unabhängig von der Frage der Verzinsung bei der umhüllenden
Vorsorge zur Anwendung gelangt (vgl. BGE 136 V 65, 136 V 313,
127 V 264). Sollte bei der Minder- oder Nullverzinsung nach dem
Anrechnungsprinzip der Gewichtung der Interessen der Versicherten
auf höhere Versicherungsleistungen gegenüber den Interessen der
Vorsorgeeinrichtungen auf eine nachhaltige Sicherstellung des Vor-
sorgezwecks (Art. 65 Abs. 1 BVG) und deren Freiheit in der weiter-
gehenden beruflichen Vorsorge der Vorzug gegeben werden, wäre
eine gesetzliche Grundlage zu verlangen. Selbst wenn somit von
einem klaren Wortlaut der hier umstrittenen, an die Aufsichtsbehör-
den gerichteten (Verwaltungs-)Weisungen ausgegangen würde und
diese eine Minder- oder Nullverzinsung bei Überdeckung verbieten
würden, könnte auf sie in dem hier umstrittenen Punkt nicht abge-
stellt werden, weil keine genügende Grundlage vorliegt, um zusätz-
liche materiellrechtliche Einschränkungen aufzustellen (BGE 129 V
67 E. 1.1.1 S. 68).

2012 Versicherungsgericht 83

3.7.
3.7.1.
(...)
Ob bei einer Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip von
einer Reduktion des Bestandes der Freizügigkeitsleistung und damit
von einer Verletzung von wohlerworbenen Rechten gesprochen wer-
den kann, hängt davon ab, ob von zwei Vorsorgeteilen, einem obli-
gatorischen und einem überobligatorischen Teil ausgegangen wird,
auf denen verschiedene Zinssätze (Zinssplit) anzuwenden sind
(ERICH PETER, Nullverzinsung, a.a.O., 1413 f.) oder ob ein einheit-
liches reglementarisches Altersguthaben anzunehmen ist, bei dem im
Rahmen einer Schattenrechnung nachgewiesen und sichergestellt
werden muss, dass es mindestens so hoch ist wie das BVG-Guthaben
inklusive BVG-Mindestzinsen (HERMANN WALSER, Sanierungs-
massnahmen von Vorsorgeeinrichtungen und die Rechtsstellung der
beruflich noch aktiven Versicherten [nachfolgend: Sanierungsmass-
nahmen], SZS 2009, S. 604; MARKUS MOSER, Das Anrech-
nungsprinzip als Grundelement der umhüllenden beruflichen Vor-
sorge im "Zerrspiegel" der Rechtsprechung, SZS 2011, S. 59 f.). Im
ersten Fall würde bei einer Nullverzinsung des gesamten Vorsorge-
kapitals der überobligatorische Teil aufgrund der garantierten ge-
setzlichen Mindestverzinsung des obligatorischen Teils reduziert,
womit eine Verletzung von wohlerworbenen Rechten gegeben wäre.
Im zweiten Fall läge hingegen keine entsprechende Verletzung vor,
weil bei einer Nullverzinsung der Bestand des reglementarischen
Guthabens weiterhin garantiert wäre. Dieses würde sich nicht redu-
zieren und das BVG-Guthaben wäre weiterhin sichergestellt.
3.7.2.
Gemäss Art. 6 BVG enthält der zweite Teil BVG lediglich
Mindestvorschriften. Die Vorsorgeeinrichtungen sind gemäss Art. 49
BVG im Rahmen des BVG in der Gestaltung ihrer Leistungen frei
und können über die Mindestleistungen hinausgehen (vgl. HERMANN
WALSER, Sanierungsmassnahmen, a.a.O., S. 603 f.). Der Grundkon-
zeption des BVG entsprechend ist daher von einem einheitlichen re-
glementarischen Vorsorgeguthaben auszugehen, bei dem mittels
BVG-Schattenrechnung lediglich die Einhaltung der obligatorischen
2012 Versicherungsgericht 84

Mindestleistungen kontrolliert wird (vgl. BBl 2003 6409, Fn. 13).
Die wohlerworbenen Rechte sind bei einer Nullverzinsung dieses
einen reglementarischen Guthabens garantiert, da sich dieses nicht
vermindert. Das bestätigt auch die Botschaft des Bundesrats. Sie
verweist lediglich auf Art. 17 BVG und die BVG-Schattenrechnung,
welche die gesetzlichen Schranken des Anrechnungsprinzips bildeten
(BBl 2003 6409).
Das Bundesgericht hat in diesem Sinne kürzlich seine frühere
Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Bemessung des
Leistungsumfangs bei nachträglicher Erhöhung des Invaliditätsgra-
des (BGE 136 V 65) und bei einer verlangten zusätzlichen gesetz-
lichen Invalidenkinderrente mit Verweis auf das Anrechnungsprinzip
geändert bzw. präzisiert (BGE 136 V 313; vgl. MARKUS MOSER,
a.a.O., S. 60 ff.). Diesen Urteilen ist zu entnehmen, dass eine um-
hüllende Vorsorgeeinrichtung die gesetzlichen Leistungen auszu-
richten hat, falls diese höher sind als der aufgrund des Reglements
berechnete Anspruch. Andernfalls bleibt es bei der reglementarisch
vorgesehenen Leistung (Anrechnungs- oder Vergleichsprinzip). Die
Anspruchsberechnung hat dabei nicht in der Weise zu erfolgen, dass
für den Obligatoriumsbereich und die weitergehende Vorsorge je
isolierte Berechnungen angestellt und die Ergebnisse anschliessend
addiert werden (Splittings- oder Kumulationsprinzip). Vielmehr sind
den sich aus dem Gesetz ergebenden Ansprüchen auf zeitlich identi-
scher Grundlage beruhende und gleichartige, nach Massgabe des
Reglements berechnete Leistungen gegenüberzustellen (Schatten-
rechnung; BGE 136 V 65 E. 3.7 S. 71, 136 V 313 E. 4.4 S. 316; je
mit Hinweisen). Bereits früher entschied das Bundesgericht in die-
sem Sinne im Zusammenhang mit der gesetzlichen Teuerungsanpas-
sung der BVG-Renten im Vergleich zu reglementarischen Hinterlas-
senen- und Invalidenrenten (BGE 127 V 264; bei Ausrichtung der
Leistung in Kapitalform vgl. SZS 2004 S. 576, B 74/03 E. 3.3.3). In
der Botschaft wurde im Zusammenhang mit dem Anrechnungsprin-
zip bei der Minder- oder Nullverzinsung ausdrücklich auf BGE 127
V 264 verwiesen (BBl 2003 6409; vgl. auch HANS-ULRICH
STAUFFER, Berufliche Vorsorge, Zürich 2005, Rz. 916).
2012 Versicherungsgericht 85

Da es sich bei den genannten Grundsatzurteilen des Bundesge-
richts um Entscheide im sensiblen Bereich des Leistungsrechts han-
delt (vgl. MARKUS MOSER, a.a.O., S. 70), muss dies im Sinne einer
einheitlichen und stringenten Rechtsprechung auch für die Minder-
oder Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip bei der Verzin-
sung des Vorsorgeguthabens gelten.
3.8.
Zusammenfassend ist unter Berücksichtigung der Grundkon-
zeption und der Systematik des BVG (Art. 6 und 49 BVG), der feh-
lenden gesetzlichen Grundlagen, den Anhaltspunkten im Zusam-
menhang mit der Änderung des Wortlauts der aktuellen Weisungen
im Verhältnis zu den alten Weisungen, den Hinweisen aus den Ma-
terialien (Botschaft, Stellungnahmen des Bundesrates, des BSV und
des Parlaments) sowie der bundesgerichtlichen Grundsatzentscheide
zum Anrechnungsprinzip (BGE 136 V 65, 136 V 313, 127 V 264) die
Möglichkeit für umhüllende Vorsorgeeinrichtungen zu bejahen, eine
Minder- oder Nullverzinsung nach dem Anrechnungsprinzip bereits
bei erst drohender Unterdeckung anzuwenden.
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